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|0007 : [I]|

Syſtem

des

heutigen Römiſchen Rechts

von

Friedrich Carl von Savigny.

Erſter Band.

Mit K. Bairiſchen und K. Würtembergiſchen Privilegien.

 Berlin.

Bei Veit und Comp.

1840.

 

|0008 : [II]|

|0009 : [III]|

Vorläufige Überſicht des ganzen Werks.

Erſtes Buch. Rechtsquellen.

Kap. I. Aufgabe dieſes Werks.

Kap. II. Allgemeine Natur der Rechtsquellen.

Kap. III. Quellen des heutigen Römiſchen Rechts.

Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

Zweytes Buch. Rechtsverhältniſſe.

Kap. I. Weſen und Arten der Rechtsverhältniſſe.

Kap. II. Die Perſonen als Träger der Rechtsverhältniſſe.

Kap. III. Entſtehung und Untergang der Rechtsverhältniſſe.

Kap. IV. Verletzung der Rechtsverhältniſſe.

Drittes Buch. Anwendung der Rechtsregeln auf die

Rechtsverhältniſſe.

Viertes Buch. Sachenrecht.

Fünftes Buch. Obligationenrecht.

Sechstes Buch. Familienrecht.

Siebentes Buch. Erbrecht.

 

a*

|0010 : [IV]|

|0011 : [V]|

Inhalt des erſten Bandes.

Erſtes Buch. Quellen des heutigen Römiſchen Rechts.

Erſtes Kapitel. Aufgabe dieſes Werks.

 

Seite.

§. 1. Heutiges Römiſches Recht 1

§. 2. Gemeines Recht in Deutſchland 4

§. 3. Gränzen der Aufgabe 5

Zweytes Kapitel. Allgemeine Natur der Rechtsquellen.

§. 4. Rechtsverhältniß 6

§. 5. Rechtsinſtitut 9

§. 6. Begriff der Rechtsquellen 11

§. 7. Allgemeine Entſtehung des Rechts 13

§. 8. Volk 18

§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, öffentliches Recht 21

§. 10. Abweichende Meynungen über den Staat 28

§. 11. Völkerrecht 32

|0012 : VI|

Inhalt des erſten Bandes.

Seite.

§. 12. Gewohnheitsrecht 34

§. 13. Geſetzgebung 38

§. 14. Wiſſenſchaftliches Recht 45

§. 15. Die Rechtsquellen in ihrem Zuſammenhang 50

§. 16. Abſolutes und vermittelndes, regelmäßiges und

anomaliſches Recht 57

Drittes Kapitel. Quellen des heutigen Römiſchen Rechts.

§. 17. A. Geſetze 66

§. 18. B. Gewohnheitsrecht 76

§. 19. C. Wiſſenſchaftliches Recht 83

§. 20. Fortſetzung 90

§. 21. Concurrirende Rechtsquellen 100

§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im

Allgemeinen 105

§. 23. Ausſprüche der Römer über die Geſetze 121

§. 24. Fortſetzung 128

§. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht 144

§. 26. » » » über das wiſſenſchaftliche

Recht 155

§. 27. Praktiſcher Werth der Römiſchen Beſtimmungen

über die Rechtsquellen 162

§. 28. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen 166

§. 29. Fortſetzung 171

§. 30. Fortſetzung 181

§. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechts-

quellen 197

|0013 : VII|

Inhalt des erſten Bandes.

Seite.

Viertes Kapitel. Auslegung der Geſetze.

§. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle 206

§. 33. A. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln 212

§. 34. Grund des Geſetzes 216

§. 35. Auslegung mangelhafter Geſetze 222

§. 36. Fortſetzung 225

§. 37. Fortſetzung 230

§. 38. Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. Kritik 240

§. 39. Fortſetzung 246

§. 40. Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. Einzelne

Stellen 252

§. 41. Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. Compilation 255

§. 42. B. Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen. Wi-

derſpruch 262

§. 43. Fortſetzung 268

§. 44. Fortſetzung 273

§. 45. Fortſetzung 283

§. 46. Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen. Lücken 290

§. 47. Ausſprüche des R. R. über die Auslegung 296

§. 48. Fortſetzung 304

§. 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Beſtimmungen 311

§. 50. Anſichten der Neueren von der Auslegung 318

§. 51. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Aus-

legung 326

|0014 : VIII|

Inhalt des erſten Bandes.

Seite.

Zweytes Buch. Die Rechtsverhältniſſe.

Erſtes Kapitel. Weſen und Arten der Rechtsverhältniſſe.

§. 52. Weſen der Rechtsverhältniſſe 331

§. 53. Arten der Rechtsverhältniſſe 334

§. 54. Familienrecht 345

§. 55. Fortſetzung 356

§. 56. Vermögensrecht 367

§. 57. Fortſetzung 379

§. 58. Überſicht der Rechtsinſtitute 386

§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſifikation 393

Beylage I. Jus naturale, gentium, civile 413

Beylage II. L. 2 C. quae sit longa consuetudo 420

|0015 : [IX]|

Vorrede.

Wenn ein wiſſenſchaftliches Gebiet, ſo wie das un-

ſrige, durch die ununterbrochene Anſtrengung vieler

Zeitalter angebaut worden iſt, ſo wird uns, die wir der

Gegenwart angehören, der Genuß einer reichen Erb-

ſchaft dargeboten. Es iſt nicht blos die Maſſe der ge-

wonnenen Wahrheit, die uns zufällt; auch jede ver-

ſuchte Richtung der geiſtigen Kräfte, alle Beſtrebungen

der Vorzeit, mögen ſie fruchtbar oder verfehlt ſeyn,

kommen uns zu gut als Muſter oder Warnung, und ſo

ſteht es in gewiſſem Sinn bey uns, mit der vereinig-

ten Kraft vergangener Jahrhunderte zu arbeiten. Woll-

ten wir nun dieſen natürlichen Vortheil unſrer Lage aus

Trägheit oder Eigendünkel verſäumen, wollten wir es

auch nur, in oberflächlichem Verfahren, dem Zufall

überlaſſen, wie Viel aus jener reichen Erbſchaft bildend

 

|0016 : X|

Vorrede.

auf uns einwirken ſoll, dann würden wir die unſchätz-

barſten Güter entbehren, die von dem Weſen wahrer

Wiſſenſchaft unzertrennlich ſind: die Gemeinſchaftlich-

keit wiſſenſchaftlicher Überzeugungen, und daneben den

ſteten, lebendigen Fortſchritt, ohne welchen jene Ge-

meinſchaft in einen todten Buchſtaben übergehen könnte.

Damit dieſes nicht geſchehe, müſſen wir wünſchen, daß

von Zeit zu Zeit das, was im Einzelnen geſucht und

gewonnen worden iſt, in vereinigendem Bewußtſeyn zu-

ſammen gefaßt werde. Denn ſchon die gleichzeitig le-

benden Träger der Wiſſenſchaft gehen oft in ſcharfen

Gegenſätzen aus einander; noch ſtärker aber treten dieſe

Gegenſätze hervor, wenn wir ganze Zeitalter verglei-

chend betrachten. Hier gilt es nun nicht, das Eine zu

wählen, das Andere zu verwerfen; vielmehr geht die

Aufgabe dahin, die wahrgenommenen Gegenſätze in

höherer Einheit aufzulöſen, welches der einzige Weg zu

ſicherem Fortſchritt in der Wiſſenſchaft iſt. Die ange-

meſſene Stimmung für eine ſolche zuſammen faſſende

Arbeit iſt die der Ehrerbietung gegen das Große, wel-

ches uns in den Leiſtungen unſrer Vorgänger erſcheint.

Damit aber dieſe Ehrerbietung nicht in beſchränkende

Einſeitigkeit ausarte, und ſo die Freyheit des Denkens

gefährde, iſt es nöthig, den Blick unverwandt auf das

|0017 : XI|

Vorrede.

letzte Ziel der Wiſſenſchaft zu richten, in Vergleichung

mit welchem auch das Größte, das der Einzelne zu lei-

ſten vermag, als unvollkommen erſcheinen muß.

Wenn uns aber die durch viele Geſchlechter fortge-

ſetzte Ausbildung unſrer Wiſſenſchaft einen reichen Ge-

winn darbietet, ſo entſpringen uns ebendaher auch ei-

genthümliche große Gefahren. In der Maſſe von Be-

griffen, Regeln und Kunſtausdrücken, die wir von un-

ſren Vorgängern empfangen, wird unfehlbar der ge-

wonnenen Wahrheit ein ſtarker Zuſatz von Irrthum

beygemiſcht ſeyn, der mit der traditionellen Macht ei-

nes alten Beſitzſtandes auf uns einwirkt und leicht die

Herrſchaft über uns gewinnen kann. Um dieſer Ge-

fahr zu begegnen, müſſen wir wünſchen, daß von Zeit

zu Zeit die ganze Maſſe des Überlieferten neu geprüft,

in Zweifel gezogen, um ſeine Herkunft befragt werde.

Dieſes geſchieht, indem wir uns künſtlich in die Lage

verſetzen, als hätten wir das überlieferte Material ei-

nem Unkundigen, Zweifelnden, Widerſtrebenden mitzu-

theilen. Die angemeſſene Stimmung für eine ſolche

prüfende Arbeit iſt die der geiſtigen Freyheit, der Unab-

hängigkeit von aller Autorität; damit aber dieſes Frey-

heitsgefühl nicht in Übermuth ausarte, muß das heil-

ſame Gefühl der Demuth hinzutreten, die natürliche

 

|0018 : XII|

Vorrede.

Frucht unbefangener Erwägung der Beſchränktheit un-

ſrer perſönlichen Kräfte, welche allein jene Freiheit des

Blicks zu eigenen Leiſtungen befruchten können.

So werden wir, von ganz entgegengeſetzten Stand-

punkten aus, auf ein und daſſelbe Bedürfniß in unſrer

Wiſſenſchaft hingewieſen. Es läßt ſich bezeichnen als

eine periodiſch wiederkehrende Betrachtung der von un-

ſren Vorgängern geleiſteten Arbeit, um aus dieſer das

Unächte auszuſcheiden, das Wahre aber als bleibenden

Beſitz uns anzueignen, der uns in den Stand ſetze,

nach dem Maas unſrer Kräfte in der Löſung der ge-

meinſamen Aufgabe dem Ziele näher zu kommen. Eine

ſolche Betrachtung anzuſtellen für den Zeitpunkt, worin

wir uns gegenwärtig befinden, iſt die Beſtimmung des

vorliegenden Werkes.

 

Es darf jedoch gleich im Eingang nicht verſchwie-

gen werden, wie ſehr die unbefangene Aufnahme dieſes

Werks durch das, was ſich in neueſter Zeit in unſrer

Wiſſenſchaft zugetragen hat, gefährdet werden kann.

Manche werden durch den Namen des Verfaſſers be-

wogen werden, die eben ausgeſprochene allgemeine Be-

ſtimmung dieſer Arbeit in Zweifel zu ziehen; ſie werden

glauben, es ſey hier weniger auf den freyen Dienſt der

Wiſſenſchaft abgeſehen, als auf die einſeitige Vertre-

 

|0019 : XIII|

Vorrede.

tung der hiſtoriſchen Schule: das Werk trage alſo den

Character einer Parteyſchrift an ſich, vor welcher ſich

Jeder, der nicht jener Schule angehöre, zu hüten habe.

Alles Gelingen in unſrer Wiſſenſchaft beruht auf

dem Zuſammenwirken verſchiedener Geiſtesthätigkeiten.

Um Eine derſelben, und die aus ihr vorzugsweiſe ent-

ſpringende wiſſenſchaftliche Richtung, in ihrer Eigen-

thümlichkeit zu bezeichnen, war früher von mir und An-

deren arglos der Ausdruck der hiſtoriſchen Schule ge-

braucht worden. Es wurde damals dieſe Seite der

Wiſſenſchaft beſonders hervorgehoben, nicht um den

Werth anderer Thätigkeiten und Richtungen zu vernei-

nen oder auch nur zu vermindern, ſondern weil jene

Thätigkeit lange Zeit hindurch vor anderen verſäumt

worden war, alſo vorübergehend mehr als andere einer

eifrigen Vertretung bedurfte, um in ihr natürliches Recht

wieder einzutreten. An jene Benennung nun hat ſich

eine lange anhaltende, lebhafte Anfechtung geknüpft, und

noch in der neueſten Zeit ſind darüber harte Worte ge-

redet worden. Eine Vertheidigung gegen ſolche An-

griffe würde unnütz, gewiſſermaßen unmöglich ſeyn;

denn wie die Verſtimmung mehr von perſönlichen Ge-

fühlen, als von wiſſenſchaftlichen Gegenſätzen, ausge-

gangen iſt, ſo pflegen auch die Widerſacher der hiſtori-

 

|0020 : XIV|

Vorrede.

ſchen Schule Alles, was ihnen gerade unbequem oder

misfällig in literariſchen Erſcheinungen iſt, unter jenem

Namen zuſammen zu faſſen und zu tadeln; wer möchte

da eine Widerlegung verſuchen? Ein Vorwurf jedoch

muß, wegen ſeiner allgemeineren Natur, davon ausge-

nommen werden. Es iſt oft von Gegnern behauptet

worden, die Mitglieder der hiſtoriſchen Schule wollten

die Gegenwart, ihre Selbſtſtändigkeit verkennend, unter

die Herrſchaft der Vergangenheit beugen; insbeſondere

wollten ſie die Herrſchaft des Römiſchen Rechts unge-

bührlich ausdehnen: im Gegenſatz theils des deutſchen

Rechts, theils der neuen Rechtsbildung, die durch Wiſ-

ſenſchaft und Praxis an die Stelle des reinen Römi-

ſchen Rechts getreten ſey. Dieſer Vorwurf hat einen

allgemeinen, wiſſenſchaftlichen Character, und er darf

nicht mit Stillſchweigen übergangen werden.

Die geſchichtliche Anſicht der Rechtswiſſenſchaft wird

völlig verkannt und entſtellt, wenn ſie häufig ſo aufge-

faßt wird, als werde in ihr die aus der Vergangenheit

hervorgegangene Rechtsbildung als ein Höchſtes aufge-

ſtellt, welchem die unveränderte Herrſchaft über Gegen-

wart und Zukunft erhalten werden müſſe. Vielmehr

beſteht das Weſen derſelben in der gleichmäßigen Aner-

kennung des Werthes und der Selbſtſtändigkeit jedes

 

|0021 : XV|

Vorrede.

Zeitalters, und ſie legt nur darauf das höchſte Gewicht,

daß der lebendige Zuſammenhang erkannt werde, wel-

cher die Gegenwart an die Vergangenheit knüpft, und

ohne deſſen Kenntniß wir von dem Rechtszuſtand der

Gegenwart nur die äußere Erſcheinung wahrnehmen,

nicht das innere Weſen begreifen. In beſonderer An-

wendung auf das Römiſche Recht geht die geſchichtliche

Anſicht nicht, wie von Vielen behauptet wird, darauf

aus, demſelben eine ungebührliche Herrſchaft über uns

zuzuwenden; vielmehr will ſie zunächſt in der ganzen

Maſſe unſres Rechtszuſtandes dasjenige auffinden und

feſtſtellen, was in der That Römiſchen Urſprungs iſt,

damit wir nicht bewußtlos davon beherrſcht werden:

dann aber ſtrebt ſie, in dem Umkreis dieſer Römiſchen

Elemente unſres Rechtsbewußtſeyns dasjenige auszu-

ſcheiden, was davon in der That abgeſtorben iſt, und

nur durch unſer Misverſtändniß ein ſtörendes Schein-

leben fortführt, damit für die Entwicklung und heilſame

Einwirkung der noch lebendigen Theile jener Römiſchen

Elemente um ſo freyerer Raum gewonnen werde. Das

vorliegende Werk insbeſondere geht ſo wenig darauf

aus, dem Römiſchen Recht eine übermäßige Herrſchaft

zuzuwenden, daß es vielmehr die Anwendbarkeit deſſel-

ben in nicht wenigen Rechtslehren beſtreitet, worin ſie

|0022 : XVI|

Vorrede.

bisher allgemein angenommen wurde, ſelbſt von Sol-

chen, die ſich ſtets für Gegner der hiſtoriſchen Schule

erklärt haben. Eine Sinnesänderung des Verfaſſers

kann hierin nicht gefunden werden, da derſelbe dieſe An-

ſichten großentheils ſchon ſeit Dreyßig bis Vierzig Jah-

ren öffentlich vorgetragen hat; es liegt alſo in dieſer

Erſcheinung vielmehr der Beweis, daß der angegebene

Vorwurf, den man der hiſtoriſchen Schule überhaupt,

und mir insbeſondere, zu machen pflegte, ganz ohne

Grund iſt. Vielleicht kann bey Unbefangenen dieſe

Wahrnehmung dazu dienen, den ganzen Parteyſtreit

und die darauf bezüglichen Parteynamen allmälig zu

beſeitigen; zumal da die Gründe, die den erſten Ge-

brauch des Namens einer hiſtoriſchen Schule veranlaß-

ten, zugleich mit den vorherrſchenden Mängeln, de-

ren Bekämpfung damals nöthig war, ſo gut als ver-

ſchwunden ſind. Zwar mag ein fortgeführter Streit

ſolcher Art zur ſchärferen Ausbildung mancher Gegen-

ſätze dienen, aber dieſer Vortheil wird gewiß weit über[-]

wogen durch die Störung des unbefangenen Urtheils

über fremde Leiſtungen, ſo wie dadurch, daß in dem

Streit der Parteyen Kräfte verſchwendet werden, die

zu den gemeinſamen Zwecken der Wiſſenſchaft heilſamer

verwendet werden könnten. Ich bin weit entfernt, den

|0023 : XVII|

Vorrede.

großen Vortheil des wiſſenſchaftlichen Streites über-

haupt zu verkennen, der ſogar eine Lebensbedingung

der Wiſſenſchaft iſt; auch in der Art und Richtung gei-

ſtiger Kräfte der Einzelnen wird ſtets große Verſchie-

denheit wahrgenommen werden. Gerade aus dem Zu-

ſammenwirken ſo entgegengeſetzter Elemente ſoll aber

das wahre Leben der Wiſſenſchaft hervorgehen, und die

Träger der verſchiedenen Kräfte ſollen nie aufhören, ſich

als Arbeiter an demſelben großen Bau anzuſehen. Laſ-

ſen wir ſie dagegen in feindliche Lager aus einander tre-

ten, und ſuchen wir durch fleißige Anwendung von Par-

teynamen den Gegenſatz recht perſönlich zu machen, ſo

wird bald unſre Auffaſſung von Grund aus unwahr,

und ihre Folgen können ſich nur als verderblich erwei-

ſen; das individuelle Leben und Wirken der Einzelnen

verſchwindet vor unſren Augen, indem wir ſie vorzugs-

weiſe als Anhänger einer Partey billigen oder anfein-

den, und ſo geht uns der natürliche Gewinn für unſre

eigene Bildung verloren, den wir aus der ungeſtörten

Einwirkung ihrer Arbeit auf uns ziehen konnten.

Iſt nun auf dieſe Weiſe das Beſtreben, dem Rö-

miſchen Recht durch das vorliegende Werk eine unge-

meſſene Herrſchaft über uns zuzuwenden, beſtimmt ab-

gelehnt worden, ſo ſoll doch auf der andern Seite nicht

 

b

|0024 : XVIII|

Vorrede.

weniger beſtimmt anerkannt werden, daß die gründliche

Kenntniß deſſelben auch für unſren gegenwärtigen

Rechtszuſtand den höchſten Werth hat, ja unentbehrlich

genannt werden muß; und ſelbſt wenn dieſe Überzeu-

gung hier nicht wörtlich ausgeſprochen wäre, ſo würde

ſie doch ſchon durch die Unternehmung eines ſo umfaſ-

ſenden Werks, wie das gegenwärtige, alſo durch die

That, an den Tag gelegt ſeyn. Es kommt nur darauf

an, ſich über den Grund und die Beſchaffenheit dieſes

hohen Werthes der Kenntniß jenes Rechts zu verſtän-

digen.

Nicht wenige haben davon folgende Vorſtellung. In

den Ländern, worin noch das Römiſche Recht als Ge-

ſetz gelte, dürfe kein gewiſſenhafter Juriſt das mühevolle

Studium deſſelben unterlaſſen; hingegen da, wo neue

Geſetzbücher eingeführt ſeyen, falle ein ſolches Bedürf-

niß hinweg, und der Rechtszuſtand ſey daſelbſt glückli-

cher zu nennen, weil der Juriſt ſeine Zeit und Kraft

auf lebendigere Gegenſtände verwenden könne. Wäre

dieſes die rechte Anſicht, ſo würde ſelbſt für jene Länder

das Römiſche Recht wenigſtens einen ſehr precären

Werth haben, da für die Geſetzgeber derſelben nichts

leichter ſeyn würde, als den erwähnten glücklicheren Zu-

ſtand durch Aneignung eines ſchon vorhandenen frem-

 

|0025 : XIX|

Vorrede.

den Geſetzbuchs herbeyzuführen, wenn ſie nicht etwa

ſelbſt ein eigenes neu hervorbringen möchten. — An-

dere haben die Behauptung eines beſonderen Werthes

des Römiſchen Rechts ſo aufgefaßt, als ſollte das ma-

terielle Ergebniß deſſelben, ſo wie es ſich in einzelnen

praktiſchen Regeln darſtellen laſſe, verglichen mit ähnli-

chen Regeln, wie ſie in Rechtsbildungen des Mittelal-

ters oder der neueren Zeit erſcheinen, für vorzüglicher

erklärt werden. Daß auf eine Apologie in dieſem Sinn

namentlich das vorliegende Werk nicht ausgeht, wird

die Ausführung deſſelben beweiſen. In der That liegt

die Sache (ſehr einzeln ſtehende Fälle ausgenommen)

tiefer, als daß ſie durch eine ſolche Wahl zwiſchen entge-

gengeſetzten praktiſchen Regeln abgethan werden könnte,

und ein Werk, welches dieſen comparativen Geſichts-

punkt im Einzelnen verfolgen wollte, würde an die kind-

liche Stimmung erinnern, die bey der Erzählung von

Kriegsgeſchichten ſtets zu fragen geneigt iſt, welches die

Guten, welches die Böſen waren.

Die geiſtige Thätigkeit der Einzelnen in Beziehung

auf das Recht kann ſich in zwey verſchiedenen Richtun-

gen äußern: durch Aufnahme und Entwicklung des

Rechtsbewußtſeyns im Allgemeinen, alſo durch Wiſſen,

Lehren, Darſtellen: oder durch die Anwendung auf die

 

b*

|0026 : XX|

Vorrede.

Ereigniſſe des wirklichen Lebens. Dieſes zweyfache Ele-

ment des Rechts, das theoretiſche und das praktiſche, ge-

hört demnach dem allgemeinen Weſen des Rechts ſelbſt

an. Es liegt aber in dem Entwicklungsgang der neue-

ren Jahrhunderte, daß dieſe zwey Richtungen zugleich

in verſchiedenen Ständen und Berufsarten aus einan-

der getreten ſind, daß alſo die Rechtskundigen, mit ſel-

tenen Ausnahmen, durch ihren ausſchließenden oder

überwiegenden Beruf entweder der Theorie oder der

Praxis allein angehören. Wie dieſes nicht durch menſch-

liche Willkühr ſo geworden iſt, ſo iſt daran auch im All-

gemeinen Nichts zu loben oder zu tadeln. Wohl aber

iſt es wichtig, mit Ernſt zu erwägen, was in dieſem Ge-

genſatz naturgemäß und heilſam iſt, wie er dagegen in

verderbliche Einſeitigkeit ausſchlagen kann. Es beruht

aber alles Heil darauf, daß in dieſen geſonderten Thä-

tigkeiten Jeder die urſprüngliche Einheit feſt im Auge

behalte, daß alſo in gewiſſem Grade jeder Theoretiker

den praktiſchen, jeder Praktiker den theoretiſchen Sinn

in ſich erhalte und entwickle. Wo dieſes nicht geſchieht,

wo die Trennung zwiſchen Theorie und Praxis eine ab-

ſolute wird, da entſteht unvermeidlich die Gefahr, daß

die Theorie zu einem leeren Spiel, die Praxis zu einem

bloßen Handwerk herabſinke.

|0027 : XXI|

Vorrede.

Wenn ich ſage, daß jeder Theoretiker ſtets zugleich

ein praktiſches Element in ſich tragen ſoll, ſo iſt dieſes

dem Sinn und Geiſt nach gemeynt, nicht der Beſchäf-

tigung nach: obgleich freylich einige praktiſche Beſchäfti-

gung, richtig angewendet, der ſicherſte Weg zur För-

derung des praktiſchen Sinnes iſt. Gewiß haben Viele,

die mit Ernſt und Liebe der Rechtswiſſenſchaft zugethan

ſind, die Erfahrung gemacht, daß irgend ein einzelner

Rechtsfall ihnen ein Rechtsinſtitut zu ſo lebendiger An-

ſchauung gebracht hat, wie es ihnen durch Bücherſtu-

dium und eigenes Nachdenken nie gelungen war. Was

uns nun ſo durch Zufall im Einzelnen an Ausbildung

zugeführt wird, läßt ſich auch als bewußtes Ziel unſres

Strebens, und durch das Ganze unſrer Wiſſenſchaft

durchgeführt, denken. Dann wäre der vollendete Theo-

retiker derjenige, deſſen Theorie durch die vollſtändige,

durchgeführte Anſchauung des geſammten Rechtsver-

kehrs belebt würde; alle ſittlich religiöſen, politiſchen,

ſtaatswirthſchaftlichen Beziehungen des wirklichen Le-

bens müßten ihm dabey vor Augen ſtehen. Es bedarf

kaum der Erwähnung, daß dieſe Forderung nicht auf-

geſtellt werden ſoll, um denjenigen zu tadeln, der ſie

nicht vollſtändig erfüllt, da ſich ja Jeder, der etwa einen

ſolchen Maasſtab an Andere anlegen möchte, ſagen muß,

 

|0028 : XXII|

Vorrede.

wie wenig er ſelbſt dieſes vermag. Dennoch iſt es gut,

ſich ein ſolches Ziel für die vereinten Beſtrebungen man-

nichfaltiger Kräfte vor Augen zu halten; zunächſt um

in der wahren Richtung zu bleiben, dann auch um ſich

gegen alle Anwandlungen des Eigendünkels zu ſchützen,

vor welchen keiner ganz ſicher iſt. — Betrachten wir nun

aber den wirklichen Zuſtand unſrer Rechtstheorie, wie

ſie jetzt iſt, in Vergleichung mit dem Zuſtand, wie er

vor Funfzig, und noch mehr wie er vor Hundert Jah-

ren war, ſo finden wir Vorzüge und Nachtheile ſehr ge-

miſcht. Zwar wird Niemand verkennen, daß jetzt Vie-

les möglich geworden und wirklich geleiſtet iſt, woran

früher nicht zu denken war, ja daß die Maſſe der her-

vorgearbeiteten Kenntniſſe in Vergleichung mit jenen

früheren Zeitpunkten ſehr hoch ſteht. Sehen wir aber

auf den oben geforderten praktiſchen Sinn, wodurch in

den einzelnen Trägern der Theorie ihr Wiſſen belebt

werden ſoll, ſo dürfte die Vergleichung minder vortheil-

haft für die Gegenwart ausfallen. Dieſer Mangel der

Gegenwart aber ſteht im Zuſammenhang mit der eigen-

thümlichen Richtung, die in den theoretiſchen Beſtrebun-

gen ſelbſt gegenwärtig wahrzunehmen iſt. Gewiß iſt

Nichts löblicher, als der Trieb die Wiſſenſchaft durch

neue Entdeckungen zu bereichern; dennoch hat auch die-

|0029 : XXIII|

Vorrede.

ſer Trieb in unſrer Zeit eine oft einſeitige und unheil-

ſame Wendung genommen. Man hat angefangen, ei-

nen übertriebenen Werth zu ſetzen auf die Erzeugung

neuer Anſichten, in Vergleichung mit der treuen, liebe-

vollen Ausbildung und befriedigenden Darſtellung des

ſchon Erforſchten, obgleich auch bey dieſer, wenn ſie mit

Ernſt geſchieht, das ſchon Vorhandene ſtets eine neue

Geſtalt annehmen, und ſo zum wirklichen, wenn auch

weniger bemerkbaren, Fortſchritt der Wiſſenſchaft führen

wird. Da nun den Meiſten eine im Großen wirkende

ſchöpferiſche Kraft nicht verliehen iſt, ſo hat jene einſei-

tige Werthſchätzung des Neuen Viele dahin geführt, ſich

vorzugsweiſe in einzelnen, abgeriſſenen Gedanken und

Meynungen zu ergehen, und über dieſer Zerſplitterung

den zuſammenhängenden Beſitz des Ganzen unſrer

Wiſſenſchaft zu verſäumen. Hierin eben waren uns

unſre Vorgänger überlegen, unter welchen ſich ver-

hältnißmäßig eine größere Zahl von Individuen fand,

die unſre Wiſſenſchaft im Ganzen auf eine würdige

Weiſe zu repräſentiren vermochten. Wer jedoch die

Sache von einem allgemeineren Standpunkt aus be-

trachten will, wird ſich leicht überzeugen, daß dieſe

Erſcheinungen keinesweges der Rechtswiſſenſchaft ei-

genthümlich ſind, ſondern vielmehr mit dem Ent-

|0030 : XXIV|

Vorrede.

wicklungsgang unſrer Literatur überhaupt in Zuſam-

menhang ſtehen.

Auf der anderen Seite wurde oben gefordert, daß

der Praktiker zugleich ein theoretiſches Element in ſich

trage. Auch dieſes wiederum iſt nicht ſo gemeynt, daß

er zugleich als Schriftſteller thätig ſeyn, oder auch nur

ein ſehr umfaſſendes Bücherſtudium ſtets fortführen

ſolle: Beides würde ſchon durch den Umfang der prak-

tiſchen Arbeiten meiſt unmöglich werden. Aber den

Sinn für die Wiſſenſchaft ſoll er in ſeinem praktiſchen

Geſchäft ſelbſt ſtets lebendig erhalten, er ſoll nie ver-

geſſen, daß die richtig aufgefaßte Rechtswiſſenſchaft nichts

Anderes iſt, als die Zuſammenfaſſung desjenigen, was

er im Einzelnen ſich zum Bewußtſeyn bringen und an-

wenden ſoll. Nichts iſt häufiger, als in der Würdi-

gung eines praktiſchen Juriſten auf die bloße Gewandt-

heit und Leichtigkeit ausſchließenden Werth zu legen,

obgleich dieſe an ſich ſehr brauchbare Eigenſchaften mit

der gewiſſenloſeſten Oberflächlichkeit gar wohl vereinbar

ſind. Daß unſrer juriſtiſchen Praxis der rechte Geiſt

nicht überall inwohnt, geht ſichtbar hervor aus dem Er-

folg, wie er ſich im Großen darſtellt. Wäre in ihr die-

ſer Geiſt wirkſam, ſo müßte auch von ihr ein ſicherer

Fortſchritt geſunder Rechtswiſſenſchaft ausgehen, ſie

 

|0031 : XXV|

Vorrede.

müßte die theoretiſchen Beſtrebungen unterſtützen und,

wo ſie abirren, auf die rechte Bahn zurück führen, be-

ſonders aber müßte ſie der Geſetzgebung ſo vorarbeiten,

daß beide, Geſetz und Rechtsanwendung, naturgemäß

in innerer Einheit vorwärts giengen. Und finden wir

nicht meiſtens von dieſem Allen gerade das Gegentheil?

Beſteht nun alſo das Hauptübel unſres Rechtszu-

ſtandes in einer ſtets wachſenden Scheidung zwiſchen

Theorie und Praxis, ſo kann auch die Abhülfe nur in

der Herſtellung ihrer natürlichen Einheit geſucht wer-

den. Gerade dazu aber kann das Römiſche Recht, wenn

wir es richtig benutzen wollen, die wichtigſten Dienſte

leiſten. Bey den Römiſchen Juriſten erſcheint jene na-

türliche Einheit noch ungeſtört, und in lebendigſter Wirk-

ſamkeit; es iſt nicht ihr Verdienſt, ſo wie der entgegen-

geſetzte heutige Zuſtand mehr durch den allgemeinen

Gang der Entwicklung, als durch die Schuld der Ein-

zelnen, herbeygeführt worden iſt. Indem wir uns nun

mit Ernſt und Unbefangenheit in ihr, von dem unſrigen

ſo verſchiedenes, Verfahren hinein denken, können auch

wir uns daſſelbe aneignen, und ſo für uns ſelbſt in die

rechte Bahn einlenken.

 

Da es aber ſehr verſchiedene Weiſen giebt, in wel-

chen die Kenntniß des Römiſchen Rechts geſucht werden

 

|0032 : XXVI|

Vorrede.

kann, ſo iſt es nöthig klar auszuſprechen, welcherley

Weiſe dieſer Kenntniß hier gefordert wird, wenn der

angegebene Zweck erreicht werden ſoll. Daß ein gründ-

liches wiſſenſchaftliches Verfahren gemeynt iſt, wird wohl

Jeder erwarten; Mancher aber möchte durch das Mis-

verſtändniß zurück geſchreckt werden, als werde Jedem,

der ſich eine ſolche Kenntniß des Römiſchen Rechts er-

werben wolle, auch die ganze Arbeit antiquariſcher Un-

terſuchung und kritiſcher Quellenforſchung angemuthet.

Obgleich nun auch dieſer Theil unſrer Studien wichtig iſt,

ſo ſoll doch hier keinesweges das heilſame Princip der

Theilung der Arbeit verkannt werden; die Meiſten alſo

werden ſich mit den Reſultaten jener von Einzelnen ange-

ſtellten ſpeciellen Forſchungen völlig genügen laſſen kön-

nen. Auf der andern Seite aber würde es ganz irrig

ſeyn zu glauben, als ob mit einer Kenntniß der allge-

meinſten Grundſätze des Römiſchen Rechts für den an-

gegebenen Zweck auch nur das Geringſte gewonnen wer-

den könnte: einer Kenntniß etwa, wie ſie in einem In-

ſtitutionencompendium niedergelegt iſt, oder wie ſie in

den Franzöſiſchen Rechtsſchulen mitgetheilt zu werden

pflegt. Eine ſolche Kenntniß iſt genügend, um das

wörtliche Andenken des Römiſchen Rechts auf eine beſ-

ſere Zukunft fortzupflanzen; dem, welcher ſich auf ſie

|0033 : XXVII|

Vorrede.

beſchränkt, lohnt ſie kaum die geringe Mühe, die er

darauf verwendet. Soll uns die Kenntniß des Römi-

ſchen Rechts zu dem hier angegebenen Ziel führen, ſo

giebt es nur Einen Weg dazu: wir müſſen uns in die

Schriften der alten Juriſten ſelbſtſtändig hinein leſen

und denken. Dann wird uns auch die ungeheure Maſſe

neuerer Literatur nicht mehr abſchrecken. Zweckmäßige

Anleitung mag uns das Wenige daraus bemerklich ma-

chen, wodurch unſer unabhängiges Studium wahrhaft

gefördert werden kann; die übrige Maſſe überlaſſen wir

den Juriſten von theoretiſchem Beruf, die freylich auch

dieſe mühevolle Beſchäftigung nicht von ſich abweiſen

dürfen.

Das vorliegende Werk iſt ganz beſonders dazu be-

ſtimmt, die hier dargelegten Zwecke ernſtlicher Beſchäf-

tigung mit dem Römiſchen Recht zu befördern: vorzüg-

lich alſo die Schwierigkeiten zu vermindern, die den Ju-

riſten von praktiſchem Beruf von einem eigenen, ſelbſt-

ſtändigen Quellenſtudium abzuhalten pflegen. Durch

dieſe Schwierigkeiten wird den Anſichten, die gerade in

den gangbarſten neueren Handbüchern niedergelegt ſind,

eine ungebührliche Herrſchaft über die Praxis zuge-

wendet; geht alſo die Abſicht des Verfaſſers bey die-

ſem Werke in Erfüllung, ſo wird dadurch zugleich auf

 

|0034 : XXVIII|

Vorrede.

die Emancipation der Praxis von einer unächten Theo-

rie hingewirkt werden.

Allerdings finden dieſe Gedanken ihre unmittelbarſte

Anwendung in den Ländern, worin noch jetzt das Rö-

miſche Recht die Grundlage der Rechtspraxis bildet;

dennoch ſind ſie auch anwendbar da wo neue Geſetzbü-

cher an die Stelle des Römiſchen Rechts getreten ſind.

Denn die Mängel des Rechtszuſtandes ſind hier und

dort weſentlich dieſelben, und eben ſo iſt das Bedürfniß

und die Art der Abhülfe weniger verſchieden, als man

glauben möchte. Auch in den Ländern alſo, die mit

einheimiſchen Geſetzbüchern verſehen ſind, wird durch die

hier dargeſtellte Benutzungsweiſe des Römiſchen Rechts

die Theorie theils neu belebt, theils vor ganz ſubjectiven

und willkührlichen Abirrungen bewahrt, beſonders aber

der Praxis wieder näher gebracht werden, worauf überall

das Meiſte ankommt. Schwerer freylich iſt hier eine

ſolche Umwandlung als in den Ländern des gemeinen

Rechts, aber unmöglich iſt ſie nicht. Das zeigt uns be-

ſonders das Beyſpiel der neueren Franzöſiſchen Juri-

ſten, die oft auf recht verſtändige Weiſe ihr Geſetzbuch

aus dem Römiſchen Recht erläutern und ergänzen.

Hierin verfahren ſie ganz im wahren Sinn dieſes Ge-

ſetzbuchs, und wo ſie fehl greifen, da geſchieht es weni-

 

|0035 : XXIX|

Vorrede.

ger aus einer ungehörigen Benutzungsweiſe des Römi-

ſchen Rechts, als aus mangelhafter Kenntniß deſſelben.

Hierin nun ſind wir ihnen unſtreitig überlegen; allein

in der Art der Benutzung neben den einheimiſchen Ge-

ſetzen würden wir wohl thun von ihnen zu lernen.

Schwieriger allerdings als bey ihnen iſt dieſe Benutzung

in unſrem Preußiſchen Vaterland, da in unſrem Land-

recht theils durch die eigenthümliche Darſtellungsweiſe,

theils durch die weit getriebene Ausführlichkeit, der wirk-

lich vorhandene innere Zuſammenhang mit dem frühe-

ren Recht oft verdeckt wird. Schwieriger alſo iſt ſie,

aber darum nicht unmöglich; und wenn ſie wiederher-

geſtellt wird, ſo wird damit zugleich einem weſentlichen

Übel abgeholfen, das aus der Einführung des Land-

rechts hervorgegangen iſt. Dieſes Übel beſteht in der

gänzlichen Abtrennung von der wiſſenſchaftlichen Bear-

beitung des gemeinen Rechts, wodurch unſrer Praxis

eines der wichtigſten Bildungsmittel bisher entzogen

wurde, die lebendige Berührung mit dem juriſtiſchen

Denken früherer Zeiten und anderer Länder. Es iſt

nicht zu verkennen, daß zu der Zeit, worm die Abfaſſung

des Preußiſchen Landrechts unternommen wurde, die

deutſche juriſtiſche Literatur großentheils geiſtlos und

unbehülflich geworden war, alſo auch die Fähigkeit eines

|0036 : XXX|

Vorrede.

wohlthätigen Einfluſſes auf die Praxis meiſt verloren

hatte; ja eben die Wahrnehmung dieſes mangelhaften

Rechtszuſtandes hat damals zu dem Verſuch geführt,

dem Übel durch ein einheimiſches Geſetzbuch abzuhelfen,

und ſo die Grundlage des praktiſchen Rechts gänzlich

umzuändern. Wenn es uns jetzt gelänge, die aufge-

löſte Verbindung mit der gemeinrechtlichen Literatur theil-

weiſe wieder anzuknüpfen, ſo könnte daraus nunmehr,

bey dem gänzlich veränderten Zuſtand der Rechtswiſſen-

ſchaft, nur ein wohlthätiger Einfluß auf die Praxis ent-

ſtehen, und die Nachtheile, die ſich in früherer Zeit ſo

fühlbar gemacht hatten, würden gewiß nicht wiederkehren.

Manche finden in der Anmuthung, das Römiſche

Recht fortwährend als Bildungsmittel für unſren Rechts-

zuſtand zu benutzen eine verletzende Zurückſetzung unſrer

Zeit und unſrer Nation. Sie faſſen die Sache ſo auf,

als könnten wir auf dieſem Wege, im günſtigſten Falle,

doch nur eine unvollkommene Nachahmung oder Wie-

derholung des von den Römern hervorgebrachten Rechts-

zuſtandes darſtellen, es ſey aber würdiger, durch unab-

hängiges Streben etwas Neues und Eigenthümliches

zu ſchaffen. Dieſem an ſich löblichen Selbſtgefühl liegt

aber folgendes Misverſtändniß zum Grunde. Bei dem

großen und mannichfaltigen Rechtsſtoff, den uns die

 

|0037 : XXXI|

Vorrede.

Jahrhunderte zugeführt haben, iſt unſre Aufgabe ohne

Vergleich ſchwieriger, als es die der Römer war, unſer

Ziel alſo ſteht höher, und wenn es uns gelingt dieſes

Ziel zu erreichen, ſo werden wir nicht etwa die Trefflich-

keit der Römiſchen Juriſten in bloßer Nachahmung wie-

derholt, ſondern weit Größeres als ſie geleiſtet haben.

Wenn wir gelernt haben werden, den gegebenen Rechts-

ſtoff mit derſelben Freyheit und Herrſchaft zu behan-

deln, die wir an den Römern bewundern, dann können

wir ſie als Vorbilder entbehren, und der Geſchichte zu

dankbarer Erinnerung übergeben. Bis dahin aber wol-

len wir uns eben ſo wenig durch falſchen Stolz, als

durch Bequemlichkeit, abhalten laſſen ein Bildungsmittel

zu benutzen, welches wir durch eigene Kraft zu erſetzen

ſchwerlich vermögen würden. Es wird alſo hierin ein

Verhältniß unſrer Zeit zum Alterthum behauptet, wie wir

es in ähnlicher Weiſe auch in anderen geiſtigen Gebieten

wahrnehmen. Niemand möge dieſe Worte ſo verſtehen,

als ſollte die Beſchäftigung mit dem Römiſchen Recht er-

hoben werden zum Nachtheil der eifrigen germaniſtiſchen

Beſtrebungen, die gerade in unſrer Zeit ſo erfreulichen

Hoffnungen Raum geben. Nichts iſt häufiger und na-

türlicher, als den lebendigen Eifer für das Gebiet un-

ſrer eigenen Forſchungen kund zu geben durch Herab-

|0038 : XXXII|

Vorrede.

ſetzung eines verwandten fremden Gebietes; aber ein

Irrthum iſt es dennoch, und dieſer Irrthum wird un-

fehlbar nur demjenigen Nachtheil bringen, der ihn hegt

und übt, nicht dem Gegner, welchem durch ſolche Herab-

ſetzung Abbruch gethan werden ſoll.

Aus dem oben dargelegten Plan dieſes Werks geht

hervor, daß es vorzugsweiſe einen kritiſchen Character

haben wird. Manche werden damit wenig zufrieden

ſeyn, indem ſie überall nur poſitive, zu unmittelbarer

Anwendung brauchbare, Wahrheit verlangen, unbeküm-

mert um die Art ihrer Erwerbung, und um die mögli-

chen Gegenſätze derſelben. Unſer geiſtiges Leben wäre

leicht und bequem, wenn wir lediglich die klare, einfache

Wahrheit ausſchließend auf uns einwirken laſſen und

ſo zu immer neuer Erkenntniß ungeſtört fortſchreiten

könnten. Allein uns umgiebt und hemmt von allen

Seiten der Schutt falſcher oder halbwahrer Begriffe

und Meynungen, durch die wir uns Bahn machen müſ-

ſen. Wollen wir mit dem Schickſal darum rechten, daß

es uns ſolche unnütze Mühe aufgebürdet hat? Schon

als in eine nothwendige Bedingung unſres geiſtigen Da-

ſeyns müßten wir uns darein fügen, allein es fehlt auch

nicht an reicher Frucht, die als Lohn unſrer Arbeit aus

dieſer Nothwendigkeit erwächſt. Unſere geiſtige Kraft

 

|0039 : XXXIII|

Vorrede.

findet darin ihre allgemeine Erziehung, und jede ein-

zelne Wahrheit, die wir durch dieſen Kampf mit dem

Irrthum gewinnen, wird in höherem Sinn unſer Ei-

genthum, und erweiſt ſich uns fruchtbarer, als wenn

wir ſie leidend und mühelos von Anderen empfangen.

Der erwähnte kritiſche Character des Werks wird

ſich nun vorzüglich in folgenden einzelnen Anwendungen

zeigen. Zunächſt, und recht ausſchließend, in den nicht

ſeltenen blos negativen Reſultaten einer angeſtellten Un-

terſuchung; mögen dieſe darin beſtehen, daß ein Römi-

ſches Rechtsinſtitut als erſtorben, und alſo unſrem Rechts-

zuſtand fremd, nachgewieſen wird, oder in der Darle-

gung der von neueren Juriſten in unſer Rechtsſyſtem

aus Misverſtand eingeſchobenen grundloſen Begriffe und

Lehrmeynungen. Gerade ſolche Unterſuchungen ſind es,

womit Viele am Wenigſten behelligt und aufgehalten

werden möchten. Wer aber Steine aus dem Wege

räumt, oder gegen Abwege warnt durch aufgeſtellte Weg-

weiſer, der verbeſſert doch weſentlich den Zuſtand ſeiner

Nachfolger; mag es auch, wenn ſolche erlangte Vor-

theile durch Gewohnheit befeſtigt ſind, bald vergeſſen

werden, daß es jemals eine Zeit gab, worin hier Schwie-

rigkeiten zu beſtehen waren.

 

c

|0040 : XXXIV|

Vorrede.

Allein nicht nur in blos negativen Reſultaten wird

ſich jener kritiſche Character des Werks zeigen, ſondern

auch da, wo für eine aufgeſtellte poſitive Wahrheit der

einfache, abſolute Gegenſatz des Wahren und Falſchen

nicht ausreicht. So kommt es in vielen Fällen vor-

zugsweiſe darauf an, den Grad unſrer Überzeugung

näher zu bezeichnen. Wenn wir nämlich fremden Mey-

nungen ſtreitend entgegen treten, kann dieſes auf ver-

ſchiedene Weiſe geſchehen. Nicht ſelten begleitet unſre

Überzeugung das Gefühl vollſtändiger Gewißheit, in-

dem wir einſehen, wie die Meynung des Gegners aus

logiſchen Fehlern, factiſcher Unkenntniß, oder durchaus

verwerflicher Methode entſprungen iſt; dann halten wir

dieſe Meynung für wiſſenſchaftlich unerlaubt, und in

unſrem Widerſpruch iſt dann ein entſchiedener Tadel

des Gegners nothwendig enthalten. Nicht ſo in ande-

ren Fällen, worin wir, nach ſorgfältiger Abwägung al-

ler Gründe, zwar Einer Meynung den Vorzug geben,

doch ohne den Anſpruch auf ſo entſchiedene Verurthei-

lung unſres Gegners. In dieſer Wahrſcheinlichkeit

nun, womit wir uns dann begnügen müſſen, laſſen ſich

Grade unterſcheiden, und die genaue Bezeichnung, die

gewiſſenhafte Anerkennung dieſer Grade gehört ebenſo-

wohl zum ſittlichen, als zum wiſſenſchaftlichen Werth

 

|0041 : XXXV|

Vorrede.

unſrer Arbeit (a). — In anderen Fällen ſtreitender

Meynungen iſt es von Wichtigkeit, die eigentliche Gränze

des Streitigen, ſo wie den Werth und Einfluß, den dieſe

Meynungsverſchiedenheit für die Wiſſenſchaft hat, ge-

nau zu beſtimmen. Die Lebhaftigkeit des Streites, ſo

wie das durch denſelben häufig erhöhte Selbſtgefühl,

verleitet uns leicht zu einer übertriebenen Werthſchätzung

deſſelben, und läßt uns dann auch Andere hierin irre

führen. — Endlich verdient noch, in den von uns ange-

fochtenen fremden Meynungen, große Aufmerkſamkeit

ein Verhältniß derſelben, das ſich als relative Wahr-

heit bezeichnen läßt. Nicht ſelten nämlich werden wir

in einer Meynung, die wir als entſchiedenen Irrthum

verwerfen müſſen, dennoch ein wahres Element erken-

nen, welches nur durch verkehrte Behandlung oder ein-

ſeitige Übertreibung in Irrthum umgewandelt worden

iſt; namentlich gilt dieſes von den vielen Fällen, worin

der Irrthum nur darin beſteht, daß das Concrete zu

(a) Lebensnachrichten über B.

G. Niebuhr B. 2 S. 208: „Vor

allen Dingen aber müſſen wir in

den Wiſſenſchaften unſre Wahr-

haftigkeit ſo rein erhalten, daß

wir abſolut allen falſchen Schein

fliehen, daß wir auch nicht das

allergeringſte als gewiß ſchreiben,

wovon wir nicht völlig überzeugt

ſind, daß wir, wo wir Vermu-

thung ausſprechen müſſen, alles

anſtrengen um den Grad unſers

Wahrhaltens anſchaulich zu ma-

chen.“ — Vieles in dem treffli-

chen Briefe, woraus dieſe Stelle

genommen iſt, gehört nicht der

Philologie allein an (worauf es

ſich zunächſt bezieht); ſondern al-

len Wiſſenſchaften überhaupt.

c*

|0042 : XXXVI|

Vorrede.

allgemein, oder das wahrhaft Allgemeine zu concret

aufgefaßt wird. Die Ausſcheidung und Anerkennung

eines ſolchen wahren Elements in der von uns als irrig

bekämpften Meynung kann für die Wiſſenſchaft von

großem Werth ſeyn; ſie iſt vorzugsweiſe geeignet, un-

ter unbefangenen, wahrheitsliebenden Gegnern eine Ver-

ſtändigung herbey zu führen, und ſo den Streit zur

reinſten, befriedigendſten Entſcheidung zu bringen, in-

dem die Gegenſätze in einer höheren Einheit aufge-

löſt werden.

Die Form, worin die hier dargelegten Zwecke ver-

folgt werden ſollen, iſt die ſyſtematiſche, und da das

Weſen derſelben nicht von Allen auf gleiche Weiſe auf-

gefaßt wird, ſo iſt es nöthig, eine allgemeine Erklärung

hierüber gleich an dieſer Stelle nieder zu legen. Ich

ſetze das Weſen der ſyſtematiſchen Methode in die Er-

kenntniß und Darſtellung des inneren Zuſammenhangs

oder der Verwandtſchaft, wodurch die einzelnen Rechts-

begriffe und Rechtsregeln zu einer großen Einheit ver-

bunden werden. Solche Verwandtſchaften nun ſind erſt-

lich oft verborgen, und ihre Entdeckung wird dann un-

ſre Einſicht bereichern. Sie ſind ferner ſehr mannich-

faltig, und je mehr es uns gelingt, bey einem Rechts-

inſtitut deſſen Verwandtſchaften nach verſchiedenen Sei-

 

|0043 : XXXVII|

Vorrede.

ten hin zu entdecken und zu verfolgen, deſto vollſtändi-

ger wird unſre Einſicht werden. Endlich giebt es auch

nicht ſelten einen täuſchenden Schein von Verwandt-

ſchaft, wo eine ſolche in der That nicht vorhanden iſt,

und dann beſteht unſre Aufgabe in der Vernichtung die-

ſes Scheins. — Natürlich wird auch die äußere Anord-

nung eines ſyſtematiſchen Werks durch jenen inneren

Zuſammenhang, der ſich in ihr abzuſpiegeln hat, be-

ſtimmt werden, und nicht ſelten iſt es dieſe allein, woran

man zu denken pflegt, wenn von ſyſtematiſcher Behand-

lung die Rede iſt. Dabey iſt jedoch gegen manche Mis-

verſtändniſſe zu warnen. In der reichen, lebendigen

Wirklichkeit bilden alle Rechtsverhältniſſe Ein organi-

ſches Ganze, wir aber ſind genöthigt, ihre Beſtandtheile

zu vereinzeln, um ſie ſucceſſiv in unſer Bewußtſeyn auf-

zunehmen und Anderen mitzutheilen. Die Ordnung,

in die wir ſie ſtellen, kann alſo nur durch diejenige Ver-

wandtſchaft beſtimmt werden, die wir gerade als die

überwiegende erkennen, und jede andere in der Wirk-

lichkeit vorhandene Verwandtſchaft kann nur in abge-

ſonderter Darſtellung daneben bemerklich gemacht wer-

den. Hierin nun iſt eine gewiſſe Duldſamkeit zu for-

dern, ja ſelbſt einiger Spielraum für den ſubjectiven

Bildungsgang des Schriftſtellers, der ihn vielleicht be-

|0044 : XXXVIII|

Vorrede.

ſtimmt, eine gewiſſe Betrachtungsweiſe beſonders her-

vorzuheben, die er dann aber auch vorzugsweiſe frucht-

bar zu machen im Stande ſeyn wird.

Viele fordern von einer ſyſtematiſchen Darſtellung,

daß in derſelben Nichts vorkomme, was nicht in dem

Vorhergehenden ſeine vollſtändige Begründung gefun-

den habe, daß alſo auf keine Weiſe in den Inhalt ſpä-

ter folgender Theile hinüber gegriffen werde. Dieſen

muß das vorliegende Werk den größten Anſtoß erre-

gen, da ich jene Forderung, für ein Werk wie dieſes,

nicht einmal als ein annäherungsweiſe zu befolgendes

Geſetz anerkennen kann. Bey jener Forderung liegt

zum Grunde die Vorausſetzung, daß dem Leſer der Stoff

fremd ſey und jetzt erſt bekannt werden ſolle, und darum

iſt ſie auch richtig, wenn ſie für die Einrichtung des er-

ſten Unterrichts aufgeſtellt wird. Allein nicht leicht wird

Jemand auf den Gedanken kommen, durch ein ausführ-

liches Werk, wie das gegenwärtige, die Rechtswiſſen-

ſchaft zuerſt erlernen zu wollen. Vielmehr werden es

Diejenigen, denen der Stoff aus Vorleſungen und ande-

ren Büchern bekannt iſt, dazu benutzen, die ſchon er-

worbene Kenntniß zu prüfen, zu reinigen, tiefer zu be-

gründen, zu erweitern. Dieſen aber kann wohl auf je-

dem Punkte der Darſtellung angemuthet werden, Das

 

|0045 : XXXIX|

Vorrede.

nas ſie ſchon wiſſen in ihr Bewußtſeyn zurück zu ru-

fen, auch wenn es in dieſem Werk erſt ſpäter für ſich

dargeſtellt wird. Will man dieſes Verfahren vermei-

den, ſo iſt man genöthigt, die Darſtellung der wich-

tigſten und fruchtbarſten Verwandtſchaften der Rechts-

inſtitute entweder ganz aufzugeben, oder doch an ſolche

Stellen zu verlegen, an welchen ſie weit weniger an-

ſchaulich und wirkſam werden muß. Wird daher nur

in der That der Vortheil lebendiger Anſchaulichkeit durch

die gewählte Anordnung erreicht, ſo bedarf dieſe Wahl

einer anderen Rechtfertigung nicht. — Diejenigen aber,

die ſich durch dieſe Gründe nicht beſtimmen laſſen möch-

ten, den erwähnten Tadel aufzugeben, ſind daran zu er-

innern, daß ſie ſich in ausführlichen Monographieen eine

Menge von Vorausſetzungen gefallen laſſen, die in dem-

ſelben Buch nicht ihre Begründung finden. Warum

ſollte nun der Verfaſſer eines umfaſſenden Syſtems

hierin geringeres Recht haben, als der Verfaſſer einer

Monographie?

Indem aber hier, zur Beſeitigung eines vorauszu-

ſehenden Einwurfs, der Monographieen gedacht worden

iſt, die um ſo wichtiger ſind, als in ihnen in neuerer

Zeit der wichtigſte Fortſchritt unſrer Wiſſenſchaft zu ſu-

chen iſt, muß zugleich einem Misverſtändniß begegnet

 

|0046 : XL|

Vorrede.

werden, welches über das Verhältniß dieſer Art von

Arbeiten zu einem umfaſſenden Rechtsſyſtem bey Man-

chen wahrgenommen wird. Dieſe denken ſich nämlich

jede Monographie ſo, als wäre ſie ein einzelner Ab-

ſchnitt, aus dem Ganzen eines Syſtems zufällig beſon-

ders bearbeitet und herausgegeben; nach dieſer Anſicht

bedürfte es nur einer hinreichenden Anzahl guter Mo-

nographieen, um durch Zuſammenfügen derſelben ein

befriedigendes Syſtem zu erbauen. Der weſentliche Un-

terſchied beſteht aber darin, daß in der Monographie

der Standpunkt eines einzelnen Rechtsinſtituts willkühr-

lich gewählt wird, um von dieſem aus die Beziehungen

zu dem Ganzen zu erkennen; hierdurch aber wird die

Auswahl und die Anordnung des Stoffs eine ganz an-

dere, als da wo daſſelbe Rechtsinſtitut im Zuſammen-

hang eines vollſtändigen Rechtsſyſtems darzuſtellen iſt.

Ich habe dieſe Bemerkung auch deswegen nöthig ge-

funden, um es voraus zu erklären und zu rechtfertigen,

wenn die Lehre vom Beſitz in dem vorliegenden Werk

eine ganz andere Geſtalt haben wird, als in dem Buch,

worin ich dieſelbe früher abgeſondert dargeſtellt habe.

Neben dem Syſtem ſelbſt finden ſich in dieſem Werk

abgeſonderte Unterſuchungen unter dem Namen von

Beylagen; dieſe Einrichtung habe ich aus verſchiedenen

 

|0047 : XLI|

Vorrede.

Gründen nöthig gefunden. Zuweilen fordert eine ein-

zelne Frage eine ſo ausgedehnte Unterſuchung, daß da-

durch im Laufe des Syſtems das richtige Maaß weit

überſchritten, alſo der natürliche Zuſammenhang geſtört

werden würde. In anderen Fällen greift ein Rechts-

begriff ſo gleichmäßig in ganz verſchiedene Theile des

Syſtems ein, daß nur eine abgeſonderte Darſtellung

zu einer erſchöpfenden Behandlung des Gegenſtandes

führen kann; dieſes gilt namentlich von einer ausführ-

lichen Beylage, worin die Lehre vom Irrthum abge-

handelt werden wird (Beylage VIII). Endlich liegen

zwar antiquariſche Unterſuchungen ganz außer dem Plane

des Werks; zuweilen aber ſind dieſelben mit Inſtituten

des neueſten Rechts ſo verwebt, daß dieſe nicht vollſtän-

dig zur Anſchauung gebracht werden könnten, wenn nicht

jenen ihre beſcheidene Stelle in einer Beylage einge-

räumt würde. — Eine ganz ſichere Gränze zu ziehen

zwiſchen dem Stoff, der dem Syſtem, und dem welcher

den Beylagen zugetheilt werden ſoll, iſt unmöglich, und

es wird vielleicht Mancher wünſchen, daß hier und dort

etwas Mehr oder Weniger, als geſchehen iſt, in die Bey-

lagen verwieſen ſeyn möchte. Allein auch bey dieſer

Frage mag der individuellen Freyheit ein etwas weiter

Spielraum ohne Gefahr zugeſtanden werden.

|0048 : XLII|

Vorrede.

In früheren Zeiten pflegte man wohl bey der Dar-

ſtellung der einzelnen Rechtsinſtitute eine ganz gleichför-

mige Weiſe anzuwenden, wozu vorzugsweiſe gehörte,

daß der Darſtellung des Begriffs eine vollſtändige

Angabe aller möglichen Eintheilungen deſſelben folgen

mußte. Manche neuere Schriftſteller haben dieſe Ein-

richtung als unbehülflich und unnütz verworfen, und ſich

darauf beſchränkt, Eintheilungen da bemerklich zu ma-

chen, wo ſie durch die Aufſtellung einzelner Rechtsregeln

herbeygeführt werden. Als allgemeine Maxime kann

ich weder das eine noch das andere Verfahren billigen,

indem ich hierin jede mechaniſche Gleichförmigkeit ver-

werflich finde, ſie mag in Thun oder Laſſen beſtehen.

Jede Form iſt gut und räthlich, deren Anwendung die

klare, gründliche Einſicht in ein Rechtsinſtitut fördert,

und man ſoll daher in jedem einzelnen Falle dasjenige

thun, was die eigenthümliche Natur deſſelben erfordert.

Wo alſo der Begriff eines Rechtsinſtituts Gegenſätze in

ſich ſchließt, die in das Weſen deſſelben tief eingreifen,

da kann es wohl zur freyen, vollſtändigen Handhabung

des Begriffs nöthig werden, der allgemeinen Angabe

deſſelben ſogleich die Eintheilungen beyzufügen, worin

jene Gegenſätze ihren Ausdruck finden.

 

Beſondere Sorgfalt wird in dem vorliegenden Werk

 

|0049 : XLIII|

Vorrede.

auf die genaue Feſtſtellung des quellenmäßigen Sprach-

gebrauchs verwendet werden, und es iſt nöthig dieſe zu

rechtfertigen, da Manche glauben, daß in neuerer Zeit

auf dieſen Gegenſtand ein übertriebenes Gewicht gelegt

werde. Die Wichtigkeit deſſelben beruht aber darauf,

daß zwiſchen dem unächten Sprachgebrauch, und der

irrigen Conſtruction oder Verbindung von Begriffen,

eine unverkennbare und gefährliche Wechſelwirkung be-

ſteht. Denn wenn auf der einen Seite der falſche

Sprachgebrauch Product und Kennzeichen des irrigen

Begriffs iſt, ſo wird hinwiederum dieſer durch jenen be-

feſtigt, erweitert, fortgepflanzt. Iſt nun aber durch Auf-

deckung der unächten Terminologie dieſe Quelle des

Irrthums zerſtört, dann dürfen wir uns auch nicht ab-

halten laſſen, neu gebildete Kunſtausdrücke zu gebrau-

chen, da wo der Sprachgebrauch der Quellen nicht aus-

reichend iſt, und in dieſer Hinſicht wird vielleicht von

Manchen der Purismus zu weit getrieben. Nur die-

jenigen unächten Ausdrücke wird es ſtets gerathen ſeyn

zu vermeiden, die ſich durch ihre Verbindung mit fal-

ſchen Begriffen in der That ſchon gefährlich erwie-

ſen haben.

Über die Art, wie die Quellen in dieſem Werk be-

nutzt werden, giebt zwar ein beſonderes Kapitel deſſel-

 

|0050 : XLIV|

Vorrede.

ben (§ 32 — 52) Aufſchluß; dennoch werden auch ſchon

hier einige allgemeine Erklärungen nicht am unrechten

Orte ſtehen. Oft ſind die Juriſten darüber verſpottet

worden, daß ſie ſich in ihren Quellencitaten eine große

Verſchwendung zu Schuld kommen laſſen, indem ſie mit

zahlreichen Stellen auch dasjenige zu beweiſen ſuchen,

was ihnen ohnehin Jeder glaubt. Nimmt man frey-

lich ſolche Citate als bloße Vertheidigungsanſtalten ge-

gen gar nicht vorhandene Zweifel und Widerſprüche,

ſo könnte dieſer Tadel einigen Grund haben. Allein

es giebt dafür noch eine andere, gewiſſermaßen umge-

kehrte, Anſicht. Hat nämlich die oben aufgeſtellte Be-

hauptung Grund, daß wir aus der rechten Betrachtung

der alten Juriſten für unſer eigenes juriſtiſches Denken

eine Belebung und Bereicherung gewinnen können, wie

ſie uns anderwärts nicht dargeboten wird, und iſt zu-

gleich dieſe rechte Betrachtung nicht ohne eigenthümliche

Schwierigkeiten, ſo muß uns eine planmäßige Anleitung

zu derſelben willkommen ſeyn. Zu einer ſolchen Anlei-

tung nun ſoll das vorliegende Werk dienen; von die-

ſem Geſichtspunkt aus erſcheinen die aus den Quellen

citirten Stellen nicht blos als Beweiſe der in dem Sy-

ſtem aufgeſtellten Sätze, ſondern dieſe Sätze werden zu-

gleich Einleitung und Commentar zu den citirten Stel-

|0051 : XLV|

Vorrede.

len, die in dieſer Auswahl, in dieſer Anordnung, in die-

ſer Verbindung mit der in dem Syſtem enthaltenen

Darſtellung, unſrer Denkweiſe näher gebracht, und da-

durch zugänglicher für uns werden ſollen. — Nicht ſel-

ten findet es ſich, daß Zwey gleich ſorgfältige Forſcher,

indem ſie ganz daſſelbe Material verarbeiten, dennoch

zu ſehr verſchiedenen Reſultaten geführt werden. Dieſe

Verſchiedenheit wird meiſt davon abhängen, welche Stel-

len gerade zum Mittelpunkt der ganzen Unterſuchung

erhoben, welche als untergeordnet mit jenen in Verbin-

dung gebracht werden; ein Fehlgriff in dieſer Sonde-

rung kann der ganzen Arbeit eine falſche Richtung ge-

ben. Hierin nun läßt ſich durch aufgeſtellte Regeln

wenig Sicherheit gewinnen; das Studium trefflicher

Muſter wird gute Dienſte leiſten, vorzüglich aber müſ-

ſen wir durch eigene Übung den Takt zu gewinnen ſu-

chen, der uns den rechten Weg finden lehrt.

Umgekehrt möchten Manche ihre Erwartung ge-

täuſcht finden, indem ſie ein reichhaltigeres literariſches

Material zu fordern geneigt wären, als ſich in dem vor-

liegenden Werk finden wird. Ich habe abſichtlich nur

ſolche Schriftſteller angeführt, die in Beziehung auf den

oben dargelegten Plan des Werks in irgend einer Weiſe

förderlich ſeyn können, wäre es auch nur indem ſie wie-

 

|0052 : XLVI|

Vorrede.

der auf andere Schriftſteller zu weiterer Nachforſchung

verweiſen; keinesweges alſo habe ich nach einer mate-

riellen Vollſtändigkeit in der Angabe aller einen Ge-

genſtand behandelnden Schriften geſtrebt, auch wenn ſie

uns keinen namhaften Gewinn darbieten, in welchem

Fall es uns ja der Leſer wenig Dank weiß, wenn wir

ihn durch Anführung ſolcher Schriften verleiten, ſeine

Zeit an eine unfruchtbare Bekanntſchaft zu verſchwen-

den. Wäre ich in jüngeren Jahren zu dieſer Unterneh-

mung, gekommen, ſo würde ich eine erſchöpfende Be-

nutzung der juriſtiſchen Literatur in ganz anderem Sinn

verſucht haben. Wir finden in derſelben zwey große,

ſchwer zu bewältigende, Maſſen, aus welchen allerdings

noch mancher Gewinn zu ziehen ſeyn möchte; die eine

beſteht in den Exegeten, von den Gloſſatoren an, und

dann beſonders durch die Franzöſiſche Schule hindurch:

die andere in den Praktikern, den Verfaſſern der zahl-

loſen Conſilien, Reſponſen u. ſ. w., gleichfalls von den

Gloſſatoren an gerechnet. Eine erſchöpfende Benutzung

derſelben bey Abfaſſung eines Rechtsſyſtems, ſo wie ich

ſie meyne, würde darin beſtehen, daß dieſe Schriftſteller

vollſtändig durchgeleſen würden mit beſonderer Rückſicht

auf dieſes Syſtem, das heißt um daſſelbe durch ſie zu

prüfen, zu berichtigen, zu ergänzen, wodurch unzweifel-

|0053 : XLVII|

Vorrede.

haft ſehr Vieles im Einzelnen, weniger im Großen und

Ganzen, gewonnen werden möchte. Jetzt, da ich am

Abend meines Lebens dieſes Werk anfange, wäre es

Thorheit an einen ſolchen Plan zu denken. Wer aber

etwa dem Werk einen bleibenden Werth beylegen möchte,

könnte ſich ein weſentliches Verdienſt um daſſelbe erwer-

ben, wenn er die hier bezeichnete literariſche Vervollſtän-

digung unternehmen wollte. Es liegt nichts Abentheuer-

liches in dieſem Vorſchlag, da derſelbe ganz allmälig und

ſtückweiſe zur Ausführung gebracht werden könnte; etwa

indem die Schriftſteller eines beſchränkten Zeitraums,

ja ſogar einzelne Werke, zu dem angegebenen Zweck

durchgeleſen würden. — Vielleicht wird auch im Ein-

gang des Werks eine allgemeine Zuſammenſtellung der

für das Studium unſres Rechtsſyſtems brauchbaren

und empfehlungswerthen Schriften vermißt werden. Es

ſcheint mir aber zweckmäßiger, dieſes allerdings erhebliche

Bedürfniß durch abgeſonderte bibliographiſche Schriften

zu befriedigen; eben ſo wie die hiſtoriſche Zuſammen-

ſtellung unſrer einzelnen Rechtsquellen, ihrer Handſchrif-

ten, und ihrer Ausgaben, beſſer in rechtsgeſchichtlichen

Werken, als in dem Eingang eines Rechtsſyſtems un-

ternommen wird, wo die Grundlage und der Zuſammen-

hang für eine befriedigende Mittheilung dieſer Art fehlt.

|0054 : XLVIII|

Vorrede.

Der Stoff zu dem vorliegenden Werk iſt allmälig

in Vorleſungen geſammelt und verarbeitet worden, die

der Verfaſſer gerade ſeit dem Anfang des Jahrhunderts

über das Römiſche Recht gehalten hat. Allein in der

Geſtalt, in welcher es hier vorliegt, iſt es dennoch eine

völlig neue Arbeit, wozu jene Vorleſungen nur als Vor-

bereitung benutzt werden konnten. Denn Vorleſungen

ſind für Unkundige beſtimmt; ſie ſollen Denſelben neue,

fremde Gegenſtände zum Bewußtſeyn bringen, indem ſie

dieſe Mittheilung an andere Kenntniſſe der Zuhörer,

und an die allgemeine Bildung derſelben, anzuknüpfen

ſuchen. Der Schriftſteller dagegen arbeitet für die Kun-

digen; er ſetzt bey ihnen den Beſitz der Wiſſenſchaft in

ihrer gegenwärtigen Geſtalt voraus, knüpft ſeine Mit-

theilung an dieſen Beſitz an, und fordert ſie auf, Das

was ſie wiſſen, gemeinſchaftlich mit ihm, von Neuem zu

durchdenken, damit ſie ihren Beſitz reinigen, ſichern, er-

weitern. So unläugbar nun dieſer Gegenſatz beider

Formen der Mittheilung iſt, ſo ſind doch auch Über-

gänge nicht nur denkbar, ſondern unverwerflich. Auch

der Schriftſteller kann zuweilen den Stoff auf ſolche

Weiſe behandeln, daß er unvermerkt, gemeinſchaftlich

mit dem Leſer, auf die Anfänge wiſſenſchaftlicher Be-

griffe zurückgeht, und ſie ſo vor ſeinen Augen gleichſam

 

|0055 : XLIX|

Vorrede.

neu entſtehen läßt. Nicht ſelten wird ein ſolches Ver-

fahren zur Läuterung der Begriffe und Grundſätze,

nachdem ſie von Anderen mit Willkühr behandelt und

entſtellt worden ſind, gute Dienſte thun; Neigung und

Fähigkeit dazu wird ſich vorzugsweiſe finden, wenn der

Verfaſſer den Stoff, welchen er jetzt als Schriftſteller

bearbeitet, oft in Vorleſungen zu behandeln Veranlaſ-

ſung gehabt hat. — Der Plan zu dem Werk in ſeiner

hier vorliegenden Geſtalt iſt im Frühjahr 1835 ent-

worfen worden; im Herbſt deſſelben Jahres wurde die

Ausarbeitung begonnen, und bey dem Anfang des Drucks

waren die Vier Kapitel des erſten Buchs, und die Drey

erſten Kapitel des zweyten zu Ende gebracht.

Indem ich jetzt dieſes Werk hinaus ſende, kann ich

den Gedanken an die Schickſale, die ihm bevorſtehen,

nicht unterdrücken. Gutes und Böſes wird ihm wi-

derfahren wie jedem menſchlichen Streben und Wirken.

Gar Manche werden mir ſagen, wie mangelhaft es ſey;

aber Keiner kann deſſen Mängel vollſtändiger einſehen

und lebhafter empfinden als ich. Jetzt, da ein anſehn-

licher Theil fertig vor mir liegt, möchte ich, daß ſo

Manches erſchöpfender, anſchaulicher, alſo anders gera-

then wäre. Sollte uns eine ſolche Erkenntniß den Muth

lähmen, den der Entſchluß zu jeder weitausſehenden Un-

 

d

|0056 : L|

Vorrede.

ternehmung fordert? Beruhigen kann neben jener Selbſt-

erkenntniß die Betrachtung, daß die Wahrheit nicht blos

gefördert wird, indem wir ſie unmittelbar erkennen und

ausſprechen, ſondern auch indem wir den Weg dazu zei-

gen und bahnen, indem wir die Fragen und Aufgaben

feſt ſtellen, auf deren Löſung aller Erfolg beruht; dann

helfen wir Anderen, an das Ziel zu gelangen, welches

zu erreichen uns nicht gewährt wurde. So beruhigt

mich auch jetzt das Selbſtvertrauen, daß das vorliegende

Werk fruchtbare Keime der Wahrheit enthalten mag,

die vielleicht erſt in Anderen ihre volle Entwicklung fin-

den, und zu reifen Früchten gedeihen werden. Wenn

dann über der neuen, reicheren Entfaltung die gegen-

wärtige Arbeit, die dazu den Keim darbot, in den Hin-

tergrund tritt, ja vergeſſen wird, ſo liegt daran wenig.

Das einzelne Werk iſt ſo vergänglich, wie der einzelne

Menſch in ſeiner ſichtbaren Erſcheinung; aber unver-

gänglich iſt der durch die Lebensalter der Einzelnen fort-

ſchreitende Gedanke, der uns Alle, die wir mit Ernſt

und Liebe arbeiten, zu einer großen, bleibenden Gemein-

ſchaft verbindet, und worin jeder, auch der geringe,

Beytrag des Einzelnen ſein dauerndes Leben findet.

Geſchrieben im September 1839.

 

|0057 : [1]|

Erſtes Buch.

Quellen des heutigen Römiſchen Rechts.

Erſtes Kapitel.

Aufgabe dieſes Werks.

§. 1.

Heutiges Römiſches Recht.

Der Theil der Rechtswiſſenſchaft, deſſen Darſtellung in

dieſem Werk unternommen wird, iſt als das heutige

Römiſche Recht bezeichnet worden. Dieſe beſondere

Aufgabe ſoll zunächſt genauer, als es in einer bloßen

Überſchrift geſchehen konnte, in folgenden Gegenſätzen be-

ſtimmt werden.

 

1. Es iſt Römiſches Recht, welches in dieſem Werk

dargeſtellt werden ſoll. Zur Aufgabe deſſelben gehören

alſo nur diejenigen Rechtsinſtitute, welche Römiſchen Ur-

ſprung haben, jedoch mit Einſchluß ihrer ſpäteren Fort-

bildung, wenngleich dieſe auf einen andern als Römiſchen

Urſprung zurück zu führen iſt. Ausgeſchloſſen ſind dadurch

alle Inſtitute, welchen ein Germaniſcher Urſprung zuge-

ſchrieben werden muß.

 

2. Es iſt heutiges Römiſches Recht. Dadurch

wird ausgeſchloſſen: erſtens die Geſchichte der Rechtsin-

 

1

|0058 : 2|

Buch I. Quellen. Kap. I. Aufgabe des Werks.

ſtitute als ſolche; zweytens jede einzelne, dem früheren

Recht angehörende, dem Juſtinianiſchen fremde, Beſtim-

mung, da nur dieſe neueſte Geſtalt des Römiſchen Rechts

mit unſrem heutigen Rechtszuſtand in Verbindung getre-

ten iſt; drittens jedes Inſtitut, welches zwar dem Juſti-

nianiſchen Recht angehört, aber aus unſrem Rechtszu-

ſtand verſchwunden iſt.

3. Nur das Privatrecht gehört zu unſrer Aufgabe,

nicht das öffentliche Recht: alſo dasjenige, was die Rö-

mer durch jus civile (in einer der vielen Bedeutungen

dieſes Ausdrucks) bezeichnen, oder das, was ſie zur Zeit

der Republik als die ausſchließende Kenntniß eines Juris-

consultus, oder die eigentliche jurisprudentia, anſahen (a).

Dieſe Beſchränkung iſt jedoch zum Theil ſchon als eine

Folge der vorhergehenden anzuſehen, indem nur das Pri-

vatrecht der Römer im Ganzen ein Stück unſres Rechts-

zuſtandes geworden iſt. Zwar iſt auch das Römiſche

Criminalrecht unſrem Rechtszuſtand nicht fremd geblie-

ben: allein es iſt doch nur theilweiſe, und ungleich weni-

ger als das Privatrecht, in denſelben übergegangen.

 

(a) So ſetzt Cicero ſich ſelbſt

ſehr beſtimmt den Juriſten ent-

gegen, aber er war weit entfernt

zu glauben, daß er oder ein an-

derer Staatsmann weniger als

ein Juriſt von der Verfaſſung,

vom jus sacrum u. ſ. w. wiſſen

müſſe. Ulpian freilich giebt der

jurisprudentia eine viel weitere

Ausdehnung (L. 10. §. 2. D. de

J. et J.); das liegt aber nicht

blos an der Ungenauigkeit ſeiner

Erklärung, noch weniger an einer

übertriebenen Erhebung ſeiner

Wiſſenſchaft, ſondern an der in

ſeiner Zeit ſehr veränderten Stel-

lung des Juriſten und des Staats-

manns überhaupt.

|0059 : 3|

§. 1. Heutiges Römiſches Recht.

4. Endlich nur das Syſtem der Rechte ſelbſt, mit

Ausſchluß des Prozeſſes, oder der zur Rechtsverfolgung

beſtimmten Anſtalten: alſo nur dasjenige, was von Vie-

len das materielle Privatrecht genannt wird. Denn der

Prozeß hat ſich durch die Miſchung hiſtoriſch verſchiede-

ner Quellen auf ſo eigenthümliche Weiſe ausgebildet, daß

eine abgeſonderte Behandlung deſſelben nothwendig ge-

worden iſt, anſtatt daß die Römiſchen Juriſten die unmit-

telbare Verbindung deſſelben mit der Theorie des mate-

riellen Rechts nicht nur für möglich, ſondern für zweck-

mäßig halten durften. Was nun die Gränze unſrer

Aufgabe nach dieſer Seite hin betrifft, ſo iſt dieſelbe zwar

dem Grundſatz nach nicht zweifelhaft, in der Anwendung

aber wird ſie häufig verkannt, hauptſächlich deshalb,

weil ein und daſſelbe Inſtitut in der That beiden Ge-

bieten angehören kann. So z. B. gehört das richterliche

Urtheil, nach ſeiner Form und ſeinen Bedingungen, in

den Prozeß: dagegen hat es, ſobald es rechtskräftig iſt,

zweyerley Wirkungen: die aus einer res judicata ent-

ſpringende actio und exceptio (die in das Syſtem der

Rechte ſelbſt gehören), und die Exſecution, die eine reine

Prozeßlehre iſt.

 

Werden dieſe Beſchränkungen unter einen gemeinſa-

men Geſichtspunkt zuſammengefaßt, ſo beſtimmen ſie

das Römiſche Recht genau in dem Sinn, in welchem es

für einen großen Theil von Europa gemeines Recht ge-

worden iſt.

 

1*

|0060 : 4|

Buch I. Quellen. Kap. I. Aufgabe des Werks.

§. 2.

Gemeines Recht in Deutſchland.

Mit dem im § 1. feſtgeſtellten Begriff des heutigen

Römiſchen Rechts iſt nahe verwandt der Begriff des in

Deutſchland geltenden gemeinen Rechts. Dieſer ſteht

in Verbindung mit der eigenthümlichen Verfaſſung des

deutſchen Reichs, deſſen einzelne Staaten unter der ge-

meinſamen Staatsgewalt des Reichs vereinigt waren.

So ſtand jeder Theil von Deutſchland unter einer zwie-

fachen Staatsgewalt, und unter dem Einfluß derſelben

hatte ſich überall ein zwiefaches poſitives Recht gebildet,

Territorialrecht und gemeines Recht. Bey der Auflö-

ſung des Deutſchen Reichs behaupteten nun manche Schrift-

ſteller, daß das gemeine Recht mit ſeiner Baſis, der

Reichsſtaatsgewalt, auch ſeine Geltung verloren habe.

Dieſe Meynung, entſtanden aus einem Misverſtändniß

über die Natur des poſitiven Rechts, iſt indeſſen ganz

ohne Einfluß auf den wirklichen Rechtszuſtand geblieben (a).

 

Es iſt nun das hier genannte gemeine Recht kein

anderes, als jenes heutige Römiſche Recht, nur in der

beſondern Anwendung auf das Deutſche Reich, alſo mit

 

(a) Jene gehen von der irri-

gen Anſicht aus, als müſſe mit

der Auflöſung einer Staatsgewalt

auch alles durch ſie oder unter

ihrem Einfluß Gebildete mit auf-

hören. Ein ganz ähnlicher Fall

findet ſich bei der Zerſtörung

des weſtlichen Römiſchen Reiches.

Auch hier behaupten Viele, das

Römiſche Recht habe durch die

Eroberung verſchwinden müſſen,

und es ſey auch wirklich ver-

ſchwunden. Wenigſtens dieſe facti-

ſche Behauptung dürfte wohl jetzt

nicht leicht mehr Vertheidiger

finden.

|0061 : 5|

§. 3. Gränzen der Aufgabe.

den dadurch beſtimmten beſonderen Modificationen. Dieſe

Modificationen aber ſind faſt nur in den Reichsgeſetzen

enthalten, und von geringer Erheblichkeit. Denn alle

wichtige Abweichungen vom reinen Römiſchen Recht, wie

z. B. die Klagbarkeit aller Verträge ohne Stipulation,

die ausgedehntere Wichtigkeit der bona fides, ſind niemals

dem Deutſchen Reich eigenthümlich geweſen, ſondern überall

gleichmäßig anerkannt worden, ſo weit im neueren Eu-

ropa Römiſches Recht Anwendung gefunden hat.

Daher wird denn auch eine Darſtellung des heutigen

Römiſchen Rechts, wozu dieſes Werk zunächſt beſtimmt iſt,

nur weniger Zuſätze bedürfen, um zugleich als Darſtellung

des gemeinen Rechts für Deutſchland gelten zu können.

 

§. 3.

Gränzen der Aufgabe.

Durch die feſtgeſtellten Gränzen unſrer Aufgabe iſt

jedes außer derſelben liegende Gebiet als ihr fremd be-

zeichnet. In dieſer Beziehung hat die Darſtellung zwey

entgegengeſetzte Fehler zu vermeiden. Der eine beſteht in

willkührlicher Ueberſchreitung derſelben, aus Vorliebe bald

für ein nahe liegendes Fach überhaupt, bald für eine ein-

zelne derſelben angehörende Unterſuchung; der andere in

ängſtlicher Beobachtung der Gränzen, da wo eine Ueber-

ſchreitung unvermeidlich iſt, wenn nicht die Gründlichkeit

der eigenen Forſchung oder die Klarheit der Darſtellung

leiden ſoll (a). Dieſe letzte Rückſicht macht zugleich von

 

(a) So wird es z. B. nöthig, von mancher Lehre auch antiquirte

|0062 : 6|

Buch I. Quellen. Kap. I. Aufgabe des Werks.

Seiten des Leſers eine gewiſſe Duldſamkeit wünſchens-

werth, da hier das rechte Maaß mehr durch Takt als

nach feſten Regeln getroffen wird, der ſubjectiven Anſicht

alſo einiger Spielraum nicht verſagt werden kann.

Insbeſondere wird aber gar Manches aufzunehmen

ſeyn, was zu den gemeinſamen Grundlehren eines jeden

poſitiven Rechts gehört, alſo dem Römiſchen Recht nicht

gerade eigenthümlich iſt. Für dieſe Aufnahme ſpricht nicht

blos der bisherige Gebrauch, beſonders in den Pandekten-

vorleſungen der Deutſchen Univerſitäten: nicht blos die

beſondere Geſtalt, die das Römiſche Recht auch manchem

Theil dieſer Lehren gegeben, und der Einfluß, den es

hierin auf andere Geſetzgebungen ausgeübt hat: ſondern

vorzüglich die Rückſicht, daß das Römiſche Recht durch

ſeine Schickſale mehr als jedes andere poſitive Recht einen

allgemeinen Character angenommen hat, welcher ſich zu

einer befriedigenden Behandlung jener Grundlehren vor-

zugsweiſe eignet.

 

Zweytes Kapitel.

Allgemeine Natur der Rechtsquellen.

§. 4.

Rechtsverhältniß.

Für das heutige Römiſche Recht haben wir die Grund-

lage zu ſuchen in der Feſtſtellung der ihm angehörenden

 

Theile darzuſtellen, wegen der

nothwendigen Rückſicht auf das

dadurch bedingte Verhältniß der

Rechtsquellen.

|0063 : 7|

§. 4. Rechtsverhältniß.

Rechtsquellen. Damit dieſes mit Erfolg geſchehen könne,

iſt eine allgemeinere Unterſuchung über die Natur der

Rechtsquellen überhaupt nöthig.

Betrachten wir den Rechtszuſtand, ſo wie er uns im

wirklichen Leben von allen Seiten umgiebt und durch-

dringt, ſo erſcheint uns darin zunächſt die der einzelnen

Perſon zuſtehende Macht: ein Gebiet, worin ihr Wille

herrſcht, und mit unſrer Einſtimmung herrſcht. Dieſe

Macht nennen wir ein Recht dieſer Perſon, gleichbedeu-

tend mit Befugniß: Manche nennen es das Recht im ſub-

jectiven Sinn. Ein ſolches Recht erſcheint vorzugsweiſe

in ſichtbarer Geſtalt, wenn es bezweifelt oder beſtritten,

und nun das Daſeyn und der Umfang deſſelben durch

ein richterliches Urtheil anerkannt wird. Allein die ge-

nauere Betrachtung überzeugt uns, daß dieſe logiſche Form

eines Urtheils nur durch das zufällige Bedürfniß hervor-

gerufen iſt, und daß ſie das Weſen der Sache nicht er-

ſchöpft, ſondern ſelbſt einer tieferen Grundlage bedarf.

Dieſe nun finden wir in dem Rechtsverhältniß, von

welchem jedes einzelne Recht nur eine beſondere, durch

Abſtraction ausgeſchiedene Seite darſtellt, ſo daß ſelbſt

das Urtheil über das einzelne Recht nur inſofern wahr

und überzeugend ſeyn kann, als es von der Geſammtan-

ſchauung des Rechtsverhältniſſes ausgeht. Das Rechts-

verhältniß aber hat eine organiſche Natur, und dieſe offen-

bart ſich theils in dem Zuſammenhang ſeiner ſich gegen-

ſeitig tragenden und bedingenden Beſtandtheile, theils in

 

|0064 : 8|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

der fortſchreitenden Entwicklung, die wir in demſelben

wahrnehmen, in der Art ſeines Entſtehens und Verge-

hens. Dieſe lebendige Conſtruction des Rechtsverhältniſ-

ſes in jedem gegebenen Fall iſt das geiſtige Element der

juriſtiſchen Praxis, und unterſcheidet ihren edlen Beruf

von dem bloßen Mechanismus, den ſo viele Unkundige

darin ſehen. Damit dieſer wichtige Punkt nicht blos im

Allgemeinen verſtanden werde, ſondern auch nach dem

ganzen Reichthum ſeines Inhalts zur Anſchauung komme,

mag es nicht überflüſſig ſeyn, ihn durch ein Beyſpiel zu

erläutern. Die berühmte L. Frater a fratre behandelt

folgenden Rechtsfall. Zwey Brüder ſtehen in der Gewalt

ihres Vaters. Einer giebt dem Andern ein Darlehen.

Der Empfänger zahlt dieſes nach des Vaters Tod zurück,

und es fragt ſich, ob er dieſes gezahlte Geld, als irrig

gezahlt, wieder fordern könne. Hier hat der Richter

lediglich über die Frage zu urtheilen, ob die condictio

indebiti begründet iſt oder nicht. Aber um dieſes zu kön-

nen, muß ihm die Geſammtanſchauung des Rechtsver-

hältniſſes gegenwärtig ſeyn. Deſſen einzelne Elemente

waren: die väterliche Gewalt über beide Brüder, ein

Darlehen des Einen an den Andern, ein Peculium,

welches der Schuldner vom Vater erhalten hatte. Die-

ſes zuſammengeſetzte Rechtsverhältniß hat ſich fortſchrei-

tend entwickelt durch des Vaters Tod, deſſen Beerbung,

die Rückzahlung des Darlehns. Aus dieſen Elementen

ſoll das vom Richter begehrte einzelne Urtheil hervorgehen.

|0065 : 9|

§. 5. Rechtsinſtitut.

§. 5.

Rechtsinſtitut.

Das Urtheil über das einzelne Recht iſt nur möglich

durch Beziehung der beſonderen Thatſachen auf eine all-

gemeine Regel, von welcher die einzelnen Rechte beherrſcht

werden. Dieſe Regel nennen wir das Recht ſchlecht-

hin, oder das allgemeine Recht: Manche nennen ſie das

Recht im objectiven Sinn. Sie erſcheint in ſichtbarer

Geſtalt beſonders in dem Geſetz, welches ein Ausſpruch

der höchſten Gewalt im Staate über die Rechtsregel iſt.

 

So wie aber das Urtheil über einen einzelnen Rechts-

ſtreit nur eine beſchränkte und abhängige Natur hat,

und erſt in der Anſchauung des Rechtsverhältniſſes ſeine

lebendige Wurzel und ſeine überzeugende Kraft findet,

auf gleiche Weiſe verhält es ſich mit der Rechtsregel.

Denn auch die Rechtsregel, ſo wie deren Ausprägung im

Geſetz, hat ihre tiefere Grundlage in der Anſchauung des

Rechtsinſtituts, und auch deſſen organiſche Natur zeigt

ſich ſowohl in dem lebendigen Zuſammenhang der Be-

ſtandtheile, als in ſeiner fortſchreitenden Entwicklung.

Wenn wir alſo nicht bey der unmittelbaren Erſcheinung

ſtehen bleiben, ſondern auf das Weſen der Sache einge-

hen, ſo erkennen wir, daß in der That jedes Rechtsver-

hältniß unter einem entſprechenden Rechtsinſtitut, als ſei-

nem Typus, ſteht, und von dieſem auf gleiche Weiſe be-

herrſcht wird, wie das einzelne Rechtsurtheil von der

 

|0066 : 10|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

Rechtsregel (a). Ja es iſt dieſe letzte Subſumtion abhän-

gig von jener erſten, durch welche ſie ſelbſt erſt Wahr-

heit und Leben erhalten kann. Zur Erläuterung ſoll auch

hier der im vorigen §. angeführte Rechtsfall benutzt wer-

den. Die darauf bezüglichen Rechtsinſtitute ſind: der Er-

werb des Vaters durch die Kinder, das alte Peculium

und insbeſondere die in demſelben geltende deductio, Über-

gang der Forderungen auf die Erben, Confuſion der For-

derungen und Schulden, die condictio indebiti. Für die

Entwicklung des Gedankens liegt ein natürlicher Unter-

ſchied darin, daß wir die Rechtsinſtitute zuerſt geſondert

conſtruiren, und hinterher willkührlich combiniren können,

anſtatt daß uns das Rechtsverhältniß durch die Lebens-

ereigniſſe gegeben wird, alſo unmittelbar in ſeiner con-

creten Zuſammenſetzung und Verwicklung erſcheint.

In fernerer Betrachtung aber erkennen wir, daß alle

Rechtsinſtitute zu einem Syſtem verbunden beſtehen, und

daß ſie nur in dem großen Zuſammenhang dieſes Sy-

ſtems, in welchem wieder dieſelbe organiſche Natur er-

ſcheint, vollſtändig begriffen werden können. So uner-

meßlich nun der Abſtand zwiſchen einem beſchränkten ein-

zelnen Rechtsverhältniß und dem Syſtem des poſitiven

Rechts einer Nation ſeyn mag, ſo liegt doch die Verſchie-

denheit nur in den Dimenſionen, dem Weſen nach ſind

ſie nicht verſchieden, und auch das Verfahren des Geiſtes,

 

(a) Vergl. Stahl Philoſophie des Rechts II. 1. S. 165. 166.

|0067 : 11|

§. 6. Begriff der Rechtsquellen.

welches zur Erkenntniß des einen und des andern führt,

iſt weſentlich daſſelbe.

Hieraus folgt aber, wie nichtig es iſt, wenn in der

Rechtswiſſenſchaft ſehr häufig Theorie und Praxis als

ganz getrennt, ja entgegengeſetzt angeſehen werden. Ver-

ſchieden iſt in ihnen der äußere Lebensberuf, verſchieden

die Anwendung der erworbenen Rechtskenntniß: aber die

Art und Richtung des Denkens, ſo wie die Bildung, die

dahin führt, haben ſie gemein, und es wird das eine und

das andere dieſer Geſchäfte nur von Demjenigen würdig

vollbracht werden, welchem das Bewußtſeyn jener Iden-

tität inwohnt (b).

 

§. 6.

Begriff der Rechtsquellen.

Wir nennen Rechtsquellen die Entſtehungsgründe

des allgemeinen Rechts, alſo ſowohl der Rechtsinſtitute,

als der aus denſelben durch Abſtraction gebildeten einzel-

nen Rechtsregeln. Dieſer Begriff hat eine zwiefache Ver-

wandtſchaft, wodurch es nöthig wird, zweyerley Verwechs-

lungen abzuwehren.

 

1. Auch die einzelnen Rechtsverhältniſſe haben ihre

Entſtehungsgründe (a), und die Verwandtſchaft der Rechts-

 

(b) Dieſe Ueberzeugungen ſind

bey dem Verfaſſer zuerſt durch

die genauere Bekanntſchaft mit

den gerade hierin großen Römi-

ſchen Juriſten entſtanden, dann

aber hauptſächlich durch die viel-

jährige Beſchäftigung mit der ju-

riſtiſchen Praxis entwickelt und

befeſtigt worden.

(a) Die allgemeine Lehre von

dieſen Entſtehungsgründen iſt im

dritten Kapitel des zweyten Buchs

enthalten.

|0068 : 12|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

verhältniſſe mit den Rechtsinſtituten führt leicht zu einer

Vermiſchung derſelben mit den Entſtehungsgründen der

Rechtsregeln. Will man z. B. die Bedingungen irgend

eines Rechtsverhältniſſes vollſtändig aufzählen, ſo gehört

dazu unzweifelhaft ſowohl das Daſeyn einer Rechtsregel,

als eine dieſer Regel entſprechende Thatſache, alſo z. B.

ein Geſetz, welches die Verträge anerkennt, und ein ge-

ſchloſſener Vertrag ſelbſt. Dennoch ſind dieſe beiden Be-

dingungen ſpecifiſch verſchieden, und es führt auf Ver-

wirrung der Begriffe, wenn man Verträge und Geſetze

auf Eine Linie als Rechtsquellen ſtellt (b.).

2. Eine andere, mehr durch den Namen begründete,

Verwechslung iſt die der Rechtsquellen mit den geſchicht-

lichen Quellen der Rechtswiſſenſchaft. Zu dieſen gehören

alle Denkmäler, woraus wir die Kenntniß rechtswiſſen-

ſchaftlicher Thatſachen ſchöpfen. Beide Begriffe ſind alſo

von einander ganz unabhängig, und es iſt nur zufällig,

wenn ſie auf irgend einem Punkte zuſammentreffen, ob-

gleich dieſes Zuſammentreffen beſonders häufig und wich-

tig iſt. So z. B. gehören Juſtinians Digeſten zu den

Quellen in beiden Bedeutungen des Ausdrucks: die Lex

 

(b.) Dieſe Zuſammenſtellung

findet ſich unter andern, der

Neuern nicht zu gedenken, in

mehreren Stellen des Cicero (ſ.

u. §. 22. Note m.). Wie hier

die Verträge mit Unrecht zu den

Rechtsquellen hinaufgehoben wer-

den, ſo werden anderwärts mit

umgekehrter Verwirrung die Ge-

ſetze in Eine Reihe mit den Ent-

ſtehungsgründen der Rechtsver-

hältniſſe heruntergezogen, um die

falſche Lehre vom Titulus und

modus adquirendi zu retten.

Höpfner Commentar §. 293.

Zu jenem erſten Irrthum hat

viel beigetragen der vieldeutige

Ausdruck Autonomie.

|0069 : 13|

§. 7. Allgemeine Entſtehung des Rechts.

Voconia gehört zu den Quellen des älteren Rechts, aber,

da ſie verloren iſt, nicht unter die Quellen der Rechts-

wiſſenſchaft: bey den Stellen alter Geſchichtsſchreiber oder

Dichter, welche juriſtiſche Notizen enthalten, tritt der um-

gekehrte Fall ein. — Es iſt jedoch zu bemerken, daß in

den allermeiſten Fällen, worin wir veranlaßt ſind von

Rechtsquellen zu reden, beide Bedeutungen des Ausdrucks

in der That zuſammentreffen, ſo daß die Gefahr einer

Verwirrung der Begriffe durch die Zweydeutigkeit des

Ausdrucks nicht groß iſt. So z. B. ſind die Beſtandtheile

des Corpus Juris, als Geſetze von Juſtinian Rechtsquel-

len für Juſtinians Reich, kraft ihrer Reception Rechts-

quellen für uns, endlich als noch vorhandene Bücher

Quellen unſrer Rechtswiſſenſchaft. Eben ſo ſind die Deut-

ſchen Rechtsbücher des dreyzehnten und vierzehnten Jahr-

hunderts Aufzeichnungen von Rechtsgewohnheiten, alſo von

Rechtsquellen, als erhaltene Bücher Quellen der Rechts-

wiſſenſchaft. Daher gebrauchen auch die meiſten Schrift-

ſteller den Ausdruck, ohne ihren Leſern über deſſen ver-

ſchiedene Beziehungen beſondere Auskunft zu geben, und

ſie ſind deshalb nicht zu tadeln.

§. 7.

Allgemeine Entſtehung des Rechts.

Welches ſind nun die Entſtehungsgründe des allgemei-

nen Rechts, oder worin beſtehen die Rechtsquellen?

 

Hierüber könnte man annehmen wollen, das Recht

 

|0070 : 14|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

habe eine ganz verſchiedene Entſtehung, je nach dem Ein-

fluß des Zufalls, oder auch menſchlicher Willkühr, Über-

legung und Weisheit. Allein dieſer Annahme widerſpricht

die unzweifelhafte Thatſache, daß überall, wo ein Rechts-

verhältniß zur Frage und zum Bewußtſeyn kommt, eine

Regel für daſſelbe längſt vorhanden, alſo jetzt erſt zu

erfinden weder nöthig noch möglich iſt. In Beziehung

auf dieſe Beſchaffenheit des allgemeinen Rechts, nach wel-

cher es in jedem gegebenen Zuſtand, in welchem es ge-

ſucht werden kann, als ein gegebenes ſchon wirkliches Da-

ſeyn hat, nennen wir es poſitives Recht.

Fragen wir ferner nach dem Subject, in welchem und

für welches das poſitive Recht ſein Daſeyn hat, ſo finden wir

als ſolches das Volk. In dem gemeinſamen Bewußtſeyn

des Volkes lebt das poſitive Recht, und wir haben es

daher auch Volksrecht zu nennen. Es iſt dieſes aber

keinesweges ſo zu denken, als ob es die einzelnen Glieder

des Volkes wären, durch deren Willkühr das Recht her-

vorgebracht würde; denn dieſe Willkühr der Einzelnen

könnte vielleicht zufällig daſſelbe Recht, vielleicht aber,

und wahrſcheinlicher, ein ſehr mannichfaltiges erwählen.

Vielmehr iſt es der in allen Einzelnen gemeinſchaftlich

lebende und wirkende Volksgeiſt, der das poſitive Recht

erzeugt, das alſo für das Bewußtſeyn jedes Einzelnen,

nicht zufällig ſondern nothwendig, ein und daſſelbe Recht

iſt. Indem wir alſo eine unſichtbare Entſtehung des po-

ſitiven Rechts annehmen, müſſen wir ſchon deshalb auf

 

|0071 : 15|

§. 7. Allgemeine Entſtehung des Rechts.

jeden urkundlichen Beweis derſelben verzichten. Allein

dieſer Mangel iſt unſrer Anſicht von jener Entſtehung mit

jeder anderen Anſicht gemein, da wir in allen Völkern,

welche jemals in die Gränzen urkundlicher Geſchichte ein-

getreten ſind, ein poſitives Recht ſchon vorfinden, deſſen

urſprüngliche Erzeugung alſo außer jenen Gränzen liegen

muß. Allein an Beweiſen anderer Art, wie ſie der beſon-

dern Natur des Gegenſtandes angemeſſen ſind, fehlt es

nicht. Ein ſolcher Beweis liegt in der allgemeinen, gleich-

förmigen Anerkennung des poſitiven Rechts, und in dem

Gefühl innerer Nothwendigkeit, wovon die Vorſtellung

deſſelben begleitet iſt. Dieſes Gefühl ſpricht ſich am be-

ſtimmteſten aus in der uralten Behauptung eines göttli-

chen Urſprungs des Rechts oder der Geſetze; denn ein

entſchiednerer Gegenſatz gegen die Entſtehung durch Zufall

oder menſchliche Willkühr läßt ſich nicht denken. Ein

zweyter Beweis liegt in der Analogie anderer Eigenthüm-

lichkeiten der Völker, die eine eben ſo unſichtbare, über

die urkundliche Geſchichte hinaufreichende Entſtehung ha-

ben, wie z. B. die Sitte des geſelligen Lebens, vor allen

aber die Sprache. Bey dieſer nun findet ſich dieſelbe

Unabhängigkeit von Zufall und freyer Wahl der Einzel-

nen, alſo dieſelbe Erzeugung aus der Thätigkeit des in

allen Einzelnen gemeinſam wirkenden Volksgeiſtes; bey ihr

aber iſt dieſes Alles durch ihre ſinnliche Natur anſchau-

licher und unverkennbarer als bey dem Recht. Ja es

wird die individuelle Natur der einzelnen Völker lediglich

|0072 : 16|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

durch jene gemeinſamen Richtungen und Thätigkeiten be-

ſtimmt und erkannt, unter welchen die Sprache, als die

ſichtbarſte, die erſte Stelle einnimmt.

Die Geſtalt aber, in welcher das Recht in dem gemein-

ſamen Bewußtſeyn des Volks lebt, iſt nicht die der ab-

ſtracten Regel, ſondern die lebendige Anſchauung der

Rechtsinſtitute in ihrem organiſchen Zuſammenhang, ſo

daß, wo das Bedürfniß entſteht, ſich der Regel in ihrer

logiſchen Form bewußt zu werden, dieſe erſt durch einen

künſtlichen Prozeß aus jener Totalanſchauung gebildet

werden muß. Jene Geſtalt offenbart ſich durch die ſym-

boliſchen Handlungen, die das Weſen der Rechtsverhält-

niſſe bildlich darſtellen, und in welchen ſich die urſprüng-

lichen Volksrechte meiſt deutlicher und gründlicher aus-

ſprechen, als in den Geſetzen.

 

Bey dieſer Annahme von der Entſtehung des poſitiven

Rechts wurde zunächſt noch abgeſehen von dem in der

Zeit fortgehenden Leben der Völker. Betrachten wir nun

auch deſſen Einwirkung auf das Recht, ſo werden wir

ihm vor Allem eine befeſtigende Kraft zuerkennen müſſen:

je länger die Rechtsüberzeugungen in dem Volk leben,

deſto tiefer werden ſie in ihm wurzeln. Ferner wird ſich

das Recht durch die Übung entfalten, und was urſprüng-

lich blos im Keim vorhanden war, wird durch die An-

wendung in beſtimmter Geſtalt zum Bewußtſeyn kommen.

Aber auch Veränderung des Rechts wird auf dieſem Wege

erzeugt werden. Denn wie in dem Leben des einzelnen

 

|0073 : 17|

§. 7. Allgemeine Entſtehung des Rechts.

Menſchen kein Augenblick eines vollkommnen Stillſtandes

wahrgenommen wird, ſondern ſtete organiſche Entwicklung,

ſo verhält es ſich auch in dem Leben der Völker, und in

jedem einzelnen Element, woraus dieſes Geſammtleben

beſteht. So finden wir in der Sprache ſtete Fortbildung

und Entwicklung, und auf gleiche Weiſe in dem Recht.

Und auch dieſe Fortbildung ſteht unter demſelben Geſetz

der Erzeugung aus innerer Kraft und Nothwendigkeit,

unabhängig von Zufall und individueller Willkühr, wie

die urſprüngliche Entſtehung. Allein das Volk erfährt in

dieſem natürlichen Entwicklungsprozeß nicht blos eine Ver-

änderung überhaupt, ſondern auch in einer beſtimmten,

regelmäßigen Folge der Zuſtände, und unter dieſen Zu-

ſtänden hat ein jeder ſein eigenthümliches Verhältniß zu

der beſonderen Äußerung des Volksgeiſtes, wodurch das

Recht erzeugt wird. Am freyeſten und kräftigſten erſcheint

dieſe in der Jugendzeit der Völker, in welcher der Natio-

nalzuſammenhang noch inniger, das Bewußtſeyn deſſelben

allgemeiner verbreitet, und weniger durch Verſchiedenheit

der individuellen Ausbildung verdeckt iſt. In demſelben

Maaße aber, in welchem die Bildung der Individuen un-

gleichartiger und vorherrſchender wird, und in welchem

eine ſchärfere Sonderung der Beſchäftigungen, der Kennt-

niſſe und der dadurch bedingten Stände eintritt, wird auch

die Rechtserzeugung, die auf der Gemeinſchaft des Be-

wußtſeyns beruhte, ſchwieriger werden; ja ſie würde end-

lich faſt ganz verſchwinden, wenn ſich nicht dafür, durch

2

|0074 : 18|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

den Einfluß derſelben neuen Zuſtände, wiederum eigene

Organe bildeten, die Geſetzgebung und die Rechtswiſſen-

ſchaft, deren Natur ſogleich dargeſtellt werden wird.

Dieſe Fortbildung des Rechts kann übrigens ein ganz

verſchiedenes Verhältniß zu dem urſprünglich vorhandenen

Recht haben. Es können durch ſie neue Rechtsinſtitute

erzeugt, oder auch die vorhandenen umgeſtaltet werden:

ja es können dieſe durch ſie ganz verſchwinden, wenn ſie

dem Sinn und Bedürfniß der Zeit fremd geworden ſind.

 

§. 8.

Volk.

Die Rechtserzeugung iſt hier vorläufig in das Volk,

als das thätige, perſönliche Subject, geſetzt worden. Die

Natur dieſes Subjects ſoll nunmehr genauer beſtimmt

werden.

 

Wenn wir in der Betrachtung des Rechtsverhältniſſes

von allem beſonderen Inhalt deſſelben abſtrahiren, ſo bleibt

uns als allgemeines Weſen deſſelben übrig, das auf be-

ſtimmte Weiſe geregelte Zuſammenleben mehrerer Menſchen.

Es liegt nun ſehr nahe, bei dieſem abſtracten Begriff einer

Mehrheit überhaupt ſtehen zu bleiben, und das Recht als

eine Erfindung derſelben zu denken, ohne welche die äu-

ßere Freiheit keines Einzelnen beſtehen könnte. Allein ein

ſolches zufälliges Zuſammentreffen einer unbeſtimmten Menge

iſt eine willkührliche, aller Wahrheit ermangelnde Vorſtel-

lung: und fände ſie ſich wirklich ſo zuſammen, ſo würde

 

|0075 : 19|

§. 8. Volk.

ihr unfehlbar die Fähigkeit der Rechtserzeugung mangeln,

da mit dem Bedürfniß nicht zugleich die Kraft der Befrie-

digung gegeben iſt. In der That aber finden wir überall,

wo Menſchen zuſammen leben, und ſo weit die Geſchichte

davon Kunde giebt, daß ſie in einer geiſtigen Gemeinſchaft

ſtehen, die ſich durch den Gebrauch derſelben Sprache

ſowohl kund giebt, als befeſtigt und ausbildet. In dieſem

Naturganzen iſt der Sitz der Rechtserzeugung, denn in

dem gemeinſamen, die Einzelnen durchdringenden Volks-

geiſt findet ſich die Kraft, das oben anerkannte Bedürfniß

zu befriedigen.

Die Gränzen aber dieſer Völkerindividuen ſind aller-

dings unbeſtimmt und ſchwankend, und dieſer zweifelhafte

Zuſtand offenbart ſich auch in der Einheit oder Verſchie-

denheit des in ihnen erzeugten Rechts. So kann es bei

verwandten Volksſtämmen ungewiß erſcheinen, ob ſie uns

als Ein Volk oder als mehrere gelten ſollen: gleicherweiſe

finden wir auch oft in ihrem Recht zwar nicht gänzliche

Übereinſtimmung, wohl aber Verwandtſchaft.

 

Allein auch da, wo die Einheit eines Volkes unzwei-

felhaft iſt, finden ſich innerhalb der Gränzen deſſelben oft

engere Kreiſe, die durch einen beſonderen Zuſammenhang,

noch neben dem allgemeinen des Volkes, vereinigt ſind,

wie Städte und Dörfer, Innungen, Corporationen aller

Art, welche insgeſammt volksmäßige Abtheilungen des

Ganzen bilden. Auch in dieſen wiederum kann eine eigen-

thümliche Rechtserzeugung ihren Sitz haben als parti-

 

2*

|0076 : 20|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

culäres Recht, neben dem gemeinſamen Volksrecht, wel-

ches dadurch auf manchen Seiten ergänzt oder umgebil-

det wird (a).

Wenn wir aber das Volk als eine natürliche Einheit,

und inſofern als den Träger des poſitiven Rechts betrach-

ten, ſo dürfen wir dabei nicht blos an die darin gleich-

zeitig enthaltenen Einzelnen denken; vielmehr geht jene

Einheit durch die einander ablöſenden Geſchlechter hindurch,

verbindet alſo die Gegenwart mit der Vergangenheit und

der Zukunft. Dieſe ſtete Erhaltung des Rechts wird be-

wirkt durch Tradition, und dieſe iſt bedingt und begrün-

det durch den nicht plötzlichen, ſondern ganz allmäligen

Wechſel der Generationen. Die hier behauptete Unab-

hängigkeit des Rechts von dem Leben der gegenwärtigen

Volksglieder gilt zunächſt von der unveränderten Fortdauer

der Rechtsregeln: eben ſo aber iſt ſie auch die Grundlage

der allmäligen Fortbildung des Rechts (§ 7.), und in die-

ſer Beziehung müſſen wir ihr eine vorzügliche Wichtigkeit

zuſchreiben.

 

Dieſe Anſicht, welche das individuelle Volk als Erzeu-

ger und Träger des poſitiven oder wirklichen Rechts aner-

kennt, dürfte Manchen zu beſchränkt erſcheinen, welche

geneigt ſeyn möchten, vielmehr dem gemeinſamen Men-

ſchengeiſt, als dem individuellen Volksgeiſt, jene Erzeugung

zuzuſchreiben. In genauerer Betrachtung aber erſcheinen

 

(a) So kamen in Rom uralte

Gewohnheitsrechte einzelner gen-

tes vor. Dirkſen civil. Ab-

handlungen B. 2. S. 90.

|0077 : 21|

§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.

beide Anſichten gar nicht als widerſtreitend. Was in dem

einzelnen Volk wirkt, iſt nur der allgemeine Menſchengeiſt,

der ſich in ihm auf individuelle Weiſe offenbart. Allein

die Erzeugung des Rechts iſt eine That, und eine gemein-

ſchaftliche That. Dieſe iſt nur denkbar für diejenigen,

unter welchen eine Gemeinſchaft des Denkens und Thuns

nicht nur möglich, ſondern auch wirklich iſt. Da nun

eine ſolche Gemeinſchaft nur innerhalb der Gränzen des

einzelnen Volkes vorhanden iſt, ſo kann auch nur hier das

wirkliche Recht hervorgebracht werden, obgleich in der

Erzeugung deſſelben die Äußerung eines allgemein menſch-

lichen Bildungstriebes wahrzunehmen iſt, alſo nicht etwa

die eigenthümliche Willkühr mancher beſonderen Völker,

wovon in andern Völkern vielleicht keine Spur angetroffen

werden könnte. Nur darin findet ſich eine Verſchiedenheit,

daß dieſes Erzeugniß des Volksgeiſtes bald dem einzelnen

Volke ganz eigenthümlich, bald aber in mehreren Völkern

gleichmäßig vorkommend iſt. Wie die Römer dieſe allge-

meinere Grundlage des Volksrechts als Jus gentium auf-

gefaßt haben, wird unten gezeigt werden (§ 22.).

§. 9.

Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.

Das Volk, dem wir als einem unſichtbaren Naturgan-

zen unbeſtimmte Gränzen zuſchreiben mußten, beſteht jedoch

nirgend und in keiner Zeit auf dieſe abſtracte Weiſe.

Vielmehr wirkt in ihm ein unaufhaltſamer Trieb, die

 

|0078 : 22|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

unſichtbare Einheit in ſichtbarer und organiſcher Erſchei-

nung zu offenbaren. Dieſe leibliche Geſtalt der geiſtigen

Volksgemeinſchaft iſt der Staat, und mit ihm ſind zu-

gleich ſcharf beſtimmte Gränzen der Einheit gegeben.

Fragen wir nun nach der Entſtehung des Staates, ſo

müſſen wir dieſelbe eben ſo in eine höhere Nothwendig-

keit, in eine von innen heraus bildende Kraft ſetzen, wie

es oben von dem Recht überhaupt geſagt worden iſt; und

zwar gilt dieſes nicht blos von dem Daſeyn eines Staa-

tes überhaupt, ſondern auch von der eigenthümlichen Ge-

ſtalt, welche der Staat in jedem Volke an ſich trägt.

Denn auch die Erzeugung des Staates iſt eine Art der

Rechtserzeugung, ja ſie iſt die höchſte Stufe der Rechts-

erzeugung überhaupt.

 

Überſehen wir von dem nun gewonnenen Standpunkt

aus das geſammte Recht, ſo unterſcheiden wir in demſel-

ben zwey Gebiete, das Staatsrecht und das Privat-

recht. Das erſte hat zum Gegenſtand den Staat, das

heißt die organiſche Erſcheinung des Volks: das zweyte

die Geſammtheit der Rechtsverhältniſſe, welche den ein-

zelnen Menſchen umgeben, damit er in ihnen ſein inneres

Leben führe und zu einer beſtimmten Geſtalt bilde (a).

Nicht als ob es, wenn wir dieſe beiden Rechtsgebiete ver-

gleichen, an Übergängen und Verwandtſchaften fehlte.

 

(a) L. 1. de J. et J. (I. 1.).

Publicum jus est quod ad sta-

tum rei Romanae spectat; pri-

vatum quod ad singulorum uti-

litatem. Sunt enim quaedam

publice utilia, quaedam priva-

tim. Vgl. L. 2 § 46. de orig.

jur. (I. 2.).

|0079 : 23|

§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.

Denn die Familie hat in ihrer dauernden Gliederung, ſo

wie in dem Verhältniß des Regierens und des Gehorchens,

unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Staate: und eben ſo

treten die Gemeinden, die doch wahre Beſtandtheile des

Staates ſind (§ 86), nahe an das Verhältniß der Ein-

zelnen heran. Dennoch bleibt zwiſchen beiden Gebieten ein

feſt beſtimmter Gegenſatz darin, daß in dem öffentlichen

Recht das Ganze als Zweck, der Einzelne als untergeord-

net erſcheint, anſtatt daß in dem Privatrecht der einzelne

Menſch für ſich Zweck iſt, und jedes Rechtsverhältniß ſich

nur als Mittel auf ſein Daſeyn oder ſeine beſonderen Zu-

ſtände bezieht.

Allein der Staat hat zugleich den mannichfaltigſten

Einfluß auf das Privatrecht, und zwar zunächſt auf die

Realität des Daſeyns deſſelben. Denn in ihm zuerſt erhält

das Volk wahre Perſönlichkeit, alſo die Fähigkeit zu han-

deln. Wenn wir alſo außer demſelben dem Privatrecht

nur ein unſichtbares Daſeyn, in übereinſtimmenden Gefüh-

len, Gedanken und Sitten zuſchreiben können, ſo erhält

es im Staat, durch Aufſtellung des Richteramtes, Leben

und Wirklichkeit. Das hat jedoch nicht den Sinn, daß

in dem Leben der Völker in der That eine Zeit vor Er-

findung des Staats vorkäme, worin das Privatrecht dieſe

unvollkommene Natur hätte (Naturzuſtand). Vielmehr

wird jedes Volk, ſobald es als ſolches erſcheint, zugleich

als Staat erſcheinen, wie auch dieſer geſtaltet ſeyn möge.

Jene Behauptung alſo ſollte blos gelten von demjenigen

 

|0080 : 24|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

Zuſtand des Volkes, welcher uns in Gedanken übrig bleibt,

wenn wir von ſeiner Eigenſchaft als Staat künſtlich ab-

ſtrahiren. — Hierin erhält zugleich das Verhältniß der

Einzelnen zu dem allgemeinen Recht ſeine Realität und

Vollendung. Das Recht hat ſein Daſeyn in dem gemein-

ſamen Volksgeiſt (§ 7. 8.), alſo in dem Geſammtwillen,

der inſofern auch der Wille jedes Einzelnen iſt. Allein

der Einzelne kann ſich, vermöge ſeiner Freiheit, durch Das

was er für ſich will, gegen Das auflehnen, was er als

Glied des Ganzen denkt und will. Dieſer Widerſpruch

iſt das Unrecht, oder die Rechtsverletzung, welche vernich-

tet werden muß, wenn das Recht beſtehen und herrſchen

ſoll. Soll aber dieſe Vernichtung vom Zufall unabhängig

werden, und eine regelmäßige Sicherheit erhalten, ſo iſt

das nur im Staate möglich. Denn hier allein kann dem

Einzelnen die Rechtsregel als ein Aeußeres und Objecti-

ves gegenüber ſtehen. Und in dieſem neuen Verhältniß

erſcheint die des Unrechts fähige individuelle Freiheit als

von dem Geſammtwillen gebunden und in ihm untergehend.

Außerdem aber hat der Staat auch den entſchiedenſten

Einfluß auf die Rechtserzeugung im Privatrecht: nicht nur

auf deſſen Inhalt, wovon noch weiter die Rede ſeyn wird,

ſondern auch auf die Gränzen der Rechtserzeugung, indem

die Volksgemeinſchaft innerhalb deſſelben Staats inniger

und wirkſamer, in verſchiedenen Staaten dagegen, auch

bei Stammesverwandtſchaft, entfernter und auf vielfache

Weiſe gehemmt ſeyn muß. Eben ſo wird die Entſtehung

 

|0081 : 25|

§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.

eines particulären Volksrechts (§ 8) durch die Einheit

des Staats zwar nicht ausgeſchloſſen, aber doch inſofern

beſchränkt, als dadurch jene weſentliche Einheit nicht ge-

fährdet werden darf. Nur würde es irrig ſeyn, in dieſer

Hinſicht den Einfluß des Staates, in Vergleichung mit

anderen Verhältniſſen, zu hoch anzuſchlagen, oder gar als

ausſchließenden Beſtimmungsgrund zu denken. So beſtan-

den im Mittelalter, nach der Zerſtörung des weſtrömiſchen

Reichs, mehrere Germaniſche Staaten mit theils Germa-

niſchen, theils Römiſchen Unterthanen; hier hatten die Rö-

miſchen Unterthanen des einen Staates mit denen der an-

dern daſſelbe Römiſche Recht: die Germaniſchen Unter-

thanen der verſchiedenen Staaten hatten wenigſtens ver-

wandtes Recht, und dieſe mehr oder weniger vollſtändige

Rechtsgemeinſchaft wurde durch die Gränzen der Staaten

nicht geſtört.

Um die hier aufgeſtellte Klaſſification der innerhalb

des Staates geltenden Rechte gegen den Vorwurf der Un-

vollſtändigkeit zu ſichern, iſt jedoch noch folgende Ergän-

zung nöthig. Ich will nicht den Staat auf die Zwecke

des Rechts beſchränken, ja die Theorie ſoll ſich überhaupt

nicht anmaaßen, die Freyheit individueller Entwicklung

durch Aufſtellung ausſchließender Zwecke der Thätigkeit

des Staats begränzen zu wollen. Dennoch iſt ſeine erſte

und unabweislichſte Aufgabe die Idee des Rechts in der

ſichtbaren Welt herrſchend zu machen. Dazu nun führt

eine zwiefache Thätigkeit des Staats. Erſtlich hat der-

 

|0082 : 26|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

ſelbe dem Einzelnen, der in ſeinem Recht verletzt wird,

Schutz zu gewähren gegen dieſe Verletzung; die Regeln,

unter welchen dieſe Thätigkeit ſteht, nennen wir den Ci-

vilprozeß. Zweytens hat er das verletzte Recht an ſich

zu vertreten und wiederherzuſtellen, ohne Rückſicht auf das

individuelle Intereſſe. Dieſes geſchieht durch die Strafe,

durch welche der menſchliche Wille, im beſchränkteren Ge-

biet des Rechts, das in der höheren Weltordnung wal-

tende Geſetz ſittlicher Vergeltung nachbildet (b). Die Re-

geln, unter welchen dieſe Thätigkeit ſteht, nennen wir das

Criminalrecht, von welchem der Criminalprozeß nur

einen Theil bildet (c). Civilprozeß, Criminalrecht und

Criminalprozeß, ſind demnach Theile des Staatsrechts,

und wurden bey den Römern auch ſo angeſehen. Daß

uns in neueren Zeiten dieſe Auffaſſung fremder geworden

iſt, hat ſeinen Grund in folgenden Umſtänden. Die Hand-

habung des Criminalrechts iſt oft an dieſelben Richterbe-

hörden, wie der Schutz des Privatrechts, gewieſen wor-

(b) Inſoweit kann man ſagen,

daß die allgemeine ſittliche Ord-

nung der Vergeltung, in einer

beſchränkten Weiſe, die Natur

einer Rechtsanſtalt annimmt, und

als ſolche vom Staate in Aus-

führung zu bringen iſt. Vergl.

Hegel Naturrecht §. 102. 103.

220. Klenze Lehrbuch des Straf-

rechts S. X — XVII.

(c) Es hängt von dem poſiti-

ven Recht eines jeden Staates

ab, wie weit der Staat dieſes

Recht unmittelbar ausüben, oder

die Ausübung deſſelben den ver-

letzten Einzelnen, noch neben der

Verfolgung ihrer eigenen Rechte,

überlaſſen will. Dieſe letzte Be-

handlung liegt den Römiſchen

Privatſtrafen zum Grunde. Eine

vollſtändigere Ausbildung der

Staatsgewalt wird überall dahin

führen, dieſen letzten Weg zu

verlaſſen.

|0083 : 27|

§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.

den, und daher hat auch die Behandlung beider Gegen-

ſtände eine ähnlichere Geſtalt angenommen. In dem

Civilprozeß iſt aber die Thätigkeit des Staats mit den

Rechten der Einzelnen ſo verwebt, daß eine vollſtändige

Trennung praktiſch nicht ausführbar iſt. Dennoch kann

dadurch das hier angegebene innere Weſen dieſer Rechts-

diſciplinen nicht umgeändert werden. Um nun auf der

einen Seite dieſem Weſen der Sache, auf der andern

Seite jenen mehr praktiſchen Beziehungen, ihre Anerken-

nung zu verſchaffen, erſcheint es, wie es nicht ungewöhn-

lich iſt, ſo auch zweckmäßig, neben dem Namen des Staats-

rechts noch den allgemeineren Namen des öffentlichen

Rechts zu gebrauchen, unter welchem der Civilprozeß

und das Criminalrecht mitbegriffen ſind. Dieſe Bezeich-

nung ſoll hier ferner angewendet werden.

Eine andere Bewandniß hat es mit dem Kirchen-

recht. Vom rein weltlichen Standpunkt aus erſcheint

die Kirche wie jede andere Geſellſchaft, und ſo wie an-

dere Corporationen theils im Staatsrecht, theils im Pri-

vatrecht, ihre abhängige, untergeordnete Stellung erhalten,

könnte man eine ſolche auch der Kirche anweiſen wollen.

Ihre, das innerſte Weſen des Menſchen beherrſchende,

Wichtigkeit läßt jedoch dieſe Behandlung nicht zu. In

verſchiedenen Zeiten der Weltgeſchichte hat daher die

Kirche und das Kirchenrecht eine ſehr verſchiedene Stel-

lung gegen den Staat angenommen. Bey den Römern

war das jus sacrum ein Stück des Staatsrechts, und

 

|0084 : 28|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

der Staatsgewalt untergeordnet (d). Die weltumfaſſende

Natur des Chriſtenthums ſchließt dieſe rein nationelle Be-

handlung aus. Im Mittelalter verſuchte die Kirche, die

Staaten ſelbſt ſich unterzuordnen und zu beherrſchen. Wir

können die verſchiedenen chriſtlichen Kirchen nur betrach-

ten als neben dem Staate, aber in mannichfaltiger und

inniger Berührung mit demſelben, ſtehend. Daher iſt uns

das Kirchenrecht ein für ſich beſtehendes Rechtsgebiet, das

weder dem öffentlichen noch dem Privatrecht untergeordnet

werden darf.

§. 10.

Abweichende Meynungen über den Staat.

Es fehlt aber viel, daß die hier aufgeſtellte Anſicht

von der Entſtehung und dem Weſen des Staats allgemein

Anerkennung fände.

 

Zuvörderſt iſt es auch hier wieder der unbeſtimmte

Begriff einer Menge überhaupt, abſtrahirt von der Volks-

einheit, welcher häufig als Subject des Staats gedacht

wird. Dieſer Behauptung aber widerſpricht vor Allem

die Thatſache, daß es zu allen Zeiten Völker waren, welche

in der organiſchen Geſtalt von Staaten aufgetreten ſind,

und wo auch der Verſuch im Großen gemacht worden iſt,

Maſſen von Menſchen ohne Rückſicht auf gänzliche Stamm-

verſchiedenheit willkührlich zuſammen zu bringen, wie in

den Amerikaniſchen Sklavenſtaaten, da iſt der Erfolg ſehr

unglücklich geweſen, und es haben ſich der Staatenbildung

 

(d) L. 1. §. 2. de just. et jure (I. 1.).

|0085 : 29|

§. 10. Abweichende Meynungen über den Staat.

unüberſteigliche Hinderniſſe in den Weg geſtellt. Im Wi-

derſpruch mit dieſer Anſicht alſo müſſen wir wiederholt

behaupten, daß der Staat urſprünglich und naturgemäß

in einem Volk, durch das Volk, und für das Volk

entſteht.

Ferner iſt es eine höchſt verbreitete Anſicht, nach wel-

cher die Staaten durch Willkühr der Einzelnen, alſo durch

Vertrag, entſtanden ſeyn ſollen, welche Anſicht in ihrer

Entwicklung auf eben ſo verderbliche als verkehrte Folgen

geführt hat. Man nimmt dabei an, die Einzelnen, die es

eben vortheilhaft fanden, gerade dieſen Staat zu grün-

den, hätten eben ſo gut ganz ohne Staat bleiben, oder

ſich ſo oder anders zu einem Staat miſchen oder begränzen,

oder endlich jede andere Verfaſſung wählen können. Da-

bey wird alſo nicht nur abermals die in dem Volk enthal-

tene Natureinheit, ſo wie die innere Nothwendigkeit über-

ſehen, ſondern vorzüglich auch der Umſtand, daß wo nur

irgend eine ſolche Ueberlegung möglich iſt, unfehlbar ſchon

ein wirklicher Staat, als Thatſache und als Recht, be-

ſteht, ſo daß niemals, wie Jene wollen, von der willkühr-

lichen Erfindung des Staats, ſondern höchſtens von deſſen

Zerſtörung die Rede ſeyn kann. Zwey Mißverſtändniſſe

haben dieſen Irrthum beſonders befördert. Zuvörderſt die

Wahrnehmung der großen Mannichfaltigkeit in der Staa-

tenbildung, das heißt des hiſtoriſchen und individuellen Ele-

ments der Staaten, welches man mit der freyen Wahl

und Willkühr der Einzelnen verwechſelt hat. Dann auch

 

|0086 : 30|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

die ſtete, oft unbewußte Verwechslung der ganz verſchie-

denen Begriffe, die mit dem gemeinſamen Namen Volk

bezeichnet werden. Dieſer Name bezeichnet nämlich

1. das Naturganze, in welchem wirklich der Staat

entſteht und fortwährend ſein Daſeyn führt, und bey wel-

chem von Wahl und Willkühr nicht die Rede ſeyn kann;

 

2. die Geſammtheit aller in einem Staate gleichzeitig

lebenden Individuen;

 

3. eben dieſelben Individuen mit Abzug der Regierung,

alſo die Gehorchenden im Gegenſatz der Herrſchenden;

 

4. in republikaniſchen Staaten, wie in Rom, diejenige

organiſirte Verſammlung Einzelner, in welcher nach der

Verfaſſung die höchſte Gewalt wirklich beruht. Diejenigen

nun, bei welchen auf eine verworrene Weiſe alle dieſe

Begriffe durcheinander liefen, wurden dadurch verleitet,

das ideale Recht des Volks als Naturganzen (1), und

das hiſtoriſche Recht des Römiſchen populus (4), auf die

Geſammtheit der Unterthanen (3) zu übertragen, und ſo,

mit Umkehrung aller Wahrheit, die Herrſchaft den von

Rechtswegen Gehorchenden beyzulegen. Aber ſelbſt wenn

man nicht dieſen äußerſten Schritt thut, ſondern Recht

und Macht in der Geſammtheit aller jetzt lebenden Ein-

zelnen, alſo mit Einſchluß der Regierenden (2) beruhen

läßt, ſo iſt damit nur wenig gebeſſert. Vor Allem weil

die Einzelnen nicht als ſolche, und nach ihrer Kopfzahl,

ſondern nur in ihrer verfaſſungsmäßigen Gliederung den

Staat ausmachen. Dann weil die Einzelnen niemals in

 

|0087 : 31|

§. 10. Abweichende Meynungen über den Staat.

ihrer Totalität, ſondern immer nur in einem mäßigen Aus-

zug, wollen und handeln können, ſo daß in Anſehung der

Mehrzahl (der Frauen und der Minderjährigen) nur die

Zuflucht zu der leeren Fiction einer Vertretung übrig bleibt.

Endlich weil ſelbſt die Totalität der Einzelnen doch nur

die des gegenwärtigen Augenblickes ſeyn würde, anſtatt

daß das ideale Volk, wovon hier die Rede iſt, auch die

ganze Zukunft in ſich ſchließt, alſo ein unvergängliches

Daſeyn hat (§ 8).

Dennoch iſt in den hier beſtrittenen Anſichten ein wah-

res Element enthalten. Allerdings kann auf die Bildung

der Staaten Zufall und Willkühr großen Einfluß aus-

üben, und beſonders wird die Begränzung derſelben durch

Eroberung und Zerſtückelung oft ſehr abweichend von den

natürlichen, durch Volkseinheit angegebenen Gränzen be-

ſtimmt. Umgekehrt kann oft ein fremdartiges Element dem

Staat völlig aſſimilirt werden; nur hat die Möglichkeit

einer ſolchen Aſſimilation ihre Bedingungen und ihre Stu-

fen, wie ſie denn beſonders durch einige Verwandtſchaft

des neuen Elements, ſo wie durch die innere Vollkommen-

heit des aufnehmenden Staates gefördert wird. Allein

alle ſolche Ereigniſſe, wie häufig ſie auch in der Geſchichte

vorkommen mögen, ſind doch nur Anomalien. Das Volk

bleibt darum nicht minder die natürliche Baſis des Staats,

und die Bildung durch inwohnende Kraft ſeine naturge-

mäße Entſtehung. Tritt nun ein fremdartiges hiſtoriſches

Moment in dieſen natürlichen Bildungsprozeß ein, ſo kann

 

|0088 : 32|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

daſſelbe durch die ſittliche Kraft und Geſundheit des Volkes

überwunden und verarbeitet werden; gelingt dieſe Verar-

beitung nicht, ſo wird ein krankhafter Zuſtand daraus

hervorgehen. Auf dieſe Weiſe erklärt es ſich, wie das,

was urſprünglich Gewalt und Unrecht war, allmälig

durch die dem Rechtszuſtand inwohnende Anziehungskraft

dergeſtalt umgebildet werden kann, daß es in denſelben

als neuer, rechtmäßiger Beſtandtheil übergeht. Ganz ver-

werflich aber, ja abentheuerlich iſt es, wenn man verſucht

hat, ſolche ſtörende und die ſittliche Kraft prüfende Ano-

malien als die wahre Entſtehung der Staaten darzuſtel-

len, und darin die einzig mögliche Rettung zu ſuchen vor

der gefährlichen Lehre, welche die Staaten durch den will-

kührlichen Vertrag ihrer einzelnen Mitglieder entſtehen

läßt (a). Bey dieſem Rettungsverſuch iſt es ſchwer zu

ſagen, welches von beiden bedenklicher iſt, die Krankheit

oder das Heilmittel.

§. 11.

Völkerrecht.

Betrachten wir weiter das Verhältniß mehrerer neben

einander beſtehender Völker und Staaten, ſo erſcheint uns

daſſelbe zunächſt ähnlich dem Verhältniß einzelner Men-

ſchen, die durch Zufall zuſammen geführt werden, ohne

durch Volksgemeinſchaft verbunden zu ſeyn. Iſt Jeder

derſelben ein wohlgeſinnter und gebildeter Menſch, ſo

werden ſie das Rechtsbewußtſeyn, welches Jedem aus

 

(a) Haller Reſtauration der Staatswiſſenſchaft.

|0089 : 33|

§. 11. Völkerrecht.

ſeinen früheren Verhältniſſen inwohnt, auf ihre zufällige

Nähe anwenden, und ſich ſo durch Willkühr einen Rechts-

zuſtand einrichten, der unfehlbar mehr oder weniger ein

nachgeahmter, alſo übertragener, ſeyn wird. Eben ſo kön-

nen mehrere unabhängige Staaten das, was einem Jeden

als Recht inwohnt, auf ihr gegenſeitiges Verhältniß will-

kührlich anwenden, ſo weit es dahin paßt, und ſo weit ſie

es vortheilhaft finden: allein auf dieſem Wege entſteht

noch kein Recht. Indeſſen kann auch unter verſchiedenen

Völkern eine ähnliche Gemeinſchaft des Rechtsbewußtſeyns

entſtehen, wie ſie in Einem Volk das poſitive Recht er-

zeugt. Die Grundlage dieſer geiſtigen Gemeinſchaft wird

theils in einer Stammesverwandtſchaft beſtehen, theils und

vorzüglich in gemeinſamen religiöſen Überzeugungen. Dar-

auf gründet ſich das Völkerrecht, welches namentlich

unter den chriſtlich-Europäiſchen Staaten beſteht, aber

auch den alten Völkern nicht fremd war, wie es z. B. bey

den Römern als jus feciale vorkommt. Auch dieſes dürfen

wir als poſitives Recht betrachten, jedoch aus zwey Gründen

nur als eine unvollendete Rechtsbildung: erſtlich wegen der

Unvollſtändigkeit eines irgend ſicheren Inhalts, und zweytens,

weil ihm diejenige reale Grundlage fehlt, die dem Recht

der einzelnen Glieder deſſelben Volks in der Staatsgewalt,

und namentlich in dem Richteramt, gegeben iſt (§ 9).

Indeſſen führt die fortſchreitende ſittliche Bildung, wie

ſie das Chriſtenthum begründet, jedes Volk dahin, ein

Analogon jenes poſitiven Völkerrechts ſelbſt auf ſolche

 

3

|0090 : 34|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

völlig fremde Völker anzuwenden, von welchen dieſe Ge-

ſinnung nicht getheilt und dieſes Verfahren nicht erwiedert

wird. Eine ſolche Anwendung aber hat einen rein ſittli-

chen Character, und nicht die Natur eines poſitiven Rechts.

§. 12.

Gewohnheitsrecht.

G. F. Puchta das Gewohnheitsrecht B. 1. 2. Erlangen 1828. 1837. 8.

 

Die hier unter dem Namen des Volksrechts dargeſtellte

Rechtserzeugung, die auf unſichtbare Weiſe vor ſich geht,

und alſo nicht auf eine äußere Begebenheit und auf einen

beſtimmten Zeitpunkt zurückgeführt werden kann, iſt zwar

zu allen Zeiten anerkannt worden, aber dieſe Anerkennung

iſt meiſt aus zwey Urſachen unfruchtbar geblieben: indem

man ihr eine zu beſchränkte Stellung anwies, und indem

man ihr Weſen unrichtig auffaßte. Das erſte kann erſt

unten, in Verbindung mit der Geſetzgebung, klar gemacht

werden: das zweyte ſteht in Verbindung mit dem dabey

üblichen Namen des Gewohnheitsrechts.

 

Dieſer Name konnte leicht zu folgender Gedankenge-

nealogie verleiten. Wenn in einem Rechtsverhältniß irgend

Etwas geſchehen mußte, ſo war es urſprünglich ganz

gleichgültig, was geſchah; Zufall und Willkühr beſtimmte

irgend eine Entſcheidung. Kam nun derſelbe Fall aber-

mals vor, ſo war es bequemer, dieſelbe Entſcheidung zu

wiederholen, als ſich auf eine neue zu beſinnen, und mit

jeder neuen Wiederholung mußte dieſes Verfahren noch

 

|0091 : 35|

§. 12. Gewohnheitsrecht.

bequemer und natürlicher erſcheinen. So wurde nach eini-

ger Zeit eine ſolche Regel zum Recht, die urſprünglich

nicht mehr Anſpruch auf Geltung hatte, als die entgegen-

geſetzte Regel, und der Entſtehungsgrund dieſes Rechts

war allein die Gewohnheit.

Sieht man nun auf die eigentlichen Grundlagen eines

jeden poſitiven Rechts, auf den feſten Kern deſſelben, ſo

wird in jener Anſicht das wahre Verhältniß von Urſache

und Wirkung gerade umgekehrt. Jene Grundlage hat ihr

Daſeyn, ihre Wirklichkeit, in dem gemeinſamen Bewußtſeyn

des Volks. Dieſes Daſeyn iſt ein unſichtbares, durch

welches Mittel alſo können wir es erkennen? Wir erken-

nen es, indem es ſich in äußeren Handlungen offenbart,

indem es in Übung, Sitte, Gewohnheit heraustritt: an

der Gleichförmigkeit einer fortgeſetzten, alſo dauernden

Handlungsweiſe erkennen wir ſeine gemeinſame, dem blo-

ßen Zufall entgegengeſetzte Wurzel, den Volksglauben.

So iſt alſo die Gewohnheit das Kennzeichen des poſitiven

Rechts, nicht deſſen Entſtehungsgrund. Dennoch hat auch

jener Irrthum, welcher die Gewohnheit zum Entſtehungs-

grund macht, einen wahren Beſtandtheil, der nur auf ſein

rechtes Maaß zurückgeführt werden muß. Es giebt näm-

lich außer jenen im Volksbewußtſeyn allgemein anerkann-

ten und unzweifelhaften Grundlagen des poſitiven Rechts

gar manche in’s Einzelne gehende Beſtimmungen, welche

an ſich ein weniger ſicheres Daſeyn haben; ſie können ein

ſolches dadurch erlangen, daß ſie durch öftere Übung dem

 

3*

|0092 : 36|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

Volk ſelbſt zu beſtimmterem Bewußtſeyn gebracht werden (a).

Solche Fälle werden häufiger vorkommen in dem Maaße,

als gerade bey dieſem Volk die rechtsbildende Kraft nicht

zu den hervorſtechenden Seiten ſeines Weſens gehört.

Außerdem liegt auch in der Natur vieler Beſtimmungen

eine relative Gleichgültigkeit: es kommt bey ihnen nur

darauf an, daß irgend eine feſte Regel gelte und als gel-

tend bekannt ſey, welche es auch ſey. Dahin gehören die

vielen Fälle, in welchen die Rechtsregel irgend eine Zahl

in ſich ſchließt, und wobey innerhalb gewiſſer Extreme

ſtets ein großer Spielraum der Willkühr übrig bleibt, wie

bey den Verjährungszeiten; eben ſo die Rechtsregeln, die

blos die äußere Form eines Rechtsgeſchäfts zum Gegen-

ſtand haben. In allen Fällen dieſer Art werden wir, mit

unſrem früheren Denken und Wollen, eine Autorität für

uns ſelbſt in jeder ſpäteren Anwendung, und ſo kann aller-

dings die Gewohnheit als ſolche auf die Rechtsbildung

Einfluß haben. Es wirkt hier das Geſetz der Continuität

menſchlicher Geſinnungen, Handlungen und Zuſtände: ein

Geſetz, welches auch in manchen einzelnen Rechtsinſtituten

von ausgedehntem Einfluß iſt (b). Dieſe Annahme einer

(a) Puchta II. S 8. 9.: „auch

für das Volk, aus deſſen Rechts-

anſichten ſie hervorgeht, dient die

Übung gleichſam als der Spiegel,

in welchem es ſein eignes Selbſt

erkennt.“

(b) Es zeigt ſich daſſelbe Ge-

ſetz wirkſam in der Beweislaſt

(als Bedingung einer Verände-

rung des bisherigen Zuſtandes),

dem Beſitz, der Erſitzung, der

Klageverjährung, endlich auch in

der Kraft der Präjudicien (§ 20),

überall freylich mit beſonderer

Beymiſchung und Ausbildung.

Hier konnte dieſer gemeinſchaft-

liche Geſichtspunkt nur angedeu-

tet werden: ihn nachzuweiſen,

|0093 : 37|

§. 12. Gewohnheitsrecht.

auf das Recht ſelbſt zurückwirkenden Gewohnheit iſt auch

nur inſofern herabwürdigend für daſſelbe, als man das

wiederholte Handeln als ein gedankenloſes, durch zufälli-

gen äußeren Anſtoß beſtimmtes, denkt: wird es dagegen

als ein beſonnenes, aus der Energie des Geiſtes hervor-

gehendes gedacht, ſo iſt durch dieſe Entſtehung die Würde

des Rechts nicht gefährdet. Obgleich alſo der Name des

Gewohnheitsrechts von zwey Seiten her erklärt, und ge-

wiſſermaßen gerechtfertigt werden kann, ſo iſt doch ein

weniger ausſchließender Gebrauch deſſelben wünſchenswerth,

da er das Erbtheil ſo mancher Misverſtändniſſe mit ſich

führt, die ſich von jeher an denſelben angeknüpft haben.

In beiden Beziehungen nun, in welchen die Übung des

Rechts wichtig iſt, als Kennzeichen des poſitiven Rechts,

und als mitwirkender Entſtehungsgrund, ſind es zwey Klaſ-

ſen von Handlungen, die ſich vorzugsweiſe fruchtbar und

wirkſam zeigen: die ſymboliſchen Formen der Rechtsge-

ſchäfte, und die Urtheilsſprüche der aus dem Volk gebil-

deten Gerichte (c). Jene bringen uns den Sinn der

 

muß der Darſtellung der hier

genannten Inſtitute vorbehalten

bleiben.

(c) Wenn ich hier auf die Na-

tur der Volksgerichte ein be-

ſonderes Gewicht lege, ſo geſchieht

dies im Gegenſatz der gelehrten

Gerichte unſerer neueren Zeiten,

die zugleich aus fortdauernden

Collegien beſtehen (§ 14). Jener

Character findet ſich recht unver-

kennbar bey den Deutſchen Schöf-

fengerichten: nicht minder aber

in den Römiſchen res judicatae,

und zwar in dieſen nicht ſowohl,

wie man leicht glauben möchte,

weil die judices Privatperſonen,

alſo in dieſem Sinne aus dem

Volk genommen waren: (denn

der Rechtsſatz, worauf hier Alles

ankommt, ging ja von dem Prä-

tor aus, nicht von dem judex);

ſondern deswegen, weil der Prä-

tor ſelbſt jährlich wechſelte, und

|0094 : 38|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

Rechtsinſtitute im Ganzen zur Anſchauung: dieſe, hervor-

gerufen durch den Gegenſatz ſtreitender Anſprüche, ſind

durch ihren Zweck genöthigt, das Rechtsverhältniß in

ſcharf beſtimmten Gränzen aufzufaſſen und darzuſtellen.

Wenn übrigens hier behauptet worden iſt, daß die in

einzelnen Fällen vorgekommene Übung des Volksrechts als

Mittel der Erkenntniß deſſelben betrachtet werden müſſe,

ſo kann dieſes als eine mittelbare Erkenntniß bezeichnet

werden, nöthig für Diejenigen, welche dieſes Recht gleich-

ſam von außen betrachten, ohne ſelbſt zu den Gliedern

der Genoſſenſchaft zu gehören, in welcher das Volksrecht

entſtanden iſt und ſein fortdauerndes Leben führt (§ 7. 8).

Denn für dieſe bedarf es einer ſolchen Folgerung aus ein-

zelnen Fällen der Übung nicht, da ihre Erkenntniß eine

unmittelbare, auf Anſchauung beruhende, iſt (§ 30).

 

§. 13.

Geſetzgebung.

Selbſt wenn das poſitive Recht die höchſte Sicherheit

und Beſtimmtheit hätte, ſo könnte dennoch Irrthum oder

 

nicht gerade einem gelehrten Ju-

riſtenſtande angehörte, alſo die

allgemeine Volksanſicht repräſen-

tirte. So beziehen auch die Rö-

mer ſelbſt die res judicatae, als

Rechtsquellen, auf die Prätoren

als ihre Urheber. Auctor ad

Herenn. II. 13. — Dieſes Alles

gilt jedoch nur von den gewöhn-

lichen Richtern, die einzeln oder

doch in geringer Zahl vom

Prätor für jeden Fall beſon-

ders ernannt wurden. In den

Centumviralſachen dagegen wa-

ren es die Urtheiler ſelbſt, von

welchen der Rechtsſatz ausging

(indem dieſen keine formula vor-

geſchrieben wurde), und ſo hat

ſich namentlich die querela inof-

ficiosi ausgebildet.

|0095 : 39|

§. 13. Geſetzgebung.

böſer Wille ſeiner Herrſchaft ſich zu entziehen verſuchen.

Dadurch kann es nöthig werden, ihm ein äußerlich erkenn-

bares Daſeyn zu geben, durch deſſen Macht jede indivi-

duelle Meynung beſeitigt und die wirkſame Bekämpfung

des unrechtlichen Willens erleichtert wird. Das poſitive

Recht, ſo durch die Sprache verkörpert, und mit abſoluter

Macht verſehen, heißt das Geſetz, und deſſen Aufſtellung

gehört zu den edelſten Rechten der höchſten Gewalt im

Staate. Die Geſetzgebung kann nun eben ſowohl im

öffentlichen Recht als im Privatrecht thätig ſeyn; hier

aber ſoll ſie vorzugsweiſe in dieſer letzten Beziehung näher

betrachtet werden.

Fragen wir zuerſt nach dem Inhalt des Geſetzes, ſo

iſt derſelbe ſchon durch dieſe Herleitung der geſetzgebenden

Gewalt beſtimmt: das ſchon vorhandene Volksrecht iſt

dieſer Inhalt, oder, was daſſelbe ſagt, das Geſetz iſt das

Organ des Volksrechts. Wollte man daran zweifeln, ſo

müßte man den Geſetzgeber als außer der Nation ſtehend

denken; er ſteht aber vielmehr in ihrem Mittelpunkt, ſo

daß er ihren Geiſt, ihre Geſinnungen, ihre Bedürfniſſe in

ſich concentrirt, und daß wir ihn als den wahren Vertre-

ter des Volksgeiſtes anzuſehen haben. Auch iſt es ganz

unrichtig, dieſe Stellung des Geſetzgebers als abhängig

zu denken von der verſchiedenen Einrichtung der geſetzge-

benden Gewalt in dieſer oder jener Staatsverfaſſung. Ob

ein Fürſt das Geſetz macht, oder ein Senat, oder eine

größere, etwa durch Wahlen gebildete Verſammlung, ob

 

|0096 : 40|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

vielleicht die Einſtimmung mehrerer ſolcher Gewalten für

die Geſetzgebung erfordert wird, das ändert Nichts in dem

weſentlichen Verhältniß des Geſetzgebers zum Volksrecht,

und es gehört wieder zu der ſchon oben gerügten Verwir-

rung der Begriffe, wenn Manche glauben, nur in dem

von gewählten Repräſentanten gemachten Geſetz ſey wah-

res Volksrecht enthalten.

Dieſe Anſicht von der Natur und dem Inhalt des Ge-

ſetzes iſt nicht ſelten ſo misverſtanden worden, als würde

dadurch dem Geſetzgeber eine untergeordnete, ſeiner nicht

würdige Stellung angewieſen, ja als ſollte dadurch im

Stillen das ganze Geſchäft der Geſetzgebung für über-

flüſſig, wohl gar für ſchädlich erklärt werden. Dieſes

Misverſtändniß wird am ſicherſten dadurch beſeitigt wer-

den, daß gezeigt wird, worin der wahre Einfluß der Ge-

ſetzgebung auf die Rechtsbildung beſteht, und welche eigen-

thümliche Wichtigkeit dieſem Einfluß zugeſchrieben werden

muß. Es zeigt ſich aber dieſer wichtige Einfluß vorzüg-

lich in zwey Beziehungen: erſtlich als ergänzende Nach-

hülfe für das poſitive Recht, zweytens als Unterſtützung

ſeines allmäligen Fortſchreitens.

 

In der erſten Beziehung iſt hier an dasjenige zu erin-

nern, was ſchon bey dem Gewohnheitsrecht (§ 12) bemerkt

worden iſt. Bey aller Sicherheit der Grundlagen des

poſitiven Rechts kann doch im Einzelnen Manches unbe-

ſtimmt geblieben ſeyn, und dieſes beſonders bey ſolchen

Völkern, deren Anlage und Richtung mehr nach anderen

 

|0097 : 41|

§. 13. Geſetzgebung.

Seiten als in der Rechtsbildung ausgezeichnet iſt. Dazu

kommen die zahlreichen Beſtimmungen, in deren Natur ein

gewiſſer Spielraum der Willkühr gegründet iſt, wie z. B.

alle diejenigen, welche einen beſtimmten Zeitraum als Be-

dingung enthalten. In allen Fällen dieſer Art iſt eine

Ergänzung des Volksrechts nöthig, und obgleich dieſelbe,

wie oben erwähnt, durch Gewohnheit gegeben werden

kann, ſo wird ſie doch ſchneller und ſicherer, alſo beſſer,

durch Geſetzgebung bewirkt.

Noch wichtiger aber, als auf die urſprüngliche Rechts-

bildung, iſt der Einfluß der Geſetzgebung auf das Fort-

ſchreiten des Rechts. Wenn nämlich durch veränderte

Sitten, Anſichten, Bedürfniſſe, eine Veränderung in dem

beſtehenden Recht nothwendig wird, oder wenn im Fort-

gang der Zeit ganz neue Rechtsinſtitute zum Bedürfniß

werden, ſo können zwar dem beſtehenden Recht dieſe neuen

Elemente durch dieſelbe innere, unſichtbare Kraft eingefügt

werden, welche urſprünglich das Recht erzeugte. Allein

gerade hier iſt es, wo der Einfluß der Geſetzgebung äußerſt

heilſam, ja ſelbſt unentbehrlich werden kann. Denn da

jene wirkenden Urſachen nur allmälig eintreten, ſo entſteht

nothwendig eine Zwiſchenzeit von ungewiſſem Recht, welche

Ungewißheit durch den Ausſpruch des Geſetzes zu been-

digen iſt. Ferner ſtehen alle Rechtsinſtitute unter ein-

ander in Zuſammenhang und Wechſelwirkung, ſo daß

durch jeden neu gebildeten Rechtsſatz unbemerkt ein Wi-

derſpruch mit anderen, in ſich unveränderten Rechtsſätzen

 

|0098 : 42|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

entſtehen kann. Dadurch nun wird eine Ausgleichung

nöthig, die aber faſt nur durch Reflexion und abſichtliches,

alſo perſönliches Eingreifen mit Sicherheit zu bewirken

iſt (a). Dieſe Gründe erhalten eine beſonders einleuch-

tende Wichtigkeit in den Fällen, in welchen auch ſchon

das einer gegenwärtigen Abänderung bedürftige Recht

durch frühere Geſetzgebung befeſtigt war; denn da nun

dieſem die, überall wahrzunehmende, widerſtehende Kraft

des geſchriebenen Buchſtabens inwohnt, ſo wird dadurch

die allmälig wirkende innere Fortbildung oft ganz verhin-

dert, oft auf einen unbefriedigenden Grad herabgeſetzt wer-

den (b). Endlich treten in der Geſchichte jedes Volkes

Entwicklungsſtufen und Zuſtände ein, die der Rechtserzeu-

gung durch gemeinſames Volksbewußtſeyn nicht mehr gün-

ſtig ſind (§ 7). Hier wird dieſe, unter allen Umſtänden

(a) Stahl Philoſophie des

Rechts II. 1. S. 140.

(b) Dieſes iſt der wahre Sinn

der oft misbrauchten Stelle von

Göthe:

Es erben ſich Geſetz’ und Rechte

Wie eine ew’ge Krankheit fort;

Sie ſchleppen von Geſchlecht ſich

zum Geſchlechte,

Und rücken ſacht von Ort zu Ort.

Vernunft wird Unſinn, Wohl-

that Plage;

Weh Dir, daß Du ein Enkel biſt!

Vom Rechte, das mit uns gebo-

ren iſt,

Von dem iſt leider! nie die Frage.

Nicht ſelten iſt ſie ſo genommen

worden, als ſollte darin ein all-

gemeiner Tadel des poſitiven

Rechts ausgedrückt werden, und

das Bedauern, daß nicht ledig-

lich das Naturrecht regiere. Daß

der Dichter dieſe Stelle in dem

Zuſammenhange von Gedanken,

worin ich ſie ſetze, deutlich ge-

dacht habe, will ich nicht behaup-

ten. Es iſt aber das Vorrecht

des Sehers, dasjenige unmittel-

bar durch innere Anſchauung her-

vorzubringen, was wir Andern

nur auf dem langen und mühe-

vollen Wege fortſchreitender Ge-

dankenverbindung finden können.

|0099 : 43|

§. 13. Geſetzgebung.

unentbehrliche Thätigkeit großentheils von ſelbſt der Ge-

ſetzgebung zufallen. In keiner Zeit iſt dieſe letzte Verän-

derung ſo ſichtbar, ja ſo plötzlich erſchienen, als unter

Conſtantin, von welchem an die höchſt thätige Kaiſerliche

Geſetzgebung die Fortbildung des Rechts ausſchließend

übernahm.

Wie nun aus dieſen Betrachtungen hervorgeht, daß

der Geſetzgebung keinesweges eine untergeordnete Wichtig-

keit, in Vergleichung mit dem reinen (d. h. nicht in Geſetz-

gebung übergegangenen) Volksrecht zugeſchrieben werden

darf, ſo iſt auch vor dem umgekehrten Irrthum zu war-

nen, nach welchem das Volksrecht nur als ein nothdürf-

tiger Erſatz für die zufällig mangelnde Geſetzgebung be-

trachtet werden ſoll, von welchem nicht weiter die Rede

ſeyn dürfe, ſobald dieſe in’s Daſeyn getreten wäre. Die

conſequente Durchführung dieſer Anſicht führt dahin, die

Abänderung eines Geſetzes durch neueres Volksrecht (abro-

gatoriſche Gewohnheit) für unmöglich zu halten. Erkennt

man aber in beiden Formen der Rechtsbildung eine gleiche,

ſelbſtſtändige Würde an, ſo muß es einleuchten, daß die

natürliche fortbildende Kraft des Volksrechts nicht durch

den an ſich zufälligen Umſtand aufgehoben werden kann,

wenn ein früheres Erzeugniß deſſelben die Form der Ge-

ſetzgebung angenommen hat.

 

Außer dem Inhalt des Geſetzes, von welchem bisher

die Rede war, iſt nun auch noch die Form deſſelben in

beſondere Erwägung zu ziehen. Dieſe wird eben ſowohl

 

|0100 : 44|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

durch ſein Hervorgehen aus der höchſten Gewalt, als

durch die abſolute Macht, womit es wirken ſoll, beſtimmt.

Jener Entſtehung und dieſer Wirkung kann Nichts ange-

meſſener ſeyn, als die abſtracte Form der Regel und des

Gebots. Alles Andere, was damit verbunden werden

könnte, Entwicklung, Darſtellung, Einwirkung auf die

Überzeugung, iſt der Natur des Geſetzes fremd und gehört

anderen Sphären der Mittheilung an. Dadurch entſteht

indeſſen ein Misverhältniß zwiſchen dem Geſetz und dem

Rechtsinſtitut, deſſen organiſche Natur in jener abſtracten

Form unmöglich erſchöpft werden kann. Dennoch muß

dem Geſetzgeber die vollſtändigſte Anſchauung des orga-

niſchen Rechtsinſtituts vorſchweben, wenn das Geſetz ſei-

nem Zweck entſprechen ſoll, und er muß durch einen künſt-

lichen Prozeß aus dieſer Totalanſchauung die abſtracte

Vorſchrift des Geſetzes bilden: eben ſo muß derjenige,

der das Geſetz anwenden ſoll, durch einen umgekehrten

Prozeß den organiſchen Zuſammenhang hinzufügen, aus

welchem das Geſetz gleichſam einen einzelnen Durchſchnitt

darſtellt. Jenes Misverhältniß aber und die Nothwen-

digkeit dieſes künſtlichen Verfahrens erſcheint gemildert

überall, wo das Geſetz den oben dargeſtellten Beruf der

Ergänzung und Nachhülfe erfüllt, da dieſe beſonderen

Zwecke gleichfalls ſchon eine abſtracte Natur an ſich tra-

gen, und daher durch die abſtracte Form des Geſetzes

leichter erſchöpft werden können.

|0101 : 45|

§. 14. Wiſſenſchaftliches Recht.

§. 14.

Wiſſenſchaftliches Recht.

Es liegt in dem natürlichen Entwicklungsgang der

Völker, daß bey fortſchreitender Bildung einzelne Thätig-

keiten und Kenntniſſe ſich abſondern, und ſo den eigen-

thümlichen Lebensberuf beſonderer Stände bilden. So

auch wird das Recht, urſprünglich Gemeingut des ge-

ſammten Volkes, durch die ſich mehr verzweigenden Ver-

hältniſſe des thätigen Lebens dergeſtalt ins Einzelne aus-

gebildet, daß es durch die im Volk gleichmäßig verbreitete

Kenntniß nicht mehr beherrſcht werden kann. Dann wird

ſich ein beſonderer Stand der Rechtskundigen bilden,

welcher, ſelbſt Beſtandtheil des Volkes, in dieſem Kreiſe

des Denkens die Geſammtheit vertritt. Das Recht iſt

im beſondern Bewußtſeyn dieſes Standes nur eine Fort-

ſetzung und eigenthümliche Entwicklung des Volksrechts.

Es führt daher nunmehr ein zwiefaches Leben: ſeinen

Grundzügen nach lebt es fort im gemeinſamen Bewußt-

ſeyn des Volks, die genauere Ausbildung und Anwendung

im Einzelnen iſt der beſondere Beruf des Juriſtenſtandes.

 

Die äußeren Formen der Thätigkeit dieſes Standes

geben ein Bild von der ſehr allmäligen Entwicklung deſſelben.

Zuerſt erſcheint er blos als Rath gebend in einzelnen Fällen,

theils durch Gutachten über die Entſcheidung eines Rechts-

ſtreits (a), theils durch Belehrung über die richtige Ab-

 

(a) Zuerſt mündliches Gutachten der Advocati vor Gericht, ſpäter

ſchriftliche Responsa.

|0102 : 46|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

faſſung feyerlicher Rechtsgeſchäfte. Daneben finden ſich

dann als erſte literariſche Verſuche gewöhnlich Formu-

lare, mechaniſche Anweiſungen zur genauen Beſorgung

von Rechtsgeſchäften. Nach und nach wird die Thätig-

keit geiſtiger und bildet ſich zur Wiſſenſchaft aus. Nun

erſcheinen als theoretiſche Formen Darſtellungen des Rechts

theils in mannichfaltigen Büchern, theils in mündlicher

Lehre: als praktiſche Formen aber die Urtheilsſprüche der

Gerichte, die ſich von den alten Volksgerichten theils

durch die wiſſenſchaftliche Bildung der Mitglieder, theils

durch die Tradition bleibender Collegien unterſcheiden.

Man kann hiernach bey dem Juriſtenſtand eine zwie-

fache Wirkſamkeit unterſcheiden: eine materielle, indem

ſich die rechtserzeugende Thätigkeit des Volks großentheils

in ihn zurückzieht, und von ihm, als dem Repräſentan-

ten des Ganzen, fortwährend geübt wird: und eine for-

melle, rein wiſſenſchaftliche, indem von ihm das Recht

überhaupt, wie es auch entſtanden ſeyn möge, in wiſſen-

ſchaftlicher Weiſe zum Bewußtſeyn gebracht und darge-

ſtellt wird. In dieſer letzten Function erſcheint die Wirk-

ſamkeit der Juriſten zunächſt als eine abhängige, ihren

Stoff von außen empfangende. Indeſſen entſteht durch

die dem Stoff gegebene wiſſenſchaftliche Form, welche

ſeine inwohnende Einheit zu enthüllen und zu vollenden

ſtrebt, ein neues organiſches Leben, welches bildend auf

den Stoff ſelbſt zurück wirkt, ſo daß auch aus der Wiſ-

ſenſchaft als ſolcher eine neue Art der Rechtserzeugung

 

|0103 : 47|

§. 14. Wiſſenſchaftliches Recht.

unaufhaltſam hervorgeht. Wie wichtig und heilſam dieſe

formelle Rückwirkung der Wiſſenſchaft auf das Recht

ſelbſt ſeyn kann, iſt auf den erſten Blick einleuchtend;

allein ſie iſt auch nicht ohne Gefahren. Schon in früher

Zeit verſuchten es die Römiſchen Juriſten, für die Be-

handlung vieler Rechtsverhältniſſe allgemeine Formeln

aufzuſtellen, die ſich durch Tradition fortpflanzten, und

die zu großem und dauerndem Anſehen gelangten; Gajus

beſonders hat uns viele derſelben aufbewahrt. Allein ſie

ſelbſt (und mit ihren Worten Juſtinian) machen auf die

Gefahr der unbedingten Hingebung an dieſelben aufmerk-

ſam (b), und geben ihr Verhältniß dahin an, daß ſie als

Verſuche, das Recht aufzufaſſen, und ſeinen Inhalt zu

concentriren, nicht als Grundlage deſſelben betrachtet wer-

den müßten (c). In neueren Zeiten iſt dieſe formelle

Rückwirkung viel ausgebreiteter, mannichfaltiger und mäch-

tiger geworden, und darin eben liegt die große Gefahr

bey der Abfaſſung eines umfaſſenden Geſetzbuchs, durch

(b) L. 202 de R. J. (50. 17)

„Omnis definitio in jure civili

periculosa est: parum (rarum)

est enim, ut non subverti pos-

sit.”

(c) L. 1 de R. J. (50. 17)

„Regula est, quae rem quae

est breviter enarrat. Non (ut)

ex regula jus sumatur, sed (ut)

ex jure quod est regula fiat …

quae, simul cum in aliquo vi-

tiata est, perdit officium suum.”

Das heißt: der zu Liebe wir nie-

mals irgend eine, für ſich wohl-

begründete, concrete Beſtimmung

aufopfern müſſen. Hier iſt alſo

die Anerkennung von Ausnahmen

neben der Regel an ihrer Stelle,

ja das, was wir hier Ausnahme

nennen, iſt eigentlich nur die

Anerkennung einer unvollkomm-

nen Regelfaſſung. Eine andere

Natur haben die in Form all-

gemeiner Regeln gefaßten ge-

ſetzlichen Vorſchriften, neben wel-

chen wir mit der Zulaſſung

von Ausnahmen behutſamer ſeyn

müſſen.

|0104 : 48|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

welches unvermeidlich das zeitliche Ergebniß formeller

Auffaſſung fixirt, und der natürlichen Reinigung und

Veredlung durch fortſchreitende wiſſenſchaftliche Entwick-

lung entzogen wird.

Betrachtet man insbeſondere das Verhältniß des In-

riſtenſtandes zur Geſetzgebung, ſo zeigt ſich daſſelbe auf

folgende verſchiedene Weiſe. Er wirkt auf dieſelbe ein,

theils indem das in ihm ausgebildete Volksrecht, eben

ſowohl als das urſprüngliche, zum Stoff der Geſetzgebung

wird, theils durch die juriſtiſche Bildung der Perſonen,

die auf die Geſetzgebung in verſchiedenen Stufen Einfluß

haben. Er verarbeitet aber auch die Geſetzgebung und

vermittelt den Übergang derſelben in das wirkliche Leben.

Denn die freyen und mannichfaltigen Formen, in welchen

er ſich bewegen kann, machen es ihm möglich, die ab-

ſtracte Regel des Geſetzes in dem lebendigen Zuſammen-

hang mit dem Rechtsinſtitut darzuſtellen, von deſſen An-

ſchauung allerdings auch das Geſetz ausgegangen iſt, die

aber nicht unmittelbar in demſelben ſichtbar wird (§ 13).

So wird dem Geſetz durch wiſſenſchaftliche Verarbeitung

die Beherrſchung der Lebensverhältniſſe erleichtert und

geſichert.

 

Es erſcheint alſo hierin ein mannichfaltiger Einfluß

des Juriſtenſtandes auf das poſitive Recht. Gegen die

Behauptung dieſes Einfluſſes iſt zuweilen der Vorwurf

einer unbefugten Anmaßung erhoben worden. Dieſer Vor-

wurf könnte nur dann gegründet ſeyn, wenn die Juriſten

 

|0105 : 49|

§. 14. Wiſſenſchaftliches Recht.

einen geſchloſſenen Stand bilden wollten. Da aber Jeder

Juriſt werden kann, der die nöthige Kraft darauf wen-

det, ſo liegt in jener Behauptung nur der einfache Satz,

daß, Wer das Recht zu ſeinem Lebensberuf macht, durch

ſeine größere Sachkenntniß mehr als Andere auf das

Recht Einfluß haben wird.

Dieſe beſondere Art der Rechtserzeugung bezeichne ich

als das wiſſenſchaftliche Recht: anderwärts wird

ſie das Juriſtenrecht genannt.

 

Indem nun hier die geiſtige Entwicklung als Bedin-

gung des wiſſenſchaftlichen Rechts angegeben worden iſt,

ſo darf dieſes nicht lediglich von einem beſonders hohen

Grad wiſſenſchaftlicher Bildung verſtanden werden, da

vielmehr auch ſchon ein beſchränkter Anfang dazu hinrei-

chen kann, wie denn überhaupt Niemand hier an eine

ſcharfe Gränzbeſtimmung denken wird. Noch wichtiger

aber iſt die Bemerkung, daß ein ähnliches Verhältniß,

wenngleich eingeſchränkter, auch ſchon aus der Verfaſſung

eines Staats hervorgehen kann, wenn dieſe einen einzel-

nen Stand in die Lage ſetzt, vor anderen Ständen die

Kenntniß des Rechts zu beſitzen. So wird in Rom eine

Prudentium auctoritas angenommen zu einer Zeit, worin

von einem wiſſenſchaftlichen Bedürfniß noch nicht die lei-

ſeſte Spur vorhanden war, und es wird dieſelbe in Verbin-

dung geſetzt mit den ausſchließenden Kenntniſſen der Pontifi-

ces, alſo zugleich mit den Vorrechten des Patricierſtandes (d).

 

(d) L. 2. §. 5. 6. de orig. jur. (1. 2.). — Bis zu welchem Grade

4

|0106 : 50|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

§. 15.

Die Rechtsquellen in ihrem Zuſammenhang. Natur

und Herkunft ihres Inhalts.

Aus der bisherigen Darſtellung geht hervor, daß ur-

ſprünglich alles poſitive Recht Volksrecht iſt, und daß

dieſer urſprünglichen Rechtserzeugung (oft ſchon in frühen

Zeiten) Geſetzgebung ergänzend und unterſtützend zur Seite

tritt. Kommt dann, durch fortſchreitende Entwicklung des

Volks, Rechtswiſſenſchaft hinzu, ſo ſind dem Volksrecht

in dem Geſetz und der Wiſſenſchaft zwey Organe gege-

ben, deren jedes zugleich ſein eigenes Leben für ſich führt.

Nimmt endlich in ſpäteren Zeiten die rechtsbildende Kraft

des Volkes in ſeiner Totalität ab, ſo lebt ſie fort in die-

ſen Organen. Dann aber iſt auch von dem alten Volks-

recht meiſt wenig mehr in ſeiner urſprünglichen Geſtalt

ſichtbar, indem daſſelbe, ſeinem größten und wichtigſten

Theile nach, in Geſetzgebung und Wiſſenſchaft verarbeitet

ſeyn wird, und nur noch in dieſer unmittelbar erſcheint.

Auf dieſe Weiſe kann es geſchehen, daß das Volksrecht

von Geſetz und Wiſſenſchaft, in welchen es fortlebt, faſt

ganz verdeckt wird, und es wird nun auch die wahre

Entſtehung des vorhandenen poſitiven Rechts leicht ver-

geſſen und verkannt werden (a). Insbeſondere hat die

 

dieſe hiſtoriſche Angabe als wahr

anzunehmen iſt, kann hier nicht

der Ort ſeyn zu unterſuchen.

(a) Dieſes Verdecken der

urſprünglichen Rechtserzeugung

durch ſpätere Formen, worin der

frühere Stoff übergegangen war,

zeigt ſich beſonders in einem con-

ſtanten Sprachgebrauch des ſpä-

teren Römiſchen Rechts. Früher

|0107 : 51|

§. 15. Rechtsquellen im Zuſammenhang.

Geſetzgebung in ihrer äußeren Macht ein ſolches Überge-

wicht, daß daraus leicht die Täuſchung entſteht, als ob

ſie der einzig wahre Entſtehungsgrund des Rechts wäre,

alles Andere aber daneben nur in der untergeordneten

Stellung einer Nachhülfe oder eines Surrogats gedacht

werden dürfe. Allein ein geſunder Zuſtand des Rechts

iſt nur da vorhanden, wo dieſe rechtsbildenden Kräfte

harmoniſch zuſammen wirken, alſo keine derſelben von den

andern ſich iſolirt. Und da die Geſetzgebung und die

Wiſſenſchaft fortwährend von einzelnen Menſchen mit

Abſicht und Bewußtſeyn hervorgebracht werden, ſo iſt es

auch von Wichtigkeit, daß über die Entſtehung des poſi-

tiven Rechts, und über das wahre Verhältniß der dabey

wirkſamen Kräfte, richtige Vorſtellungen die Herrſchaft

erlangen und behaupten.

Dieſer innere Zuſammenhang der Geſetzgebung und

der Rechtswiſſenſchaft mit dem Volksrecht, welches auch

 

gab man als Rechtsquellen an:

Leges, plebisscita, Senatus con-

sulta u. ſ. w. Jetzt war dieſes

Alles längſt in die Schriften der

berühmten Juriſten übergegan-

gen, nur die Kaiſergeſetze beſtan-

den daneben, und wurden noch

ſtets durch neue vermehrt. Da-

her hieß es nun, alles Recht be-

ruhe auf Leges oder Consti-

tutiones (Kaiſergeſetze) und Jus

oder Prudentia (juriſtiſche Lite-

ratur). So in mehreren Stel-

len des Commonitorium vor

dem Weſtgothiſchen Breviar. Int.

L. 2. C. Th. de dot. (3. 13).

Int. L. un C. Th. de resp.

prud. (1. 4.). Int. Cod. Greg. II.

2. 1. — Edictum Theodorici

in epilogo. — Prooem. Inst.

§ 2. 4. Const. Deo auctore § 1.

2. 9. 11. Const. Cordi. pr. § 1.

L. 5. C. quorum appell. (7. 65.).

Justiniani Sanctio pragmatica

§ 11. — Ganz eben ſo beruht

das ganze Engliſche Recht auf

zwey Grundlagen, statute law,

und common law; was dort

die Kaiſergeſetze waren, ſind hier

die Parlamentsacten.

4*

|0108 : 52|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

für jene die Grundlage darbietet, macht es um ſo nöthi-

ger, die Beſchaffenheit des Inhalts des Volksrechts ge-

nauer zu unterſuchen. In demſelben finden wir ein zwie-

faches Element: ein individuelles, jedem Volke beſonders

angehörendes, und ein allgemeines, gegründet auf das

Gemeinſame der menſchlichen Natur. Beide finden ihre

wiſſenſchaftliche Anerkennung und Befriedigung in der

Rechtsgeſchichte und in der Rechtsphiloſophie. Unter

denen nun, welche ſich von jeher mit der Ergründung

der Natur des Rechts beſchäftigt haben, ſind nicht We-

nige, welche die Idee deſſelben als etwas für ſich Beſte-

hendes behandelten, unbekümmert um deren Geſtaltung

in dem vorhandenen realen Zuſtand, und um den Ein-

fluß ihrer Gedanken auf dieſen Zuſtand. Allein auch

Diejenigen, welche ihrer wiſſenſchaftlichen Arbeit ein be-

ſtimmtes Verhältniß zu dem realen Rechtszuſtand zu geben

trachteten, ſind dabey häufig, indem ſie nur das eine oder

das andere von den angegebenen zwey Rechtselementen

anerkannten, zu einer einſeitigen Behandlung des Rechts

geführt worden: die Einen, indem ſie den Inhalt des

Rechts als einen zufälligen und gleichgültigen auffaßten,

und ſich mit der Wahrnehmung der Thatſache als ſol-

cher begnügten; die Andern durch Aufſtellung eines über

allen poſitiven Rechten ſchwebenden Normalrechts, wel-

ches eigentlich alle Völker wohl thun würden, ſogleich

anſtatt ihres poſitiven Rechts aufzunehmen. Dieſe letzte

Einſeitigkeit entzieht dem Recht alles Leben überhaupt,

|0109 : 53|

§. 15. Rechtsquellen im Zuſammenhang.

während die erſte allen höheren Beruf in ihm verkennt.

Beide Abwege werden wir vermeiden, wenn wir eine

allgemeine Aufgabe annehmen, welche auf ihre beſondere

Weiſe zu löſen die geſchichtliche Aufgabe der einzelnen

Völker iſt. Der lebhafte Streit über dieſe Gegenſätze

hat gewiß dazu gedient, dieſelben ſchärfer und beſtimmter

zur Erkenntniß zu bringen; aber er hat eben ſo oft dahin

geführt, das wahre Element in den Beſtrebungen der

Gegner einſeitig zu verkennen. Denn wir dürfen nicht

überſehen, daß bey einer ſcheinbar auf das Einzelne be-

ſchränkten Unterſuchung, der Sinn für das Ganze, alſo

für die höhere Bedeutung der Rechtsinſtitute, ſich offen-

baren kann: ſo wie auf der andern Seite die auf das

Allgemeine gerichtete Unterſuchung von der Anſchauung

des geſchichtlichen Lebens der Völker wahrhaft durchdrun-

gen ſeyn mag. Sieht man dabey ab von den Aeußerun-

gen des Parteygeiſtes (als dem Nichtigen und Vergäng-

lichen), und faßt man die wiſſenſchaftlichen Richtungen

unſrer Zeit rein für ſich in’s Auge, ſo dürfte man wohl

dem erfreulichen Gedanken einer inneren Annäherung,

und damit eines wahrhaften Fortſchrittes, Raum geben

können.

Jene allgemeine Aufgabe alles Rechts nun läßt ſich

einfach auf die ſittliche Beſtimmung der menſchlichen Na-

tur zurück führen, ſo wie ſich dieſelbe in der chriſtlichen

Lebensanſicht darſtellt; denn das Chriſtenthum iſt nicht

nur von uns als Regel des Lebens anzuerkennen, ſondern

 

|0110 : 54|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

es hat auch in der That die Welt umgewandelt, ſo daß

alle unſre Gedanken, ſo fremd, ja feindlich ſie demſelben

ſcheinen mögen, dennoch von ihm beherrſcht und durch-

drungen ſind. Durch dieſe Anerkennung eines allgemei-

nen Zieles wird keinesweges das Recht in ein weiteres

Gebiet aufgelöſt und ſeines ſelbſtſtändigen Daſeyns be-

raubt: es erſcheint vielmehr als ein ganz eigenthümliches

Element in der Reihe der Bedingungen jener allgemeinen

Aufgabe, in ſeinem Gebiet herrſcht es unumſchränkt, und

es erhält nur ſeine höhere Wahrheit durch jene Ver-

knüpfung mit dem Ganzen. Mit der Annahme jenes

Einen Zieles aber genügt es völlig, und es iſt keineswe-

ges nöthig, demſelben ein ganz verſchiedenes zweytes,

unter dem Namen des öffentlichen Wohles, an die Seite

zu ſetzen: außer dem ſittlichen Princip ein davon unab-

hängiges ſtaatswirthſchaftliches aufzunehmen. Denn indem

dieſes auf Erweiterung unſrer Herrſchaft über die Natur

hinſtrebt, kann es nur die Mittel vermehren und veredlen

wollen, wodurch die ſittlichen Zwecke der menſchlichen

Natur zu erreichen ſind. Ein neues Ziel aber iſt darin

nicht enthalten.

Betrachten wir von dieſem Standpunkt aus das poſi-

tive Recht beſtimmter Völker, ſo finden wir in deſſen Er-

zeugung großentheils beide Elemente des Rechts als gar

nicht verſchieden, ſondern als eine und dieſelbe, unge-

theilte, ſchaffende Kraft. Nicht ſelten aber treten beide

in einem beſtimmten Gegenſatz aus einander, bekämpfen

 

|0111 : 55|

§ 15. Rechtsquellen im Zuſammenhang.

und beſchränken ſich wechſelſeitig, um ſich ſpäterhin viel-

leicht in einer höheren Einheit aufzulöſen. In dieſem

Gegenſatz erſcheint uns das beſondere oder nationale Ele-

ment, und alles Einzelne, was in der logiſchen Conſequenz

deſſelben enthalten iſt, als der bloße Buchſtab des Rechts

(jus strictum, ratio juris) (b); in ſolcher Abgeſchloſſenheit

iſt daſſelbe unvollkommen und beſchränkt, es hat aber die

Fähigkeit, im Lauf der Zeit die ihm verwandten allge-

meineren Principien mehr und mehr in ſich aufzunehmen

und ſich durch ſie zu erweitern. — Das allgemeine Ele-

ment dagegen erſcheint wiederum in verſchiedenen Geſtal-

ten. Am reinſten und unmittelbarſten, inſofern darin die

ſittliche Natur des Rechts im Allgemeinen wirkſam iſt:

alſo die Anerkennung der überall gleichen ſittlichen Würde

und Freyheit des Menſchen, die Umgebung dieſer Frey-

heit durch Rechtsinſtitute, mit Allem was aus der Natur

und Beſtimmung dieſer Inſtitute durch praktiſche Conſe-

quenz hervorgeht, und was die Neueren Natur der Sache

nennen (aequitas oder naturalis ratio). Mittelbar und in

gemiſchterer Natur erſcheint das allgemeine Rechtselement:

(b) Die Römiſchen Kunſtaus-

drücke werden an dieſer Stelle

angegeben, nicht um die bey den

Römern vorkommende Begriffe

hiſtoriſch feſtzuſtellen, ſondern um

die gegenwärtige allgemeine Dar-

ſtellung durch Erinnerung an

bekannte Kunſtausdrücke anſchau-

licher zu machen. Die Anknüpfung

derſelben an die bey den Römern

herrſchenden Grundbegriffe über

die Entſtehung des Rechts wird

im § 22 nachfolgen. — Die logi-

ſche Conſequenz iſt in folgender

Stelle ſehr bezeichnend ausge-

drückt: L. 51. § 2. ad L. Aquil.

(9. 2.) „Multa autem jure ci-

vili, contra rationem dispu-

tandi, pro utilitate communi

recepta esse.”

|0112 : 56|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

1) als Beachtung ſittlicher Zwecke außer dem Rechtsge-

biet (boni mores), im neueſten Recht auch kirchlicher

Zwecke, 2) als Beachtung des Staatsintereſſe (publica

utilitas, quod reipublicae interest), 3) als väterliche Vor-

ſorge für das Wohl der Einzelnen (ratio utilitatis), z. B.

Beförderung des Verkehrs, Schutz einiger Klaſſen, wie

Frauen und Minderjährige, gegen beſondere Gefahren. —

Nach dieſer Überſicht laſſen ſich die Entſtehungsgründe

auch folgendergeſtalt klaſſificiren. Sie beruhen entweder

rein auf dem Rechtsgebiet für ſich (jus strictum und

aequitas), oder zugleich auf der Mitwirkung ſolcher Prin-

cipien, die nicht in den Gränzen dieſes Gebietes liegen,

obgleich ſie das allgemeine Ziel mit demſelben gemein

haben (boni mores und jede Art von utilitas).

Durch jene Anerkennung der beiden Elemente jedes

poſitiven Rechts, des allgemeinen und des individuellen,

eröffnet ſich zugleich für die Geſetzgebung ein neuer und

hoher Beruf. Denn gerade in der Wechſelwirkung jener

Elemente liegt ſchon das wichtigſte Motiv des fortſchrei-

tenden Volksrechts, wobey es überall darauf ankommt,

das allgemeine Ziel ſicherer zu erkennen, und ſich demſel-

ben anzunähern, ohne doch die friſche Kraft des indivi-

duellen Lebens zu ſchwächen. Auf dieſem Wege giebt es

Vieles auszugleichen, manches Hinderniß zu überwinden,

und hier kann die geſetzgebende Gewalt dem unſichtbar

arbeitenden Volksgeiſt die wohlthätigſte Hülfe leiſten.

Aber in keinem Geſchäft iſt auch ſo viel Behutſamkeit

 

|0113 : 57|

§. 16. Abſolutes u. vermittelndes, regelmäß. u. anomal. Recht.

nöthig, damit nicht einſeitige Meynung und Willkühr das

lebendig waltende und fortſchreitende Recht verdränge.

Hier vorzüglich iſt dem Geſetzgeber der Sinn für wahre

Freyheit wichtig, der oft bey denen am meiſten vermißt

wird, die ihn vor Anderen im Munde führen.

§. 16.

Abſolutes und vermittelndes, regelmäßiges und

anomaliſches Recht.

Bey der Betrachtung der Beſtandtheile des objectiven

Rechts finden wir zwey Gegenſätze, die ſchon an dieſem

Ort dargeſtellt werden müſſen, weil ſie von mannichfalti-

gem Einflnß auf die nachfolgenden Lehren ſind.

 

Erwägt man erſtlich das Verhältniß, in welchem die

Rechtsregeln zu den durch ſie beherrſchten Rechtsverhält-

niſſen ſtehen (§ 5), ſo findet ſich darin folgende Verſchie-

denheit. — Ein Theil derſelben ſoll herrſchen mit unab-

änderlicher Nothwendigkeit, ohne der individuellen Will-

kühr Spielraum zu laſſen: ich nenne ſie abſolute oder

gebietende Rechtsregeln. Der Grund dieſer Nothwen-

digkeit kann liegen in der Natur des Rechtsorganismus

ſelbſt, ſo wie er ſich in dieſem poſitiven Recht darſtellt:

oder in politiſchen und ſtaatswirthſchaftlichen Zwecken:

oder auch unmittelbar in ſittlichen Rückſichten (§ 15). —

Ein anderer Theil läßt zunächſt dem individuellen Willen

freye Macht, und nur wo dieſer unterlaſſen hat ſeine

Macht auszuüben, tritt die Rechtsregel an ſeine Stelle,

 

|0114 : 58|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

um dem Rechtsverhältniß die nöthige Beſtimmtheit zu

geben: dieſe Regeln, die man als Auslegungen des un-

vollſtändig gebliebenen Willens betrachten kann, nenne

ich vermittelnde. — Dieſer Gegenſatz iſt von den Rö-

miſchen Juriſten ſehr beſtimmt anerkannt. Sie bezeichnen

die Regeln der erſten Art am häufigſten als jus publi-

cum (a): auch als jus ſchlechthin (b), als jus commune (c),

oder juris forma (d). Nicht ſelten drücken ſie ſpeciell die

Beziehung aus, um deren willen die Regel dieſe Eigen-

ſchaft hat, namentlich das Staatsintereſſe (e), oder die

guten Sitten (f). Die Regeln der zweyten Art, deren

Natur ſich meiſt aus dem Gegenſatz von ſelbſt ergiebt,

haben keine ſo regelmäßig wiederkehrende Bezeichnung (g). —

Bey den Neueren liegt zum Theil derſelbe Gedanke zum

Grunde, wenn ſie die Geſetze in gebietende, verbietende

und erlaubende eintheilen (h). Bey dieſer Eintheilung iſt

(a) L. 38 de pactis (2. 14.),

L. 20 pr. de relig. (11. 7.), L.

42 de op. lib. (38. 1.), L. 45

§ 1 de R. J. (50. 17.) etc.

(b) L. 12 § 1 de pactis dot.

(23. 4.), L. 27 de R. J. (50. 17.).

(c) L. 7 § 16 de pactis (2. 14.).

(d) L. 42 de pactis (2. 14.),

L. 114 § 7 de leg. 1 (30), L. 49

§ 2 de fidej. (46. 1.).

(e) L. 27 § 4. L. 7 § 14 de

pactis (2. 14) publica causa,

res publica.

(f) Consultatio § 4 in mehre-

ren Stellen.

(g) Res familiaris, privata,

ad voluntatem spectans. L. 7

§ 14. L. 27 § 4 de pactis (2.

14.). L. 12 § 1 de pactis dot.

(23. 4.). L. 27 de R. J. (50.

17.). — Von der Unterſcheidung

beider Arten der Rechtsregeln

wird im vierten Kapitel gehandelt

werden.

(h) Glück I. § 14. — Die

Veranlaſſung dieſer Eintheilung

liegt in L. 7 de leg. (1. 3.), wo

nur noch ein Glied mehr vor-

kommt: „Legis virtus est im-

perare, vetare, permittere, pu-

nire.” Hier aber ſtehen dieſe

Fälle nur als anſpruchloſe Über-

ſicht über die Wirkungsart der

|0115 : 59|

§. 16. Abſolutes u. vermittelndes, regelmäß. u. anomal. Recht.

jedoch zuvörderſt die Beſchränkung auf Geſetze zu tadeln,

da doch derſelbe Gegenſatz auch in dem Gewohnheitsrecht

vorkommen kann. Ferner unterſcheiden ſich die gebieten-

den und verbietenden Geſetze nur durch die logiſche Form

der Bejahung und Verneinung, welcher an ſich gleichgül-

tige Umſtand keine Eintheilungsglieder begründen kann.

Endlich iſt bey der dritten Art das, worauf es ankommt,

gar nicht das Erlauben, ſondern vielmehr die Ergänzung

einer mangelhaften Willensbeſtimmung. Das Erlauben

könnte überhaupt nur Sinn haben in Beziehung auf ein

vorausgedachtes Verbot: ſey es, daß dieſes durch die Er-

laubniß aufgehoben, oder ausnahmsweiſe beſchränkt wer-

den ſollte. In der That bezieht man auch den Ausdruck

vorzugsweiſe auf ſolche Geſetze, worin für beſtimmte Per-

ſonen eine Handlungsfähigkeit anerkannt, eigentlich alſo

deren Negation negirt wird. — Unter den angeführten

Kunſtausdrücken iſt übrigens einer, der noch einer näheren

Erörterung bedarf, weil deſſen Vieldeutigkeit große Mis-

verſtändniſſe erzeugt hat, nämlich der Ausdruck publicum

jus. Publicum überhaupt iſt populicum, das was mit dem

populus in Beziehung ſteht. Dieſer Grundbegriff führt

auf folgende Varietäten. Erſtlich kann gemeynt ſeyn der

populus Romanus (welches als die regelmäßige Bedeu-

tung bezeichnet wird), oder der populus einer einzelnen

Stadt (i). Zweytens kann das Publicum betreffen den

Geſetze, nicht als Grundlage ei-

ner Claſſification.

(i) L 15 de V. S. (50. 16.),

L. 16 eod. L. 9 de usurp. (41. 3.).

|0116 : 60|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

populus als Ganzes (wie der ager publicus, die bonorum

publicatio u. ſ. w.), oder alle einzelne Mitglieder deſſelben

(wie die res publicae im Gemeingebrauch der Einzelnen) (k).

Was insbeſondere das publicum jus betrifft, ſo können

durch dieſen Ausdruck ganz verſchiedene Beziehungen

des jus zum populus bezeichnet werden. So bedeutet pu-

blicum jus zuerſt das öffentliche Recht, d. h. die Rechts-

regeln, deren Gegenſtand der populus iſt (§ 9. a.); ferner

die Rechtsregeln überhaupt (das objective Recht), welche

ihre Entſtehung haben in der Anerkennung des populus

(§ 7. 8) (l); endlich diejenigen Regeln des Privatrechts,

wobey der populus ein Intereſſe hat (publice interest,

publica utilitas), und die deswegen von der individuellen

Willkühr unabhängig ſind, alſo die abſoluten Rechtsregeln

(Note a.). Allein nicht blos auf die Rechtsregeln (das

objective Recht) wird der Ausdruck publicum jus ange-

wendet, ſondern auch auf die Befugniſſe der Einzelnen

(das ſubjective Recht). So heißt publicum jus der Allen

gemeinſame Genuß an Flüſſen und Heerſtraßen (m); eben

ſo heißen publica jura die Rechte, welche den Einzelnen

als Senatoren, als Mitgliedern der Volksverſammlung

u. ſ. w. zukommen (n). Die Vernachläſſigung dieſer ver-

(k) L. 5 pr. de div. rer. (1.

8.), L. 7 § 5. L. 14 pr. L. 30

§ 1. L. 65 § 1 de adq. rer. dom.

(41. 1.), L. 6 pr. L. 72 § 1 de

contr. emt. (18. 1.), L. 45 pr.

de usurp. (41. 3.).

(l) L. 8 de tut. (26. 1.), L.

77 § 3 de cond. (35. 1.), L. 116

§ 1 de R. J. (50. 17.), L. 8. 14

C. de Judaeis (1. 9.).

(m) L. 1 § 16. 17. L. 3 § 4.

L. 4 de O. n. n. (39. 1.). Ähn-

lich iſt L. 40 ad L. J. de adult.

(48. 5.).

(n) L. 5 § 2. L. 6 de cap.

min. (4. 5.).

|0117 : 61|

§. 16. Abſolutes u. vermittelndes, regelmäß. u. anomal. Recht.

ſchiedenen, aber verwandten Bedeutungen hat nicht ſelten

bedeutende Irrthümer veranlaßt (o).

Ein zweyter Gegenſatz bezieht ſich auf die verſchiedene

Herkunft der Rechtsregeln, je nachdem dieſelben entſprun-

gen ſind auf dem reinen Rechtsgebiet (ſey dieſes jus oder

aequitas), oder aber auf einem fremdartigen Gebiet (§ 15).

Indem dieſe letzten als fremde Elemente in das Recht ein-

greifen, werden deſſen reine Grundſätze durch ſie modifi-

cirt, und inſofern gehen ſie contra rationem juris (p). Ich

nenne ſie daher anomaliſche, die Römer nennen ſie

Jus singulare, und ſetzen ihren Entſtehungsgrund in die

von dem Recht verſchiedene utilitas oder necessitas (q.).

 

(o) Großentheils hieraus iſt

entſtanden das Werk von Bur-

chardi: Grundzüge des Rechts-

ſyſtems der Römer aus ihren Be-

griffen von öffentlichem und Pri-

vatrecht entwickelt, Bonn 1822.

Er betrachtet das ganze Perſo-

nenrecht als jus publicum, das

Sachenrecht als jus privatum,

das Actionenrecht als aus beiden

gemiſcht. Ich halte den Grund-

gedanken für unrichtig, deſſen

ſcharfſinnige Durchführung aber

macht das Buch dennoch lehrreich.

(p) L. 14. 15. 16 de leg. (1.

3.), L. 141 pr. de R. J. (50.

17.). — Im Weſentlichen iſt die-

ſes dieſelbe Grundanſicht, welche

ſchon von Thibaut dargeſtellt

iſt, Verſuche H. N. 13.

(q.) L. 16 de leg. (1. 3.) „Jus

singulare est quod contra te-

norem rationis propter aliquam

utilitatem auctoritate consti-

tuentium introductum est.”

Der Name jus singulare ſteht

auch in L. 23 § 3 de fid. lib.

(40. 5.). L. 23. §. 1. L. 44 § 1

de adqu. poss. (41. 2.). L. 44

§ 3 de usurp. (41. 3.). L. 15 de

reb. cred. (12. 1.) („Singularia

quaedam recepta”). — Utilitas

(vgl. oben § 15) als ihr Entſte-

hungsgrund auch in L. 44 § 1

cit. L. 2 § 16 pro emt. (41. 4.).

— Necessitas (von utilitas im

Weſen nicht verſchieden) in L.

162 de R. J. (50. 17.). — Es

heißt zuweilen benigne receptum

L. 34 pr. mandati (17. 1.). Vgl.

Brissonius v. benigne und be-

nignus. — In mehreren ande-

ren Stellen heißt dieſes ſingu-

läre, rein poſitive Recht jus con-

stitutum, alſo ohne Beziehung

auf Kaiſerconſtitutionen als Ent-

|0118 : 62|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

Das auf dem Rechtsgebiet entſprungene Recht nenne ich

das regelmäßige; die Römer bezeichnen daſſelbe ge-

wöhnlich gar nicht, doch kommt dafür der Name Jus

commune vor (r). Bey weitem die häufigſte Bezeichnung

des Jus singulare bey den Römern iſt aber die durch den

Ausdruck privilegium. So kommen vor Privilegien der

Soldaten bey den Teſtamenten (s), mehrerer Perſonen als

Excuſationen von der Vormundſchaft (t), ganz beſonders

häufig aber als Begünſtigung mancher Creditoren im Con-

curs (u), namentlich des Fiscus, der Unmündigen, der

Dotalforderungen u. ſ. w., alſo unter andern derjenigen

Forderungen, die ſpäterhin den noch größeren Vortheil

eines ſtillſchweigenden Pfandrechts erlangt haben (v): in

allen dieſen Fällen aber heißt privilegium genau daſſelbe,

was ſo eben als die Bedeutung von Jus singulare nach-

gewieſen worden iſt. — Suchen wir uns den Character

ſtehungsgrund. L. 25 de don.

int. v. et ux. (24. 1.). — L. 1

rer. am. (25. 2.). — L. 20 § 3

de statu lib. (40. 7.) L. 94 pr.

§ 1 de cond. (35. 1.). Alciati

parerg. VII. 26. (Anderwärts

bezeichnet freylich jus constitu-

tum das Conſtitutionenrecht. L.

1 § 2 quae sent. 49. 8. Unſicher

ſind in dieſer Hinſicht Fragm.

Vat. § 278, und L. 22 C de

usur. 4. 32.). — Der Gegenſatz

jenes ſingulären Rechts (jus con-

stitutum) heißt dann jus vulga-

tum. L. 32 § 24 de don. int.

vir. (24. 1.).

(r) L. 15 de vulg. (28. 6.).

(s) L. 15 de vulg. (28. 6.),

L. 40 de admin. (26. 7.).

(t) L. 30 § 2 de excus. (27.

1.). Fr. Vatic. § 152. Doch iſt

hier der Ausdruck nicht häufig.

(u) So durch den ganzen Ti-

tel de reb. auct. jud. (42. 5.),

beſonders L. 24 § 2. 3. L. 32.

Sie heißen hier privilegiarii.

(v) Unſer beſonders häufiger

Ausdruck der privilegirten Hy-

potheken iſt bey den Römern

nicht üblich.

|0119 : 63|

§. 10. Abſolutes u. vermittelndes, regelmäß. u. anomal. Recht.

dieſes Jus singulare noch vollſtändiger zu entwickeln, ſo

erſcheint es zuerſt als rein poſitiv, und zwar meiſt ſo, daß

es auf den Willen eines beſtimmten Geſetzgebers zurück-

geführt werden kann (w), in ſeltneren Fällen auch als

Erzeugniß uralter Nationalanſicht, alſo ohne bekannten

Urſprung: ſo das Verbot der Schenkung zwiſchen Ehe-

gatten, welches auf ſittlichen Anſichten, nicht auf einem

Rechtsprincip beruht (x). — Ferner erſcheint das anoma-

liſche Recht zu dem regelmäßigen in dem logiſchen Ver-

hältniß einer Ausnahme zur Regel: allein dieſes Verhält-

niß iſt ein abgeleitetes, und das Weſen der Sache iſt

darin nicht enthalten. — Endlich erſcheint das anomaliſche

Recht (was ſchon in ſeinem Character als einer Ausnahme

liegt) ſtets als beſchränkt auf gewiſſe Klaſſen von Perſo-

nen, Sachen, oder Rechtsgeſchäften: aber dieſes Verhält-

niß iſt zuvörderſt ein unbeſtimmtes, da man den Begriff

ſolcher Klaſſen nach Belieben bilden kann, wie denn z. B.

das ganze Recht des Kaufs nur für die Klaſſe der Käu-

fer und Verkäufer gilt: es iſt ferner, ſo wie das vorher

erwähnte Ausnahmeverhältniß, ein untergeordnetes, und

ganz irrig haben Viele das Weſen des Jus singulare

hierin geſetzt. Wäre dieſes der Fall, ſo müßte man auch

den Satz umkehren können, und jedes Recht beſonderer

Klaſſen müßte ſtets ein Jus singulare ſeyn, was aber

durchaus nicht angenommen werden darf. So z. B. geht

(w) „Auctoritate constituen-

tium” ſ. d. Note q.

(x) L. 1 de don. int. vir.

(24. 1.).

|0120 : 64|

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.

Juſtinians dreyjährige Uſucapion nur auf bewegliche Sa-

chen, iſt aber darum dennoch kein Jus singulare. Das

Vorrecht der Unmündigen bey der actio tutelae iſt ein

Jus singulare, ihre Handlungsunfähigkeit iſt es nicht.

Das Sc. Vellejanum iſt ein Jus singulare der Frauen,

ihre ausſchließende Fähigkeit, mit Männern in dem Rechts-

verhältniß einer Ehe zu leben, iſt es nicht. Alſo iſt die

Beſchränkung eines Rechts auf einzelne Klaſſen nicht das,

wodurch das Recht zu einem Jus singulare wird. — In der

gewöhnlichſten Beziehung auf eine einzelne Klaſſe von Per-

ſonen iſt der Zweck nicht, wie bey dem regelmäßigen

Recht (der aequitas) auf eine gleichmäßige Behandlung

aller Betheiligten gerichtet, ſondern vielmehr, in Folge der

von außen in das Recht eingreifenden utilitas, entweder

auf einen Vortheil oder einen Nachtheil dieſer Klaſſe. In

dem erſten Fall, welcher der häufigſte iſt, heißt jenes Recht

auch beneficium (y). Beyſpiele des letzten Falls ſind die

im neueren Römiſchen Recht wichtigen beſonderen Rechte

der Ketzer und Juden. — Nach dieſer Darſtellung iſt der

Begriff des Jus singulare ein allgemeiner, nicht hiſtori-

ſcher. Dennoch kann er inſofern einen hiſtoriſchen Cha-

racter annehmen, als ein dem Recht urſprünglich fremdes

Princip von demſelben aſſimilirt werden kann, ſo daß Das,

was urſprünglich als utilitas galt, im Lauf der Zeit als

ratio juris aufgefaßt wird. Das geſchah ohne Zweifel

bey dem Erwerb des Beſitzes durch freye Mittelsperſonen,

(y) Z. B. L. 1 § 2 ad munic. (50. 1.).

|0121 : 65|

§. 16. Abſolutes u. vermittelndes, regelmäß. u. anomal. Recht.

und auch die Singularia bey dem Darlehn ſcheinen ſo ver-

ſtanden werden zu müſſen (z).

Große Verwirrung iſt in dieſe Lehre dadurch gekom-

men, daß man das Jus singulare zuſammen geworfen hat

mit dem, was wir heutzutage gewöhnlich Privilegien nen-

nen, nämlich mit den durch die höchſte Staatsgewalt be-

ſtimmten individuellen Ausnahmen von der Anwendung der

Rechtsregeln. Um dieſes klar zu machen, iſt es nö-

thig, das Verhältniß der Begriffe von der Terminologie

genau zu ſcheiden (aa). — Solche individuelle Ausnahmen

ſind überhaupt gar nicht Beſtandtheile des allgemeinen

Rechts, und unterſcheiden ſich dadurch gänzlich von dem

Jus singulare. Sie haben mit demſelben gemein die Na-

tur der Ausnahme von einer Regel: ferner die Entſtehung

durch eine einſeitige Erklärung der geſetzgebenden Gewalt.

Allein dieſe letzte Ähnlichkeit iſt nur eine zufällige, nicht

allgemeine, da ſie ja auch durch Verträge entſtehen kön-

nen. — Mit der Terminologie aber verhält es ſich fol-

gendergeſtalt. In der älteſten Sprache heißen dieſe indi-

viduellen Ausnahmen in der That privilegia (bb). In

unſren Rechtsquellen dagegen iſt privilegium die regelmä-

ßige Bezeichnung für das Jus singulare, und kommt dabey,

wie oben bemerkt, in einer großen Zahl von Stellen vor.

 

(z) L. 1 C. de adqu. poss.

(7. 32.). L. 53 de adqu. rer.

dom. (41. 1.). L. 15 de reb.

cred. (12. 1.).

(aa) Dieſe Rechte ſelbſt wer-

den unten bey der Anwendung

der Geſetze dargeſtellt werden.

(bb) So in mehreren Stellen

des Cicero (Ernesti v. privile-

gium) Gellius X. 20. — Vgl.

Dirkſen civiliſtiſche Abhandlun-

gen B. 1 S. 246 fg.

5

|0122 : 66|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Die individuellen Ausnahmen aber ſind in den Rechts-

quellen überhaupt ſelten erwähnt, und wo ſie vor-

kommen, werden ſie durch keinen regelmäßigen Kunſtaus-

druck bezeichnet, ſondern bald blos beſchrieben (cc), bald

personales constitutiones, oder auch privata privilegia

genannt (dd).

Drittes Kapitel.

Quellen des heutigen Römiſchen Rechts.

§. 17.

A. Geſetze.

Was bisher über die Natur der Rechtsquellen im All-

gemeinen geſagt worden iſt (§ 4—16), ſoll nunmehr auf

das heutige Römiſche Recht, als auf die beſondere Auf-

gabe dieſes Werks (§ 1—3), angewendet werden. Es

iſt alſo die beſondere Stellung anzugeben, welche Geſetz-

gebung, Gewohnheitsrecht, und wiſſenſchaftliches Recht,

als Quellen des heutigen Römiſchen Rechts, einnehmen.

 

Als Geſetze kommen hier zunächſt in Betracht die vier

Theile der Juſtinianiſchen Geſetzgebung, die wir unter

dem Namen Corpus Juris zuſammen zu faſſen pfle-

gen: alſo die drey Rechtsbücher, und die nach denſelben

erlaſſenen einzelnen Novellen (a). Dieſe aber in den Grän-

 

(cc) L. 3 in f. C. de leg. (1.

14.) Const. Summa § 4.

(dd) L. 1 § 2 de const. princ.

(1. 4.). L. 4. C. Th. de itin.

mun. (15. 3.). Vgl. § 24.

(a) Die Geſchichte und Lite-

ratur dieſer Quellen gehört der

|0123 : 67|

§. 17. Geſetze.

zen und der beſonderen Geſtalt, welche ſie in der Schule

von Bologna erhalten haben. Denn nur ſo waren ſie

bekannt, als ſich von jener Schule aus die Anerkennung

des Römiſchen Rechts als eines gemeinen Rechts für das

neuere Europa feſtſtellte: und als vier Jahrhunderte ſpä-

ter zu jenen Quellen allmälig noch neue hinzugebracht

wurden, war die ausſchließende Herrſchaft der früheren

ſo lange und ſo allgemein anerkannt, ja ſie waren ſo ſehr

in den wirklichen Rechtszuſtand übergegangen, daß es ganz

unmöglich war, den neuen Entdeckungen einen andern als

blos gelehrten Gebrauch zuzuſchreiben. Nur aus dieſem

Grunde iſt das vorjuſtinianiſche Recht von aller Anwen-

dung ausgeſchloſſen, und dieſe Ausſchließung iſt von allen

ohne Ausnahme anerkannt. Ganz inconſequent aber würde

es ſeyn, daſſelbe Princip nicht auch auf die Gränzen des

Juſtinianiſchen Quellencanons anwenden zu wollen. Da-

her ſind alſo ausgeſchloſſen die Griechiſchen Texte in den

Digeſten, an deren Stelle die in Bologna angenommenen

Überſetzungen treten: ferner die wenig bedeutenden Reſti-

tutionen in den Digeſten, und die weit wichtigeren im

Codex. Eben ſo aber iſt auch unter den Drey auf neuere

Zeiten gekommenen Sammlungen der Novellen (b) nur

diejenige anzuerkennen, welche wir als Authenticum

bezeichnen, und zwar in der Abkürzung, die ſie in Bologna

Rechtsgeſchichte an; hier iſt blos

anzugeben, was davon als gel-

tendes Recht betrachtet werden

darf.

(b) Sammlung der 168, Ju-

lian, und liber Authenticorum.

Biener Geſchichte der Novellen

Juſtinians. Berlin 1824. 8.

5*

|0124 : 68|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

erhalten hat, und worin ſie den Namen der Vulgata

führt (c). Aus denſelben Gründen aber müſſen wir auf

der andern Seite im Codex die Erweiterung anerkennen,

die er in Bologna durch Aufnahme der von Kaiſer Frie-

drich I. und Friedrich II. herrührenden Authentiken erhalten

hat: ingleichen durch Aufnahme der weit zahlreicheren

Authentiken des Irnerius (d). Weiter jedoch als auf die

Begränzung jenes Quellenkreiſes dürfen wir den unmit-

telbaren Einfluß der Bologneſiſchen Schule nicht ausdeh-

nen: namentlich nicht auf die Lehrmeynungen, worin eine

ausſchließende Allgemeinheit daſelbſt niemals bewirkt oder

nur bezweckt wurde (e): eben ſo wenig auf die Kritik des

(c) Biener S. 258. 259. —

Wenn auch einzelne Juriſten,

wiewohl ſehr ſelten, abweichende

Meynungen über dieſen Punkt

gehabt haben mögen (Müh-

lenbruch I. § 18.), ſo darf

doch deshalb die Sache ſelbſt nicht

als zweifelhaft angeſehen werden.

Denn giebt man das hier auf-

geſtellte Princip auf, ſo iſt es

ganz unmöglich, eine ſchranken-

loſe Willkühr abzuwehren.

(d) Savigny Geſchichte des

R. R. im Mittelalter B. 3. § 195.

196. — Es darf nicht als In-

conſequenz angeſehen werden,

wenn gleich nachher die Autori-

tät der Gloſſe verneint, hier aber

die der Authentiken des Irnerius

behauptet wird, obgleich dieſe auch

nichts Anderes waren, als Gloſ-

ſen zur Erleichterung des Pa-

rallelismus zwiſchen dem Co-

dex und den Novellen. Denn

man erkannte ſie nur inſofern

für Stücke des geſetzlichen Ca-

nons an, als ſie bloße Auszüge

ſeyn ſollten, ohne alle eigene Zu-

that: ſo daß es nur als eine Be-

quemlichkeit für das Studium

und für die Citate betrachtet

wurde, wenn man ſich nach Be-

lieben an den Text oder an den

Auszug wenden konnte. Es

würde daher dem Sinne der

Aufnahme der Authentiken völlig

entgegen ſeyn, wenn man aus

ihnen einen Widerſtreit gegen

den Novellentext begründen wollte.

(e) Im Gegenſatz gegen dieſe

Behauptung iſt die Meynung

aufgeſtellt worden, wir hätten

überhaupt nicht das von den

Gloſſatoren begränzte Corpus

Juris, ſondern vielmehr die in

den Gloſſatoren ausgedrückte

|0125 : 69|

§. 17. Geſetze.

Textes, worin zwar gemeinſame Beſtrebungen der Gloſſa-

toren unverkennbar ſind, jedoch ohne daß dieſelben jemals

in einer abgeſchloſſenen Arbeit fertig wurden, für welche

allein eine ausſchließende Anerkennung auch nur zur Frage

kommen könnte (f). — Weit wichtiger iſt die Beſchränkung

der Anwendbarkeit, welche ſich auf den Inhalt jenes im

Allgemeinen anerkannten Quellenkreiſes bezieht. Dahin

gehört nicht nur die wichtige Ausſchließung des Staats-

rechts von aller heutigen Anwendung (§ 1), ſondern auch

die Ausſchließung ganzer, dem Prtvatrecht angehörenden,

Rechtsinſtitute, wie z. B. des Sklavenrechts, des Colonats,

der Stipulation. Dieſe materielle Begränzung aber iſt

nicht ſo wie jene formelle der Schule von Bologna zuzu-

ſchreiben, ſondern vielmehr der Rückwirkung anderer Rechts-

quellen (Gewohnheitsrecht und Wiſſenſchaft) auf das ge-

ſetzliche Recht. Ja ſie iſt auch nicht von jeher allgemein

anerkannt worden, vielmehr iſt es erſt dem kritiſchen Geiſt

neuerer Rechtswiſſenſchaft gelungen, die irrige Anwendung

ganz zu verdrängen, die früherhin vom Römiſchen Recht

häufig verſucht wurde. Wie ſehr namentlich die Gloſſa-

Italieniſche Rechtspraxis reci-

pirt (Seidenſticker) Juriſtiſche

Fragmente Th. 2 S. 188—194.

Das iſt um ſo mehr zu verwer-

fen, als die Gloſſatoren nur In-

terpreten ſeyn, und die Praxis

nicht darſtellen, ſondern reformi-

ren wollten. Savigny Ge-

ſchichte des R. R. im Mittelal-

ter B. 5 Kap. XLI Num. I. —

Das wahre Element in jenem

Irrthum beſteht darin, daß die

Lehrmeynungen der Gloſſatoren

allerdings auch auf die Deutſche

Rechtspraxis nicht wenig Einfluß

gehabt haben.

(f) Savigny a. a. O. § 175.

176.

|0126 : 70|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

toren geneigt waren, jene natürliche Gränzen nicht ſelten

zu verkennen, zeigt die unter K. Friedrich I. verſuchte An-

wendung des Römiſchen Rechts zur feſteren Begründung

der Kaiſerlichen Gewalt.

Die hier aufgeſtellte Gränze des als Geſetz recipirten

Römiſchen Rechts iſt von Einer Seite her nicht ohne

Anfechtung geblieben, ſo weit nämlich hier die Ungültig-

keit der ungloſſirten oder reſtituirten Theile des Corpus

Juris behauptet wird. Zwar ſtimmt mit dieſer Behaup-

tung die Mehrzahl theoretiſcher und praktiſcher Schrift-

ſteller überein, die jede Abweichung von dieſem Grundſatz

als entſchiedenen Irrthum anſehen (g). Doch hat es auch

nicht an Gegnern dieſer Behauptung gefehlt. Einzelne

ſind ſo weit gegangen, ſelbſt den Novellen des K. Leo VI.

geſetzliche Gültigkeit zuzuſchreiben (h), ohne zu erwägen,

daß zur Zeit dieſes Kaiſers (um das Jahr 900) die Herr-

ſchaft der Griechiſchen Kaiſer über Italien längſt aufge-

hört hatte, alſo keine Brücke mehr vorhanden war, auf

welcher ihre Geſetze, ſo wie die von Juſtinian, zu uns

hätten gelangen können. Mehr Schein hat die Meynung

Anderer, welche die Geſetzeskraft auf die reſtituirten Stücke

des Juſtinianiſchen Rechts, wohl auch nur auf einen Theil

derſelben, beſchränken, oder wenigſtens die Frage als zwei-

 

(g) Lauterbach proleg. § V

Num. 6. 7. Eckhard hermeneut.

§ 282. Brunnquell hist. j. II

9 § 22. Zepernick hinter Beck

de novellis Leonis Hal. 1779.

p. 552 sq. Glück I § 53. 56.

Weber Verſuche über das Ci-

vilrecht S. 47—49.

(h) Beck de novellis Leonis

ed. Zepernick Halae 1779.

|0127 : 71|

§. 17. Geſetze.

felhaft darſtellen (i). Man hat nämlich die Sache ſo

aufgefaßt, als wäre die beſchränkte Gültigkeit in dem

ausſchließenden Gebrauch der gloſſirten Ausgaben begrün-

det, und ſeitdem dieſe außer Gebrauch gekommen und

durch vollſtändigere Ausgaben (z. B. die Gothofrediſchen)

verdrängt worden, ſey auch deren ganzer Inhalt für reci-

pirt zu achten. Allein einen ſo materiellen und zufälligen

Zuſammenhang hat die Sache in der That niemals ge-

habt; vielmehr war die Reception in beſtimmten Gränzen

anerkannt und fixirt, längſt ehe man an gedruckte Aus-

gaben oder gar an eine Verſchiedenheit unter ſolchen den-

ken konnte. Allerdings kann man ſagen, dieſelbe Fähigkeit

und Befugniß zur Reception, wie in früheren Zeiten, habe

auch noch im ſechszehnten Jahrhundert, in welches die

Reſtitutionen größtentheils fallen, fortgedauert. Die Re-

ception aber iſt eine Thatſache, die ſich nicht verbergen

läßt, die aber auch nicht ohne wichtige Gründe eintritt.

An ſolchen Gründen hat es bey der wirklichen Reception

(i) Beck l. c. § 48. Mühlen-

bruch l § 18. Dabelow Hand-

buch des Pandectenrechts Th. I

Halle 1816 § 50. Dieſer letzte

ſtellt folgende Sätze auf. Nach

dem älteren Brauch waren alle

ungloſſirte Stücke ungültig; nach

dem neuern Brauch, ſeitdem die

gloſſirten Ausgaven verſchwan-

den, ſind zwar die ungloſſirten

Novellen noch immer ungültig,

die übrigen ungloſſirten Stücke

aber ſind jetzt gültig (S. 199.

200.). Dagegen haben auch noch

jetzt „die ſogenannten leges re-

stitutae keine practiſche Anwend-

barkeit“ (S. 201), ſo daß hierin

kein alter und neuer Brauch un-

terſchieden wird. Er hat alſo

das Originelle, daß er die un-

gloſſirten Stücke von den reſti-

tuirten unterſcheidet. Beide ſind

aber in der That von einander

gerade ſo verſchieden, wie die

Digeſten von den Pandekten.

|0128 : 72|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

gewiß nicht gefehlt; wären nun z. B. damals die Digeſten

unvollſtändig geblieben, und hätte man etwa das Infor-

tiatum im ſechszehnten Jahrhundert erſt gefunden, ſo würde

deſſen Reception ſchwerlich gefehlt haben. Aber bey den

damals reſtituirten Stellen, einzelnen Geſetzen, zum Theil

von zweydeutigem oder völlig verwerflichem Inhalt, fehlte

ein ſolcher Beweggrund gänzlich, auch hat ſich nie eine

öffentliche Meynung für deren Reception im Ganzen aus-

geſprochen. Es kann alſo nur noch die Frage ſeyn, ob

vielleicht einzelne Stellen dieſer Art, etwa ihres vorzüg-

lichen Inhalts wegen, beſonders recipirt worden ſind.

Dieſes iſt namentlich behauptet worden für die L. 4 C. de

in jus vocando (von Cujacius reſtituirt), worin die Ver-

letzung der Litispendenz mit dem Verluſt der Klage bedroht

wird; dieſe Stelle wird namentlich in einem reichsgericht-

lichen Erkenntniß angeführt und einer Strafdrohung zum

Grunde gelegt (k). Allein wenn dies nicht etwa aus blo-

(k) Ein ſolches Mandat er-

kannte am 23. Dec. 1650 das

Reichskammergericht in Sachen

Waldeck c. Paderborn und con-

sortes, die Grafſchaft Piermont

betreffend. Es iſt vollſtändig ab-

gedruckt bey Er. Mauritius de

judicio aulico § 14 (Kilon. 1666

und in deſſen Dissert. et opusc.

Argent. 1724. 4. p. 337). Die

hierher gehörende Stelle lautet

ſo: „Wir heiſchen und laden ....

zu ſehen und zu hören, Deine

Andacht und Euch um dero un-

gehorſams und obbeſagter Thä-

tigkeiten wie auch überfahrungs

willen, in die Poen. l. ult. § ult.

C. de in jus voc. gefallen ſeyn,

mit Urtheil und Rechtſprechen

erkennen und erklären.“ —

Manche Schriftſteller reden von

dieſer Sache ſo, als ob ſolche

Erkenntniſſe in Menge von den

Reichsgerichten ausgegangen wä-

ren, z. B. Andler jurisprud. qua

publ. qua privata Solisbaci

1672. 4. p. 434. Pütter de

praeventione § 19. 90. 135. Geht

man aber auf den Grund, ſo

findet ſich auch nicht ein einziges

|0129 : 73|

§. 17. Geſetze.

ßem Verſehen geſchah, wogegen doch auch die Reichsge-

richte nicht privilegirt waren (l), ſo ließe es ſich wohl

erklären, daß den Reichsgerichten ein Geſetz willkommen

geweſen wäre, wodurch ſie das Anſehen ihrer höchſten

Gerichtsbarkeit ſtrenger handhaben konnten; der Satz wäre

darum doch nicht in den gemeinen Deutſchen Prozeß über-

gegangen. Ganz irrig wird die Autorität des Pfälziſchen

Oberappellationsgerichts angeführt, welches die (reſtituirte)

L. 12 C. de aedificiis privatis einem Urtheil zum Grund

gelegt haben ſoll, da doch die Gründe des Urtheils be-

ſtimmt die Geſetzeskraft jener Stelle verneinen (m). Kann

Präjudiz außer dem hier ange-

führten von 1650.

(l) Ein ſolches Verſehen möchte

man wohl annehmen nach der

Art, wie ſich darüber erklärt Uf-

fenbach de consilio aulico C.

12. p. 155 „additur interdum

citatio ad videndum se inci-

disse in poenam L. ult. C. de

in j. voc.... Et quamvis quod

pauci hactenus observarunt,

praedicta L. ult. non authen-

tica sed a Cujacio restituta,

consequenter spuria sit, et hinc

adeo secure cum illa neuti-

quam navigari videatur, hoc

tamen non obstante Dn. ab

Andler quotidianam praedictae

L. ult. praxin confirmat” etc.;

nun kommt dafür als Beweis

lediglich das in der vorigen Note

angeführte Mandat von 1650. —

Man kann nun wohl von der

Meynung des Dabelow (Note i)

ſo viel zugeben, daß der verbrei-

tete Gebrauch vollſtändigerer Aus-

gaben leicht ein ſolches Ver-

ſehen herbeyführen konnte, wel-

ches früher gar nicht möglich

war; nur entſteht auf dieſem

Wege kein wahrer und allgemei-

ner Gerichtsgebrauch, alſo auch

kein gemeines Recht.

(m) J. W. Textor decisio-

nes electorales Palatinae Fran-

cof. 1693. 4. Decisio XX. Al-

lerdings hatte ſich der Kläger

auf jene lex restituta berufen

(p. 78), aber der Gerichtshof be-

hauptet p. 81. 82. ganz beſtimmt

die gänzliche Ungültigkeit dieſer

und jeder anderen lex restituta,

wo nicht irgend ein darin ent-

haltener Satz durch ſpecielles Ge-

wohnheitsrecht recipirt ſey. Die-

ſes letzte könnte höchſtens der Fall

geweſen ſeyn bey dem Urtheil

des Reichskammergerichts in Sa-

chen Waldeck c. Paderborn (ſ.

o. Note k). — Es iſt ganz un-

|0130 : 74|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

nun nach dieſen Gründen von der aufgeſtellten Gränze

des recipirten Rechts Nichts aufgegeben werden, ſo iſt

dagegen der wiſſenſchaftliche Gebrauch der reſtituirten

Stellen (welcher mittelbar auch auf die Ausbildung des

praktiſchen Rechts Einfluß haben kann) auf keine Weiſe

zu beſtreiten; dieſer iſt eben ſo unzweifelhaft, als der wiſ-

ſenſchaftliche Gebrauch der Stellen über antiquirte Rechts-

inſtitute (z. B. die Sklaverei), ſo wie der vorjuſtinianiſchen

Rechtsquellen. Nur iſt er durch die Natur ihres Inhalts

weit beſchränkter und unbedeutender. Gajus und Ulpian

geben uns Licht über Vieles, das uns ſonſt in den Dige-

ſten dunkel bleiben würde; jene reſtituirte Stellen dagegen

ſind einzelne abändernde Geſetze, die auf das übrige Recht

kein neues Licht werfen, und wobei es nur darauf an-

kommt, ob ſie unmittelbar angewendet werden ſollen oder

nicht. So z. B. bey der L. 22 C. de finde instrum. kann

nur die Frage ſeyn, ob eine Prozeßpartei zu verlangen

befugt iſt, daß ein Dritter ihr Urkunden mittheile oder

nicht; eben ſo bey Nov. 121. 138. wegen der Be-

rechnung der Zinſen über das Doppelte. Das unabhän-

gig von dieſen Geſetzen geltende frühere Recht wird durch

ſie um gar Nichts deutlicher. Dagegen kommt wohl der

begreiflich, wie Beck de novel-

lis Leonis § 48 das Pfälziſche

Urtheil anführen, und dabey von

der L. 12 C. cit. ſagen kann:

excitatam tamen pariter ad

causae definitionem in supremo

appellationis judicio Palatino …

docet J. W. Textor. Dieſe

Worte muß Jeder ſo verſtehen,

als hätte der Gerichtshof das

Geſetz ſeiner Entſcheidung zum

Grunde gelegt, der doch gerade

das Gegentheil ſagt.

|0131 : 75|

§. 17. Geſetze.

Fall vor, daß über eine Rechtsfrage widerſtreitende Stel-

len der Digeſten vorliegen, und daß über dieſelbe Frage

eine nicht gloſſirte Novelle von Juſtinian ſich ausſpricht.

Wenngleich dieſe nicht die Kraft eines Geſetzes hat, ſo

iſt ihr dennoch die einer höchſt wichtigen Autorität nicht

abzuſprechen, und ſo wird auch von praktiſchen Schriftſtellern

mit Recht Rückſicht auf ungloſſirte Novellen genommen (n).

Finden ſich nun aber auch einzelne Urtheilsſprüche,

worin reſtituirte Stücke des Juſtinianiſchen Rechts gera-

dezu als Geſetze angewendet ſeyn mögen, ſo iſt doch ein-

leuchtend, daß durch ſo ſeltene und vereinzelte Entſchei-

dungen das hier aufgeſtellte Princip weder aufgehoben,

noch auch nur zweifelhaft gemacht ſeyn kann, da die

Wahrheit deſſelben im Allgemeinen von Theoretikern und

Praktikern aller Jahrhunderte ſtets anerkannt worden iſt.

 

Außer dem Römiſchen Recht kommt hier als Geſetz

in Betracht das canoniſche Recht, inſofern es Römi-

ſche Rechtsinſtitute fortgebildet und modificirt hat. Denn

auch dies hat eine gleich allgemeine Europäiſche Anerken-

nung gefunden, wie das Römiſche. Jedoch läßt ſich dieſe

Anerkennung mit Sicherheit nur von folgenden Samm-

 

(n) Dahin gehört die ungloſ-

ſirte Nov. 162, ſ. u. § 164. —

Der hier anerkannte blos wiſſen-

ſchaftliche Gebrauch der Rechts-

quellen vor und nach Juſtinian,

läßt ſich noch durch zwey völlig

paſſende Analogieen erläutern.

Dieſelbe Art des Gebrauchs näm-

lich muß behauptet werden für

die altdeutſchen Rechtsquellen in

den Ländern des gemeinen Rechts;

eben ſo aber auch für das Rö-

miſche Recht in den mit neuen

Geſetzbüchern verſehenen Län-

dern (Preußen, Öſterreich, Frank-

reich).

|0132 : 76|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

lungen behaupten: von Gratians Decret, den Decretalen

Gregors IX., dem Sextus, und den Clementinen (o).

Faßt man endlich das heutige Römiſche Recht in der

beſondern Geſtalt auf, die es als gemeines Recht des

Deutſchen Reichs angenommen hat, ſo gehören unter die

darin anwendbaren Geſetze auch die Reichsgeſetze, inſo-

weit darin Inſtitute des Römiſchen Privatrechts modifi-

cirt worden ſind. Dieſe Modificationen aber ſind in ihrem

Umfang noch um Vieles unbedeutender, als die im cano-

nifchen Recht begründeten.

 

§. 18.

B. Gewohnheitsrecht.

Es iſt ferner zu zeigen, welche Stelle das oben im

Allgemeinen dargeſtellte Volksrecht oder Gewohnheitsrecht

(§ 7. 12) unter den Quellen des heutigen Römiſchen Rechts

einnimmt.

 

Als Juſtinian zur Regierung kam, war das urſprüng-

liche Römiſche Volksrecht in dieſer Form ſchon längſt

nicht mehr ſichtbar. Der wichtigſte Theil deſſelben war

ſchon zur Zeit der Republik in Volksſchlüſſe oder Edicte

übergegangen, und was daneben noch als freies Gewohn-

heitsrecht übrig blieb, nahm die juriſtiſche Literatur in ſich

 

(o) Eichhorn Kirchenrecht I

S. 349—360. Beſtritten iſt da-

neben die Reception der beiden

Extravagantenſammlungen; al-

lein gerade für die hier allein in

Frage ſtehenden Modificationen

des Römiſchen Privatrechts ſind

dieſe nicht von Wichtigkeit, ſo

daß für unſern Zweck die Streit-

frage gleichgültig iſt.

|0133 : 77|

§. 18. Gewohnheitsrecht.

auf, ſo daß es nur noch als wiſſenſchaftliches Recht er-

ſchien. Nach dem Erlöſchen der Literatur aber fehlte es

meiſt an der friſchen nationalen Kraft, die zu neuer Rechts-

bildung erfordert wird; und wenn auch zu Zeiten ein

äußeres Bedürfniß dazu antrieb, ſo bedurfte es doch faſt

immer der kaiſerlichen Geſetzgebung, um dem neuen Rechts-

inſtitut eine beſtimmte Geſtalt zu geben (a). Es war alſo kaum

denkbar, daß neben den Juſtinianiſchen Rechtsbüchern noch

freyes Gewohnheitsrecht als gemeines Römiſches Recht

hätte fortdauern mögen, da alles Bedeutende, was auf

dieſem Wege vormals entſtanden war, unfehlbar in den

Digeſten oder dem Codex ſeine Stelle gefunden hatte.

Dagegen konnte vieles partikuläre Gewohnheitsrecht neben

dieſer allgemeinen Geſetzgebung beſtehen, ohne daß wir

im Stande wären, den Umfang und die Wichtigkeit deſſel-

ben auch nur vermuthungsweiſe zu beſtimmen. — Unter

Juſtinians Nachfolgern mußte bey ähnlichen Bedingungen

daſſelbe Verhältniß um ſo mehr fortdauern, als ſeine Ge-

ſetzgebung die letzte große Anſtrengung dieſer Art geweſen

war, und nach ihm die Kraft der Rechtsbildung immer

mehr verſchwand.

Ein ganz anderer Zuſtand trat ein, als im erneuerten

Europa das Römiſche Recht bey Nationen Eingang fand,

in welchen es nicht entſtanden war. Damals waren auch

dieſe ſchon in Verhältniſſe eingetreten, in welchen die Ent-

 

(a) Das ſogenannte peculium

adventitium und die donatio

propter nuptias können als er-

läuternde Beyſpiele dienen.

|0134 : 78|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

ſtehung eines allgemeinen Gewohnheitsrechts Schwierigkeit

fand, vorzüglich eines ſolchen, wodurch das ihnen fremde

Römiſche Recht ergänzt und fortgebildet werden ſollte.

Dennoch traten daneben auch Umſtände ein, die einem

ſolchen allgemeinen Gewohnheitsrecht günſtig waren. Durch

das aufgenommene fremde Recht war in ihnen ein künſt-

licher und verwickelter Rechtszuſtand erzeugt worden, der

nur durch manche neue vermittelnde Rechtsbildung aus-

geglichen werden konnte. Dieſes Bedürfniß konnte durch

eine einſichtsvolle, thätige Geſetzgebung befriedigt werden,

wenn eine ſolche nach dem Character jener Staaten mög-

lich geweſen wäre. Da ſie fehlte, konnte nur durch Ge-

wohnheitsrecht geholfen werden, deſſen Entſtehung aller-

dings durch die friſche, jugendliche Kraft der Nationen

begünſtigt wurde. Allein die beſondere Art, wie das Be-

dürfniß entſtanden war, mußte auch dieſem Gewohnheits-

recht ſelbſt einen eigenthümlichen Character geben. Es

war nicht in dem Maaße, wie anderes Volksrecht, Ge-

meingut der ganzen Nation, ſondern es nahm gleich An-

fangs eine wiſſenſchaftliche Natur an, wie dieſes ſogleich

genauer entwickelt werden wird (§ 19).

Der größte und merkwürdigſte Act eines allgemeinen

Gewohnheitsrechts in dieſem Anfang der neuen Zeit war

eben die Reception des Römiſchen Rechts ſelbſt, und zwar

in den beſtimmten Gränzen, welche bereits angegeben wor-

den ſind (§ 17). Dieſe Reception aber hatte eine ver-

ſchiedene Bedeutung in verſchiedenenen Nationen des neueren

 

|0135 : 79|

§. 18. Gewohnheitsrecht.

Europa, ſo daß die daraus hervorgehende Neuerung des

Rechtszuſtandes in ſehr verſchiedenen Graden fühlbar wer-

den mußte. In Italien war das Juſtinianiſche Recht

niemals verſchwunden: neu war alſo hier nur theils deſſen

Wiederbelebung, theils die eigenthümliche und beſtimmte

Begränzung, in welcher es nunmehr anerkannt wurde.

In Frankreich war zwar auch das Römiſche Recht nicht

verſchwunden, aber die beſondere Geſtalt deſſelben in der

Juſtinianiſchen Geſetzgebung war hier ſchon völlig neu.

Weit fühlbarer aber mußte jene Reception in Deutſchland

werden, wo das Römiſche Recht ſelbſt ein ganz neues,

bisher unbekanntes Rechtselement war: freylich den neu

entſtandenen Lebensverhältniſſen angemeſſen, da es nur

dadurch Eingang finden konnte. Gerade hier nun ging

ein langer und lebhafter Widerſtreit der entſchiedenen Re-

ception vorher, und dadurch wurde dieſe Einwirkung des

Gewohnheitsrechts ſowohl vorbereitet, als conſtatirt. —

Aber nicht blos die Aufnahme des Römiſchen Rechts an

ſich muß als entſchiedener Einfluß des Gewohnheitsrechts

unſere ganze Aufmerkſamkeit auf ſich ziehen, ſondern eben

ſo und faſt noch mehr die beſtimmte Art und Begränzung,

in welcher dieſe Aufnahme Statt fand (§ 17), indem daraus

hervorgeht, daß dieſelbe von einem klaren Bewußtſeyn

begleitet war, und nicht etwa als das Werk eines gedan-

kenloſen Zufalls betrachtet werden darf. Auch darf dieſe

in beſtimmter Art vollzogene Aufnahme nicht als etwas

Augenblickliches und ſogleich völlig Abgeſchloſſenes betrachtet

|0136 : 80|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

werden, indem ſie vielmehr theilweiſe erſt allmälig zu

vollendeter Entwicklung kam. Dieſes gilt namentlich von

der materiellen Begränzung, durch welche ein bedeutender

Theil des Inhalts des Römiſchen Rechts von der Re-

ception ausgeſchloſſen iſt. — In dieſer großen Erſchei-

nung eines allgemeinen Gewohnheitsrechts, in vielen Staa-

ten gleichmäßig (wenngleich nicht zu derſelben Zeit) vor-

kommend, offenbart ſich zugleich die eigenthümliche Natur

der ganzen neuern Zeit. Dieſe Staaten nahmen im Gan-

zen ein Recht auf, das nicht in ihnen, ſondern in einem

fremden Volke entſtanden war, in einem Volke, mit wel-

chem einige unter ihnen nicht einmal Stammverwandtſchaft

hatten. Es zeigt ſich hierin, daß die neueren Nationen

nicht in dem Maaße wie die alten, zu einer abgeſchloſſe-

nen Nationalität berufen waren, daß vielmehr der gemein-

ſame chriſtliche Glaube um ſie alle ein unſichtbares Band

geſchlungen hatte, ohne doch die nationale Eigenthümlich-

keit aufzuheben (b). Hierin liegt der große Entwickelungs-

gang der neueren Zeit, deren letztes Ziel vor unſren Au-

gen noch verborgen iſt.

Neben dem allgemeinen aber kam ſtets auch ein par-

ticuläres Gewohnheitsrecht in der neueren Zeit vor, und

deſſen Entſtehung in engeren Kreiſen hatte, eben ſo wie

vormals im Römiſchen Staate, weit geringere Schwie-

rigkeit. Es konnte in dieſen engeren Kreiſen durch ein

 

(b) Savigny Geſchichte des R. R. im Mittelalter B. 3 § 33.

|0137 : 81|

§. 18. Gewohnheitsrecht.

wahrhaft gemeinſames Rechtsbewußtſeyn, alſo auf rein

volksmäßige Weiſe, entſtehen, ohne erſt durch Wiſſenſchaft

vorbereitet und vermittelt zu ſeyn. In dieſem partikulä-

ren Gewohnheitsrecht haben ſich beſonders die urſprüng-

lich Germaniſchen Rechtsverhältniſſe des ländlichen Grund-

beſitzes (Lehen, Stammgüter, Bauergüter) nebſt dem damit

zuſammenhängenden Erbrecht auf die ausgedehnteſte Weiſe

erhalten und fortgebildet; Verhältniſſe, die über die Dauer

des einzelnen Menſchenlebens hinauszureichen beſtimmt ſind,

und die in zahlreichen Ständen mit dauernden und gleich-

artigen Sitten und Beſchäftigungen zuſammen zu hängen

pflegen. Auf ähnliche Weiſe zeigt es ſich in den Städten,

daß die Gemeinſchaft gewerblicher Verhältniſſe bey Kauf-

leuten und Handwerkern überall beſondere Gewohnheits-

rechte hervorgetrieben hat, welche beſonders auch die Erb-

folge (durch Gütergemeinſchaft in mancherley Formen)

modificirten; jedoch blieb hier daneben ein freyerer Raum

für die Anwendung des Römiſchen Rechts. Dagegen fin-

det ſich eine weit beſchränktere Einwirkung partikulärer

Gewohnheiten auf die ſchon im Römiſchen Recht vorkom-

menden Rechtsinſtitute, unter welchen nur wenige, durch

das täglich wiederkehrende gleichförmige Bedürfniß, neue

Beſtimmungen auf dem Wege der Gewohnheit erhielten,

wie z. B. das Baurecht im Verhältniß zu den Hausnach-

baren, das Recht der Miethwohnungen, und das Dienſt-

botenverhältniß. So iſt alſo das partikuläre Gewohn-

heitsrecht ſtets ſehr wichtig geblieben für das urſprüng-

6

|0138 : 82|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

lich Germaniſche Recht, wenig wichtig für die Fortbildung

des Römiſchen Rechts (c).

Und dieſes zwiefache Gewohnheitsrecht, allgemeines

und partikuläres, iſt nicht blos für die Vergangenheit als

eine Quelle des heutigen Römiſchen Rechts, neben den

Geſetzen, anzuerkennen, ſondern es kann auch eben ſo in

der Zukunft, als daſſelbe fortbildend, vorkommen.

 

Auch müſſen wir ihm in dieſer beſonderen Anwendung

dieſelbe Natur zuſchreiben, welche oben für das Gewohn-

heitsrecht im Allgemeinen geltend gemacht worden iſt.

Es entſteht alſo gleichfalls durch die Gemeinſchaftlichkeit

der Überzeugung, nicht durch den Willen der Einzelnen,

deren Geſinnungen und Handlungen blos als Kennzeichen

jener Gemeinſchaftlichkeit angeſehen werden dürfen. Die

Sitte und Übung, das was wir eigentlich Gewohnheit

nennen, iſt daher der Hauptſache nach für uns ein Mittel

der Erkenntniß, nicht für jenes Recht ſelbſt Grund der

Entſtehung. Sehen wir endlich auf die Wirkſamkeit deſ-

ſelben im Verhältniß zu den Geſetzen, ſo müſſen wir die-

ſen Rechtsquellen völlige Gleichheit zuſchreiben. Geſetze

alſo können durch neueres Gewohnheitsrecht nicht nur

ergänzt und modificirt, ſondern auch außer Kraft geſetzt

werden (§ 13), und zwar ohne Unterſchied, es mag das

Gewohnheitsrecht lediglich das Geſetz entkräften, oder

 

(c) Sehr gute Bemerkungen

über das Materielle dieſes Ge-

genſatzes finden ſich in: Götze

Provinzialrecht der Altmark. Mo-

tive. I. S. 11—13.

|0139 : 83|

§. 19. Wiſſenſchaftliches Recht.

ſelbſt wieder eine neu erzeugte Regel an deſſen Stelle

ſetzen (d).

§. 19.

C. Wiſſenſchaftliches Recht.

Im alten Rom hatte das Volksrecht, in früher Ge-

meinſchaft mit Geſetzgebung, eine höchſt bedeutende und

eigenthümliche Rechtsbildung hervorgebracht, lange ehe

man an eine Rechtswiſſenſchaft dachte. Als aber wiſſen-

ſchaftliches Leben überhaupt in der Nation aufging, wen-

dete ſich dieſes natürlich auch auf das Recht, worin es

einen eben ſo würdigen, als ächt nationalen Stoff bereits

verfand. Der Juriſtenſtand, der ſich nun bildete, wurde

zugleich größtentheils der Träger des Volksrechts, deſſen

ſchaffende Kraft in ſeiner urſprünglichen Form nur noch

ſeltener ſichtbar hervortrat. War alſo die Rechtswiſſen-

ſchaft zwar ein Zweig des allgemeinen, in der Nation

entſtandenen wiſſenſchaftlichen Lebens, ſo hatte ſie doch

einen ganz eigenthümlichen Entwicklungsgang. Sie kam

langſamer als andere Wiſſenſchaften zu derjenigen Reife,

die ihnen überhaupt unter den Römern beſchieden war,

und ſie erreichte den Gipfel ihrer Vollendung zu einer

 

(d) Die Bedeutung und Wich-

tigkeit dieſer ſehr abſtract erſchei-

nenden Sätze wird erſt unten

(§ 28 fg.) aus den entgegen-

geſetzten Meynungen neuerer

Schriftſteller klar werden. Eben

dahin verweiſe ich die genauere

Feſtſtellung der Bedingungen ei-

nes wahren Gewohnheitsrechts,

die ſchon hier ihre Stelle finden

würden, wenn es nicht wegen

der ſehr verbreiteten Irrthümer

der neueren Rechtslehrer gerathe-

ner wäre, die wahren Bedingun-

gen in Verbindung mit dieſen

Irrthümern, und im Gegenſatz

derſelben, kritiſch feſtzuſtellen.

6*

|0140 : 84|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Zeit, worin Wiſſenſchaft und Kunſt im Allgemeinen ſchon

ſichtbar im Verfall waren. Dieſe Abweichung in den

Bildungsperioden aber brachte der Römiſchen Rechtswiſ-

ſenſchaft großen Vortheil, indem ihre langſamere Entwick-

lung zugleich gründlicher und eigenthümlicher war, wo-

durch ihr ein bleibender Einfluß auf fremde Nationen und

ſpätere Zeitalter geſichert wurde, wie ihn die Römer in

keinem andern wiſſenſchaftlichen Kreiſe erlangt haben.

Dieſe Entſtehung der Rechtswiſſenſchaft in Folge eines

allgemeinen wiſſenſchaftlichen Triebes der Nation gehörte

mit zu der natürlichen, von fremden und zufälligen Ein-

flüſſen nicht geſtörten Entwicklung, wodurch ſich überhaupt

die Römer in ihrer Rechtsgeſchichte vor anderen Nationen

auszeichnen. — Von der Art, wie die Römiſchen Juri-

ſten auf die Fortbildung des Rechts einwirkten (nicht auf

die bloße Erkenntniß deſſelben), wird es uns ſchwer eine

richtige Vorſtellung zu erlangen, weil es ſo natürlich iſt,

die Anſchauung unſrer Zuſtände unvermerkt in jene durch-

aus verſchiedene Zeit hinein zu tragen. Bey den Römern

hatten die Juriſten eine ſehr ausgezeichnete Stellung durch

die freye, blos wohlthätige Übung ihres Berufs, durch

ihre mäßige Zahl, großentheils auch durch ihren Geburts-

ſtand. Sie lebten meiſt zuſammen in der Hauptſtadt der

Welt, in der Nähe der Prätoren, ſpäter der Kaiſer, alſo

auch mit unausbleiblichem Einfluß auf dieſe. Nichts war

natürlicher, als daß die gemeinſamen Meynungen dieſes

Standes die Fortbildung des Rechts großentheils beſtimm-

|0141 : 85|

§. 19. Wiſſenſchaftliches Recht.

ten, und jeder Einzelne unter ihnen, beſonders der durch Geiſt

Ausgezeichnete, hatte an dieſer unſichtbaren Macht einen

namhaften Antheil. Bey uns heißt Juriſt ein Jeder, der

Rechtswiſſenſchaft ſtudirt hat, um ſie als Richter, Sach-

walter, Schriftſteller, Lehrer zu üben, alſo faſt immer um

einen einträglichen Lebensberuf damit zu verbinden. Dieſe

Juriſten ſind verbreitet über ganz Deutſchland, in unge-

heurer Anzahl, und ſie bilden eine höchſt gemiſchte Geſell-

ſchaft in der mannichfaltigſten Abſtufung des innern Wer-

thes. Natürlich iſt hier die Einwirkung ſehr viel unbe-

ſtimmter und maſſenhafter, es gehört längere Zeit dazu,

ehe eine gemeine Meynung zu entſchiedener Anerkennung

gelangt, und es muß weit mehr vom Zufall abhängig

ſeyn, wie gerade eine eigenthümliche Bildungsweiſe oder

Anſicht hier oder dort zu einem Einfluß auf die Geſetzge-

bung, und durch dieſe auf die Fortbildung des Rechts kommt.

Einen ganz anderen Zuſtand, als im alten Rom, fin-

den wir im Mittelalter, als das Römiſche Recht von

einem großen Theil der Europäiſchen Staaten aufgenom-

men wurde. Dieſe Aufnahme erzeugte einen künſtlichen

Rechtszuſtand (§ 18), deſſen Schwierigkeiten nur durch einen

höheren Grad von Rechtskenntniß, als ſie im Gemeingut

der Nation denkbar iſt, erworben werden konnte. Durch

dieſes Bedürfniß entſtand eine juriſtiſche Schule und Lite-

ratur, ohne durch die allgemeine Bildungsſtufe der Völker

hervorgerufen zu ſeyn (a). Auch hier alſo, wie im alten

 

(a) Savigny Geſchichte des R. R. im Mittelalter B. 3 § 32.

|0142 : 86|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Rom, hatte die Rechtswiſſenſchaft ihre eigenthümlichen,

von den allgemeinen abweichenden Bildungsperioden, nur

hier in umgekehrter Ordnung. Denn anſtatt daß in Rom

die höchſte Blüthe der Rechtswiſſenſchaft ſpäter eintrat,

als die der anderen Wiſſenſchaften, entſtand im Mittelal-

ter die Rechtswiſſenſchaft weit früher, als das allgemeine

wiſſenſchaftliche Leben der Völker erwachte. Die Einſam-

keit, in welcher ſie ſich deshalb lange Zeit hindurch be-

fand, erhöhte ſehr die Schwierigkeit ihres Daſeyns, und

machte ihr nach manchen Seiten hin eine vollendete Aus-

bildung unmöglich. Allein die höhere Anſtrengung, wozu

die Gloſſatoren dadurch genöthigt wurden, gab ihrer Ar-

beit einen ernſten und würdigen Character, und der bedeu-

tende Erfolg, der dieſer Arbeit unter ſo ſchwierigen Um-

ſtänden dennoch zu Theil ward, nimmt noch jetzt unſere

Bewunderung in Anſpruch (b).

In dieſer Lage war das Volksrecht, ſoweit es ſich

nicht auf engere Kreiſe beſchränkte, gleich Anfangs mit

dem wiſſenſchaftlichen Recht identiſch, ſo daß es außer

demſelben gar nicht wirkſam wurde, und das prakti-

ſche Bedürfniß des Volks nur in der Wiſſenſchaft ſeinen

Ausdruck und ſeine Befriedigung fand (§ 18). Dadurch

bekam die Rechtswiſſenſchaft ſelbſt einen eigenthümlichen

Character, und es war dieſem Zuſtand angemeſſen, daß

in der Beſchäftigung der Rechtsgelehrten Theorie und

Praxis innig verbunden blieben, wie denn auch nicht ſelten

 

(b) Savigny a. a. O. B. 5 S. 215.

|0143 : 87|

§. 19. Wiſſenſchaftliches Recht.

die Rückwirkung der Praxis dazu gedient hat, die Theorie

vor gänzlichem Verſinken zu bewahren (c). — In den

nachfolgenden Jahrhunderten hat zwar die Rechtswiſſen-

ſchaft verſchiedene Bildungsſtufen durchlaufen, und ſehr

wechſelnde Schickſale gehabt. Allein ihr allgemeines Ver-

hältniß zu der Rechtserzeugung ſelbſt iſt daſſelbe geblie-

ben, wie es ſo eben für die Zeit des Mittelalters darge-

ſtellt worden iſt.

Die Erzeugniſſe der geiſtigen Thätigkeit, die ſeit der

Aufnahme des Römiſchen Rechts auf daſſelbe gerichtet

war, ſind jedoch von ſo ungeheurem Umfang, und der

Art nach ſo mannichfaltig, daß es einer beſonderen Un-

terſuchung bedarf, in welchem Sinn dieſelben unter die

Rechtsquellen gerechnet werden dürfen, und wie wir uns

dazu zu verhalten haben. Wir können zu dieſem Zweck

alle vor uns liegende Arbeit der Rechtsgelehrten in zwey

große Maſſen zerlegen, theoretiſche und praktiſche

Arbeit. Dieſe Ausdrücke aber, in welchen derſelbe Gegenſatz

oft von ſehr verſchiedenen Seiten aufgefaßt wird, bedürfen

einer genaueren Beſtimmung.

 

Theoretiſch nenne ich hier jede rein wiſſenſchaftliche

Forſchung, mag ſie nun auf Feſtſtellung des Textes der

Quellen, oder auf Erklärung derſelben, oder auf ihre Ver-

arbeitung zu Reſultaten eines Rechtsſyſtems, oder auf die

innere Vollendung dieſes Syſtems gerichtet ſeyn. Dadurch

 

(c) Savigny a. a. O. B. 6 S. 20.

|0144 : 88|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

wird kein neues Recht erzeugt, ſondern nur das vorhan-

dene Recht zu reinerer Erkenntniß gebracht, und inſofern

kann dieſe Arbeit zunächſt nicht unter die Rechtsquellen

gezählt werden. Dennoch nimmt ſie als eine große Auto-

rität eine ähnliche Natur an. Denn obgleich für Jeden,

der eine ſolche Arbeit ſelbſtſtändig prüfen will, die Frey-

heit des Urtheils nicht beſchränkt iſt, mögen auch noch ſo

viele Schriftſteller in einer neu aufgeſtellten Meynung

übereinſtimmen, ſo giebt es doch ſtets eine eben ſo zahl-

reiche als ehrenwerthe Klaſſe von Rechtsbeamten, die auch

bey gründlicher Vorbildung nicht mehr in der Lage ſind,

eine eigene, unabhängige Kritik auf die neue Meynung zu

verwenden, und dadurch zu einer ſelbſtſtändigen Überzeu-

gung zu gelangen. Für dieſe wird es nicht nur natür-

lich, ſondern ſelbſt löblich und wünſchenswerth ſeyn, daß

ſie jene Autorität unbedingt befolgen. Es geſchieht alſo

nicht im Intereſſe der Bequemlichkeit, daß dieſes Verfah-

ren hier empfohlen wird, ſondern im Intereſſe der Si-

cherheit des Rechts ſelbſt. Denn dieſe kann unmöglich

dabey gewinnen, wenn ein Richter, ohne die Möglichkeit

eines umfaſſenden Studiums, ein eigenes Urtheil über jede

einzelne Rechtsfrage zu bilden verſucht, welches durch

die Einſeitigkeit ſeiner Entſtehung von ſehr zufälligem

und zweifelhaftem Erfolg ſeyn wird. Vorzüglich aber

kann dieſes Princip allein der Gefahr vorbeugen, daß

Richter von einiger Regſamkeit durch den oberfläch-

lichen Schein irgend einer neuen Lehre hingeriſſen werden

|0145 : 89|

§. 19. Wiſſenſchaftliches Recht.

zum größten Nachtheil der Rechtspflege (d). Findet ſich

einmal ein eigentlicher Gelehrter auf dem Richterſtuhl,

ſo ſoll dieſem damit das Recht nicht abgeſprochen werden,

ſeine wohl begründete und geprüfte Überzeugung auch in

der Rechtspflege geltend zu machen. — Woran nun das

Daſeyn einer ſolchen wahren und guten Autorität zu erken-

nen iſt, das läßt ſich freylich nicht durch eine äußere,

formelle Regel beſtimmen. Auf die Zahl der übereinſtim-

menden Schriftſteller kann es nicht ankommen, noch weni-

ger kann bey fortdauerndem Streit an eine Stimmenzäh-

lung gedacht werden. Alles hängt vielmehr davon ab,

daß diejenigen Rechtslehrer, die im Ruf beſonnener und

gründlicher Forſchung ſtehen, in einer ſolchen Meynung

übereinſtimmen, daß alſo von Keinem derſelben ein ſchein-

bar bedeutender, mit Gründen unterſtützter Widerſpruch

fortdauernd erhoben worden iſt. Natürlich wird dieſes

nur angenommen werden können, wenn die neue Meynung

einige Zeit hindurch Gegenſtand der öffentlichen Prüfung

war, obgleich es Niemand unternehmen wird, dafür eine

beſtimmte Zahl von Jahren feſtzuſtellen. In dieſem rela-

tiven Sinn alſo kann ſelbſt eine theoretiſche Arbeit unter

die Rechtsquellen gezählt werden, indem derſelben unter

jenen Bedingungen eine gewiſſe wohlbegründete Herrſchaft

zugeſchrieben werden muß. Als Beyſpiel mag hier die

(d) Über den Werth und das

Weſen der Autorität in der

Rechtspflege vrgl. den trefflichen

kleinen Aufſatz von Möſer, pa-

triotiſche Phantaſieen I N. 22.

|0146 : 90|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Lehre von den zwey Graden der Culpa dienen, die in

unſren Tagen eben ſo allgemein Anerkennung gefunden

hat, als vorher und ſehr lange Zeit hindurch die Lehre

von drey Graden für wahr gehalten wurde. Es geht

aber aus der Natur der hier beſchriebenen Autorität her-

vor, daß dieſelbe niemals als etwas abgeſchloſſenes und

unabänderliches betrachtet werden kann, indem eine künftige

noch tiefer gehende Forſchung die jetzt angenommene Mey-

nung abermals modificiren kann, und dann natürlich kein

geringeres Recht in Anſpruch zu nehmen hat, als ihrer

Vorgängerin bisher zuerkannt wurde.

§. 20.

Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.

Als praktiſche Arbeit dagegen bezeichne ich hier jede

Forſchung, welche nicht auf den Inhalt der Quellen für

ſich beſchränkt iſt, ſondern zugleich das Verhältniß dieſes

Inhalts zu dem lebendigen Rechtszuſtand, in welchen ſie

eingreifen ſollen, alſo den Zuſtand und das Bedürfniß der

neueren Zeit, ins Auge faßt. Welche äußere Veranlaſſung

ſolche Forſchung hat, kann dabey als gleichgültig oder

untergeordnet betrachtet werden: ob die Mittheilung des

gewonnenen Reſultats durch Lehre und Schrift, oder aber

das Bedürfniß der Entſcheidung eines entſtandenen Rechts-

ſtreits. In beiden Fällen alſo iſt dieſe Forſchung Organ

des Gewohnheitsrechts, und zugleich ein Stück des wiſſen-

ſchaftlichen Rechts, indem bey gelehrten und beſonders

 

|0147 : 91|

§. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.

bey collegialiſch gebildeten Gerichten jede Entſcheidung

einen wiſſenſchaftlichen Character an ſich trägt (§ 14).

Es bewährt ſich alſo hierin die weſentliche Identität des

Gewohnheitsrechts mit dem wiſſenſchaftlichen Recht, welche

oben als ein beſonderer Charakter der neueren Jahrhun-

derte angegeben worden iſt. Unter die praktiſchen Arbei-

ten in dieſem Sinn rechne ich demnach eben ſowohl

dogmatiſche Schriften, wenn ſie dieſe beſtimmte Richtung

in ſich aufgenommen haben, als Sammlungen von Con-

ſilien, Reſponſen und Urtheilen, mögen dieſe nun von ein-

zelnen Rechtslehrern, oder von Rechtscollegien, z. B. von

Juriſtenfacultäten oder Obergerichten herrühren. Indem

aber hier die praktiſchen Arbeiten der Schriftſteller den

theoretiſchen entgegengeſetzt werden, iſt dieſes keinesweges

ſo gemeynt, als ob jedes einzelne Werk einer dieſer Klaſ-

ſen ausſchließend angehören müßte. Sehr viele werden

den theoretiſchen und den praktiſchen Charakter zugleich

an ſich tragen, meiſt mit einem überwiegenden Antheil

des einen, vielleicht ſelbſt mit gleicher Kraft in beiden

Gebieten wirkend.

Bey den praktiſchen Arbeiten entſteht, ſo wie oben bey

den theoretiſchen, die Frage, woran wir das Gültige und

Ächte zu erkennen haben, um es auf ſichere Weiſe vom

Ungültigen und Unächten unterſcheiden zu können. Dieſe

Frage hat hier eine noch weit höhere Wichtigkeit, und

bedarf deswegen einer genaueren Erörterung.

 

Wenn man einem des Rechts Unkundigen einen Streit

 

|0148 : 92|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

zur Entſcheidung vorlegt, ſo wird er meiſt nach einem

verworrenen Totaleindruck urtheilen, und doch vielleicht

bey geſundem Verſtand und entſchiedenem Character, ſei-

ner Sache ſehr gewiß zu ſeyn glauben. Es wird aber

ſehr zufällig ſeyn, ob ein Zweyter, von ähnlichen Eigen-

ſchaften, dieſelbe Entſcheidung oder die entgegengeſetzte

geben wird. Die Wiſſenſchaft nun ſoll die Rechtsver-

hältniſſe und die Regeln der Entſcheidung individualiſiren

und ſondern, um dadurch jene Verworrenheit in Klarheit

zu verwandeln, und die aus ihr entſpringende Unſicher-

heit und Zufälligkeit der Entſcheidungen wegzuräumen.

Hierin bewährt ſich die große Meiſterſchaft der Römiſchen

Juriſten, welche freylich durch eine ſehr beſtimmte Termi-

nologie, und beſonders durch die genaue Bezeichnung der

einzelnen Klagen unterſtützt wird: jedoch wäre es ein

Irrthum, dieſen Vortheil als einen zufälligen anrechnen

zu wollen, da er vielmehr ſelbſt ſchon durch den der Na-

tion inwohnenden rechtsbildenden Trieb hervorgebracht

worden iſt. Uns fehlt dieſer Vortheil, und zugleich auch

der noch wichtigere eines ganz einheimiſchen, mit der Na-

tion aufgewachſenen Rechts: allein die Aufgabe, und die

Möglichkeit ihrer Löſung iſt für uns nicht minder vor-

handen. Betrachten wir nun unbefangen den Umfang

desjenigen, was uns als praktiſches Recht, abweichend

vom Römiſchen, aber als Umbildung Römiſcher Rechts-

inſtitute, von unſrer Vorzeit überliefert worden iſt, ſo

können wir darin zwey ganz ungleichartige Beſtandtheile

|0149 : 93|

§. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.

unterſcheiden. Ein Theil iſt geſunder Natur, und beruht

auf neuen Bedürfniſſen, wie ſie aus der Verſchiedenheit

der Zuſtände, unter andern aus dem ſehr veränderten

Gerichtsweſen, zum Theil auch aus der durch das Chri-

ſtenthum großentheils umgebildeten ſittlichen Lebensanſicht,

natürlich hervorgegangen ſind: dieſem müſſen wir, nach

den ſo eben entwickelten Anſichten, die Kraft und Reali-

tät eines auf dem wiſſenſchaftlichen Wege anerkannten

Gewohnheitsrechts zuſchreiben. Dabey iſt es auch gleich-

gültig, wenn vielleicht frühere Rechtslehrer den irrigen

Verſuch machten, ſolche Sätze aus dem Römiſchen Recht

abzuleiten. Dieſer Irrthum kann die Wahrheit der Sätze

ſelbſt nicht mindern: nur müſſen wir uns nicht mit der

Annahme täuſchen, als ob hier die irrige Deduction eine

bloße Form wäre. Jene Juriſten meynten es damit ganz

ehrlich, und wir müſſen die Ergründung des wahren Rö-

miſchen Rechts in ſolchen Fällen als weſentliches Stück

unſrer Aufgabe anſehen: nicht um es aufrecht zu halten,

ſondern um den wahren Umfang der Neuerung feſtzu-

ſtellen. — Ein anderer Theil dagegen iſt lediglich aus

der oben erwähnten characterloſen Verworrenheit, alſo

aus mangelhafter Wiſſenſchaft, hervorgegangen; dieſen

haben wir als Irrthum aufzudecken und zu verdrängen,

ohne daß ihn ein langer, ungeſtörter Beſitzſtand zu ſchützen

vermöchte: um ſo mehr, als ſich ihm großentheils ein

innerer Widerſpruch, alſo ein logiſcher Grundfehler, wird

nachweiſen laſſen. Was dieſe Natur an ſich trägt, hat

|0150 : 94|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

nur den falſchen Schein eines praktiſchen Rechts: es iſt

ſchlechte Theorie, die einer beſſeren Theorie jederzeit wei-

chen muß (a). Eine kritiſche Scheidung dieſer beiden Be-

ſtandtheile iſt bisher nicht verſucht worden, indem man

ſich meiſt begnügt hat, mit willkührlicher Auswahl die

Zeugniſſe einzelner Praktiker für oder wider die heutige

Geltung irgend eines Rechtsſatzes anzuführen. Im voraus

eine allgemeine Regel für jene Scheidung aufzuſtellen, iſt

ganz unmöglich: vielmehr muß dieſe Arbeit vom Einzel-

nen ausgehen, wobey es einſtweilen dahin geſtellt bleiben

mag, wie weit ſich die Kritik des Einzelnen in allgemei-

nere Geſichtspuncte wird zuſammen faſſen laſſen. Dieſe

kritiſche Prüfung der Praxis im Einzelnen ſoll denn auch

eine Hauptaufgabe des gegenwärtigen Werks ſeyn: eine

Aufgabe, deren große Schwierigkeit der vielleicht ſehr un-

vollſtändigen Löſung zur Entſchuldigung dienen wird. Von

einer andern Seite angeſehen, läßt ſich dieſelbe Aufgabe

auch ſo ausdrücken: in dem Römiſchen Recht dasjenige

zu ſcheiden, was ſchon abgeſtorben iſt, von dem was noch

fortlebt, und großentheils ſtets fortleben wird. — Die

Hauptbedingung zur Löſung dieſer Aufgabe iſt ein reiner,

unbefangener Wahrheitsſinn. Wer aus Vorliebe für das

Römiſche Recht nur darauf ausgeht, dieſes überall in

ſeiner Reinheit wiederherzuſtellen, der iſt dazu ungeſchickt:

(a) Als erläuterndes Beyſpiel

für dieſen Fall kann das Sum-

mariissimum dienen, ſo wie es

in der neueren Praxis nicht ſel-

ten erſcheint. Vgl. Savigny

Recht des Beſitzes § 51 der ſechs-

ten Ausgabe.

|0151 : 95|

§. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.

eben ſo aber auch, wer ſeine Einbildungen der neueren

Praxis unterſchiebt, und ihr eine durchgeführte Selbſtſtän-

digkeit andichtet, woran ihre Urheber nicht gedacht haben.

Beiden iſt Aberglaube vorzuwerfen: Jenem, indem er ein

erſtorbenes Stück der Geſchichte als lebend behandelt:

Dieſem, indem er den eigenen Wahn als Wirklichkeit

anſieht.

Derjenige Beſtandtheil des praktiſchen Rechts, welchen

ich als den geſunden bezeichnet habe, hat eine ganz andere

Wichtigkeit, als welche oben der theoretiſchen Arbeit zu-

geſchrieben worden iſt. Er wirkt nicht blos als eine Ach-

tung gebietende Autorität, ſondern er ſchließt in Wahrheit

neu gebildetes Recht in ſich. Dennoch können wir auch

ihm kein abgeſchloſſenes, unabänderliches Daſeyn zuerken-

nen. Zwar auf dem Wege einer blos theoretiſchen Prü-

fung, indem einem ſolchen Satz des praktiſchen Rechts

die Abweichung von dem quellenmäßigen Recht nachge-

wieſen würde, kann die Gültigkeit deſſelben nicht entkräf-

tet werden, da es als wahres Gewohnheitsrecht ein

ſelbſtſtändiges Daſeyn gewonnen hat. Das aber iſt

nicht zu bezweifeln, daß es auf demſelben Wege, auf

welchem es entſtand, auch wiederum ſeine Gültigkeit ver-

lieren kann.

 

Häufig hat man den Einfluß des praktiſchen Rechts

noch auf ganz andere Weiſe aufgefaßt, indem man be-

hauptet hat, durch mehrere gleichförmige Ausſprüche eines

Gerichts werde daſſelbe verbunden, die von ihm befolgte

 

|0152 : 96|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Regel nun auch in der Zukunft unabänderlich beyzubehal-

ten (b). Das Wahre hieran iſt dieſes, daß in ſolchen Fäl-

len das Gericht für ſich ſelbſt eine Autorität bildet, welche

zu achten würdiger und wohlthätiger ſeyn wird, als ſie

in leichtſinniger Unbeſtändigkeit wieder aufzugeben: was

alſo wiederum, ſo wie jede Gewohnheit, auf dem ſchon

bemerklich gemachten Geſetz der Continuität beruht (§ 12. a).

Wenn dagegen eine wiederholte, ernſte Prüfung neue,

bisher unerwogene Gründe darbietet, kann das Verlaſſen

der früher befolgten Regel nicht getadelt werden: vorzüg-

lich aber iſt kein Grund vorhanden, dieſes Verlaſſen durch

die ganz willkührliche Annahme einer ſo entſtandenen un-

abänderlichen Regel ausſchließen zu wollen. — Eine etwas

andere Natur hat der Einfluß der Entſcheidungen eines

höheren Gerichts auf die ihm untergebenen Gerichte. Denn

hier wirkt nicht blos eine Achtung gebietende Autorität,

ſondern die dem höheren Gericht zuſtehende Macht, ſeinen

Überzeugungen durch abändernde Urtheile Geltung zu ver-

ſchaffen. Indem ſich nun das untergeordnete Gericht in

die abweichende Meynung fügt, weicht es nicht etwa einer

äußeren Gewalt, ſondern es geht vielmehr in den Sinn

und die wohlthätige Abſicht der Abſtufung der Gerichte,

oder des Inſtanzenzuges, ein.

In dieſer ganzen Unterſuchung ſind abſichtlich einige

Kunſtausdrücke vermieden worden, deren höchſt unbeſtimmter

 

(b) Thibaut § 16, und viele

frühere Schriftſteller. — Sehr

gut handelt hiervon Puchta

Gewohnheitsrecht II S. 111.

|0153 : 97|

§. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.

und ſchwankender Gebrauch viel zu der in dieſem Gebiet

herrſchenden Verwirrung der Begriffe beygetragen hat.

Es wird jetzt genügen, ihre verſchiedene Bedeutung bey

neueren Schriftſtellern, ſo wie ihr Verhältniß zu der hier

aufgeſtellten Genealogie der Begriffe ſelbſt, kurz anzugeben.

Dahin gehört zuerſt der Ausdruck Gerichtsgebrauch.

Man verſteht darunter bald das durch Urtheilsſprüche

bekundete wahre Gewohnheitsrecht, bald die gleichförmi-

gen Ausſprüche eines und deſſelben Gerichts, welche an-

geblich auch für die Zukunft bindende Kraft haben. Es

wäre zweckmäßig, dieſen Ausdruck, ſo wie den Ausdruck

Praxis, lediglich auf den erſten Begriff, alſo auf das

wahre Gewohnheitsrecht, ſo weit es aus Urtheilen erkenn-

bar iſt, anzuwenden. — Daneben iſt aber beſonders gegen

einen ſehr häufigen und verderblichen Misbrauch dieſer

Ausdrücke zu warnen. Es genügt nämlich Vielen, welche

einen Rechtsſatz auf die Praxis gründen wollen, wenn

ſie die Anerkennung deſſelben in einzelnen Urtheilen nach-

weiſen. Da aber die Richter eben ſo gut als die Schrift-

ſteller dem Irrthum unterworfen ſind, ſo können auch

ſolche Urtheile aus bloßer Unkunde des Rechts hervorge-

gangen ſeyn. Auch hier alſo, wie bey den Schriftſtellern,

iſt vielmehr eine allgemeinere Übereinſtimmung nöthig, die

durch mehrere gegen einander laufende Urtheile gänzlich

ausgeſchloſſen wird (c).

 

(c) Vgl. über die Übereinſtim-

mung der Schriftſteller § 19, und

über die nicht unbedingte Taug-

lichkeit von Urtheilen zur Be-

7

|0154 : 98|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Ferner gehört dahin der Ausdruck Obſervanz oder

Herkommen, bey welchem der Sprachgebrauch noch

weit ſchwankender iſt, als bey dem vorhergehenden. Zu-

weilen wird er auf das Staatsrecht beſchränkt, ſo daß

er hier daſſelbe bezeichnen ſoll, was im Privatrecht Ge-

wohnheit heißt (d). Im Privatrecht wird er oft mit Ge-

wohnheitsrecht ganz gleichbedeutend gebraucht, und iſt dann

entbehrlich und beſſer zu vermeiden (e). Der beſtimmteſte

Gebrauch des Worts iſt wohl der, nach welchem es zwar

ein Gewohnheitsrecht bezeichnet, aber nur das partikuläre

Gewohnheitsrecht einer begränzten Klaſſe von Perſonen,

z. B. eines beſtimmten Standes, oder auch der Mitglieder

einer Corporation (f). Es iſt blos eine Modification die-

ſer Bedeutung, wenn unter jenem Ausdruck ein ſtillſchwei-

 

gründung eines Gewohnheits-

rechts § 29 Num. 4. — Man

muß daher ſehr mistrauiſch ſeyn

gegen die beliebte Formel: Praxin

testantur etc.

(d) Pütter inst. jur. publ.

§ 44.

(e) Hofacker § 127. Thi-

baut § 16. — So auch in eini-

gen Stellen der Rechtsquellen.

§ 7 J. de satisd. (4. 11.) „cum

necesse est omnes provincias …

regiam urbem ejusque obser-

vantiam sequi.” — L. 2 § 24

de O. J. (1. 2) „vetustissima

juris observantia.” Clem. 2 de

appell. (2. 12.) „antiquam et com-

munem observantiam litigan-

tium sequi.” — In andern Stel-

len heißt das Wort ſo viel als

das häufigere observatio: Beob-

achtung oder Befolgung einer

Regel, was alſo nicht hierher

gehört. Noch weniger gehört

hierher die häufigſte Bedeutung

des Worts bey den klaſſiſchen

Schriftſtellern: perſönliche Ehr-

furcht. Cicero de invent. II.

22. 53.

(f) Eichhorn Deutſches Pri-

vatrecht § 35. Mühlenbruch

§ 40. — Die perſönliche Parti-

cularität, im Gegenſatz der loca-

len, iſt alſo die Grundlage des

Begriffs, ſo daß man wohl von

einer Obſervanz des Adels, oder

einer gewiſſen Klaſſe deſſelben,

eines Domkapitels, einer Zunft

u. ſ. w. ſprechen kann, aber nicht

von der einer Provinz oder Stadt.

|0155 : 99|

§. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.

gendes, durch Handlungen ausgedrücktes Statut der Cor-

poration verſtanden wird, begründet durch das ihr zuſte-

hende Recht der Autonomie (g). Dagegen iſt es eine völ-

lige Umänderung jener beſtimmteſten Bedeutung des Wor-

tes Obſervanz zu nennen, wenn daſſelbe einen ſtillſchwei-

genden Vertrag der Corporationsmitglieder bezeichnen

ſoll (h). Auch dabey wäre es vor Allem beſſer, den zwey-

deutigen Ausdruck ganz zu vermeiden, und nur den ſiche-

ren Ausdruck des Vertrags anzuwenden. Sieht man aber

genauer zu, ſo wird man finden, daß in den Fällen, worin

gewiß die Meiſten den Namen der Obſervanz gebrauchen

mögen, doch nur Gewohnheitsrecht, nicht Vertrag, vor-

handen iſt, daß aber die Veranlaſſung, weshalb man

einen Vertrag darunter denken wollte, tiefer liegt. Es

giebt nämlich manche Rechtsverhältniſſe, worin es in der

That zweifelhaft ſeyn kann, ob ſie einer Beſtimmung durch

Gewohnheitsrecht, oder vielmehr nur durch einen ſtill-

ſchweigenden Vertrag der einzelnen Betheiligten unterlie-

gen. Über dieſen Zweifel, oder vielleicht auch über die

unklare Auffaſſung des Gegenſatzes ſelbſt, kam man am

leichteſten hinweg durch den Gebrauch jenes ſchwankenden

(g) Eichhorn Kirchenrecht

B. 2 S. 39—44. — Puchta

Gewohnheitsrecht II S. 105, der

den Unterſchied der Obſervanz

von verwandten Begriffen ſchär-

fer als alle Anderen beſtimmt

hat, will dieſen Fall (Anwendung

der Autonomie) allein als wahre

Obſervanz gelten laſſen. Auch

würde der Verwirrung dieſer Be-

griffe in der That am beſten vor-

gebeugt ſeyn, wenn ſich der

Sprachgebrauch in der von Puchta

angegebenen Weiſe fixiren wollte.

(h) Meurer Abhandlungen

Num. 6. Hofacker § 127. Thi-

baut § 16. — S. dagegen Eich-

horn a. a. O. S. 41.

7*

|0156 : 100|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Ausdrucks. Aber das Übel war dadurch nicht gehoben,

ſondern vielmehr unheilbar gemacht, indem nun die Aner-

kennung jenes Zweifels, und alſo die unentbehrliche Ent-

ſcheidung über denſelben, verhindert wurde.

Endlich gehört dahin auch noch der Ausdruck commu-

nis opinio, welchem man in früheren Jahrhunderten eine

ungemeine Wichtigkeit beyzulegen pflegte. Man dachte

darunter eine ſo übereinſtimmende Meynung der Rechts-

lehrer, daß dadurch jeder Einzelne als gebunden betrach-

tet werden müſſe, und man ſuchte nun, wegen der Wich-

tigkeit dieſer Folge, den Begriff und die Bedingungen der

Allgemeinheit durch formelle Regeln feſtzuſtellen, ſo wie

es einſt Valentinian III. durch ein Geſetz gethan hatte (i).

Freylich befand man ſich damit im Gebiet vollkommner

Willkühr, und die häufig ſehr ſeltſame Faſſung der Re-

geln verläugnete dieſen ihren Urſprung nicht. Die rich-

tige Bedeutung einer gemeinen Meynung und ihre wahre

Wirkſamkeit iſt bereits entwickelt worden (§ 19). In

neueren Zeiten übrigens iſt von dieſem Kunſtausdruck

kaum mehr die Rede.

 

§. 21.

Concurrirende Rechtsquellen.

Bey der bisherigen Darſtellung der Quellen des heu-

tigen Römiſchen Rechts wurden dieſelben, als allein vor-

handen und in ſich geſchloſſen, vorausgeſetzt. Auch war

 

(i) Puchta Gewohnheitsrecht I S. 163.

|0157 : 101|

§. 21. Concurrirende Rechtsquellen.

dieſe Betrachtungsweiſe nothwendig, wenn ſie rein und

vollſtändig aufgefaßt werden ſollten. Allein ein ſo ver-

einzeltes Daſeyn haben ſie in der Wirklichkeit in keinem

der Staaten gehabt, worin ſie Eingang fanden. Daher

ſoll nun noch eine Überſicht über diejenigen ihnen fremd-

artigen Rechtsquellen gegeben werden, die mit ihnen in

Berührung getreten ſind, und mit welchen ſie im Leben

ſelbſt die Herrſchaft über die Rechtsverhältniſſe ge-

theilt haben.

Zuerſt begegnete ihnen überall ſchon zur Zeit ihrer

Aufnahme einheimiſches Recht: namentlich alſo in Deutſch-

land urſprünglich Germaniſches Recht, und eben ſo in den

meiſten anderen Ländern, insbeſondere in Frankreich. Das

Verhältniß dieſer beiden verſchiedenartigen Rechte in der

Anwendung auf das Leben, war zu allen Zeiten ein ſchwie-

riges und verwickeltes, und die Ausgleichung dieſes Con-

flicts gehörte ſtets zu den wichtigſten Aufgaben des wiſſen-

ſchaftlichen Rechts, beſonders in dem praktiſchen Theil

deſſelben (§ 20).

 

Dann aber ſchloß ſich überall eine fortgehende Lan-

desgeſetzgebung an das aufgenommene fremde Recht an,

die theils durch das eben erwähnte Bedürfniß der Aus-

gleichung mit dem Germaniſchen Recht angeregt wurde,

theils auch ohne Rückſicht auf dieſen Conflict durch die

neuere Praxis (§ 20), die in dieſen Landesgeſetzen häufig

Anerkennung und Feſtſtellung fand. Dahin gehört alſo

in den einzelnen Theilen von Deutſchland das ganze Ter-

 

|0158 : 102|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

ritorialrecht, welches ſich bald auf ein ganzes Land, bald

auf einzelne Beſtandtheile deſſelben bezieht, und deſſen Um-

fang und Wichtigkeit je nach den Ländern ſehr verſchie-

den iſt. Auf den Gegenſatz dieſes Territorialrechts grün-

det ſich der oben (§ 2) aufgeſtellte Begriff des gemeinen

Rechts, welches überall zu jenem im Verhältniß eines

Subſidiarrechts ſteht, ſo daß es nur zur Anwendung

kommen kann, inſofern nicht eine andere Beſtimmung des

Territorialrechts vorhanden iſt. Dieſes Verhältniß folgt

natürlich, ja nothwendig daraus, daß eine ſolche neuere

Geſetzgebung gerade durch das Bedürfniß der Fortbildung

des vorhandenen Rechts entſteht, alſo dieſe Fortbildung

recht eigentlich zum Zweck hat. Nur würde es unrichtig

ſeyn, dieſes Verhältniß des Subſidiarrechts ſo anzuſehen,

als ob nun im wirklichen Leben die Entſcheidung ſtreitiger

Verhältniſſe in der Regel durch Territorialrecht beſtimmt

würde, neben welchem das gemeine Recht nur in ſelte-

nen ausgenommenen Fällen zur Anwendung käme. Viel-

mehr iſt überall die wirkliche Anwendung des gemeinen

Rechts in großem Übergewicht geblieben, ſo lange nur

der Begriff deſſelben überhaupt beybehalten wurde, wel-

cher freylich überall aufgehört hat, wo neue Geſetzbücher

eingeführt wurden.

In einem großen Theil von Europa nämlich ſind in

neueren Zeiten die Rechtsquellen durch neue einheimiſche

Geſetzbücher weſentlich umgebildet worden. In Preußen

und Öſterreich haben dazu nur innere, den Rechtszuſtand

 

|0159 : 103|

§. 21. Concurrirende Rechtsquellen.

ſelbſt betreffende Gründe den Anſtoß gegeben, in Frank-

reich ſind dazu noch beſondere politiſche Veranlaſſun-

gen gekommen: theils die durch die Revolution bewirkte

Erſchütterung ſo vieler Rechtsverhältniſſe, theils das Be-

dürfniß, die provinziellen Verſchiedenheiten auch von dieſer

Seite in Vergeſſenheit zu bringen. Die inneren, bey allen

dieſen Geſetzbüchern wirkſamen Gründe waren dieſelben,

wodurch auch ſchon vorher eine große Zahl einzelner Ge-

ſetze in vielen Ländern veranlaßt worden waren: man

wollte die Schwierigkeiten beſeitigen, welche theils durch

den Conflict der Römiſchen und Germaniſchen Rechtsin-

ſtitute, theils durch die unbeholfene Theorie und die oft

ſchwankende Praxis der letzten Jahrhunderte (§ 19. 20)

entſtanden waren. Dieſe Zwecke konnten wahrhaft nur dann

erreicht werden, wenn eine Reinigung der Rechtswiſſenſchaft

von dieſen Mängeln durch eine eindringende kritiſche Er-

forſchung vorherging: da aber dieſe fehlte, und alſo die

Abfaſſung der Geſetzbücher unter dem Einfluß deſſelben

mangelhaften Zuſtandes der Rechtswiſſenſchaft unternom-

men wurde, dem man abhelfen wollte, ſo konnte die Ver-

beſſerung nur eine äußerliche, zufällige und beſchränkte

ſeyn, während die innere und weſentliche Mangelhaftig-

keit fixirt, und dadurch für die Zukunft die Reinigung

durch die innere Kraft der Wiſſenſchaft verhindert, oder

wenigſtens ſehr erſchwert wurde.

Der große Unterſchied dieſer Geſetzbücher von allen

bisherigen einzelnen Geſetzen liegt in ihrer umfaſſenden

 

|0160 : 104|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

und in ihrer ausſchließenden Natur. Sie enthalten näm-

lich erſchöpfende, abgeſchloſſene Rechtsſyſteme. Obgleich

nun z. B. im Preußiſchen Landrecht die Abſicht gar nicht

auf eine Abänderung des vorhandenen materiellen Rechts,

ſondern auf eine verbeſſerte Form deſſelben gerichtet war,

ſo lag es doch in der organiſch bildenden Kraft einer

jeden Rechtstheorie (§ 14), daß man bald unwillkührlich

über das vorgeſteckte Ziel fortgeriſſen wurde, und ſo zu

Reſultaten kam, die gar nicht in der urſprünglichen Ab-

ſicht lagen, und die, wenn man ſie gleich Anfangs hätte

überſehen können, über die ganze Unternehmung Bedenken

erregt haben möchten. — Durch ihre ausſchließende Na-

tur gaben dieſe Geſetzbücher dem poſitiven Recht ihrer

Länder eine ganz neue Baſis: neu der Form nach, indem

nun in ihrem Gebiet von einer unmittelbaren Anwendung

des Römiſchen Rechts nicht mehr die Rede ſeyn kann:

nicht neu dem Gehalt nach, indem die in den früheren

Rechtsquellen wurzelnden Begriffe und Rechtsregeln auch

in den neuern Geſetzbüchern fortleben. Daher iſt denn

auch eine gründliche Einſicht in dieſe Geſetzbücher nur

dadurch möglich, daß ihr Inhalt auf ſeinen erſten Ur-

ſprung zurückgeführt wird, ſo daß durch dieſelben ein

erſchöpfendes Studium der früheren Rechtsquellen um gar

Nichts entbehrlicher geworden iſt, wie ſehr ſich auch Viele

mit einer ſolchen Erleichterung der juriſtiſchen Arbeit ge-

ſchmeichelt haben mögen.

Hierin liegt denn zugleich der Grund, warum das

 

|0161 : 105|

§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.

heutige Römiſche Recht zum Standpunct des gegenwär-

tigen Werks gewählt worden iſt (§ 1). Denn da von

dieſem Standpunct aus ſowohl eine unmittelbare Anwen-

dung möglich wird in den Ländern, worin die früheren

Rechtsquellen herrſchend geblieben ſind, als auch eine

gründliche Einſicht in die neuen Geſetzbücher, da wo dieſe

eingeführt wurden, ſo iſt dieſer Standpunkt überhaupt

der fruchtbarſte zur Belebung der juriſtiſchen Wiſſenſchaft

und der mit ihr zuſammenhängenden Praxis.

§. 22.

Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im

Allgemeinen (a).

Mit dieſer Darſtellung der Natur unſrer Rechtsquellen

ſind nun noch die Ausſprüche der Römer über denſelben

Gegenſtand zu vergleichen. Welche Bedeutung wir dieſen

Ausſprüchen beyzulegen haben, wird erſt, nachdem ſie

ſelbſt zuſammengeſtellt ſind, unterſucht werden können.

Auch im canoniſchen Recht und in den Reichsgeſetzen fin-

det ſich Einiges, was dahin gehört, aber ſo Weniges,

daß es füglich als Anhang den Äußerungen des Römi-

ſchen Rechts hinzugefügt werden kann.

 

Der Aufzählung der Rechtsquellen, wie ſie ſich in

mehreren Stellen der Römiſchen Juriſten findet, liegt

kein beſtimmter Begriff derſelben zum Grund. Sie faſſen

vielmehr blos die Formen der äußeren Erſcheinung des

 

(a) Puchta Gewohnheitsrecht Buch 1. Beſonders Cap. 4. 5. 6.

|0162 : 106|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Rechts auf, unbekümmert um das Weſen und die Her-

kunft ihres Inhalts, und um die Klaſſification derſelben,

welche nur aus der Verwandtſchaft oder Verſchiedenheit

des Inhalts hervorgehen könnte. Es hat alſo bey ihnen

dieſe Aufzählung, wie es ihrem praktiſchen Sinn ganz

angemeſſen iſt, die Natur einer Anweiſung für den Rich-

ter, wohin er ſich zu wenden habe, um zur Belehrung

über irgend eine Rechtsfrage zu gelangen. Zu dieſer

äußerlichen Auffaſſungsweiſe paßt denn auch ſehr gut die

mehrmals vorkommende Eintheilung des Rechts in jus

scriptum und non scriptum (b), welche ganz buchſtäblich

zu nehmen iſt, und worauf übrigens die Römer ſelbſt gar

kein beſonderes Gewicht gelegt haben. Jus scriptum alſo

heißt dasjenige Recht, deſſen Entſtehung mit einer ſchrift-

lichen Aufzeichnung verbunden iſt (c). Neuere Rechtsleh-

(b) § 3. 9. 10. J. de jure nat.

(1. 2.), L. 6 § 1 de J. et J. (1.

1.), L. 2 § 5. 12. de orig jur.

(1. 2.). — Die Stelle, die am

beſtimmteſten jede künſtliche Deu-

tung ausſchließt, iſt Cicero de

partit. orat. C. 37 „sed propria

legis et ea, quae scripta sunt,

et ea quae sine litteris, aut

gentium jure aut majorum

more, retinentur.”

(c) So iſt das Prätoriſche

Edict jus scriptum, auch wenn

ihm altes Gewohnheitsrecht zum

Grunde liegt, weil dieſes durch

die Aufnahme in das Edict auf

ſolche Weiſe anerkannt, gewiß

geworden, vielleicht auch umge-

bildet worden iſt, daß man es

im Verhältniß zur Praxis als

neu entſtanden anſehen kann.

Die responsa der Juriſten wa-

ren eben ſo jus scriptum, weil

ſie durch ihre ſchriftliche Abfaſ-

ſung bindende Kraft erhielten.

Aber ein Satz des Gewohnheits-

rechts wurde nicht dadurch zum

jus scriptum, daß juriſtiſche

Schriftſteller in ihren Rechtsſy-

ſtemen ihn aufnahmen und als

wahr bezeugten. Denn dieſes

war nur wiſſenſchaftliche Mit-

theilung des Rechtsſatzes, ohne

Zuſammenhang mit deſſen Ent-

ſtehung. — Vgl. Thibaut § 10.

— Nicht ſowohl unrichtig, als zu

|0163 : 107|

§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.

rer glaubten ſich bey dieſem einfachen Wortſinn nicht

beruhigen zu dürfen, ſondern erklärten vielmehr jus

scriptum von dem durch einen Geſetzgeber promulgirten

Recht, non scriptum von dem nicht promulgirten, alſo

dem Gewohnheitsrecht, beides ohne Rückſicht auf Gebrauch

und Nichtgebrauch der Schrift (d). Noch Andere laſſen

beide Parteyen Recht haben, indem ſie einen juriſtiſchen

und grammatiſchen Sinn der Eintheilung unterſcheiden,

deren man ſich nach Belieben bedienen könne (e).

Gajus ſtellt die Rechtsquellen ſo zuſammen: Lex, Ple-

biſcit, Senatusconſult, Kaiſerconſtitutionen, Edicte, Re-

ſponſa der Juriſten (f). Eben ſo Juſtinians Inſtitutio-

nen, nur daß ſie noch das dort fehlende ungeſchriebene

Recht hinzufügen (g). Pomponius giebt zuerſt eine chro-

nologiſche Überſicht der Entſtehung des Rechts, und faßt

dann die darin vorkommenden Entſtehungsgründe ſo zuſam-

men: Lex, Prudentium interpretatio, legis actiones, Plebiſcit,

 

ſubtil, und darum der Sache

nicht angemeſſen, iſt die Erklä-

rung bey Zimmern I § 14.

(d) (Hübner) Berichtigungen

und Zuſätze zu Höpfner S. 152.

(e) Glück I § 82, wo man

die Sache mit überflüſſiger Weit-

läufigkeit abgehandelt, und zu-

gleich die früheren Schriftſteller

angeführt findet. — Die Veran-

laſſung der falſchen Meynung,

aber keineswegs ihre Entſchuldi-

gung, liegt in L. 35. 36. de le-

gibus (1 3.). — Das wahre

Element dieſes Irrthums beſteht

übrigens darin, daß das geſchrie-

bene Recht in einem feſten Buch-

ſtab äußerlich erkennbar iſt, wo-

durch ſein Daſeyn und Inhalt

größere Gewißheit erhält in Ver-

gleichung mit dem Gewohnheits-

recht. Nur iſt die Autorität des

Geſetzgebers dabey nicht noth-

wendig, wie denn der Prätor in

ſeinem Edict jus scriptum machte,

ohne Geſetzgeber zu ſeyn.

(f) Gajus I § 2 — 7.

(g) § 3—9 J. de j. nat. (1. 2.)

|0164 : 108|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Edicte, Senatusconſult, Kaiſerconſtitutionen (h). Papi-

nian endlich ſtimmt ganz mit Gajus überein, nur nennt

er (ſo wie Pomponius) anſtatt der ſpeciellen Reſponſa

vielmehr die allgemeinere auctoritas Prudentium (i). —

Der Unterſchied liegt alſo zunächſt in der Ordnung der

einzelnen Stücke: ferner darin, daß das ungeſchriebene

Recht bald fehlt, bald aufgenommen iſt: dann in der ver-

ſchiedenen Auffaſſung des Juriſtenrechts: endlich darin,

daß Pomponius allein die legis actiones mitzählt. Dieſer

letzte Unterſchied erklärt ſich leicht daraus, daß Pompo-

nius in einer Überſicht der Rechtsgeſchichte ſehr wohl

einen Gegenſtand aufnehmen konnte, welcher in Werken

über das geltende Recht nicht paſſend geweſen wäre.

Andere Zuſammenſtellungen der Rechtsquellen finden

ſich in rhetoriſchen Schriftſtellern. Darunter hat die in

Cicero’s Togik am meiſten Ähnlichkeit mit den angeführten

juriſtiſchen Stellen, was ſich auch aus dem Zweck dieſer

Schrift erklärt (k). Die übrigen laſſen ſich in eigentliche

Speculation über die urſprüngliche Entſtehung der Rechts-

begriffe ein (l). Allein nicht nur iſt dieſe ſehr verworren

und unbefriedigend, ſondern ſie begnügen ſich, eben ſo

wie jene Juriſten, mit der Auffaſſung der äußeren Er-

 

(h) L. 2 § 12 de orig. jur.

(1. 2.).

(i) L. 7 de J. et J. (1. 1.).

(k) Cicero top. C. 5 „ut si

quis jus civile dicat id esse,

quod in legibus, senatus con-

sultis, rebus judicatis, juris

peritorum auctoritate, edictis

magistratuum, more, aequitate

consistat.”

(l) Cicero de invent. II. Cap.

22. 53. 54. — de partit. orato-

ria C. 37. — Auct. ad Heren-

nium II C. 13.

|0165 : 109|

§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.

ſcheinung des Rechts, obgleich dieſes Verfahren zu ihrer

ganzen Richtung nicht paßt: ja ſie treiben die Verwir-

rung ſo weit, daß ſie mit den Rechtsquellen die thatſäch-

lichen Entſtehungsgründe der einzelnen Rechtsverhältniſſe

vermengen, wovon freylich jene Juriſten ganz frey ſind (m).

Mit mehr Sorgfalt, als jene allgemeine Zuſammen-

ſtellungen der Rechtsquellen, wurden von den alten Ju-

riſten zwey Gegenſätze in der Rechtserzeugung behandelt,

an welche ſich ein bedeutendes praktiſches Intereſſe knüpfte:

ich meyne den Gegenſatz des Jus civile und gentium, und

den des Jus civile und honorarium. — Der erſte dieſer

Gegenſätze hatte folgende Bedeutung (n). Der frühe Ver-

kehr mit benachbarten fremden Völkern machte es noth-

wendig, neben dem einheimiſchen Recht auch das Recht

von Peregrinen vor Römiſchen Gerichten anzuwenden,

alſo auch kennen zu lernen: und zwar nicht blos das

Recht irgend eines einzelnen fremden Staats, ſondern auch

das, was Mehreren derſelben gemeinſam war. Je mehr

nun die Römiſche Herrſchaft ausgebreitet, alſo der Ver-

kehr mit Fremden mannichfaltiger wurde, deſto mehr

 

(m) So z. B. Cicero de part.

or. C. 37. Alles Recht entſpringt

aus natura oder lex. Dieſes

letzte iſt theils geſchrieben, theils

ungeſchrieben. Das geſchriebene

entſteht entweder aus Handlun-

gen einer öffentlichen Gewalt:

Lex, senatus consultum, foedus;

oder aus Privathandlungen: Ta-

bulae, pactum conventum, sti-

pulatio. Auch in dem unge-

ſchriebenen Recht kommen wieder

Verträge vor. Ähnlich ſind hierin

auch die andern angeführten

Stellen.

(n) Vgl. Dirkſen Eigen-

thümlichkeit des Jus gentium,

Rhein. Muſeum B. 1 S. 1—50. —

Puchta Gewohnheitsrecht I S.

32—40.

|0166 : 110|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

mußte ſich hierin der Geſichtskreis erweitern, und auf

dieſem Wege kam man unvermerkt zu dem abſtracteren

Begriff eines den Römern mit allen fremden Völkern,

alſo allen Menſchen, gemeinſchaftlichen Rechts (o). Die-

ſer Begriff war zunächſt aus der Erfahrung geſchöpft,

und inſofern nicht völlig begründet, als ſich doch die Rö-

mer über die Unvollſtändigkeit ihrer Induction nicht täu-

ſchen konnten; denn theils kannten ſie nicht alle Völker,

theils wurde gewiß nicht bey jedem Satz des Jus gen-

tium ängſtlich nachgeforſcht, ob er auch wirklich bey allen

bekannten Völkern gelte. Dennoch war es natürlich, auch

bey dieſer nur relativen Allgemeinheit auf den Entſte-

hungsgrund derſelben zurück zu gehen, und dieſen fand

man denn im Allgemeinen in der naturalis ratio, d. h. in

dem der menſchlichen Natur eingepflanzten gemeinſamen

Rechtsbewußtſeyn (p), wovon wieder die Unveränderlich-

keit dieſes Rechts als eine nothwendige Folge angeſehen

wurde (q). Jedoch begnügte man ſich, dieſen Entſtehungs-

grund im Allgemeinen anzuerkennen, ohne die einzelnen

Sätze des Jus gentium von dieſer Seite einer Prüfung

zu unterwerfen.

(o) „Omnes homines”, „om-

nes gentes”, „gentes humanae”

Gajus I § 1. L. 9. L. 1 § 4 de

J. et J. (1. 1.).

(p) Gajus I § 1. 189. II § 66.

69. 79., L. 9 de J. et J. (1. 1.).

L. 1 pr. de adqu. rer. dom.

(41. 1.). — In den rhetoriſchen

Schriften heißt es gewöhnlicher

blos Natura (Note I). — Die

allgemeinere Wurzel dieſer An-

ſicht iſt ſchon oben nachgewieſen

worden, am Ende des § 8.

(q) L. 11 de J. et J. (1. 1.)

§ 11. J. de j. nat. (1. 2.).

|0167 : 111|

§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.

Die Vergleichung ſelbſt nun zwiſchen dem einheimi-

ſchen und dem allgemeinen Recht ergab Folgendes. Einige

Inſtitute, mit den auf ſie bezüglichen Rechtsregeln, waren

in der That von jeher gemeinſam, alſo juris gentium und

civilis zugleich. Dahin gehörten die meiſten Contracte

des täglichen Verkehrs, wie Kauf, Miethe, Societät u. ſ. w.

Ferner die meiſten Delicte, inſofern ſie die Verpflichtung

zur Entſchädigung mit ſich führen. Dann die Tradition

als Erwerb des Eigenthums, die in Anwendung auf res

nec mancipi auch ſchon im Civilrecht anerkannt war.

Endlich der durch die Geburt ſich fortpflanzende Skla-

venſtand. — Weit mehrere Inſtitute aber waren dem

einheimiſchen Recht ausſchließend eigen. So die Ehe, die

ſelbſt in ihrer freyeſten Form doch nur zwiſchen Römiſchen

Bürgern möglich, und dadurch ganz poſitiv bedingt war.

Noch mehr die väterliche Gewalt, und die durch ſie be-

gründete Agnation. Eben ſo die meiſten und wichtigſten

Entſtehungsgründe des Eigenthums, wie Mancipation,

Uſucapion u. ſ. w. Ferner in den Obligationen die ver-

borum und literarum obligatio; die Delicte inſofern ſie

eine Strafe von willkührlich angenommener Größe mit

ſich führen. Endlich das geſammte Erbrecht. — Allein

die meiſten dieſer poſitiven Inſtitute haben dennoch einen

allgemeinen Kern, und kommen alſo auch in dem fremden

Recht, dieſem ihrem allgemeinen Weſen nach, nur in an-

derer Form, gleichfalls vor. So geſchah es nun durch

den vermehrten Verkehr mit Fremden, daß neben vielen

 

|0168 : 112|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

jener poſitiven Inſtitute auch ſelbſt in Römiſchen Gerich-

ten verwandte Inſtitute des allgemeinen Rechts praktiſch

anerkannt wurden. Alſo neben der Civilehe eine gültige,

nur minder wirkſame Ehe nach jus gentium. Neben der

Agnation eine naturalis cognatio. Neben dem Eigenthum

ex jure quiritium das in bonis. Neben der ſtrengſten

Form der Stipulation (spondes spondeo) freyere, auch

den Peregrinen zugängliche Formen. Am wenigſten ge-

ſchah es im Erbrecht, das überhaupt am meiſten eine

ſtreng poſitive Natur hat; und doch beruht auch hier die

zugelaſſene und ſtets erweiterte Inteſtaterbfolge der Cogna-

ten auf derſelben natürlichen Rechtsentwicklung. — Es

erhellt aus dieſer Zuſammenſtellung, daß man nur theil-

weiſe einen Gegenſatz zwiſchen dem nationalen und all-

gemeinen Recht (jus civile und gentium) annehmen kann,

indem ein großer Theil des erſten zugleich auch dem zwey-

ten angehört (r). Und auch jener partielle Gegenſatz

mußte ſich im Lauf der Zeit vermindern, indem bey der

ſtetigen praktiſchen Berührung beider Rechtsſyſteme in den

Gerichten deſſelben Staates eine gewiſſe Aſſimilation un-

vermeidlich war.

Aus dieſen Betrachtungen erklären ſich ganz einfach

die zwey Benennungen, die hier als völlig gleichbedeutend

 

(r) Faßt man den Gegenſatz von

dieſem Standpunct auf, ſo iſt er

verwandt, obgleich nicht identiſch,

mit dem von Jus strictum und

aequitas, jus (oder juris ratio)

und utilitas. Hier zeigt ſich alſo

in ſpeciell hiſtoriſcher Anwendung,

was oben ((§ 15) über dieſe Ge-

genſätze in allgemeiner Betrach-

tung geſagt worden iſt.

|0169 : 113|

§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.

gebraucht werden: Jus gentium, das Recht, welches bey

allen bekannten Völkern gefunden wird: Jus naturale, das

Recht, welches durch das in der menſchlichen Natur ge-

gründete gemeinſame Rechtsbewußtſeyn hervorgebracht

wird (s). — Jedoch iſt unter dieſen beiden Arten der Auf-

faſſung die erſte als die überwiegende zu betrachten, ſo

daß nach Anſicht der Römer das Jus gentium nicht min-

der als das Jus civile ein ganz poſitives, geſchichtlich

entſtandenes und fortgebildetes Recht war. In demſelben

Maaße nun, als die Römiſche Nation, viele verſchiedene

Völker beherrſchend, zwar dieſe ſich aſſimilirte, zugleich

aber ihre Individualität an dieſe ungeheure und unbe-

ſtimmte Maſſe verlor, mußte das Jus gentium, als das

dieſem neuen Zuſtande angemeſſenere, ſo vorherrſchend wer-

den, wie es in der Juſtinianiſchen Geſetzgebung wirklich

erſcheint. Dieſe große Veränderung alſo iſt als das Werk

innerer Nothwendigkeit zu betrachten, nicht als Willkühr

zu tadeln, noch als Weisheit zu loben: außer inſoferne

es das höchſte Lob verdient, daß das allmälige und ſtille

Wirken jener Nothwendigkeit damals, wie in keinem frü-

heren Zeitpunct, richtig erkannt, und ſo der Buchſtab des

Rechts mit dem ſehr veränderten Geiſt und Weſen deſſel-

ben befriedigender ausgeglichen worden iſt, als es von

(s) Dieſe Terminologie, ge-

gründet auf die hier ausgeführte

zweygliedrige Eintheilung, kann

als die unter den Römiſchen Ju-

riſten vorherrſchende angeſehen

werden. Allerdings erſcheint da-

neben auch noch eine dreygliedrige

Eintheilung in Jus naturale,

gentium, civile. Davon handelt

die Beilage I zu dieſem Bande.

8

|0170 : 114|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

dieſem Zeitalter erwartet werden durfte. — Das wich-

tigſte praktiſche Intereſſe, welches ſich an dieſen Gegen-

ſatz knüpfte, beſtand nun aber darin, daß die Anwend-

barkeit beider Rechtsſyſteme von dem Standesverhältniß

der einzelnen Perſon abhing. Die eigenthümlichen Rechts-

verhältniſſe des Jus civile waren nur zugänglich den Rö-

miſchen Bürgern, ſpäterhin theilweiſe auch den Latinen,

durchaus nicht den Peregrinen: die des Jus gentium wa-

ren allen Menſchen zugänglich, die nur nicht überhaupt

als rechtlos galten. — Ein ähnlicher Unterſchied der Em-

pfänglichkeit für die Anwendung der Rechtsregeln findet

ſich auch bey den Grundſtücken, indem die Inſtitute und

Regeln des Sachenrechts entweder nur in Italien, oder

auch in den Provinzen anwendbar waren, je nachdem ſie

dem Jus civile angehörten (wie die Mancipation und Uſu-

capion), oder dem Jus gentium (wie die Tradition). —

Man kann dabey noch die Frage aufwerfen, wie ſich die-

ſer Gegenſatz zu dem des geſchriebenen und ungeſchriebe-

nen Rechts verhalte. Gewöhnlich wird dieſer letzte nur

bey Gelegenheit des Jus civile erwähnt, ſo daß er als

eine Unterabtheilung deſſelben erſcheint. Allein ein innerer

Grund zu dieſer Beſchränkung iſt nicht vorhanden, und

da die Erkenntniß des Jus gentium auf der fortgehenden

Sammlung und Vergleichung mehrerer fremden Rechte

beruht, alſo auf einem Verfahren, wobey eine ſchriftliche

Urkunde undenkbar iſt, wenngleich dabey die geſchriebenen

Geſetze fremder Völker benutzt werden konnten, ſo gehört

|0171 : 115|

§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.

für die Römer das ganze Jus gentium urſprünglich (d. h.

wenn es nicht zufällig in ein Edict aufgenommen wird)

zum ungeſchriebenen Recht, und bildet einen zweyten Theil

deſſelben neben dem einheimiſchen Gewohnheitsrecht, oder

den mores majorum. Dieſe Zuſammenſtellung findet ſich

übrigens bei keinem Juriſten, wohl aber bey Cicero (t). —

Zum Schluß muß endlich noch folgendes Verhältniß zwi-

ſchen den beiden hier erklärten Arten des Rechts bemerk-

lich gemacht werden. Da das Jus gentium in Rom ein

in ſich geſchloſſenes Rechtsſyſtem von poſitiver Natur und

praktiſcher Anwendbarkeit geworden war, ſo war es un-

vermeidlich, daß auch Beſtimmungen des Jus civile auf

daſſelbe mußten einwirken können. Wurde alſo durch das

Jus civile irgend etwas verboten, z. B. eine Ehe in einem

gewiſſen Grad der Verwandtſchaft, ſo hatte eine ſolche

Ehe in Rom auch nicht einmal nach Jus gentium Da-

ſeyn und Wirkſamkeit, wenngleich ein ſolches Verbot bey

andern Völkern vielleicht nicht vorkam, ſo daß bey ihnen

dieſelbe Ehe gültig geweſen wäre (u). Eben ſo entſteht

aus einem durch Jus civile verbotenen Vertrag (z. B. durch

Spielſchuld oder Zinswucher) ganz entſchieden nicht ein-

mal eine naturalis obligatio. Cicero ſpricht dieſe Rück-

(t) Cicero de partitione ora-

toria C. 37 ſ. o. Note b.

(u) § 12 J. de nupt. (1. 10.).

Vgl. unten § 65 Note b. — In

ſolchen Fällen zeigt ſich alſo ge-

wiſſermaßen eine zwiefache Be-

trachtungsweiſe für das jus gen-

tium: eine ſpeculative, welche

bloß den Urſprung der Rechts-

ſätze beachtet, und eine prakti-

ſche, welche ſich auf die Geſtalt

bezieht, die daſſelbe in den

Römiſchen Gerichten annehmen

mußte.

8*

|0172 : 116|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

wirkung des Jus civile auf das Jus gentium geradezu

aus in folgender Stelle (de partit. orat. C. 37) „atque

etiam hoc imprimis, ut nostros mores legesque tueamur,

quodammodo naturali jure praescriptum est.” Es kann

jedoch dieſe Rückwirkung, wie ſich von ſelbſt verſteht, nur

denjenigen Regeln des Jus civile zugeſchrieben werden,

welche die Natur eines abſoluten Rechts (§ 16) an ſich tragen.

Der zweyte bedeutende Gegenſatz war der von Jus

civile und honorarium (v). Deſſen praktiſche Wichtigkeit

aber lag nicht etwa darin, daß dieſes an ſich weniger

wirkſam, und z. B. in Colliſionsfällen nachſtehend geweſen

wäre, was durchaus nicht angenommen werden darf, ſon-

dern darin, daß die Gültigkeit deſſelben auf den Amts-

ſprengel und die Amtszeit ſeines Urhebers beſchränkt blieb,

anſtatt daß jede zum Jus civile gehörende Form in allen

Theilen des Reichs und zu allen Zeiten zu wirken fähig

war (w). In dieſem Sinne iſt es zu nehmen, wenn ſehr

 

(v) L. 7 pr. de J. et J. (1. 1.).

L. 2 § 10 de orig. jur. (1. 2.).

§ 7 J. de j. nat. (1. 2.). — Jus

civile hat alſo überhaupt ſehr

verſchiedene Bedeutungen. Es

heißt: 1) Privatrecht (§ 1); 2) po-

ſitives Recht irgend eines Staa-

tes: 3) insbeſondere das der Rö-

mer § 1. 2. 3. J. de j. nat. (1.

2.). L. 6 pr. L. 9 de J. et J.

(1. 1.); 4) noch enger, das Rö-

miſche Recht mit Ausſchluß des

honorarium L. 7 de J. et J.

(1. 1.); 5) noch enger dasjenige,

was keinen ſpezielleren Namen

führt. L. 2 § 5. 6. 8. 12 de orig.

jur. (1. 2.).

(w) Ich ſage alſo nicht, daß

es überall wirkte, ſondern daß

es dazu an ſich fähig war. So

z. B. wirkten die Edictalgeſetze

der Kaiſer zwar in der Regel

überall im Reich, aber ſie konn-

ten durch ihren Inhalt auch auf

eine einzelne Provinz oder Stadt

beſchränkt ſein. Die Reſponſa

und urſprünglich auch die Re-

ſcripte, wirkten nur in der ein-

zelnen Sache, alſo höchſt be-

ſchränkt, aber dieſe ihre be-

|0173 : 117|

§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.

häufig dieſes Jus civile auch bezeichnet wird als Lex und

quod legis vicem obtinet (x), und wenn die alten Juri-

ſten bey einzelnen Rechtsquellen mit Sorgfalt bemerken,

daß dieſes letzte von ihnen geſagt werden könne (y). Es

hatte aber dieſer rein praktiſche Unterſchied folgenden tie-

feren Grund. Durch Volksſchlüſſe, Senatusconſulte, Kai-

ſerconſtitutionen wurde in der That neues Recht erzeugt.

Der Prätor dagegen ſprach in ſeinem Edict nicht aus,

was hinfort Recht ſeyn ſolle (wozu er gar nicht befugt

war), ſondern was er als Recht anſehn und handhaben

werde, ſo daß er blos ſeine eigene amtliche Thätigkeit

voraus ankündigte. Daher wurden jene Rechtsregeln als

ipso jure, dieſe als jurisdictione, tuitione Praetoris gül-

tig, bezeichnet. Dieſer Gegenſatz wird noch klarer hervor-

treten durch die Vergleichung mit anderen, ſchon vorge-

kommenen Gegenſätzen. — Daß das Jus honorarium ganz

ſchränkte Wirkſamkeit konnte in

jedem Theil des Reichs eintreten.

Das Edict einer Obrigkeit dage-

gen hatte ſchon ſeiner Natur nach

nur Gültigkeit in den Gränzen

des Bezirks, worin der Urheber

deſſelben Gerichtsbarkeit hatte.

(x) Gajus IV § 118. „Ex-

ceptiones … omnes vel ex le-

gibus, vel ex his quae legis

vicem obtinent substantiam

capiunt, vel ex jurisdictione

Praetoris proditae sunt.” L. 14

de condit. inst. (28. 7.). —

Daſſelbe, was hier Gajus zufäl-

lig von den Exceptionen ſagt,

gilt eben ſo auch von den Klagen.

(y) Legis vicem haben: 1) die

Senatusconſulte. Gajus I § 4. —

2) die Kaiſerconſtitutionen. Ga-

jus I §. 5. L. 1 pr. de const.

(1. 4.). (Ja ſogar die imperia-

les contractus. L. 26 C. de don.

int. vir. 5. 16.) — 3) Die Re-

ſponſa. Gajus I § 7. — 4) Das

Gewohnheitsrecht. L. 32 § 1. L.

33 de leg. (1. 3.) „pro lege”

L. 38 eod. „vim legis” L. 3 C.

quae sit longa consu. (8. 53)

„legis vicem.” §. 9 J. de j. nat.

(1. 2.) „legem imitantur.”

|0174 : 118|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

zu dem geſchriebenen Recht gehört, folglich das ungeſchrie-

bene nur auf der Seite des Jus civile liegt, verſteht ſich

von ſelbſt. Zweifelhafter kann das Verhältniß des Jus

honorarium zu dem Jus gentium erſcheinen. Ganz falſch

würde es ſeyn, beide für identiſch zu halten, da das Edict

des Praetor urbanus theils vieles ſtreng Römiſche Recht

enthielt, theils auch nicht ſelten die utilitas abweichend

von den Regeln der naturalis ratio (§ 15), in Schutz

nahm (z). Eben ſo wenig aber darf der Gegenſatz des

Jus civile und honorarium als eine Unterabtheilung des

Jus civile (im Gegenſatz des Jus gentium) angeſehen wer-

den. Denn die Provinzialedicte enthielten gewiß neben

bloßem Partikularrecht auch vieles Jus gentium, und noch

vorherrſchender mußte dieſes in dem Edict des Peregri-

nenprätors ſeyn. Nur das läßt ſich als wirkliche Ver-

wandtſchaft beider Begriffe behaupten, daß aus dem all-

gemeinen im Jus gentium enthaltenen Element Vieles in

das Jus civile der Römer überging, und daß für dieſen

ſchon oben bemerkten Übergang das Jus honorarium ſehr

häufig als vermittelndes Organ diente. Endlich kann

man die noch allgemeinere Frage aufwerfen, ob das prä-

toriſche Recht, ſo weit es Neues enthielt, und beſonders

ſo weit es das Jus civile abänderte, Geſetz oder Gewohn-

heit war? Wir können jetzt als entſchieden annehmen,

daß es ſeine abändernde Kraft lediglich aus dem Gewohn-

(z) Beyſpiele ſolcher Conflicte

des Edicts mit dem jus gentium

ſind zuſammengeſtellt bey Düroi

Archiv. B. 6 S. 308. 309. 393.

|0175 : 119|

§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.

heitsrecht, nicht aus eigener Macht des Prätors, hernahm

(§ 25. t). Dennoch würden wir irren, wenn wir darum

den Prätor als bloßen Schreiber des Gewohnheitsrechts

anſehen wollten. Der Stoff freylich war ihm durch

Volksrecht gegeben; aber die daraus hervorgehende Fort-

bildung des Rechts im Einzelnen zu entwickeln und durch-

zuführen (corrigendi juris civilis) war ihm mit großer

Freiheit überlaſſen, eben ſo wie die Ergänzung des Civil-

rechts, wo dieſes unvollſtändig war (supplendi juris civi-

lis) (aa). In der That alſo wurde die Fortbildung des

Rechts großentheils durch den Prätor beſorgt, aber durch

den jährlichen Wechſel der Prätoren bekam die Leitung

dieſes Geſchäfts doch wieder etwas Volksmäßiges, wie-

wohl mit ariſtokratiſchem Character.

Alles, was bisher über die allgemeine Anſicht der Rö-

mer von den Rechtsquellen geſagt worden iſt, kann nur

von der Zeit gelten, in welcher die Rechtswiſſenſchaft noch

einiges Leben erhielt. Nach dieſer Zeit, alſo von den

chriſtlichen Kaiſern an, änderte ſich die Anſicht von Grund

aus. Nun gab es als Rechtsquellen nur Leges und

Jus, d. h. kaiſerliche Edicte und wiſſenſchaftlich verarbei-

 

(aa) Der ſcheinbare Wider-

ſpruch ſolcher Stellen, die den

Stoff des Edicts auf Gewohn-

heit zurückführen (§ 25. t) mit

andern, welche das Edict dem

Gewohnheitsrecht entgegenſetzen,

wie Gajus III § 82: „neque

lege XII tab., neque praetoris

edicto, sed eo jure quod con-

sensu receptum est und § 3—9

J. de j. nat. (1. 2.) löſt ſich ſchon

durch die Bemerkung, daß in

den Stellen dieſer letzten Art

nur dasjenige als Gewohnheits-

recht bezeichnet wird, was in die-

ſer ſeiner urſprünglichen Geſtalt

geblieben, und nicht in das Edict

aufgenommen worden iſt.

|0176 : 120|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

tetes Recht (§ 15 a), in welchen Formen ſich jetzt alle

frühere aufgelöſt hatten. Valentinian III. brachte dieſen

Gebrauch der Litteratur in den Gerichten auf feſte Re-

geln (§ 26). Noch weit einfacher wurden die Rechtsquel-

len durch Juſtinians Geſetzgebung, Er ſanctionirte einen

Theil der vorhandenen rechtswiſſenſchaftlichen Litteratur

als Geſetz, ſetzte den weit größeren übrigen Theil außer

Kraft, und verbot für die Zukunft die Entſtehung einer

neuen (§ 26). Indem nun alſo die Digeſten nicht mehr

als Jus, ſondern als eine Lex galten, konnte man ſagen,

daß es keine andere Rechtsquellen mehr gebe, als Kaiſer-

conſtitutionen: nur etwa noch mit Hinzurechnung einiges

Gewohnheitsrechts, von deſſen dürftiger Geſtalt ſogleich

weiter die Rede ſeyn wird. — Auch die allgemeinen Ge-

genſätze von Jus civile und gentium, civile und honora-

rium, waren in Juſtinians Geſetzgebung, wie es hier in

der That geſchehen iſt, nur noch hiſtoriſch zu erwähnen,

da ſie ihre praktiſche Wichtigkeit gänzlich verloren hatten,

wenn auch nicht alle praktiſche Anwendbarkeit. Denn es

war noch jetzt Regel, daß nur der Römiſche Bürger eine

vollgültige Ehe ſchließen, väterliche Gewalt erwerben, ein

Teſtament machen, und zum Erben eingeſetzt werden könne.

Aber freylich waren die Peregrinen, denen dieſer Theil der

Rechtsfähigkeit ſtets verſagt blieb, nur noch die Auslän-

der, alſo vom Standpunct der Römer aus, und für Rö-

miſche Gerichte, jetzt unbedeutend. Und auch für ſie wurde

noch ein großer Theil des praktiſchen Unterſchieds dadurch

|0177 : 121|

§. 23. Ausſprüche der Römer über die Geſetze.

weggeräumt, daß die Inteſtaterbfolge ſeit der Novelle 118

nicht mehr durch Agnation bedingt ſeyn ſollte. — Neues

Jus honorarium entſtand ſchon längſt nicht mehr, und

darum konnte auch nicht mehr von den geographiſchen

Gränzen ſeiner Anwendbarkeit die Rede ſeyn.

§. 23.

Ausſprüche der Römer über die Geſetze.

Quellen:

 

Dig. I. 3. 4.

Cod. Just. I. 14. 15. 19. 22. 23.

Cod. Theod. I. 1. 2. 3.

Was uns über die älteren Formen der Geſetzgebung

in den Rechtsquellen aufbewahrt iſt, hat eine ſehr dürftige

Geſtalt. Es ſind faſt nur Gemeinplätze, Anweiſungen für

das Benehmen des Geſetzgebers, woraus wenig zu lernen

iſt (a). Ohne Zweifel fanden ſich bey den alten Juriſten

lehrreiche Nachrichten über die Stellung jeder Art der

Volksſchlüſſe im alten Staatsrecht, ſo wie über die geſetz-

gebende Gewalt des Senats: aber dieſe hatten zu wenig

Beziehung auf die Zeit Juſtinians, als daß eine Aufnahme

in ſeine Sammlungen erwartet werden konnte (b).

 

Wichtiger und zuſammenhängender ſind die Nachrich-

ten und Regeln über die Kaiſergeſetze; dieſe waren noch

in Juſtinians Reich anwendbar, und theilweiſe iſt auch

 

(a) L, 3—6. 8. 10—12, de leg.

(1. 3.).

(b) Schon die wenigen und

verſtümmelten Worte bey Ulpian.

tit. de leg. § 3 beſtätigen dieſe

Vermuthung. Vgl. Blume,

Zeitſchriftt f. geſchichtl. Rechts-

wiſſ. IV. 367.

|0178 : 122|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

auf unſren Zuſtand eine Anwendung wenigſtens denkbar.

Gajus und Ulpian ſagen übereinſtimmend, alle Constitu-

tiones hätten legis vicem, weil jeder Kaiſer durch eine

lex ſein imperium erhalte (c): und ſie zählen drey Arten

derſelben auf, Edicte, Decrete und Reſcripte, zu denen

wir noch die Mandate hinzufügen müſſen.

I. Edicte. Nicht nur ihr Name, ſondern auch die

Berechtigung zu denſelben, knüpft ſie unmittelbar an das

Staatsrecht der Republik an. Es waren Vorſchriften, die

der Kaiſer vermöge einer ihm zuſtehenden Magiſtratur

erließ, ſo wie es vor der Kaiſerzeit und noch lange wäh-

rend derſelben, die Prätoren, Proconſuln u. ſ. w. auch tha-

ten. Daß nicht gleich Anfangs dieſe Form zu den wich-

tigſten Handlungen der höchſten Gewalt gebraucht wurde,

erklärt ſich zunächſt aus dem lange anhaltenden Beſtreben

der Kaiſer, mit den alten gewohnten Formen zu herrſchen:

dann auch daraus, daß jene Form, ſo lange ſie ſich ſtreng

in ihren hergebrachten Gränzen hielt, für allgemeine Ge-

ſetzgebung nicht ganz paſſend war. Denn wenn der Kai-

ſer in ſeiner tribunicia oder proconsularis potestas ein

Edict erließ, ſo galt jenes nur in Rom, wie die Tribu-

nengewalt ſelbſt: dieſes nur in den Provinzen, und zwar

 

(c) Gajus I § 5. — L. 1 de

const. princ. (1. 4.) von Ulpian,

daraus genommenen § 6 J. de j.

nat. (1. 2.). Die Unterſuchung,

wie in den Digeſten und Inſti-

tutionen die lex regia einen an-

dern als den urſprünglichen Sinn

erhalten hat, gehört nicht hier-

her. — Gewöhnlich alſo bezeich-

net constitutio die ganze Gat-

tung, zuweilen nur die Edicte,

im Gegenſatz der Reſcripte L. 3

C. si minor. (2. 43.).

|0179 : 123|

§. 23. Ausſprüche der Römer über die Geſetze.

nur in denen, die dem Kaiſer zugetheilt waren. Erſt nach-

dem der Begriff des Kaiſers, als des ſouveränen magi-

stratus für das ganze Reich, entwickelt und anerkannt

war, konnten ſeine Edicte als Reichsgeſetze angeſehen wer-

den, und es iſt deshalb ſehr merkwürdig, daß ihnen ſchon

Gajus legis vicem zuſchreibt, ſie alſo für unabhängig von

irgend einem Amtsſprengel erklärt, anſtatt daß alle andere

Edicte die Beſchränkung auf einen ſolchen Sprengel als

Grundcharacter haben, und ſich dadurch von der lex et

quod legis vicem obtinet ſcharf unterſcheiden (§ 22). Den-

noch finden ſich ſchon in den erſten Jahrhunderten nicht

wenige ganz ſichere Kaiſerliche Edicte: als ſicher aber

ſehe ich nur die in den Rechtsquellen mit dieſer Bezeich-

nung angeführte an, da bey den Geſchichtsſchreibern auf

eine gleich ſtrenge Beobachtung des techniſchen Sprachge-

brauchs nicht zu rechnen iſt (d).

(d) Ich will hier eine Über-

ſicht ſicherer Edicte geben, die

ohne Zweifel noch ſehr vermehrt

werden kann. Vier von Au-

guſt L. 2 pr. ad Sc. Vell.

(16. 1.), L. 26 de lib. (28. 2.),

L. 8 pr. de quaest. (48. 18.),

Auct. de j. fisci § 8. — Clau-

dius vier. L. 2 pr. ad Sc. Vell.

(16. 1.), L. 15 pr. ad L. Corn.

de falsis (48. 10.), L. 2 qui

sine man. (40. 8.), L. un. § 3

C. de lat. lib. (7. 6.), Ulpian.

III § 6. — Vespaſian zwey.

L. 4 § 6 de legat. (50. 7.), L.

2 C. de aed. priv. (8. 10.). —

Domitian. L. 2 § 1 de cust.

(48. 3.). — Nerva. L. 4 pr.

ne de statu (40. 15.). — Tra-

jan vier. L. 6 § 1 de extr. crim.

(47. 11.), Gajus III § 172, § 4

J. de succ. lib. (3. 7.), L. 13

pr. § 1 de j. fisci (49. 14.),

Auct. de j. fisci § 6. — Ha-

drian zwey. Gajus I § 55. 93.

L. 3 C. de ed. D. Hadr. (6.

33.). — Pius L. 11 de muner.

(50. 4.). — Marcus drei. § 14

J. de usuc. (2. 6.), L. 24 § 1

de reb. auct. jud. (42. 5.), L.

3 C. si adv. fiscum (2. 37.). —

Severus. L. 3 § 4 de sep.

viol. (47. 12.). — Außerdem

aber kommen als Edicte auch

|0180 : 124|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Da nun die Edicte als wahre Geſetze allgemein ver-

bindliche Kraft haben ſollten, im Gegenſatz der übrigen

Conſtitutionen, ſo war es wichtig, ſichere Kennzeichen dafür

zu haben. Dieſe werden in einem Edict von Theodos II. und

Valentinian III. ſo angegeben: der Name edictum oder gene-

ralis lex, die Mittheilung an den Senat durch eine oratio,

die Bekanntmachung durch die Statthalter der Provinzen,

endlich die der Conſtitution eingerückte Beſtimmung, daß

ſie für Alle verbindliche Kraft haben ſolle; jedes dieſer

Kennzeichen ſollte für ſich allein, auch ohne die übrigen,

hinreichen (e). Es wurde daher dieſe Eigenſchaft nicht

ausgeſchloſſen durch die ſpecielle, in einem einzelnen Rechts-

fall liegende Veranlaſſung, wie dieſes die angeführte Con-

ſtitution ausdrücklich ſagt: eben ſo nicht durch den Um-

ſtand, daß der Inhalt nicht auf alle Römer, ſondern auf

eine einzelne Klaſſe, gerichtet war (f), da auch dieſe Vor-

ſchriften von Allen gekannt und reſpectirt werden ſollten:

endlich nicht durch die Richtung an eine einzelne Obrig-

keit, auf deren Anfrage vielleicht das Geſetz erlaſſen wor-

den war (g). — Außerdem erklärten dieſelben Kaiſer, wie

 

ſolche Bekanntmachungen an das

Volk vor, worin gar kein Rechts-

ſatz aufgeſtellt werden ſollte, z. B.

das des Nerva bey Plinius epist.

X 66.

(e) L. 3 C. de leg. (1. 14.).

(f) Was unſre Juriſten ein jus

singulare nennen. So z. B. be-

trafen Edicte von Auguſt und

Claudius die Bürgſchaften der

Frauen, ein Edict von Auguſt

verbot die Enterbung der Sol-

daten. L. 2 pr. ad Sc. Vell.

(16. 1.), L. 26 de lib. (28. 2.).

Das waren darum dennoch (nach

dem ſpäteren Sprachgebrauch)

generales leges. Hierüber irrt

Güyet Abhandlungen S. 42.

(g) Bey weitem die meiſten

Kaiſergeſetze, namentlich die von

|0181 : 125|

§. 23. Ausſprüche der Römer über die Geſetze.

ſie künftig ihre Edicte unter Mitwirkung des Senats aus-

arbeiten laſſen würden (h), wodurch ſie jedoch gewiß nicht

ſagen wollten, daß die Geſetzeskraft von der Beobachtung

dieſer Form abhängig ſeyn ſollte. — Endlich wird auch

noch die Nothwendigkeit der Bekanntmachung der Geſetze

anerkannt, jedoch ohne Beſtimmung einer Form für die-

ſelbe, die doch allein praktiſchen Werth haben kann (i).

II. Decrete. Darunter verſteht man jede Ausübung

des kaiſerlichen Richteramts, ſowohl durch Interlocute als

durch Endurtheile (k). Wenn auch dieſen, wie allen an-

dern Conſtitutionen, Geſetzeskraft für den einzelnen Fall

beygelegt wird, ſo ſcheint das nicht conſequent, da ſie

vielmehr als richterliche Entſcheidungen angeſehen werden

mußten, die ſtets rechtskräftig waren, weil ſie von der

höchſten Inſtanz im Reich ausgingen. Jene Vorſtellungs-

weiſe erklärt ſich vielleicht daraus, daß die ganze Gerichts-

barkeit des Kaiſers etwas außerordentliches war, worauf

 

Juſtinian, ſind an einen Beam-

ten, z. B. einen Praefectus prae-

torio gerichtet, und man konnte

ſie nach dieſer Form auch Re-

ſcripte nennen; aber Niemand

zweifelte, daß ſie wahre edicta,

generales leges, leges edictales

ſeyen, und darum war bey ihnen

der an ſich paſſende Ausdruck

rescriptum nicht üblich. Eine

Vergleichung neuerer Einrichtun-

gen wird dieſes anſchaulicher ma-

chen. Was durch die Preußiſche

Geſetzſammlung publicirt wird,

hat völlig gleiche Geſetzeskraft,

es mag nun Geſetz oder Verord-

nung heißen, alſo unmittelbar

an alle Unterthanen und Beamte

gerichtet ſeyn, oder aber in einer

Kabinetsordre an das Staatsmi-

niſterium, oder einen einzelnen

Miniſter beſtehen. Vgl. § 24

Note e.

(h) L. 8 C. de leg. (1. 14.).

(i) L. 9 C. de leg. (1. 14.).

(k) L. 1 § 1 de const. princ.

(1. 4.) „Quodcunque igitur

Imp.... vel cognoscens decre-

vit, vel de plano interlocutus

est … legem esse constat.”

|0182 : 126|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

der alte Begriff von judicium und res judicata nicht un-

mittelbar paßte; man wollte alſo recht entſchieden aus-

drücken, daß die Urtheile des Kaiſers nicht minder als die

eines judex, ja noch kräftiger, das ſtreitige Rechtsverhält-

niß unabänderlich feſtſtellten. — In der Sache ſelbſt war

denn allerdings kein weſentlicher Unterſchied von dem

rechtskräftigen Urtheil eines Richters; denn auch hier ſollte

die Wirkung beſchränkt ſeyn auf den vorliegenden Rechts-

fall, und ſelbſt die in der Entſcheidung enthaltene Regel

ſollte auf andere Fälle, als geſetzlich feſtgeſtellt, nicht an-

gewendet werden dürfen. Freylich die Kraft einer großen

Autorität konnte man der in einem Decret angewendeten

Regel nicht verſagen: und daher erklärt es ſich, wenn

Sammlungen ſolcher Decrete von den Juriſten angelegt

wurden (l), und wenn einzelne Decrete zur Ausbildung

und Anerkennung ganz neuer Rechtsſätze Veranlaſſung

gaben (m).

Bey dieſer beſchränkten Wirkſamkeit der Decrete hat

es Juſtinian zum Theil gelaſſen, nämlich inſoferne von In-

terlocuten die Rede iſt: denn in den Codex iſt eine frü-

here Conſtitution aufgenommen, die für die Interlocute

dieſes ausdrücklich vorſchreibt (n). Dagegen hat er für

 

(l) Pauli libri tres decreto-

rum. Ferner die Sammlung

Hadrianiſcher Decrete von Doſi-

theus.

(m) Z. B. das decretum D.

Marci über die Selbſthülfe L.

13 quod metus (4. 2.), L. 7 ad

L. J. de vi priv. (48. 7.).

(n) L. 3 C. de leg. (1. 14.)

„… interlocutionibus, quas in

uno negotio judicantes protu-

limus vel postea proferemus,

non in commune praejudican-

|0183 : 127|

§. 23. Ausſprüche der Römer über die Geſetze.

die Kaiſerlichen Endurtheile eine ausgedehntere Wirkſam-

keit vorgeſchrieben, ſo daß die in ihnen ausgeſprochene

Rechtsregel auch in allen künftigen Fällen als Geſetz an-

gewendet werden ſollte (o). Schon aus der Faſſung dieſer

Verordnung geht es hervor, daß bis dahin ein anderes

Recht galt, und daß alſo etwas Neues eingeführt werden

ſollte; wenn ſich der Kaiſer dabey auf die übereinſtimmende

Meynung der alten Juriſten beruft, ſo giebt er ihren Worten

eine willkührliche Deutung, indem ſie gewiß nur an die

Geſetzeskraft der Decrete für den einzelnen Fall dach-

ten (p). In der That aber ließ ſich für dieſe Neuerung

Vieles ſagen, wenigſtens fielen die Bedenken weg, die

einer ähnlichen Behandlung der Reſcripte im Wege ſtan-

den. Denn eine Täuſchung des Kaiſers durch einſeitige

Vorträge war hier nicht möglich, wo beide Theile gehört

worden waren, und den Mangel einer öffentlichen Be-

kanntmachung erſetzte gewiſſermaßen die mit dem Gerichts-

hof des Kaiſers verbundene Feyerlichkeit und Publicität (q).

tibus” (im Gegenſatz der vorher

beſtimmten Geſetzeskraft für die

Edicte).

(o) L 12 pr. C. de leg. (1.

14.) „Si imperialis majestas

causam cognitionaliter exami-

naverit, et partibus cominus

constitutis sententiam dixerit:

omnes omnino judices … sciant

hanc esse legem non solum illi

causae, pro qua producta est,

sed et omnibus similibus.” Ge-

wöhnlich nimmt man zwiſchen

dieſer Stelle und der in der vo-

rigen Note angeführten einen

Widerſtreit an: allein die zwey Ar-

ten der Decrete ſind ja hier eben

ſo deutlich unterſchieden, wie ſie

Ulpian unterſcheidet (Note k).

(p) L. 12 cit. „… cum et

veteris juris conditores, con-

stitutiones quae ex imperiali

decreto processerunt, legis vim

obtinere, aperte dilucideque

definiant”: Am unmittelbarſten

ſcheint hier gedacht an Gajus

I § 5.

(q) Die Decrete dieſer Art kön-

|0184 : 128|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Vor Juſtinian alſo hatten alle Decrete nur in dem vor-

liegenden Rechtsfall Geſetzeskraft: durch ſeine neue Verord-

nung wurde den Endurtheilen eine ausgedehntere Wirk-

ſamkeit gegeben, indem die in ihnen enthaltene Rechtsregel

als allgemeines Geſetz angeſehen werden ſollte.

Die Natur dieſes Gegenſatzes iſt von den neueren Ju-

riſten großentheils misverſtanden worden. Sie haben ihn

verwechſelt erſtlich mit der Beſchränkung der Rechtskraft

auf die Parteyen in dieſem Prozeß. Allein die Rechts-

kraft betrifft das einzelne Rechtsverhältniß, und dieſe ſollte

auch hier nicht ausgedehnt werden; hatte alſo der Kaiſer

in einem Erbſchaftsſtreit zwiſchen zwey Perſonen entſchie-

den, ſo ſollte auch dieſe höchſte Entſcheidung einer dritten

Perſon weder nutzen noch ſchaden. Zweytens haben ſie

den Gegenſatz verwechſelt mit dem einer ſtrengen und aus-

dehnenden Interpretation. Auch davon iſt hier gar nicht

die Rede, ſondern vielmehr von der zuläſſigen oder unzu-

läſſigen Anwendung derſelben (nicht ausgedehnten) Rechts-

regel auf künftige, völlig gleiche Rechtsfälle.

 

§. 24.

Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.

III. Reſcripte(a). Rescriptum heißt wörtlich eine

Rückſchrift, ein Antwortſchreiben. Dieſes konnte in Be-

 

nen mit den Deciſionen unſrer

Oberappellationsgerichte vergli-

chen werden.

(a) Schulting diss. pro re-

scriptis Imp. Rom. (Comm.

acad. Vol. 1 N. 3). Güyet Ab-

handlungen N. 4.

|0185 : 129|

§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.

ziehung auf die äußere Form, in verſchiedener Weiſe

erlaſſen werden: blos am Rande des empfangenen Schrei-

bens (adnotatio, snbscriptio): in einem abgeſonderten

Briefe (epistola): endlich in einer feyerlicheren Ausferti-

gung (pragmatica sanctio), deren canzleymäßige Geſtalt

wir nicht genau kennen (b). Allen dieſen Reſcripten wird

die Gültigkeit einer Lex zugeſchrieben, jedoch weſentlich

verſchieden durch engere Gränzen von der Gültigkeit der

Edicte. Was iſt nun darunter zu verſtehen? Damit

ihnen dieſe eigenthümliche Natur einer begränzten Gültig-

keit zukomme, müſſen wir nothwendig etwas hinzudenken,

was in jenem durch Form und Veranlaſſung beſtimmten

Begriff noch nicht enthalten iſt. Es giebt alſo Kaiſerliche

Briefe, die noch weniger Kraft haben, alſo überhaupt gar

nicht einer Lex ähnlich wirken: andre, die ſtärker wirken,

frey von jenen engen Gränzen; beide müſſen wir abrech-

nen, und nur von den übrig bleibenden, in der Mitte lie-

genden, kann hier die Rede ſeyn: nur dieſe können uns

als Reſcripte im techniſchen Sinn gelten.

(b) Dieſe Form ſollte eigent-

lich nur bey wichtigeren Gelegen-

heiten gebraucht werden, nämlich

nur bey Reſcripten über Ange-

legenheiten des öffentlichen Rechts,

und zwar in Beziehung auf Cor-

porationen. L. 7 C. de div. re-

scr. (1. 23.). Daß jedoch dieſe

Beſchränkung nicht allgemein be-

obachtet wurde, zeigt ganz klar

Const. Summa § 4: „Si … pra-

gmaticae sanctiones … alicui

personae impertitae sunt” ....

Sehr reichhaltiges Material zu

dieſer Unterſuchung findet ſich in

J. H. Böhmer exerc. ad Pand.

l. ex. 12. C. 1, der jedoch darin

irrt, daß er jene geſetzliche Be-

ſchränkung der Anwendung der

pragm. sanct. als den Begriff

derſelben behandelt.

9

|0186 : 130|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Alſo weniger Kraft als eigentliche Reſcripte haben

zuvörderſt alle Briefe von nicht geſchäftlichem Inhalt, die

ohnehin Jeder ſtillſchweigend wegdenkt, obgleich Name und

Form ſie nicht ausſchließen. Aber auch unter den geſchäft-

lichen, die wir als Verfügungen bezeichnen können, müſſen

wir ferner unterſcheiden diejenigen, welche gar nicht eine

Regel anwenden, ſondern bloße Willkühr ausüben wollen,

wie z. B. individuelle Ausnahmen von der Anwendung

der Geſetze (§ 16), Unterſtützungen, Verweiſe (c). Dieſe

haben in ihrer Wirkung zwar gleiche Kraft mit einer Lex,

nämlich für die Perſon und den Fall wofür ſie erlaſſen

ſind, und jeder Richter hat ſie als ſolche zu reſpectiren.

Dagegen können ſie durchaus nicht als Autorität eine

Regel darbieten für die Behandlung anderer Fälle, da ſie

ſelbſt ja überhaupt auf keiner Regel beruhen.

 

Mehr Kraft als eigentliche Reſcripte haben auf der

andern Seite diejenigen Anſchreiben, welche eine Regel

als ſolche zur allgemeinen Befolgung vorſchreiben, und

zu dieſem Zweck öffentlich bekannt gemacht werden. Dieſe

ſind wahre Geſetze von unbegränzter Gültigkeit, bey wel-

chen die zufällig gewählte Briefesform, ſelbſt auch die

Veranlaſſung durch Frage oder Antrag, worauf ſie geſetz-

gebend antworten, durchaus keinen Unterſchied von ande-

ren Geſetzen begründen kann. In früherer Zeit zwar

 

(c) Sie heißen personales

constitutiones. L. 1 § 2 de const.

(1. 4.), § 6 J. de j. nat. (1. 2.).

Neuere Schriftſteller nennen ſie

Gnadenreſcripte, was jedoch zu

eng iſt, und z. B. auf Verweis

und Beſtrafung gewiß nicht paßt.

|0187 : 131|

§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.

nannte man auch dieſe, von ihrer äußeren Form her, Ge-

neralbriefe oder Generalreſcripte (d), ohne dadurch eine

begränzte Gültigkeit andeuten zu wollen. Späterhin aber,

als dieſe Form der Geſetzgebung die vorherrſchende wurde,

wandte man auch nicht einmal dieſen Namen ferner auf

ſie an, ſondern begriff ſie unter dem allgemeinen Namen

leges, edicta, edictales constitutiones (e). Die öffentliche

Bekanntmachung, die aus der Geſtalt, worin wir ſie ken-

nen, meiſt nicht erhellt, verſtand ſich dabey von ſelbſt,

(d) L. 1 § 2 de fugit. (11. 4.)

„Est etiam generalis epistola

D. Marci et Commodi, qua de-

claratur, et praesides et ma-

gistratus, et milites stationarios

dominum adjuvare debere in

inquirendis fugitivis” etc. L. 3

§ 5 de sepulchro viol. (47. 12.)

„D. Hadrianus rescripto poe-

nam statuit quadraginta aureo-

rum in eos qui in civitate se-

peliunt, quam fisco inferri jus-

sit, et in magistratus eadem

qui passi sunt … quia genera-

lia sunt rescripta, et oportet

Imperialia statuta suam vim

obtinere et in omni loco va-

lere.” — Eben dahin gehört viel-

leicht die epistola D. Hadriani

über die Bürgſchaften § 4 J. de

fidej. (3. 20.). Gajus III § 121.

122. — In den beiden zuerſt

genannten Fällen eignete ſich die

Sache zu dieſer Behandlung durch

ihre polizeyliche Natur. Solche

Reſcripte waren daſſelbe, was

wir Circularreſcripte nennen, an

viele Behörden zu gleicher Zeit

gerichtet.

(e) So z. B. nennt Juſtinian

in L. 5 pr. C. de receptis (2.

56.) ſeine eigene frühere Verord-

nung (L. 4 eod.) eine lex, ob-

gleich dieſelbe ein Anſchreiben an

den Praefectus praetorio gewe-

ſen war. Noch entſcheidender iſt

hierin der Theodoſiſche Codex,

der faſt ganz aus ſolchen An-

ſchreiben beſteht, und deſſen Be-

ſtandtheile dennoch von dem Ur-

heber ſelbſt als „constitutiones …

edictorum viribus aut sacra

generalitate subnixae”, und

„edictales generalesque consti-

tutiones” bezeichnet werden. L.

5. 6 C. Th. de const. (1. 1.) ed.

Hänel. — Hierüber irrt Güyet

S. 84, der ſich durch die äußere

Form dieſer Anſchreiben verleiten

läßt, ſie unter die Reſcripte zu

zählen und den Edicten entgegen

zu ſetzen, woraus er dann ferner

Folgerungen für die wahren ei-

gentlichen Reſcripte ableitet, vgl.

oben § 23 Note g.

9*

|0188 : 132|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

und wurde von den Staatsbeamten, an die ſie gerichtet

waren, nach allgemeinen Vorſchriften bewirkt, ohne daß

es dazu in jedem einzelnen Fall einer beſonderen Anwei-

ſung bedurfte; zuweilen jedoch wurde dieſe Anweiſung in

der Verordnung ſelbſt ausgedrückt (f). Eben ſo konnten

auch die pragmaticae sanctiones eigentliche Geſetze ſeyn (g),

ſo daß bey ihnen wie bey den weniger förmlichen epistolae

immer noch Etwas hinzugedacht werden muß, wenn ſie

in das Gebiet der eigentlichen, in ihrer Gültigkeit begränz-

ten Reſcripte fallen ſollen.

Was iſt es nun alſo, das die eigentlichen Reſcripte

characteriſirt, und von den Edicten ſtreng unterſcheidet?

Es iſt ihre Beſtimmung, lediglich auf einen einzelnen

Rechtsfall einzuwirken, womit denn von ſelbſt verbunden

iſt der Mangel jeder öffentlichen Bekanntmachung. Da-

gegen haben ſie mit anderen Conſtitutionen das gemein,

daß ſie auf einer Regel beruhen, und dieſe Regel aus-

ſprechen, jedoch nur zum Zweck dieſer concreten Anwen-

dung. Übrigens kommen bey ihnen folgende wichtige Un-

terſchiede vor.

 

1. Sie werden erlaſſen auf die Anfrage bald einer

einzelnen Partey (libellus), bald einer Richterbehörde (h).

Dieſes letzte kommt beſonders in der wichtigen, zu einer

 

(f) Z. B. in L. un. C. de

grege domin. (11. 75.). Andere

Stellen ſind geſammelt bey Gü-

yet S. 74.

(g) So z. B. Juſtinians San-

ctio pragmatica pro Petitione

Vigilii über die Einrichtung von

Italien nach der vollendeten Ero-

berung.

(h) L 7 pr. C. de div. rescr.

(1. 23.).

|0189 : 133|

§. 21. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.

beſonderen Prozeßform ausgebildeten Anwendung vor, da

ein Richter den Kaiſer bittet, ihm das auszuſprechende

Urtheil vorzuſchreiben (relatio, consultatio). Hier erſcheint

der Kaiſer nicht ſelbſt als Richter, ſondern als Urtheils-

faſſer für einen andern Richter, ganz wie unſre Juriſten-

facultäten bey der Actenverſendung. Daher wird eine

ſolche Verfügung und die Reſcripte nicht unter die De-

crete gerechnet. Juſtinian hat dieſe Conſultationen ver-

boten, was jedoch nicht ſo unbedingt verſtanden werden

darf, als es nach den Worten ſcheinen könnte (i).

2. Die in ihnen enthaltene Regel iſt bald mit der ein-

zelnen Entſcheidung verwebt, bald abgeſondert ausgeſpro-

chen, und dann als Grund der Entſcheidung benutzt, ſo

daß ſie in derſelben Geſtalt auch als Geſetz hätte aufgeſtellt

werden können, was nur hier nicht geſchehen iſt. Solche

Reſcripte heißen generalia reseripta, in einem andern Sinn,

als in welchem der Ausdruck oben vorgekommen iſt (k).

 

(i) Über die Conſultationen

vgl. überhaupt Hollweg Civil-

prozeß I § 10. — Die Aufhebung

derſelben iſt enthalten in der

Nov. 125 vom J. 544. Daß dieſe

Aufhebung nicht unbedingt gelten

ſollte, kann erſt in der Lehre von

der Auslegung der Geſetze § 48

gezeigt werden. Außerdem aber

verſteht es ſich von ſelbſt, daß

wenn ein Richter, trotz des Ver-

bots dennoch anfragte, und der

Kaiſer ſich zu einer Antwort ent-

ſchloß, der Richter daran ſo gut

als vor der Nov. 125 gebunden

war. Eben ſo wenn der Kaiſer

aus eigener Bewegung oder auf

Bitte einer Partey, ein Reſcript

an den Richter erließ. Die

Wirkung der Reſcripte auf einen

einzelnen Rechtsſtreit war alſo

jetzt zwar beſchränkt worden, aber

keinesweges ganz aufgehoben.

(k) L. 89 § 1 ad L. Falc.

(35. 2.) „generaliter fescripse-

runt”, L. 1 § 3 de leg. tut. (26.

4.) „generaliter rescripsit”, L.

9 § 2 de her. inst. (28. 5.) „re-

scripta generalia”, L. 9 § 5 de

jur. et facti ign. (22. 6.) „ini-

|0190 : 134|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

3. Die von ihnen angewendete Regel iſt oft ſchon in

dem bisherigen Recht vollſtändig enthalten, ſo daß der

Kaiſer in derſelben Weiſe, wie ein reſpondirender Juriſt,

thätig iſt; oft aber wird in dem Reſcript das bisherige

Recht durch freye Interpretation fortgebildet. Dieſes ge-

ſchieht beſonders da, wo polizeyliche oder ſtaatswirth-

ſchaftliche Rückſichten die neue Regel beſtimmen, und wo

kein Recht einer andern Perſon dadurch gefährdet wird (l).

 

Die Wirkſamkeit der Reſcripte läßt ſich in folgenden

Regeln zuſammenfaſſen: 1) Sie ſollten Geſetzeskraft haben

für den einzelnen Fall, worin ſie erlaſſen waren. 2) Für

jeden andern Fall ſollten ſie dieſe Geſetzeskraft nicht haben.

3) Dagegen wirkten ſie auch auf andere Fälle mit der

Kraft einer großen Autorität.

 

Die Geſetzeskraft für den einzelnen Fall folgt daraus,

daß ihnen dieſelbe in den Digeſten und Inſtitutionen im

Allgemeinen beygelegt (§ 23), im Codex aber für jeden ande-

ren Fall, als für welchen ſie erlaſſen waren, abgeſprochen

wird, ſo daß die Anwendbarkeit der Geſetzeskraft gerade

 

tium constitutionis generale

est.” — Die in dieſen Stellen

angeführten Reſcripte beziehen

ſich auf einzelne Rechtsfälle, und

unterſcheiden ſich dadurch von

den in der Note d. angeführten

Generalreſcripten. Der Ausdruck

generale rescriptum ſoll aber

doch auf der andern Seite hier

mehr bedeuten, als blos den Ge-

genſatz gegen personalis consti-

tutio (Note c).

(l) Beide Rückſichten zugleich

erklären es, warum vorzüglich

die Lehre von den Excuſationen

ſo ſehr durch bloße Reſcripte er-

weitert wurde. Fragm. Vatic.

§ 191. 208. 247. — § 159. 206.

211. 215. 246. — Beſonders merk-

würdig iſt § 236, worin die Ab-

ſicht einer Neuerung geradezu

ausgeſprochen iſt: „quo rescripto

declaratur ante eos non ha-

buisse immunitatem.”

|0191 : 135|

§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung

nur für dieſen einzelnen Fall übrig bleibt. Sie hat hier

den Sinn, daß jeder über dieſen Fall urtheilende Richter,

dem das Reſcript vorgelegt wird, an deſſen Befolgung

ſtrenge gebunden iſt, ohne ſeiner eignen Überzeugung Raum

geben zu dürfen. Dieſe große Wirkung war vorzüglich

wichtig, wenn nicht ein Richter, ſondern eine Partey ſie

ausgewirkt hatte; hier erſcheinen ſie als ein der Perſon

erworbenes Recht, welches auch von Erben und Streit-

genoſſen, und auch noch nach längerer Zeit geltend ge-

macht werden konnte (m). Aber in demſelben Fall waren

ſie auch beſonders gefährlich, ſchon wegen der möglichen

Verfälſchung, noch weit mehr aber, weil ſie durch

unwahre oder einſeitige Darſtellung der Thatſachen bewirkt

ſeyn konnten. Gegen die Verfälſchung ſuchte man Schutz

in genauen Vorſchriften über Form und Kennzeichen der

Reſcripte (n). Wegen unrichtiger Darſtellung der That-

ſachen war es ſtets der Gegenpartey geſtattet, ein beſon-

deres Proceßverfahren einzuleiten (o). Damit hieng auch

die Vorſchrift zuſammen, daß jedes Reſcript ungültig ſeyn

ſollte, welches entweder mit dem Staatsintereſſe in Wi-

derſpruch ſtände, oder mit anerkannten Rechtsregeln (contra

jus) (p). Durch dieſe letzte Beſtimmung wollten nicht etwa

(m) L. 4. 12 (ſonſt 2 und

10) C. Th. de div. rescr. (1. 2.),

L. 1. 2 C. de div. rescr. (1. 23.).

(n) L. 3. 4. 6 C. de div. re-

scr. (1. 23.), L. 1 C. Th. eod.

(1. 2.).

(o) L. 7 C. de div. rescr.

(1. 23.), L. 2. 3. 4. 5. C. si con-

tra jus (1. 22.). Darauf bezieht

ſich auch die gegen Reſcripte (d.

h. gegen die auf ſie gegründete

Urtheile) zugelaſſene Appellation.

L. 1 § 1 de appell. (49. 1.).

(p) L. 2 (ſonſt 1) Cod. Th.

|0192 : 136|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

die Kaiſer der Fortbildung des Rechts durch ihre Re-

ſcripte entſagen; vielmehr war hier an ſolche Reſcripte

gedacht, worin die Kaiſer durch unwahre Darſtellung

verleitet ſeyn möchten, wider ihren Willen die beſtehenden

Rechtsregeln zu verletzen. — Erwägt man dieſe mit der

Geſetzeskraft der Reſcripte verbundenen Gefahren, ſo hätte

man es allerdings für zweckmäßiger halten mögen, wenig-

ſtens an die Parteyen gar keine Reſcripte in Rechtsſachen

zu erlaſſen, wie es auch in der That Trajan gehalten

haben ſoll: auch iſt durch dieſe Betrachtung Juſtinian zu-

letzt bewogen worden, den Richtern die Beachtung der

Privatreſcripte zu unterſagen, mithin die Geſetzeskraft der-

ſelben gänzlich aufzuheben (q).

Dagegen wurde den Reſcripten die Geſetzeskraft für

andere Fälle, als den, wofür ſie erlaſſen waren, wieder-

holt und auf das Beſtimmteſte abgeſprochen. Dieſes ge-

ſchah in beſonderer Anwendung auf die durch consultatio-

nes der Richter veranlaßte Reſcripte (r), bey welchen eine

 

de div. rescr. (1. 2.), L. 6 C.

si contra jus (1. 22.), L. 3. 7.

C. de precibus (1. 19.), Nov. 82.

C. 13.

(q) Capitolini Macrinus C.

13 „quum Trajanus nunquam

libellis responderit.” Er wollte

alſo nur an die Obrigkeiten Re-

ſcripte erlaſſen, nicht an Par-

teyen. Mehrere Reſcripte von

Trajan ſind zuſammengeſtellt von

Schulting diss. pro rescriptis

§ 15. — Juſtinian hat die Beach-

tung der Privatreſcripte verbo-

ten in der Nov. 113 C. 1 vom

J. 541.

(r) L. 11 (ſonſt 9) C. Th.

de div. rescr. (1. 2.), L. 2 C.

de leg. (1. 14.) „Quae ex re-

lationibus … vel consultatione

… statuimus … nec generalia

jura sint, sed leges faciant his

duntaxat negotiis atque perso-

nis, pro quibus fuerint pro-

mulgata.” L. 13 C. de sentent.

et interloc. (7. 45) „Nemo ju-

dex vel arbiter existimet, ne-

que consultationes, quas non

|0193 : 137|

§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.

ſolche weitere Wirkſamkeit noch am unbedenklichſten hätte

erſcheinen können; daraus folgte aber dieſelbe Einſchrän-

kung für die Privatreſcripte ſo ſehr von ſelbſt, daß es

nicht einmal nöthig ſchien ſie beſonders auszuſprechen.

Dieſe Einſchränkung hatte zunächſt den Grund, daß durch die

Rückſicht auf den einzelnen Rechtsfall, und beſonders auf den

vielleicht ganz unwahren Vortrag der Partey, auch die aus-

rite judicatas esse putaverit,

sequendum … cum non exem-

plis sed legibus judicandum

sit.” Dieſe letzte Stelle iſt in

zweyerley Rückſicht beſonders wich-

tig: erſtlich weil ſie in den hier

abgedruckten Worten ausdrücklich

ſagt, wovon die Rede iſt, näm-

lich von der Anwendung der ein-

mal angenommenen Regel auf

neue Fälle gleicher Art: zweytens

weil ſie mit den Conſultationen

(d. h. mit den durch dieſe veran-

laßten Reſcripten) zuſammenſtellt

die Urtheile mehrerer hohen Ge-

richtshöfe, aber nicht die des Kai-

ſers ſelbſt. Durch deren Aus-

laſſung iſt jeder Widerſpruch der

Stelle mit L. 12 pr. C. de leg.

(1. 14.) (§ 23 Note o.) ſehr vor-

ſichtig vermieden. Es wird alſo

unterſchieden zwiſchen den Ur-

theilsſprüchen des Kaiſers ſelbſt,

über eine vor ihm verhandelte

Sache, und den Urtheilen der

Richter, welchen nur ein Re-

ſcript des Kaiſers zum Grunde

lag. Denn dieſe letzten Urtheile

hatten mit jenen erſten weder

gleiche Publicität, noch gleiche

Zuverläſſigkeit, da in ihnen noch

immer ein Misverſtändniß über

den Sinn des Reſcripts denkbar

war. — Viele wollen ausnahms-

weiſe den Reſcripten eine allge-

meine Kraft beylegen, wenn ſie

eine authentiſche Interpretation

enthalten, weil L. 12 § 1 C. eod.

ſagt: „interpretationem, sive

in precibus, sive in judiciis,

sive alio quocunque modo

factam, ratam et indubitatam

haberi.” (Glück. I § 96 N. III.).

Allein gültig waren ja auch die

Reſcripte, ſogar wie Geſetze gül-

tig, nur beſchränkt auf den ein-

zelnen Fall. Hätte ihnen hier

Juſtinian eine allgemeine Gül-

tigkeit beylegen wollen, im Wi-

derſpruch mit den angeführten

andern Stellen, ſo würde er das

nicht in den beyläufigen Worten

sive in precibus angedeutet, ſon-

dern eben ſo ausdrücklich geſagt

haben, wie er es unmittelbar

vorher von den Decreten wirk-

lich geſagt hat.

|0194 : 138|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R

geſprochene Regel ſelbſt leicht eine ſo einſeitige Geſtalt

erhalten konnte, daß ihre allgemeine Anwendung ſehr be-

denklich werden mußte. Dazu kam aber der noch durch-

greifendere Grund, daß den Reſcripten die öffentliche Be-

kanntmachung fehlte. Dieſer Grund paßt auf die inter-

pretirenden Reſcripte ſo gut als auf alle anderen, und

es iſt unrichtig, wenn jenen eine verbindliche Kraft für

andere Fälle von Manchen beygelegt wird, was jedoch

erſt unten ganz klar gemacht werden kann (§ 47). — Auch

bey den Reſcripten, wie bey den Decreten (§ 23), iſt dieſe

Einſchränkung in neuerer Zeit häufig misverſtanden wor-

den. Auch hier hat man ſie mit dem Verbot einer aus-

dehnenden Interpretation verwechſelt, da doch nur von

der Anwendung derſelben (gar nicht erweiterten Regel) auf

neue Fälle ganz gleicher Art die Rede war. Auch hier

hat man die Einſchränkung verwechſelt mit der Rechtsre-

gel, daß ein rechtskräftiges Urtheil nur unter den Par-

teyen gelte. Davon war aber hier noch weniger als bey

den Decreten die Rede, ja es konnte hier nicht die Rede

davon ſeyn. Denn wenn z. B. der Teſtamentserbe ein

Teſtament von bedenklicher Gültigkeit dem Kaiſer vor-

legte, und der Kaiſer durch Reſcript die Gültigkeit aner-

kannte, ſo konnte davon der Teſtamentserbe gegen jeden

Inteſtaterben Gebrauch machen, indem ein beſtimmter

Gegner in der Bittſchrift nicht einmal bezeichnet zu ſeyn

brauchte.

Aber auch nur die Geſetzeskraft für andere Fälle ſollte

 

|0195 : 139|

§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.

den Reſcripten entzogen ſeyn, nicht die Einwirkung, die

ſie als große Autoritäten darauf haben konnten (s). Dieſe

zu verbieten war unmöglich, ja es konnte nicht einmal

als wünſchenswerth erſcheinen. Vielmehr lag eben hierin

ein vorzügliches Mittel der Fortbildung des Rechts, und

es liegt in den Digeſten vor unſren Augen, wie fleißig

die alten Juriſten dieſes Mittel benutzt haben. Die Ge-

fahr vor ſchlechten Reſcripten war bey dieſer Art des

Gebrauchs nicht bedeutend, da der Character einer bloßen

Autorität die Kritik und Verwerfung einzelner Reſcripte

niemals ausſchloß. Dennoch ſoll einmal wegen dieſer Ge-

fahr der Kaiſer Macrinus den Gedanken gehabt haben,

alle alten Reſcripte aufzuheben, was offenbar nur auf

dieſe Autorität zu beziehen iſt (t).

(s) Manche ſcheinen die von

Gajus und Ulpian den Reſcrip-

ten beygelegte legis vis auch

wohl von dieſem Einfluß als Au-

torität zu verſtehen, aber gewiß

unrichtig. Dieſe Juriſten wuß-

ten ihre Ausdrücke beſſer zu wäh-

len, als man ihnen hier zutraut.

Meynten ſie etwas ſo Unbeſtimm-

tes, wie Einfluß und Wirkſam-

keit überhaupt, ſo würde Gajus

die legis vis bey dem jus hono-

rarium nicht ausgelaſſen haben:

eben ſo hätte er im § 7 nicht

blos die responsa prudentium

genannt, ſondern die weit mehr

ins Große wirkende Auctoritas

Prudentium. — Eben ſo aber

wäre es auf der anderen Seite

irrig, den unbeſtimmten Ausdruck

des Gajus (I § 5) ſo zu deuten,

als wollte er den Reſcripten eine

eben ſo allgemein verbindende

Kraft, wie den Edicten der Kai-

ſer, zuſchreiben. Eben ſo ſchein-

bar allgemein legt er im § 7 den

Reſponſen „legis vicem” bey,

und nur erſt aus dem folgenden

Gegenſatz wird es beyläufig klar,

daß doch nur von der geſetzlich

bindenden Kraft für den judex

des einzelnen Rechtsſtreits

die Rede ſeyn ſollte.

(t) Capitolini Macrinus C.

13. „Fuit in jure non incalli-

dus, adeo ut statuisset omnia

rescripta veterum principum

tollere, ut jure non rescriptis

ageretur, nefas esse dicens le-

ges videri Commodi et Cara-

|0196 : 140|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Von dieſem Geſichtspunct aus erklären ſich leicht alle

Erſcheinungen, die wir bey den Reſcripten finden. Es

erklärt ſich, daß die Juriſten davon eine ſehr umfaſſende

Kenntniß haben konnten, da ſie ſelbſt meiſt in der Nähe

des Kaiſers lebten, oft die Abfaſſung der Reſcripte be-

ſorgten, noch öfter aber freyen Zutritt zu den Archiven

haben konnten (u). Es erklärt ſich, daß ſie ſchon frühe

Sammlungen der Reſcripte in der Form von Büchern

bekannt machten (v). Es erklärt ſich aber auch, daß ſie

nicht ſelten das Gegentheil lehrten von dem, was in

einem Reſcript enthalten war, entweder weil ſie es zufäl-

 

calli et homin um imperitorum

voluntates, quum Trajanus nun-

quam libellis responderit, ne

ad alias causas facta praefer-

rentur, quae ad gratiam com-

posita viderentur.” Jenes Vor-

haben des Kaiſers konnte nur

auf die Autorität der Reſcripte

für die Zukunft gehen, denn die

Rechtsfälle ſelbſt, worin die ve-

teres principes reſcribirt hat-

ten, waren ja damals längſt er-

ledigt und vergeſſen.

(u) Es iſt alſo nicht nöthig,

wegen dieſer ſehr gewöhnlichen

Bekanntſchaft mit den Reſcripten,

eine öffentliche Bekanntmachung

derſelben anzunehmen, wie es

von Güyet a. a. O. S. 74 ge-

ſchieht.

(v) So z. B. Papirii Justi

libri XX constitutionum, wel-

ches nach den erhaltenen Frag-

menten Reſcripte waren. Spä-

terhin der Gregorianiſche und

Hermogenianiſche Codex wenig-

ſtens zum großen Theil. — Fer-

ner gehören dahin ohne Zweifel

die Semestria des D. Marcus,

halbjährige Sammlungen einer

Auswahl der wichtigſten Re-

ſcripte (vielleicht auch Decrete)

des Kaiſers, vielleicht von Pri-

vatperſonen veranſtaltet, vielleicht

auch vom Kaiſer ſelbſt, in wel-

chem Fall dieſes als eine Art von

geſetzlicher Publication hätte gel-

ten können. Vgl. darüber Bris-

sonius v. Semestria, Cujacius

in Papin. L. 72 de cond., Opp.

IV. 489, deren Erklärung der

Semestria ich nicht für richtig

halte.

|0197 : 141|

§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.

lig nicht kannten, oder weil ſie deſſen Inhalt als unrich-

tig verwarfen (w).

Aus dieſer Zuſammenſtellung der in verſchiedenen Zei-

ten über die Reſcripte erlaſſenen Vorſchriften ergiebt es

ſich, daß ſie zwar noch zur Zeit der Juſtinianiſchen Rechts-

bücher von der größten Wichtigkeit waren, daß aber ihr

Einfluß durch die Geſetzgebung der Novellen faſt ganz

vernichtet worden iſt.

 

IV. Mandate. Dieſes waren Inſtructionen der Kai-

ſer an Beamte, die in ihrem Auftrag zu handeln hatten.

Regelmäßig kamen ſolche vor bey den Legaten, die in den

Kaiſerlichen Provinzen als Stellvertreter der Kaiſer ver-

walteten, ſo wie ja auch die gewöhnlichen Proconſuln

Mandate erlaſſen konnten (wohin z. B. die mandata juris-

dictio gehört). Solche Mandate hatten in der Provinz

daſſelbe Anſehen wie die Provinzialedicte. Daß ſie weit

ſeltener als andere Arten der Conſtitutionen erwähnt wer-

den, erklärt ſich wohl aus der im Verhältniß zum ganzen

Reich abhängigeren Lage der Provinzen, in welchen daher

nur ſelten die Fortbildung des gemeinen Römiſchen Rechts

ihren Anfang nehmen mochte. Die meiſten Mandate, von

welchen wir Nachricht haben, betreffen das Criminalrecht

oder Polizeyvorſchriften (x). Ein bedeutender Fall, in

welchem ſie bey einem neuen Satz des Privatrechts ange-

 

(w) Stellen ſolcher Art finden

ſich geſammelt bey Güyet a. a. O.

S. 55 fg.

(x) Brissonius de formulis

Lib. 3 C. 84.

|0198 : 142|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

führt werden, betrifft die Militärteſtamente (y): allein hier

erklärt es ſich leicht aus der Natur des Gegenſtandes,

da ein Feldzug, welcher bey einem ſolchen Teſtament

vorausgeſetzt wird, nur in Provinzen vorkommen konnte,

und daher auch in ſolchen hauptſächlich dieſer Rechtsſatz

zur Anwendung zu bringen war. Eben ſo gründete ſich

auf Mandate das Verbot der Ehe zwiſchen Römiſchen

Provinzialbeamten und Frauen aus dieſer Provinz (z). —

Gajus und Ulpian übergehen die Mandate in der Auf-

zählung der Arten der Conſtitutionen: dieſes kann eben

aus der erwähnten geringeren Wichtigkeit herrühren: viel-

leicht auch daher, daß ſie auf den Umfang einzelner Provinzen

beſchränkt waren, ſo daß ihnen eben ſo wenig, als dem

jus honorarium, die den übrigen Conſtitutionen zukom-

mende legis vis beygelegt werden konnte.

Das Reſultat dieſer Unterſuchung über die Wirkſam-

keit der Kaiſerconſtitutionen läßt ſich in folgenden Sätzen

zuſammenfaſſen. Die Edicte und Mandate waren

eigentliche Geſetze, für Richter und Parteyen gleich ver-

pflichtend: die Mandate natürlich nur in den Provinzen,

wofür ſie erlaſſen waren. Die Reſcripte hatten Ge-

ſetzeskraft nur für den einzelnen Fall, wofür ſie erlaſſen

waren; ſeit Juſtinians neueſten Vorſchriften auch hier nur

 

(y) L. 1 pr. de test. mil. (29.

1.) „et exinde mandatis inseri

coepit caput tale: Cum in no-

titiam” etc.

(z) L. 2 § 1 de his quae ut

ind. (34. 9.), L. 6 C. de nupt.

(5. 4.).

|0199 : 143|

§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.

ſehr beſchränkt, indem die an Privatperſonen erlaſſenen

ganz unbeachtet bleiben ſollten, den Richtern aber, der

Regel nach (mit Ausnahme der zweifelhaften Geſetzausle-

gung) unterſagt wurde, Reſcripte einzuholen. Decrete

waren für den einzelnen Fall wie rechtskräftige Urtheile;

inſoferne ſie Endurtheile enthielten (nicht bloße Interlo-

cute), ſollte die in ihnen ausgeſprochene Rechtsregel als

wahres Geſetz allgemeine Gültigkeit haben. — Daneben

aber hatten alle Arten der Conſtitutionen, ohne Rückſicht

auf dieſe Unterſchiede und Einſchränkungen, überall die

natürliche Kraft großer Autoritäten für Jeden, der zufäl-

lig Kenntniß von ihnen erhalten hatte.

Für alle dieſe Arten der Kaiſergeſetze machte Juſti-

nians Codex einen großen Abſchnitt. Was hier aufge-

nommen wurde, erhielt Geſetzeskraft, wenngleich es als

Reſcript oder Decret dieſelbe für künftige Fälle bisher

nicht gehabt hatte: das nicht Aufgenommene war eben

dadurch als Geſetz abgeſchafft (aa). Die hier aufgeſtellten

Regeln alſo ſollten von nun an auf diejenigen Conſtitutio-

nen Anwendung finden, welche nach der Bekanntmachung

des Codex, von Juſtinian oder ſeinen Nachfolgern erlaſſen

werden würden.

 

Als eine Art von Anhang oder Surrogat der Kaiſer-

 

(aa) Const. Summa § 3. —

Damit ſollten aber nicht auch die

Privilegien aufgehoben ſeyn, die

etwa einer Corporation oder ei-

nem Einzelnen durch Reſcripte

ertheilt ſeyn möchten. ibid. § 4.

|0200 : 144|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

lichen Geſetzgebung konnten betrachtet werden die Edicte

oder generales formae der Praefecti Praetorio. Schon

Alexander Sever gab ihnen allgemein verbindliche Kraft,

wenn ſie den Geſetzen nicht widerſprächen, und ſo lange

der Kaiſer nicht anders verfügen würde (bb). Juſtinian

beruft ſich auf einzelne derſelben wie auf Geſetze (cc).

Einige Bruchſtücke von ſolchen haben ſich hinter unſrer

Novellenſammlung erhalten (dd). Caſſiodor ſchreibt dem

Präfecten eine gleichſam geſetzgebende Gewalt zu (ee).

§. 25.

Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht.

Quellen:

 

Dig. I. 3.

Cod. VIII. 53.

Cod. Th. V. 12.

Bey Cicero findet ſich, mitten unter ziemlich verwor-

renen Gedanken, folgende merkwürdige Äußerung über

das Gewohnheitsrecht. „Es giebt eine Regel des Lebens,

ſagt er, die nicht aus der Meynung der Einzelnen, ſon-

dern aus einer unſrer ſittlichen Natur inwohnenden Noth-

wendigkeit entſpringt. In der Gemeinſchaft der zuſammen

 

(bb) L. 2 C. de off. praef.

praet. Or. et Ill. (1. 26.). Das

war damals für das ganze Reich

zu verſtehen, ſeit Conſtantin für

jede Präfectur beſonders, ſo wie

vormals bey den Provinzialedicten

der Proconſuln.

(cc) L. 16 C. de jud. (3. 1.).

L. 27 C. de fidejuss. (8. 41.).

(dd) Nov. 165. 166. 167. 168.

Vgl. Biener Geſchichte der No-

vellen S. 98. 118.

(ee) Cassiodor. Var. VI. 3.

Formula Praef. Praet. „Pene

est ut leges possit condere” etc.

|0201 : 145|

§. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht.

lebenden Menſchen wird dieſe Regel theils, wo ſie nur

als unbeſtimmte Richtung vorhanden war, zu beſtimmter

Geſtalt ausgebildet, theils erweitert, theils als unverän-

derliche Sitte befeſtigt.” Dieſem Allen ſetzt er nachher

die lex, oder die poſitive, durch Willkühr gebildete Regel

entgegen (a). — Bey den alten Juriſten finden wir das

Gewohnheitsrecht nicht in der ihm zukommenden Ausdeh-

nung und Wichtigkeit anerkannt. Dieſes erklärt ſich leicht

daraus, daß zu ihrer Zeit der größte Theil des alten

nationalen Gewohnheitsrechts ſchon längſt in andere

Rechtsformen übergegangen war, alſo nicht mehr in ſei-

ner urſprünglichen Geſtalt erſchien (§ 15. 18). Zur Er-

zeugung eines neuen allgemeinen Gewohnheitsrechts auf

dem rein volksmäßigen Wege war aber ihr Zeitalter we-

niger geeignet (§ 7). Daher war es meiſt nur partikulä-

res Gewohnheitsrecht, was ihnen im wirklichen Leben

vorkam, und auf dieſes beziehen ſich die meiſten Stellen

über Gewohnheitsrecht, die aus ihren Schriften erhalten

ſind (b). Dennoch ſind die Anſichten, die ſie darüber auf-

ſtellen, im Ganzen befriedigend, und wenn durch dieſelben

neuere Schriftſteller zu irrigen Meynungen verleitet worden

(a) Cicero de inventione II

53. 54. „Natura jus est, quod

non opinio genuit, sed quae-

dam innata vis inseruit, ut re-

ligionem, pietatem .... Consue-

tudine jus est, quod aut levi-

ter a natura tractum aluit et

majus fecit usus, ut religionem:

aut si quid eorum, quae ante

diximus, ab natura profectum,

majus factum propter consue-

tudinem videmus, aut quod in

morem vetustas vulgi appro-

batione perduxit.”

(b) Puchta Gewohnheitsrecht

I S. 71 fg.

10

|0202 : 146|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

ſind, ſo lag dieſes nur an der Unbeſtimmtheit des Aus-

drucks. Nach der Lehre der Römer iſt ein Rechtsſatz als

begründet anzuſehen, wenn er in langer, vieljähriger

consuetudo erſcheint, und der Grund ſeiner Gültigkeit iſt

der ſtillſchweigende consensus des populus, alſo derer,

die jenen Rechtsſatz üben (utentium, auch omnium) (c).

Dieſes wurde nun ſo misverſtanden, als ob die Gewöh-

nung den Entſtehungsgrund des Rechts enthielte, und als

ob die Bildung dieſes Rechts durch den willkührlichen

Entſchluß der Einzelnen bewirkt würde, alſo durch den

Willen derjenigen Perſonen, welche auch in den Comitien

die Geſetze machen. Dieſe letzte Deutung war beſonders

deshalb wichtig, weil dadurch das Gewohnheitsrecht in

unmittelbare Verbindung mit einer beſonderen Staatsver-

faſſung geſetzt zu ſeyn ſchien, wodurch es auf das kai-

ſerliche Rom und auf unſre Monarchien ſeine Anwend-

barkeit verlieren würde. Allein in der That iſt ihnen die

consuetudo nicht der Entſtehungsgrund dieſer Art des

Rechts, ſondern nur die ſinnliche Erſcheinung derſelben,

alſo das Mittel ſie zu erkennen, wie ſie ja auch die For-

men des geſchriebenen Rechts von dieſer Seite aufzufaſſen

pflegen (§ 22). Die Richtigkeit dieſer Anſicht ergiebt ſich

daraus, daß in mehreren Stellen die ratio, d. h. die ge-

meinſame unmittelbare Überzeugung von dem Daſeyn und

der Gültigkeit einer Rechtsregel, als eigentlicher Entſte-

(c) Gajus III § 82. Ulpian.

tit. de leg. § 4. L. 32—40 de

leg. (1. 3.). § 9. 11 J. de j. nat.

(1. 2.)

|0203 : 147|

§. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht.

hungsgrund, noch ueben der Gewohnheit ſelbſt genannt

wird (d). Eben ſo iſt consensus nicht ein willkührlicher

Entſchluß, der eben ſo gut auch in entgegengeſetzter Rich-

tung gedacht werden könnte, ſondern die aus innerer Noth-

wendigkeit übereinſtimmende Geſinnung. Daher iſt denn auch

der populus, dem dieſer consensus zugeſchrieben wird, nicht

ſowohl die Geſammtheit der in Tribus und Centurien in

irgend einem Zeitpunct eingeſchriebenen Bürger, als viel-

mehr die ideale, durch alle Generationen fortdauernde,

Römiſche Nation, die in den verſchiedenſten Verfaſſungen

ſtets als dieſelbe gedacht werden kann (e). Die Richtig-

keit dieſer Erklärung zeigt ſich zuvörderſt in dem hohen

Grad von Gewißheit, der als Grundcharacter des Ge-

wohnheitsrechts angegeben wird (f), und der offenbar einer

(d) L. 39 de leg. (1. 3.) „Quod

non ratione introductum, sed

errore primum, deinde consue-

tudine obtentum est: in aliis

similibus non obtinet.” (Die

alia similia ſind die künftigen

ganz gleichen Fälle.) L. 1 C.

quae sit. l. c. (8. 53.) „Nam

et consuetudo praecedens, et

ratio quae consuetudinem sua-

sit, custodienda est.” Vgl.

Puchta S. 61. 81.

(e) Gegen dieſe letzte Behaup-

tung wird mit vielem Schein

angeführt L. 32 § 1 de leg. (1.

3.), worin aus dem expressus

populi consensus in der lex

auf den tacitus in der consue-

tudo geſchloſſen wird. Allein erſt-

lich ſoll hier durch dieſe Verglei-

chung nicht ſowohl die Gültigkeit

der Gewohnheit ſelbſt, als viel-

mehr die Art dieſer Gültigkeit

(das legis vice) dargethan wer-

den (Puchta S. 84). Zweytens

behaupte ich auch gar nicht, daß

ſich die alten Juriſten des Ge-

genſatzes in den Bedeutungen

von populus ſtets deutlich be-

wußt geweſen ſind. Die hier

vertheidigte Anſicht würde nur

dann widerlegt ſeyn, wenn die

alten Juriſten, gerade bey deut-

lichem Bewußtſeyn des Gegen-

ſatzes, die Geſammtheit der ci-

ves, und nicht die ideale Nation,

als Subject des Gewohnheits-

rechts anerkannt hätten.

(f) L. 36 de leg. (1. 3.): „quod

in tantum probatum est ut non

10*

|0204 : 148|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

gemeinſamen Volksüberzeugung angemeſſener iſt, als einem

willkührlichen Entſchluß Einzelner zu einzelnen wiederkeh-

renden Handlungen. Dann aber bewährt ſich die Rich-

tigkeit jener Erklärung auch in den Bedingungen und

Kennzeichen, die uns für das Gewohnheitsrecht angege-

ben werden.

Es ſoll nämlich ein Gewohnheitsrecht erkannt werden

in der gemeinſamen Uberzeugung der Rechtskundigen, der

Prudentium auctoritas (g). Dieſe können nun ſehr wohl

das Organ ſeyn, worin das gemeinſame Volksbewußtſeyn

in beſonderer Kraft und Beſtimmtheit lebt und wirkt

(§ 14), dagegen würde es ſehr unpaſſend ſeyn, durch ihren

willkührlichen Entſchluß die ganze Nation binden zu laſſen.

Und doch ſoll für dieſe, und nicht für die Juriſten allein,

das Gewohnheitsrecht gelten. — Ferner wird uns als ein

vorzügliches Erkenntnißmittel des Gewohnheitsrechts an-

gegeben die Übereinſtimmung richterlicher Erkenntniſſe (h).

Auch hierin liegt eine Beſtätigung unſrer Erklärung, indem

dieſe Erkenntniſſe ein beſonders glaubwürdiges Zeugniß

für das Daſeyn einer Volksüberzeugung ablegen können,

während der willkührliche Entſchluß der Richter unmög-

 

efurit necesse scripto id com-

prehendere.”

(g) L. 2 § 5. 6. 8. 12. de orig.

jur. (1. 2.).

(h) L. 38 de leg. (1. 3.), L.

1 C. quae sit l. consu. (8. 53.).

Ganz vorzüglich bey dem parti-

culären Gewohnheitsrecht L. 34

de leg. (1. 3.) (Puchta I S.

96). — Es iſt merkwürdig, daß

die res judicatae in der allge-

meinen Aufzählung der Rechts-

quellen bey den rhetoriſchen

Schriftſtellern ganz gewöhnlich

vorkommen, bey den alten Ju-

riſten nicht (§ 22). Anerkannt

übrigens waren ſie zu allen Zei-

ten (§ 12 Note b.).

|0205 : 149|

§. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht.

lich die Nation binden könnte. Ganz irrig aber wäre es,

den res judicatae an ſich, abgetrennt von Gewohnheits-

recht, eine ſolche Kraft beylegen zu wollen, da gerade im

Gegentheil ausdrücklich verordnet iſt, durch Präjudicien

allein ſolle ſich kein Richter beſtimmen laſſen (i). Das

kann alſo nur den Sinn haben, daß Präjudicien an ſich

ſelbſt ohne Einfluß, als Zeugniſſe für ein Gewohnheits-

recht aber von dem höchſten Einfluß ſeyn ſollen. — Zur

Ergänzung dieſer Bedingungen gehört noch die Regel,

daß ein erweislicher Irrthum das Daſeyn des Gewohn-

heitsrechts ausſchließt (k): ferner die andere, daß der

Kaiſer entſcheiden ſoll, wenn die Gewohnheit zu neu iſt,

um für ſich allein das Daſeyn eines gemeinſamen Be-

wußtſeyns außer Zweifel zu ſetzen (l). — Mehr findet

ſich im Römiſchen Recht über die Bedingungen des Ge-

wohnheitsrechts nicht. Namentlich iſt ihm ganz fremd die

Anſicht, daß daſſelbe, als eine bloße Thatſache, von dem-

jenigen bewieſen werden müſſe, der ſich darauf berufe (m).

Über die Wirkung des Gewohnheitsrechts endlich ſtellt

das Römiſche Recht den Grundſatz auf, daß es legis

vicem vertrete (n). Das heißt, nach der oben gegebenen

 

(i) L. 13 C. de sent. et in-

terloc. (7. 45.). S. o. § 24

Note r.

(k) L. 39 de leg. (1. 3.) ſ. o.

Note d. Puchta I. S. 99. Der

ganz natürliche Grund liegt darin,

daß die Gewohnheit nun die er-

weisliche Folge des Irrthums,

alſo nicht Ausdruck und Kenn-

zeichen eines gemeinſamen Rechts-

bewußtſeyns iſt, was ihr allein

Kraft verleihen kann.

(l) L. 11 C. de leg. (1. 14.).

(m) Puchta I. S. 110.

(n) S. o. § 22. Note x.

|0206 : 150|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Erklärung (§ 22), es wirkt nicht nur mit eben ſo entſchiedener

Kraft, ſondern auch in derſelben Weiſe, wie eine Lex, ſo daß

es durch ſeine Natur nicht auf einen beſtimmten Amtsſpren-

gel, noch auf beſtimmte Zeit, wie das jus honorarium, ein-

geſchränkt iſt. Mit dieſer Eigenſchaft ſteht aber die Mög-

lichkeit eines partikulären Gewohnheitsrechts keinesweges

im Widerſpruch, gerade ſo wie ja auch ein Geſetz für

eine einzelne Stadt oder Provinz erlaſſen werden kann.

Dieſe Wirkung kann ſich auf eine zwiefache Weiſe

äußern. Zuerſt als bloße Ergänzung, wenn der Ausdruck

des Geſetzes unbeſtimmt oder zweydeutig iſt (o), oder wenn

es über eine Rechtsfrage an einer geſetzlichen Beſtimmung

gänzlich fehlt (p). Dieſes letzte kann nun beſonders in

ſolchen Fällen des ſtädtiſchen Verkehrs Bedürfniß ſeyn,

worin es durchaus nöthig iſt, irgend eine feſte Beſtimmung

zu haben, während der Inhalt dieſer Beſtimmung ziem-

lich gleichgültig ſeyn kann. Fehlt es einer Stadt in ſol-

chen Fällen an einer beſtimmten Gewohnheit, ſo ſoll die

Gewohnheit der Stadt Rom befolgt werden (q), was nicht

blos in ihrer Würde als der erſten Stadt des Reichs

gegründet war, ſondern noch mehr darin, daß ſie urſprüng-

lich die Nation in ſich ſchloß. In einer Zeit alſo, worin

die Nation als Ganzes, wegen ihrer unbeſtimmten Aus-

breitung, eines gemeinſamen Rechtsbewußtſeyns weniger

 

(o) L. 38 de leg. (1. 3.).

(p) L. 32 pr. L. 33 de leg.

(1. 3.). Vgl. Puchta I. S. 87.

(q) L. 32 pr. de leg. (1. 3.)

„si qua in re hoc defecerit …

tunc jus, quo urbs Roma uti-

tur, servari oportet.”

|0207 : 151|

§. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht.

mächtig war, konnte füglich Rom als Vertreterin der

Nation gelten in der Erzeugung eines neuen Volksrechts,

wo dieſes nicht zu entbehren war. Dieſes Vorrecht wurde

im öſtlichen Reich auf Conſtantinopel übertragen (r), was

eine bloße Folge der allgemeinen Gleichſtellung beider

Städte war, und keinesweges durch ein ähnliches ge-

ſchichtliches Verhältniß gerechtfertigt wurde. Übrigens

kann dieſe Ergänzung in verſchiedenem Umfang vorkom-

men: bald für eine einzelne, bisher unbeachtete Seite eines

ſchon bekannten Rechtsinſtituts, bald als Erzeugung eines

ganz neuen Inſtituts, mithin als Erweiterung des Rechts-

ſyſtems ſelbſt. In dieſer wichtigeren Art werden die mo-

res erwähnt als Entſtehungsgründe der cura prodigi, der

verbotenen Schenkung unter Ehegatten, und der Pupillar-

ſubſtitution (s).

Zweytens kann ſich die Kraft des Gewohnheitsrechts

äußern im Widerſtreit mit dem Inhalt eines Geſetzes, ſey

es nun, daß es an die Stelle der geſetzlichen Regel eine

andere ſetze, oder aber jene lediglich aufhebe. Dieſe

Kraft dem Gewohnheitsrecht zuzuſchreiben, würden wir

ſchon durch die gänzliche Gleichſtellung im Ausdruck (legis

vis) genöthigt ſeyn. Sie iſt aber auch deutlich als all-

gemeine Regel ausgeſprochen (t). Und was vollends jeden

 

(r) L. 1 § 10 C. de vet. j.

enucl. (1. 17.) § 7 J. de satisd.

(4. 11.).

(s) L. 1 pr. de curat. (27.

10.), L. 1 de don. int. v. et ux.

(24. 1.), L. 2 pr. de vulg. et

pup. subst. (28. 6.).

(t) L. 32 § 1 de leg. (1. 3.).

„.... Quare rectissime etiam

illud receptum est, ut leges

|0208 : 152|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Zweifel entfernen muß, iſt der Umſtand, daß in allen

Zeiten der Römiſchen Geſchichte das Gewohnheitsrecht

dieſe Kraft auf die ausgedehnteſte Weiſe ausgeübt hat.

So iſt der ganze Theil des prätoriſchen Edicts, worin

das jus civile, und beſonders das Zwölftafelngeſetz corri-

girt wird, Nichts als ein abänderndes Gewohnheitsrecht,

an deſſen Gültigkeit nie ein Römer gezweifelt hat (u).

Eben ſo iſt die Wirkſamkeit des usus in der Ehe zum

Theil durch Gewohnheitsrecht abgeſchafft worden: des-

gleichen das zweyte Kapitel der lex Aquilia und die

interrogatoriae actiones (v). Juſtinian aber hat jene

Kraft des Gewohnheitsrechts in ſo vielen eigenen Vor-

ſchriften anerkannt, ohne irgend ein Bedenken dagegen zu

äußern, daß es kaum zu begreifen iſt, wie auf dem Stand-

punkt ſeiner Geſetzgebung darüber jemals ein Zweifel

erhoben werden konnte (w). Zwey Gründe ſind jedoch

ſehr häufig für eine abweichende Meynung geltend ge-

macht worden. Erſtlich, daß in mehreren ſchon angeführ-

non solum suffragio legislato-

ris, sed etiam tacito consensu

omnium per desuetudinem ab-

rogentur.” Vgl. Puchta a. a. O.

S. 86. 90.

(u) Cicero de invent. II. 22.

„Consuetudinis autem jus esse

putatur id, quod voluntate om-

nium sine lege vetustas com-

probavit. In ea autem … sunt …

eorum multo maxima pars,

quae praetores edicere con-

sueverunt.” Die Misverſtänd-

niſſe der früheren Rechtshiſtori-

ker über dieſen Punct können

nun wohl als beſeitigt angeſehen

werden.

(v) Gajus I § 111., L. 27 § 4

ad L. Aquil. (9. 2.), L. 1 § 1

de interrog. act. (11. 1.).

(w) § 11 J. de j. nat. (1. 2.),

§ 7 J. de injur. (4. 4.) — L. 1

pr. C. de cad. toll. (6. 51.), L.

1 § 10 C. de vet. j. enucl. (1.

17.), Const. Haec quae necess.

§ 2. — Nov. 89 C. 15. Nov. 106.

|0209 : 153|

§. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht.

ten Stellen geſagt werde, die Gewohnheit gelte in Er-

mangelung eines Geſetzes, was ſo viel heiße als nur in

dieſer Ermangelung. Dieſe überall bedenkliche Erklärungs-

weiſe wird im vorliegenden Fall durch den Zuſammen-

hang vollſtändig widerlegt (x). Mehr Schein hat zwey-

tens der Ausſpruch einer Stelle des Codex, die Gewohn-

heit könne nie ein Geſetz überwinden. Allein hier iſt nicht

von Gewohnheiten überhaupt, ſondern von partikulären

allein die Rede, und dieſe ſollen allerdings im Conflict

mit einem abſoluten Landesgeſetz zurück ſtehen (y).

Alles dieſes hatte nun keine Bedeutung mehr für die

vor Juſtinian entſtandenen Sätze eines allgemein Römi-

ſchen Gewohnheitsrechts. Denn dieſe ſollten gewiß nach

ſeiner Abſicht entweder in die Rechtsbücher aufgenommen

ſeyn, oder gar nicht mehr gelten. Dagegen war es an-

wendbar auf jedes künftig entſtehende Gewohnheitsrecht,

ja auch auf das ſchon vorhandene partikuläre, ſoweit

dieſes überhaupt nach der eben erwähnten Einſchränkung

Gültigkeit haben konnte. Denn da ein ſolches in den

Plan der neuen Rechtsſammlungen gar nicht gehörte, ſo

konnte auch deren ausſchließende Natur das Fortbeſtehen

deſſelben nicht hindern.

 

(x) L. 32 pr. L. 33 de leg.

(1. 3.). Vgl. Puchta I. S. 88. —

Beſonders bey der erſten dieſer

Stellen iſt ein ſolches argumen-

tum a contrario ganz unbegreif-

lich, da der Verfaſſer in den

gleich folgenden Worten (§ 1)

gerade das Gegentheil ſagt.

(y) L. 2 C. quae sit l. consu.

(8. 53.). S. hierüber die Bey-

lage II zu dieſem Bande.

|0210 : 154|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Da dieſe Art der Rechtsquellen übrigens auch im cano-

niſchen Recht und den Reichsgeſetzen erwähnt wird, ſo

ſoll davon hier anhangsweiſe gehandelt werden.

 

Im canoniſchen Recht ſind mehrere Römiſche Stellen

wörtlich aufgenommen, woraus alſo nichts Neues hervor-

geht (z). Folgende Sätze könnte man für neu und eigen-

thümlich halten:

 

1) Die Gewohnheit muß, um gelten zu können, ratio-

nabilis ſeyn. Mit dieſem ſehr unbeſtimmten Ausdruck,

wenn er auch durch Stellen des Römiſchen Rechts veran-

laßt ſeyn mag, ſcheint doch hier etwas Beſonderes gemeynt,

nämlich eine materielle Prüfung des Inhalts, und eine

Anerkennung nur inſofern dieſer Inhalt gut und zweck-

mäßig erſcheint: um ſo mehr als dieſe Bedingung nicht

allgemein aufgeſtellt wird, ſondern nur für den Fall eines

Conflicts mit den Geſetzen (aa).

 

2) Die Gewohnheit muß ſeyn legitime oder canonice

praescripta (bb). Daraus haben Viele eine wirkliche Ver-

 

(z) C. 4 D. XI = L. 2 C. quae

sit l. consu. (8. 53.), — C. 6

D. XII = § 9 J. de j. nat. (1.

2.), — C. 7 D. XII = L. 1 C.

quae sit l. consu. (8. 53.).

(aa) C. 11. X. de Consuet.

(1. 4.). C. 1 de constit. in VI

(1. 2.). Von der Bedeutung die-

ſer Stellen iſt in der Beylage II.

die Rede.

(bb) C. 11. X. de consuet.

(1. 4.), C. 3 de consuet. in VI

(1. 4.); C. 9. de offic. ord. in

VI. (1. 16.), C. 50. X. de elect.

(1. 6.). — Über den Sinn die-

ſer Stellen findet ſich eine Un-

terſuchung in Meurers juriſt.

Abhandlungen, Leipzig 1780 N.

V, welcher behauptet, es ſey hier

zwar von Verjährung, aber nicht

zur Begründung einer Gewohn-

heit, ſondern zum Erwerb eines

einzelnen Rechts die Rede. Zu-

letzt aber lenkt er doch in die

im Text aufgeſtellte Erklärung

ein, wenigſtens in Beziehung auf

|0211 : 155|

§. 26. Ausſprüche der Römer über das wiſſenſchaftliche Recht.

jährung gemacht, deren Natur jedoch zur Begründung

einer allgemeinen Rechtsregel gar nicht paßt. Auch würde

die Vorſchrift, ſo aufgefaßt, doch keine beſtimmte Anwen-

dung geſtatten, da es Verjährungen von ſehr verſchiede-

ner Dauer giebt, hier aber keine beſtimmte Zeit angegeben

iſt. Sehr wahrſcheinlich ſoll daher dieſer Ausdruck, über-

einſtimmend mit dem Römiſchen Recht, nur überhaupt

eine lange Dauer bezeichnen, und alſo legitime praescripta

hier ſo viel heißen als longa oder diuturna.

Endlich erwähnen auch mehrere Reichsgeſetze des Ge-

wohnheitsrechts, aber nur indem ſie überhaupt die Richter

zu ſeiner Befolgung anweiſen, ohne deſſen Bedingungen

oder Wirkung näher zu beſtimmen (cc).

 

§. 26.

Ausſprüche der Römer über das wiſſenſchaftliche Recht.

Von früher Zeit her wird das Anſehen der Rechts-

kundigen, und der Einfluß derſelben auf die Fortbildung

des Rechts durch Sitte, bezeugt (a). Daß dieſer Einfluß

 

C. 11. X. de consuet. Jene

erſte Meynung hat von ihm an-

genommen Glück I § 86 Num.

V. — Eichhorn Kirchenrecht

S. 42. 43. will jene Stellen nicht

von einem eigentlichen Gewohn-

heitsrecht verſtanden wiſſen, ſon-

dern von einer Obſervanz, d. h.

einem ſtillſchweigenden Statut,

inſofern daraus dritte Perſonen

Rechte herleiten wollen (§ 20. f.).

Es mag ſeyn, daß die Rück-

ſicht auf ſolche Fälle Veranlaſ-

ſung zu jenen Ausſprüchen ge-

geben hat. Allein daß dieſe all-

gemein gefaßt ſind, giebt er

ſelbſt zu, und ſo mag doch wohl

dem ungenauen Ausdruck auch

ein unklarer Gedanke zum Grunde

gelegen haben.

(cc) C. C. C. art. 104. — Conc

ord. cam. Tit. 19 provem. Tit.

71, Rec. Imp. nov. § 105.

(a) L. 2 § 5 de orig. jur. (1. 2.).

|0212 : 156|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

wachſen mußte, als zu dem Zutrauen in die Geſchäftser-

fahrung auch noch das Übergewicht wiſſenſchaftlicher Bil-

dung hinzutrat, iſt augenſcheinlich.

Auguſt erhöhte und modificirte dieſen Einfluß, indem

er einzelnen bewährten Juriſten das Recht zu Gutachten

ertheilte, die von den Richtern wie Geſetze (legis vice)

befolgt werden mußten, ſo lange nicht entgegenſtehende

Gutachten gleichfalls autoriſirter Juriſten vorgebracht wür-

den (b). Daneben dauerte die allgemeine, unbeſtimmte

Autorität der juriſtiſchen Lehrer und Schriftſteller fort,

welche jedoch nicht legis vicem hatte, ſondern auf jeden

Richter nur durch ihre innere, geiſtige Kraft einwirkte,

wenn etwa in einem Rechtsſtreit entweder gar keine, oder

widerſprechende Gutachten vorgebracht waren.

 

Die privilegirten Gutachten werden von Gajus als

eine noch beſtehende Anſtalt erwähnt. Sie haben wahr-

 

(b) Gajus I § 7, § 8 J. de j.

nat. (1. 2.). — L. 2 § 47 de

orig. jur. (1. 2.). — Ich unter-

ſcheide alſo die Responsa, d. h.

die Gutachten jetzt lebender, und

zwar autoriſirter Juriſten über

einen einzelnen, ihnen vorgeleg-

ten Rechtsſtreit, von den Mey-

nungen der gegenwärtigen und

früheren Schriftſteller, das heißt

der geſammten juriſtiſchen Lite-

ratur. Der Einfluß der Re-

sponsa, wie ein Geſetz den Rich-

ter bindend, war etwas ganz

Poſitives und wird auch in den

angeführten Stellen ſo darge-

ſtellt. Der Einfluß der Literatur

war etwas Natürliches, aber auch

Unbeſtimmtes, und kein Richter

war daran gebunden. Gajus

ſpricht von dem erſten, ganz po-

ſitiven Einfluß, ohne damit den

zweyten ausſchließen zu wollen.

Hugo Rgeſch. S. 811 ed. 11

erklärt die angeführten Stellen

von dem zweyten Einfluß, und

negirt (oder bezweifelt wenigſtens)

den erſten. Das ſcheint mir aber

ſchon mit dem ſpeciellen Aus-

druck Responsa ganz unverein-

bar. Doch die Ausführung dieſer

Streitfrage gehört nicht hierher.

|0213 : 157|

§. 26. Ausſprüche der Römer über das wiſſenſchaftliche Recht.

ſcheinlich aufgehört mit dem wiſſenſchaftlichen Leben des

Rechts überhaupt. Denn als die Zahl der namhaften

Rechtsgelehrten ſchleunig abnahm, und das Privilegium

nur noch an Wenige gegeben werden konnte, hätten dieſe

Wenige einen übermäßigen Einfluß auf die Rechtspflege

erhalten, und dieſe Betrachtung mag es wohl veran-

laßt haben, daß gar keine Privilegien dieſer Art mehr

ertheilt wurden.

Aber damit war nicht auch der allgemeine Einfluß

der höchſt bedeutenden juriſtiſchen Literatur aufgehoben.

Im Gegentheil mußte dieſer Einfluß der in Büchern fort-

lebenden Vergangenheit in demſelben Maaße wachſen, als

die geiſtige Kraft der Gegenwart ſich verminderte. Bey

dem großen Umfang dieſer Literatur, und bey den vielen

darin vorkommenden Controverſen, mußte bald das Be-

dürfniß formeller Regeln über ihre Anwendung fühlbar

werden. Einzelne Regeln ſcheinen auch ſchon von Con-

ſtantin an aufgeſtellt worden zu ſeyn (c). Allein eine

erſchöpfende Vorſchrift erließ erſt Valentinian III. (d),

durch welche der Begriff einer gemeinen Meynung der

Juriſten auf einem ganz anderen Wege praktiſch geltend

gemacht wurde, als es früher durch die Vorſchrift über

die übereinſtimmenden Gutachten verſucht worden war.

Und dieſes Geſetz beſtand noch, als Juſtinian die Regie-

rung antrat. Obgleich nun durch daſſelbe die Schwie-

 

(c) L. 1. 2. C. Th. de resp.

prud. (1. 4.) (neu aufgefunden).

(d) L. 3 (ſonſt un.) C. Th.

de resp. prud. (1. 4.) vom J. 426.

|0214 : 158|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

rigkeiten der Anwendung des wiſſenſchaftlichen Rechts

vermindert waren, ſo waren ſie doch nicht gehoben (e),

und dieſe Betrachtung bewog Juſtinian zu einer ganz

neuen und weit durchgreifenderen Maaßregel.

Er ließ aus dem ganzen Umfang der juriſtiſchen Lite-

ratur, ohne Rückſicht auf die von Valentinian III. gezo-

gene Gränzen, dasjenige ausheben, was zu einer vollſtän-

digen Überſicht des Rechts, und namentlich für die Rechts-

pflege, nöthig ſchien. Dieſes wurde in Ein Buch zuſam-

men getragen und als Geſetz bekannt gemacht, alles Übrige

aber abgeſchafft. So war alſo jetzt ein Auszug des Jus

zu einer Lex erhoben, und es war Nichts mehr vorhan-

den, was in ſeiner urſprünglichen Geſtalt, als Jus, hätte

gelten dürfen. Für die Zukunft aber verbot er gänzlich

die Entſtehung einer neuen juriſtiſchen Literatur. Nur

griechiſche Überſetzungen des lateiniſchen Textes, und (als

mechaniſches Hülfsmittel) kurze Angaben des Inhalts der

Titel ſollten erlaubt ſeyn: würde aber ein eigentliches

Buch, ein Commentar über die Geſetze, geſchrieben, ſo

ſollte dieſes zerſtört und der Verfaſſer mit der Strafe der

Fälſchung belegt werden (f). Das einzige Mittel zur Er-

haltung und Fortpflanzung der Rechtswiſſenſchaft ſollte

alſo der mündliche Unterricht in den Rechtsſchulen ſeyn,

die deshalb von Juſtinian mit einem neuen Lehrplan ver-

 

(e) Savigny Geſch. des R.

R. im Mittelalter I § 3.

(f) L. 1 § 12, L. 2 § 21, L. 3

§ 21 C. de vet. j. enucl. (1.

17.).

|0215 : 159|

§. 26. Ausſprüche der Römer über das wiſſenſchaftliche Recht.

ſehen wurden (g). Hält man aber damit das erwähnte

Verbot zuſammen, ſo iſt es unzweifelhaft, wie dieſer Un-

terricht gemeynt war. Gewiß nicht als Verarbeitung der

Rechtsbücher durch freye Geiſtesthätigkeit der Lehrer, wo-

durch eine verwandte Thätigkeit auch in den Schülern

erregt, und ſo eine lebendige Wiſſenſchaft erhalten wor-

den wäre: denn ein ſolches Verfahren hätte mit dem Zweck

jenes Verbots in offenbarem Widerſpruch geſtanden. Viel-

mehr mußte der ganze Unterricht in einem mechaniſchen

Einlernen beſtehen, und das Verdienſt der Lehrer mußte

ſich darauf beſchränken, den ungeübten Schülern die ſub-

jectiven Schwierigkeiten überwinden zu helfen, die in der

Unbekanntſchaft mit einem ihnen fremden Stoff von ſo

großem Umfang liegen mußten. Allen dieſen Anordnun-

gen alſo lag der Eine Gedanke zum Grunde, die hier

ausgewählte und geordnete geiſtige Production der Vor-

fahren ſey für den Rechtszuſtand ausreichend: jede neue

Production ſey dafür nicht nöthig, und könne das jetzt

gegründete Werk nur wieder verderben.

Manche mögen wohl dieſe Anſichten in ihrem buch-

ſtäblichen Sinn allzu ſeltſam finden, und daher nach einer

figürlichen oder mildernden Deutung ſuchen: wie ich glaube,

mit Unrecht. Als Juſtinian zur Regierung kam, hörte

er wahrſcheinlich eben ſo laute Stimmen über die heilloſe

Verwirrung des Rechts, und über das dringende Bedürf-

niß einer durchgreifenden Reform, wie K. Friedrich II.

 

(g) Const. Omnem.

|0216 : 160|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

von Preußen im J. 1740. Ein glücklicher Zufall führte

ihm einige ſo einſichtsvolle Juriſten zu, wie ſie ſeit mehr

als einem Jahrhundert nicht mehr erſchienen waren, und

ihm ſelbſt fehlte es weder an eigener Rechtskenntniß, noch

an Thätigkeit und Ruhmbegierde. Man ſuchte alſo dem

abzuhelfen, was zunächſt als Übel fühlbar wurde, der

unbezwinglichen Maſſe der juriſtiſchen Literatur, und den

vielen in ihr vorkommenden Widerſprüchen. Irgend eine

Erfahrung ähnlicher Art, an welcher man das Unterneh-

men hätte prüfen können, lag nicht vor, und ſo konnte

man am kaiſerlichen Hof ehrlich glauben, auf dieſem Wege

einen ganz vortrefflichen Zuſtand hervorzubringen, und

nur durch geſetzliche Verbote der Wiederkehr des alten

Übels ſteuern zu müſſen. Auch hatte man nicht zu fürch-

ten, daß durch dieſe Verbote ein wirklich vorhandenes

geiſtiges Leben unterdrückt würde, wie etwa, wenn Ha-

drian oder Marc Aurel einen ähnlichen Gedanken hätten

faſſen wollen: denn die Kraft und Bildung der Gegen-

wart war ja Jedem ohnehin klar genug, und daran war

gewiß wenig zu verderben. Zwar die Drohung der Cri-

minalſtrafe und der Zerſtörung der Bücher, ja ſelbſt das

Verbot Bücher zu ſchreiben, iſt unſren Sitten völlig fremd,

und neben der Buchdruckerey und dem lebhaften Verkehr

ſo vieler Europäiſchen Staaten wäre es abentheuerlich,

an dergleichen auch nur zu denken. Allein wenn wir von

dieſer gewaltſamen Ausführung, als dem Zufälligen, ab-

ſehen, ſo iſt der Grundgedanke dieſelbe Selbſttäuſchung,

|0217 : 161|

§. 26. Ausſprüche der Römer über das wiſſenſchaftliche Recht.

die, als tief in der menſchlichen Natur gegründet, in allen

geiſtigen Gebieten, und beſonders im religiöſen, ſtets wie-

derkehrt: indem wir glauben, diejenige Verkörperung des

Gedankens, die wir durch redliche Anſtrengung unſrer

eigenen Kraft hervorgebracht haben, Anderen als aus-

ſchließend gültig aufſtellen zu dürfen, den Irrthum für

immer bannend, freylich aber zugleich die Freyheit des

Geiſtes. Eine ſolche juriſtiſche Concordienformel ſtellte

Juſtinian auf, und Niemand ſollte wagen, den Frieden

zu ſtören, den ſie zu bringen beſtimmt war. Wollen wir

ihn darüber hart beurtheilen? Unſer Geſichtskreis iſt

durch die Erfahrungen von Ein bis Zwey Tauſend Jah-

ren mehr erweitert, und doch wohnt das Weſentliche jener

Gedanken Juſtinians noch jetzt in denen, die von der Ab-

faſſung neuer Geſetzbücher ſo ſchwärmeriſche Hoffnungen

hegen: freylich ohne die Macht, und gewiß auch ohne den

Willen, ihre Gedanken durch ſo harten Zwang, wie es

Juſtinian verſuchte, zur Ausführung zu bringen.

Dieſe Betrachtungen ſollen nicht etwa das Verfahren

Juſtinians rechtfertigen, wozu ich gewiß nicht geneigt bin,

ſondern nur in einem milderen Lichte darſtellen, vorzüglich

aber inſoweit begreiflich machen, daß die Thatſache, von

deren Darſtellung an dieſer Stelle zunächſt die Rede iſt,

als buchſtäblich wahr angenommen, und gegen jede künſt-

liche oder gewaltſame Deutung geſchützt werde.

 

11

|0218 : 162|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

§. 27.

Praktiſcher Werth der Römiſchen Beſtimmungen über

die Rechtsquellen.

Nachdem die Ausſprüche des Römiſchen Rechts über

die Rechtsquellen aufgeſtellt worden ſind (§ 22 — 26), iſt

nun die Frage zu beantworten, welcher praktiſche Werth

denſelben, von unſerm Standpunkt aus, beyzulegen iſt.

Dieſe Frage bezieht ſich auf jeden Staat, worin einmal

die Reception Statt gefunden hat, und ſie muß in fol-

genden zwey verſchiedenen Anwendungen aufgefaßt und

beantwortet werden: erſtlich, iſt ſeit dem Zeitpunkt der

Reception die bisherige Fortbildung des Rechts (§ 21)

nach jenen Regeln zu prüfen und zu beurtheilen? Zwey-

tens, gelten dieſe Regeln für die künftige Fortbildung des

Rechts in einem ſolchen Staate? Die erſte Anwendung

bezieht ſich auf Dasjenige, was wir als wahren Inhalt

des jetzt geltenden gemeinen Rechts anzuerkennen haben:

die zweyte auf deſſen mögliche Abänderungen in der Zu-

kunft. Es iſt aber für beide Anwendungen nur eine und

dieſelbe Frage, deren Beantwortung alſo auch nach beiden

Seiten hin nicht verſchieden ausfallen kann.

 

Auf den erſten Blick ſcheint Nichts natürlicher, als die

Bejahung der Frage. Denn wo überhaupt Römiſches

Recht gilt, warum ſollte es in dieſem wichtigen Punkt,

für die fortgehende Entwicklung des Rechts, nicht gelten?

Die neueren Schriftſteller pflegen die Frage gar nicht auf-

 

|0219 : 163|

§. 27. Prakt. Werth der Röm. Beſtimmungen über die Rechtsq.

zuwerfen, ſondern ſtillſchweigend zu bejahen, und in dieſer

Vorausſetzung Stellen des Römiſchen Rechts zu benutzen:

freylich mit dem Vorbehalt, dieſe Benutzung da, wo ſie

allzu bedenklich erſcheinen würde, zu unterlaſſen.

Ich will zuvörderſt kurz zuſammen ſtellen, wie ſich die

durchgeführte Bejahung jener Frage geſtalten würde.

 

In Anſehung der eigentlichen Geſetze (§ 23) könnten

wir etwa noch auf die Mitwirkung des Senats bey ihrer

Abfaſſung verzichten, weil ein ſolcher, im Sinn des Rö-

miſchen Kaiſerreichs, in keinem neueren Staat vorhanden

iſt. Aber die ausſchließenden Kennzeichen eines wahren

Geſetzes müßten wir doch aus der Verordnung von Theo-

doſius II. entnehmen. — Weit wichtiger jedoch iſt die

Sache bey den landesherrlichen Reſcripten in einzelnen

Rechtsſachen (§ 24), die von jedem Richter als Geſetz

anerkannt werden müßten, wenigſtens in der eingeſchränk-

teren Weiſe, wie es nach Juſtinians Novellen noch anzu-

nehmen iſt. Dagegen haben ſich neuere Schriftſteller aus-

drücklich erklärt (a). Andere beſtehen feſt auf der Anwen-

dung der Römiſchen Regeln, zuweilen ſelbſt ohne Rück-

ſicht auf die durch die Novellen gemachten Einſchränkungen,

aber indem ſie in der Stille dieſen Regeln einen ganz

anderen Sinn unterlegen. Sie übergehen nämlich die Haupt-

ſache, die Geſetzeskraft für den einzelnen Fall, mit Stillſchwei-

gen, und legen den Reſcripten blos Geſetzeskraft für künf-

tige gleiche Fälle bey (b), die doch ſelbſt nach Römiſchem

 

(a) Mühlenbruch I § 35.

(b) Glück I § 96, der auch

11*

|0220 : 164|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Recht den Reſcripten niemals zukam, ſondern nur den

Decreten (§ 23. 24.).

Bey dem Gewohnheitsrecht (§ 25) wird im Allgemei-

nen die Anwendbarkeit des Römiſchen Rechts gar nicht

bezweifelt. Nur findet es ſich wohl, daß ein einzelner

Schriftſteller, wenn er eine beſondere Anwendung des Ge-

wohnheitsrechts überhaupt bekämpft, die doch im Römi-

ſchen Recht anerkannt iſt, dieſes Bedenken durch kritiſche

Zweifel an der Anwendbarkeit jenes Rechts zu entfer-

nen ſucht (c).

 

Bey dem wiſſenſchaftlichen Recht endlich (§ 26) pflegt

man das nicht unwichtige Geſetz Juſtinians gegen die juri-

ſtiſchen Bücher ganz mit Stillſchweigen zu übergehen, und

ich kenne auch nicht einen einzigen neueren Schriftſteller,

der aus Gehorſam gegen jenes Geſetz behauptete, ſolche

Bücher müßten noch jetzt zerſtört werden. Eine ſolche

Liebloſigkeit gegen das eigene Werk wäre auch in der

That unverantwortlich geweſen. Und doch, warum ſollte

dieſes Geſetz weniger Kraft haben, als die anderen über

verwandte Fragen?

 

Faßt man dieſes Alles zuſammen, ſo ergiebt es ſich,

daß unſere Juriſten die im Römiſchen Recht über die

 

andere Schriftſteller für und wi-

der ſeine Meynung anführt.

(c) So z. B. Schweitzer de

desuetudine p. 52. 53. 84. Die

ganze Schrift iſt gegen die Wir-

kung der reinen desuetudo ge-

richtet, und deswegen behauptet

er, daß in dieſer Frage das R. R.

keine Anwendbarkeit habe: für

das ganze übrige Gewohnheits-

recht ſoll es gelten, und nament-

lich ſchon für die nahe verwandte

Frage von der obrogatio durch

Gewohnheit.

|0221 : 165|

§. 27. Prakt. Werth der Röm. Beſtimmungen über die Rechtsq.

Rechtsquellen enthaltenen Vorſchriften ganz willkührlich

bald annehmen, bald mit Stillſchweigen übergehen. Da

nun eine unbedingte Anwendung aller dieſer Vorſchriften

ganz unmöglich ſeyn würde, ſo entſteht ſchon daraus ein

zwiefaches Bedenken gegen jede Anwendung überhaupt.

Denn erſtlich iſt dieſes Verfahren inconſequent, und gegen

dieſen Vorwurf könnte man ſich nur dadurch retten, daß

man annähme, durch ein neueres Gewohnheitsrecht ſey

z. B. das Verbot der juriſtiſchen Bücher wieder abgeſchafft

worden. Zweytens aber iſt zu erwägen, daß diejenigen

Vorſchriften, die man als noch jetzt gültig annimmt, ab-

getrennt von dem Zuſammenhang mit den verworfenen,

vielleicht eine ganz andere Natur annehmen, und ſelbſt

unpaſſend werden dürften.

Geht man aber der Sache mehr auf den Grund, und

fragt man, warum einige dieſer Vorſchriften, beſonders

welche die Geſetze betreffen, entſchieden für unanwendbar

gehalten werden müſſen, ſo erkennt man bald den Grund

darin, daß ſie dem Staatsrecht angehören, welches

überhaupt nicht unter die recipirten Theile des fremden

Rechts gehört (§ 1. 17.). Dieſer Grund aber paßt nicht

nur auf die Geſetzgebung, ſondern eben ſo auch auf jede

andere Bildungsweiſe des allgemeinen Rechts, ſo daß,

wer den Grundſatz feſthalten will, auch anerkennen muß,

daß das Römiſche Recht auf die Rechtsquellen überhaupt

nicht anzuwenden iſt. Dadurch wird denn unter andern

die Streitfrage über den Sinn der L. 2 C. quae si

 

|0222 : 166|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

longa consuet. für das praktiſche Recht ganz unbe-

deutend.

Alles was hier über die Unanwendbarkeit des Römi-

ſchen Rechts auf die Lehre von den Rechtsquellen geſagt

worden iſt, gilt ganz eben ſo auch von dem canoni-

ſchen Recht.

 

Anders würde es ſich in den Deutſchen Staaten mit

den Reichsgeſetzen verhalten, da dieſe unſtreitig für das

öffentliche Recht eben ſo wohl als für das Privatrecht

Geſetzeskraft hatten. Aber auch von ihnen kann hier nicht

die Rede ſeyn, da ſie überhaupt Nichts über die Rechts-

quellen enthalten, als die allgemeine und unbeſtimmte

Anerkennung des Daſeyns eines Gewohnheitsrechts (§ 25),

welches aber dieſer Anerkennung in der That nicht bedurfte.

 

§. 28.

Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen.

Es ſollen nun noch die Hauptpunkte angegeben wer-

den, worin die bey den Neueren als vorherrſchend erſchei-

nenden Anſichten der Rechtsquellen von den hier aufge-

ſtellten abweichen. Dabey wird großentheils ſchon die

bloße Aufſtellung des Gegenſatzes, ohne Angabe einzelner

Schriftſteller, und ohne Ausführung eines Streites, an

dieſer Stelle hinreichen.

 

Die Geſetzgebung wird ſehr gewöhnlich in ein ganz

anderes Verhältniß zu den Rechtsquellen überhaupt geſtellt.

Man hält ſie häufig für den einzig wahren und guten

 

|0223 : 167|

§. 28. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen.

Entſtehungsgrund des Rechts, neben welchem alles Übrige

nur als Nothhülfe vorkommen ſoll, und beſſer gar nicht

vorhanden wäre. Dadurch erhält zugleich die Rechts-

wiſſenſchaft einen ſehr zufälligen und veränderlichen Stoff,

und ein ſo abhängiges Daſeyn, daß ſie bey fortſchreiten-

der Vollkommenheit der Geſetzgebung immer unbedeutender

werden, und bey einem idealen Zuſtand derſelben endlich

verſchwinden müßte. — In der ferneren Entwicklung dieſer

Grundanſicht liegt der unbedingte Werth, den man in

neueren Zeiten auf neue umfaſſende Geſetzbücher ſetzt, und

die glänzende Erwartung, die man an die Abfaſſung der-

ſelben knüpft. Doch kommt es wohl auch vor, daß jene

Grundanſicht von Solchen angenommen wird, die dieſe

letzte Meynung nicht theilen, oder wenigſtens nicht mit

ſolcher Wichtigkeit behandeln, und dieſes dürfte leicht als

die Stimmung des größten Theils der ehrenwerthen Prak-

tiker befunden werden.

An die Geſetzgebung ſoll ſogleich das wiſſenſchaft-

liche Recht angeknüpft werden. Die Behandlung der

früheren Schriftſteller iſt bey den Neueren oft ſehr will-

kührlich und ungleich, ſo daß derſelben nach Gutfinden

in einzelnen Fällen ein Gewicht eingeräumt oder verſagt

wird, ohne daß ein leitender Grundſatz für dieſes abwech-

ſelnde Verfahren auch nur geſucht würde. Insbeſondere

wird nicht ſelten die Meynung der älteren Praktiker ſo

aufgefaßt, als ob durch ſie für alle Zeiten ein unabän-

derlicher Abſchluß gemacht wäre, und als ob nicht jedes

 

|0224 : 168|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Zeitalter ſeinen Anſpruch auf Fortbildung des Rechts

durch innere Kraft eben ſo geltend machen könnte, wie es

in jener früheren Zeit geſchehen war. Man pflegt ſich

dann unwillkührlich unſer Verhältniß zu jener früheren

Zeit in ähnlicher Weiſe zu denken, wie es durch Valenti-

nian III. zu ſeiner Vorzeit wirklich feſtgeſtellt war. Allein

dieſe Feſtſtellung war eine völlig poſitive, die ſich in keiner

Zeit von ſelbſt verſtehen kann: ganz beſonders aber hatte

ſie einen inneren Grund in dem wirklichen Abſterben der

Rechtswiſſenſchaft, wie des geiſtigen Lebens überhaupt,

anſtatt daß unſerer Zeit, wie man auch ſonſt von ihr

denken mag, eine große Regſamkeit gewiß nicht abzu-

ſprechen iſt.

Bey dem Gewohnheitsrecht würde eine ſo ſumma-

riſche Überſicht der herrſchenden neueren Meynungen nicht

genügen. Ich habe vielmehr die genauere Darſtellung

meiner eigenen Meynung über unſer praktiſches Gewohn-

heitsrecht (§ 18) bis an dieſen Ort aufgeſchoben, weil ſie

nur in Verbindung mit den anderwärts herrſchenden Mey-

nungen verſtändlich werden kann.

 

Nach der herrſchenden Anſicht iſt das Gewohnheits-

recht eine nicht natürliche Art der Rechtserzeugung, die

alſo, um anerkannt zu werden, einer ganz beſonderen

Rechtfertigung bedarf. Dieſe ſoll in Republiken in dem

Umſtand liegen, daß derſelbe populus (§ 10), der in einer

beſtimmten Weiſe gleichförmig handelt, zugleich auch der

Träger der geſetzgebenden Gewalt iſt. Darum führt alſo

 

|0225 : 169|

§. 28. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen.

jede Gewohnheit immer und nothwendig mit ſich die ſtill-

ſchweigende Einwilligung des Geſetzgebers in die geübte

einzelne Regel (consensus tacitus specialis), und jede Ge-

wohnheit erſcheint daher in einer Republik als ſtillſchwei-

gendes Geſetz. Anders in unſeren Monarchien, wo das

Volk, das die Gewohnheit äußert, ohne geſetzgebende Ge-

walt iſt, und der Fürſt, der die geſetzgebende Gewalt hat,

an der Gewohnheit keinen Theil nimmt. Auch die con-

ſtitutionelle Monarchie macht hierin keinen weſentlichen

Unterſchied, da vielleicht kein einziges Mitglied der Kam-

mern je an der Gewohnheit Theil genommen hat, auch

die Kammern allein, ohne den Fürſten, niemals das Ge-

ſetz machen. Hier erſcheint alſo das Gewohnheitsrecht als

eine Art von Oppoſition der Unterthanen gegen die Re-

gierung, als Anmaßung eines Zweigs der höchſten Gewalt,

und ein ſo gefährliches Unternehmen bedarf einer beſon-

ders vorſichtigen Rechtfertigung. Dieſe konnte nur geſucht

werden in der Einwilligung des Geſetzgebers, die aber

nicht, wie in der Republik, in der Gewohnheit ſelbſt ſchon

enthalten war, ſondern von außen hinzugethan werden

mußte. In den Ländern, worin Römiſches Recht gilt,

macht das keine Schwierigkeit, denn das Römiſche Recht

ſagt ja ganz deutlich, das Gewohnheitsrecht ſolle befolgt

werden. Darin liegt alſo der consensus generalis expres-

sus des Geſetzgebers in alle künftige Gewohnheiten. Nur

wenn die Gewohnheit ein Geſetz abſchaffen ſollte, ſchien

die L. 2 C. quae sit longa consuetudo noch eine andere

|0226 : 170|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Begründung nöthig zu machen. Und dieſe fand man in

des Fürſten consensus specialis tacitus für den einzelnen

Fall. Dabey kommen jedoch noch zwey verſchiedene Wen-

dungen vor, indem bald geſagt wird, der Conſens ſey

ſchon aus der bloßen Duldung der Gewohnheit zu ver-

muthen, bald aber es müſſe ſpeciell bewieſen werden, daß

der Geſetzgeber von dieſer Gewohnheit Kenntniß gehabt

habe (a). — Dieſes betraf die Gültigkeit des Gewohn-

heitsrechts überhaupt. In jedem einzelnen Fall aber wird

die bloße Gewohnheit, d. h. das gleichförmige Handeln,

als eigentlicher Entſtehungsgrund der Rechtsregel ange-

ſehen, ſo daß man annimmt, es müßte ſich dieſer Entſte-

hungsgrund ſtets in beſtimmte, einzeln erweisliche Hand-

lungen auflöſen laſſen. Dieſer beſchränkte Geſichtspunkt

konnte höchſtens auf partikuläre Gewohnheiten angewendet

werden, an welche allein man auch meiſtens zu denken

pflegt. Auf die großen und ſchwierigen Fälle des moder-

nen Gewohnheitsrechts dagegen, worin daſſelbe mit dem

wiſſenſchaftlichen Recht zuſammenfällt (§ 18. 20.), leidet

derſelbe gar keine Anwendung.

Dieſe Grundanſichten haben nun auch den größten Einfluß

auf die praktiſche Behandlung der einzelnen, das Gewohn-

heitsrecht betreffenden Fragen gehabt. Dieſelben betreffen

theils die Bedingungen — theils den Beweis — theils

die Wirkungen des Gewohnheitsrechts.

 

(a) Glück I § 85. Guilleaume Rechtslehre von der Gewohnheit,

Osnabrück 1801 § 24 — 27.

|0227 : 171|

§. 29. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.

§. 29.

Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen.

Fortſetzung.

Die Bedingungen, die man für die Entſtehung des

Gewohnheitsrechts anzunehmen pflegt, beziehen ſich durch-

aus auf die Natur derjenigen einzelnen Handlungen, aus

welchen man daſſelbe ſtets hervorgehen läßt (§ 28). Sie

haben daher auch nur eine einſeitige Anwendbarkeit auf

das partikuläre Gewohnheitsrecht, und ſelbſt bey dieſem

dürfen die einzelnen Handlungen nicht eigentlich als Ent-

ſtehungsgründe, ſondern vielmehr als Erſcheinungen oder

Kennzeichen einer vorhandenen gemeinſamen Rechtsüber-

zeugung angeſehen werden. Mit dieſen Modificationen

aber kann jenen Bedingungen allerdings Wahrheit zuge-

ſchrieben werden, ſo daß ſie einzeln geprüft und feſtgeſtellt

werden müſſen. Es ſollen nämlich, wie man behauptet,

jene Handlungen, um zur Begründung eines Gewohnheits-

rechts tauglich zu ſeyn, folgende Eigenſchaften an ſich tragen.

 

1) Es ſollen mehrere Handlungen ſeyn. Wie viele,

war lange beſtritten. Eine ſollte gewiß nicht hinreichen,

Zwey in der Regel auch nicht, doch ausnahmsweiſe möch-

ten ſie gelten. Endlich neigten die Meiſten dahin, Alles

dem richterlichen Ermeſſen zu überlaſſen, wobey man es

denn auch bewenden laſſen kann. Der Richter wird, nach

der verſchiedenen Beſchaffenheit der Handlungen, bald

mehr, bald weniger fordern, und dabey ſtets den Geſichts-

 

|0228 : 172|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

punkt feſt halten, daß durch die Mehrheit der Handlungen

der Einfluß des Individuellen und Zufälligen abgewehrt

werden ſoll, welches den täuſchenden Schein einer aus

gemeinſamer Rechtsüberzeugung hervorgehenden Handlung

annehmen kann (a).

2) Gleichförmige, ununterbrochene Handlungen; das

heißt, die Gewohnheit wird geſtört, wenn zwiſchen jenen

Handlungen andere, auf entgegengeſetzter Regel beruhende,

vorgekommen ſind. Dieſe Beſtimmung iſt unbedenklich (b).

 

3) Die Handlungen ſollen ſich lange Zeit hindurch

wiederholen. Die Länge der Zeit war ganz beſonders

beſtritten. Einige forderten 100 Jahre, weil irgendwo

einmal der Ausdruck longaevum dieſe Bedeutung hat.

Weit mehrere aber dachten, nach dem Ausdruck des cano-

niſchen Rechts, an die gewöhnliche Verjährungszeit, und

zwar longum tempus, alſo 10 Jahre, denn von 20 Jahren

ſollte nicht die Rede ſeyn, weil der Fürſt oder das Volk,

gegen welche gleichſam das neue Recht erworben werde,

ſtets gegenwärtig ſeyen. Nur gegen das canoniſche Recht,

alſo gegen die Kirche, wurden 40 Jahre verlangt, gegen

den Landesherrn eine unvordenkliche Zeit. Späterhin

haben ſich die Meiſten dahin geeinigt, gar keine beſtimmte

Zeit anzunehmen, ſondern Alles dem richterlichen Ermeſſen

zu überlaſſen, wobey man ſich denn beruhigen kann. Auch

 

(a) Lauterbach I. 3. § 36,

Müller ad Struv. I 3. § 20,

Glück I § 86 N. I. Beſonders

aber Puchta Gewohnheitsrecht

II. S. 79 fg. S. 85.

(b) Puchta II. S. 89 fg.

|0229 : 173|

§. 29. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.

hier, wie bey der Mehrheit der Handlungen, kommt Alles

darauf an, zu verhüten, daß das Individuelle, Zufällige,

Vorübergehende durch den täuſchenden Schein, den es

annehmen kann, fälſchlich als Kennzeichen einer zum

Grund liegenden gemeinſamen Rechtsüberzeugung angeſe-

hen werde (c).

4) Daß zu ſolchen Handlungen beſonders auch rich-

terliche Urtheile tauglich ſeyen, war allgemein anerkannt.

Dagegen behaupteten Manche, ſolche Urtheile ſeyen zu

einem Gewohnheitsrecht ganz unentbehrlich, was jedoch

von den Meiſten mit Recht verworfen wurde (d). Allein

ganz unbedingt kann ich ſelbſt die Zuläſſigkeit der Ur-

theile zu dieſem Zweck nicht einräumen. Es gilt viel-

mehr von denſelben das, was oben (§ 20) von den prak-

tiſchen Arbeiten der Juriſten überhaupt, mit Unterſchei-

dung der Fälle, geſagt worden iſt. Sind alſo die Ur-

theile namentlich auf ein Gewohnheitsrecht gegründet, ſo

gelten ſie als wichtige Zeugniſſe für deſſen Daſeyn. Eben

ſo, wenn ſie auch nur eine Rechtsregel überhaupt als

wahr und gewiß anerkennen, ohne ſich über deren Her-

kunft beſtimmter auszuſprechen. Anders wenn ſie eine

Rechtsregel aus theoretiſchen Gründen, und zwar aus

einer falſchen Theorie, herleiten: denn nun haben ſie ſelbſt

nur den Character der Theorie, und es läßt ſich aus ihnen

 

(c) Puchta II. S. 93 fg.

(d) Lauterbach I 3. § 35,

Müller ad Struv. I 3. § 20,

Glück I § 86 N. V. Guilleaume

a. a. O. § 31. Beſonders Puchta

II. S. 31 fg.

|0230 : 174|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

das Daſeyn jener Regel in dem gemeinſamen Rechtsbe-

wußtſeyn nicht erkennen.

5) Vornahme der Handlung in dem Gefühl rechtlicher

Nothwendigkeit (necessitatis opinio). Wenn alſo Viele,

auf dieſelbe Weiſe, und längere Zeit hindurch, bloße Frey-

gebigkeit geübt haben, ſo kann daraus nie ein Gewohn-

heitsrecht entſtehen, weil die Geber wie die Empfänger

ſtets einſahen, daß die Handlung willkührlich ſey, und

eben ſo auch unterbleiben oder anders eingerichtet werden

könnte. — Dieſe Bedingung iſt unter allen die wichtigſte,

und ihre Bedeutung wird in Verbindung mit den gleich

folgenden noch beſtimmter hervortreten. Die Stellen des

Römiſchen Rechts, worin ſie ausdrücklich anerkannt wird,

ſind ſchon oben (§ 25 Note d.) angegeben worden. Aus

dieſem Grund eignen ſich vorzugsweiſe richterliche Urtheile

zur Erkenntniß eines Gewohnheitsrechts, indem ſie nur

aus der Rechtsüberzeugung des Richters, nicht aus Will-

kühr, hervorgehen können. Weniger die Verträge, wel-

chen ſtets ein willkührliches Element inwohnt. Dennoch

können auch ſie als Erkenntnißmittel eines Gewohnheits-

rechts dienen, inſofern ſie eine Rechtsregel entweder als

wahr vorausſetzen, oder blos beſtätigend in ſich auf-

nehmen (e).

 

6) Die Handlungen ſollen nicht auf Irrthum beruhen.

Dieſe Bedingung hatte eine ausdrückliche Anerkennung des

Römiſchen Rechts für ſich (f), aber man verwickelte ſich

 

(e) Puchta II. S. 33 fg.

(f) S. u. Note l.

|0231 : 175|

§. 29. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.

damit in einen unauflöslichen Widerſpruch. Denn die

Rechtsregel ſollte ja erſt durch die Gewohnheit entſtanden

ſeyn, war alſo zur Zeit der erſten Handlung gewiß noch

nicht vorhanden. Dennoch ſollte, nach der vorigen Regel,

ſchon die erſte Handlung von der necessitatis opinio be-

gleitet ſeyn. Folglich beruhte dieſelbe auf einem Irrthum,

und durfte bey der Entſtehung des Gewohnheitsrechts gar

nicht mitgezählt werden. Daſſelbe aber gilt auch von der

zweyten Handlung, die nun erſte wird, und von der drit-

ten und allen folgenden. Die Bildung eines Gewohnheits-

rechts iſt daher, wenn man nicht eine jener Bedingungen

aufgiebt, ganz unmöglich. Der Widerſpruch iſt hier ſo

augenſcheinlich, daß auch in der That Einige den Irr-

thum nicht nur zugelaſſen, ſondern ganz conſequent als

nothwendig mit jedem Gewohnheitsrecht verbunden ange-

ſehen haben, ohne zu bedenken, daß dieſe Anſicht mit dem

Ausſpruch des Celſus nicht vereinbar iſt (g). — Von un-

ſerm Standpunkt aus entſteht gar kein Widerſpruch, da

die Rechtsregel durch die Gewohnheit nur offenbart, nicht

erzeugt wurde, folglich ſchon bey der erſten erweislichen

einzelnen Handlung die necessitatis opinio ohne allen Irr-

(g) Schweitzer de desuetu-

dine p. 78. (Hübner) Berich-

tigungen und Zuſätze zu Höpf-

ner S. 164. Dieſer ſucht ſich mit

L. 39 de leg. dadurch abzufinden,

daß er ſie auf irrige Geſetzaus-

legung beſchränkt, und dieſer die

Kraft eines Gewohnheitsrechts

abſpricht. Allein erſtens muß

dieſe Einſchränkung willkührlich

in die Stelle hineingetragen wer-

den; und zweytens, wenn jeder

andere Irrthum die Entſtehung

eines wahren Gewohnheitsrechts

nicht hindert, warum denn dieſer?

|0232 : 176|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

thum vorhanden ſeyn konnte und mußte. Indeſſen iſt

dieſe Bedingung nicht ohne alle Einſchränkung als wahr

anzunehmen. Wenn z. B. neben der wirklich vorhandenen

Volksüberzeugung der theoretiſche Irrthum nur als eine

äußere Beſtärkung gedient hat (§ 20), ſo ſteht der Irrthum

nicht im Wege. Eben ſo iſt es auch, wenn die Handlung

eine ſo äußerliche und an ſich gleichgültige Natur hat,

daß dabey von einer inneren Überzeugung eigentlich nicht

die Rede ſeyn kann. So z. B. kann es jetzt als ausge-

macht angeſehen werden, daß ſich ſeit dem Mittelalter eine,

dem Römiſchen Recht fremde Form in die Unterſchriften

und Siegel der Zeugen irrigerweiſe eingeſchlichen hat.

Dieſe urſprünglich irrige Form iſt durch den langen, völlig

gleichförmigen Gebrauch in der That zu einer Rechtsform

geworden (h).

7) Die Handlungen ſollen vernunftgemäß (rationabiles)

ſeyn. Die Stellen des canoniſchen Rechts, woraus dieſe

Bedingung abgeleitet wird, ſind ſchon oben angeführt wor-

den (§ 25 Note z.). Nimmt man dieſe Bedingung in

einem poſitiven Sinn, als Zweckmäßigkeit und Heilſam-

keit der in der Gewohnheit ausgedrückten Regel, ſo iſt

es ſehr bedenklich für die Rechtsgewißheit, dem Richter

das Urtheil über eine ſo wenig beſtimmbare Eigenſchaft

zu überlaſſen. Daher wird ſie denn auch häufiger in

einem blos negativen Sinn aufgefaßt, ſo daß dadurch nur

die ganz widerſinnigen, dem ſittlichen Gefühl widerſtre-

 

(h) Über den Irrthum bey Gewohnheiten vgl. Puchta II. S. 62 fg.

|0233 : 177|

§. 29. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.

benden Gewohnheiten abgewehrt werden ſollen (i). Für

dieſe, praktiſch wenig bedenkliche Deutung ſcheint eine

Stelle der peinlichen Gerichtsordnung zu ſprechen, worin

eine Anzahl von „böſen unvernünftigen“ Gewohnheiten an-

gegeben und misbilligt wird (k). Allein in dieſer Stelle wird

nicht etwa das Princip aufgeſtellt, worauf es hier ankommt,

daß die unvernünftigen Gewohnheiten an ſich ungültig,

und zur Bildung eines Rechtsſatzes untauglich ſeyen:

vielmehr findet es der Kaiſer nöthig, ſie aus ſeiner Macht

aufzuheben, was alſo ihre Rechtsgültigkeit bis zu dieſer

Aufhebung vorausſetzt, wenn man nicht in dem Geſetz

einen höchſt ungenauen Ausdruck annehmen will.

Faßt man dieſe drey letzten Bedingungen als ein Gan-

zes auf, ſo ergiebt ſich daraus folgender, aus dem Weſen

des Gewohnheitsrechts hervorgehender Sinn. Die Rechts-

regel entſteht durch das gemeinſame Rechtsbewußtſeyn,

oder durch die unmittelbare Überzeugung von der Wahr-

heit und an ſich ſelbſt (ohne äußere Sanction) bindenden

 

(i) Glück 1 § 86 N. III. Vgl.

beſonders Puchta II. S. 49 fg.

(k) C. C. C. art. 218: „....

als wir dann auß Kayſerlicher

macht die ſelben hiemit auffheben,

vernichten und abthun, und hin-

fürter nit eingefürt werden ſol-

len.“ — Dieſe Stelle kann um

ſo weniger für eine allgemeine

Beſtimmung über die bleibende

Natur des Gewohnheitsrechts

gelten, als in ihr die Erwäh-

nung der Gewohnheiten zum

Theil nur zufällig iſt. Denn ei-

nige der von ihr aufgehobenen

Rechtsſätze gründeten ſich gar

nicht auf Gewohnheiten, ſondern

auf Landesgeſetze. Jene Stelle

alſo ging darauf aus, im Straf-

recht das Verhältniß des allge-

meinen zum partikulären Rechte

feſtzuſtellen, nicht das davon we-

ſentlich verſchiedene Verhältniß

des geſchriebenen zum ungeſchrie-

benen Recht.

12

|0234 : 178|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

Kraft der Regel. Dieſe Überzeugung kann ſich offenbaren

durch gleichförmige einzelne Handlungen, das heißt durch

Gewohnheit. Dann müſſen aber dieſe Handlungen nicht

von dem Bewußtſeyn der Willkührlichkeit begleitet ſeyn,

wie z. B. Freygebigkeit, oder auch ein häufig vorkommen-

des Verbrechen, bey welchem ja kein Handelnder an ſei-

nem Unrecht, alſo an der individuellen Willkühr ſeines

Thuns zweifelt. Sie dürfen aber eben ſo wenig aus einem

erweislichen Irrthum hervorgehen, denn auch in dieſem

Fall liegt in ihnen nicht der Ausdruck jener unmittelbaren

Überzeugung, worauf allein Alles ankommt (l). Ein ſehr

erläuterndes Beyſpiel iſt es, wenn etwa der Richter aus

Verſehen eine ungloſſirte Stelle des Juſtinianiſchen Rechts

zur Anwendung bringt, blos weil in ſeiner Ausgabe ſolche

Stellen nicht augenſcheinlich von den anderen unterſchieden

ſind (§ 17); thun ihm das auch Mehrere nach, ſo entſteht

daraus dennoch kein Gewohnheitsrecht. — Betrachten wir

alſo den Irrthum und die Unvernünftigkeit blos als ſolche

Eigenſchaften des Handelns, wodurch es unfähig wird,

zur Anerkennung eines Gewohnheitsrechts mitzuwirken,

ſo erſcheint die Bedingung ihrer Abweſenheit nicht als

(l) L. 39 de leg. (1. 3.) „Quod

non ratione introductum, sed

errore primum, deinde consue-

tudine obtentum est: in aliis

similibus non obtinet.” Das

heißt: wenn die Gewohnheit aus-

ging nicht von einer gemeinſa-

men Rechtsüberzeugung, ſondern

ſogar erweislich von einem Irr-

thume (der jene Überzeugung

nothwendig ausſchließt), ſo iſt

deshalb kein Gewohnheitsrecht

anzunehmen, und wir finden alſo

darin keinen Grund, die künfti-

gen Fälle gleicher Art nach die-

ſer Regel zu beurtheilen.

|0235 : 179|

§. 29. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.

verſchieden von der allgemeinen Bedingung der necessita-

tis opinio, ſondern als eine bloße Folge oder Entwicklung

derſelben. Da auf dieſem Punkt die richtige Einſicht in

die Natur des Gewohnheitsrechts hauptſächlich beruht,

ſo wird es nicht überflüſſig ſeyn, das hier Geſagte durch

einige Beyſpiele zu erläutern. Das Römiſche Recht ver-

bietet, Zinſen von Zinſen zu nehmen. Wenn nun an einem

Ort dieſe Art des Wuchers ſehr gewöhnlich wäre, aber

ſtets künſtlich verſteckt würde, ſo könnte ſchon deswegen

kein Gewohnheitsrecht angenommen werden, weil aus der

Verheimlichung die Abweſenheit der rechtlichen Überzeu-

gung klar wäre. Dagegen iſt es in dem Handelsſtand

allgemein üblich, am Ende eines Jahres, zuweilen ſelbſt

eines kürzeren Zeitraums, Abſchlüſſe zu machen, und den

Saldo auf neue Rechnung zu übertragen, da er dann

ſogleich wieder Zinſen trägt, obgleich er ſelbſt zum Theil

aus Zinſen des abgeſchloſſenen Zeitraums beſteht. Das

iſt der Regel des Römiſchen Rechts allerdings entgegen,

aber es geſchieht offen und allgemein, und kann gar nicht

anders ſeyn, ohne die Einfachheit der Rechnungsführung

zu ſtören: auch paßt der Zweck des Römiſchen Verbots

auf dieſen Fall gar nicht. Hier iſt alſo das Verbot durch

eine allgemeine Gewohnheit des Handelsſtandes abgeſchafft,

wobey es gar nicht darauf ankommt, wie viele Einzelne

ſich von dieſem Zuſammenhang der Sache Rechenſchaft

geben mögen: denn Alle handeln ſo im Gefühl der Noth-

wendigkeit und Rechtmäßigkeit ihres Verfahrens. — Faſ-

12*

|0236 : 180|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

ſen wir nun aber dieſe Bedingungen des Gewohnheits-

rechts ſo auf, wie es hier dargeſtellt worden iſt, ſo erſchei-

nen dieſelben nicht blos auf einzelne Handlungen und

partikuläre Gewohnheiten anwendbar, ſondern auch auf

das noch wichtigere allgemeine Gewohnheitsrecht der neue-

ren Zeiten. Denn der Unterſchied, welcher oben in dem

praktiſchen Recht gemacht worden iſt, je nachdem es aus

einer falſchen Theorie hervorgieng, oder aber aus der

Beachtung der veränderten Zuſtände und Bedürfniſſe (§ 20)

— dieſer Unterſchied iſt in der That nichts Anderes, als die

Anwendung des hier entwickelten Grundſatzes. Die fal-

ſche Theorie iſt ein errore, non ratione obtentum, und

daher unfähig, als Gewohnheitsrecht zu gelten und zu

wirken: die aus dem Bedürfniß unſerer Verhältniſſe her-

vorgegangene Praxis dagegen hat die ratio, die nesessi-

tatis opinio, zur Grundlage, und muß daher als wahres

Gewohnheitsrecht gelten, ſelbſt wenn in die Verſuche einer

theoretiſchen Rechtfertigung derſelben auch mancher hiſto-

riſche Irrthum eingemiſcht ſeyn ſollte.

8) Endlich ſtellen Manche noch als eine beſondere,

ſelbſtſtändige Bedingung, die Publicität der einzelnen Hand-

lungen auf. Allerdings kann manche einzelne Handlung

durch ihre Öffentlichkeit zur Darlegung eines Gewohn-

heitsrechts beſonders tauglich, manche andere durch ihre

Verſtecktheit dazu ungeſchickt werden, wie es eben an eini-

gen Beyſpielen nachgewieſen worden iſt. Das liegt darin,

daß die Handlung durch dieſe Umſtände mehr oder weniger

 

|0237 : 181|

§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.

fähig wird, Kennzeichen einer zum Grund liegenden Rechts-

überzeugung zu ſeyn. Diejenigen aber, welche der Pu-

blicität eine eigenthümliche Wichtigkeit beylegen, gehen

dabey entweder von dem consensus populi oder dem con-

sensus principis aus, alſo von einem Grundirrthum über

das Weſen des Gewohnheitsrechts (§ 28). Nach dieſer

Auffaſſung kann daher die allgemeine Forderung der Pu-

blicität der Handlungen gar nicht eingeräumt werden (m).

§. 30.

Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen.

Fortſetzung.

Wenn wir von dem Beweiſe eines Gewohnheitsrechts

in praktiſcher Beziehung reden, ſo denken wir dabey an

einen Rechtsſtreit, worin eine Partey jenes Recht für ſich

geltend macht; wir fragen, wie der Richter zur Überzeu-

gung von demſelben gelange. Eine befriedigende Antwort

auf dieſe Frage iſt aber nur möglich, wenn wir zuvor

die allgemeinere Frage unterſuchen, wie überhaupt (ohne

Rückſicht auf einen Richter) die Erkenntniß von dem Da-

ſeyn und Inhalt eines Gewohnheitsrechts entſtehe (a).

 

Denken wir zunächſt an die Mitglieder derjenigen Ge-

noſſenſchaft, in welcher das Gewohnheitsrecht entſtanden

iſt, und fortdauernd lebt und wirkt (§ 7. 8.), ſo beant-

wortet ſich die Frage von ſelbſt; ihre Erkenntniß iſt eine

 

(m) Puchta II. S. 40 fg.

(a) Vgl. überhaupt Puchta Gewohnheitsrecht II. Buch 3 Kap. 3.4.

|0238 : 182|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

unmittelbare, da das Weſen jenes Rechts eben auf

dem gemeinſamen Rechtsbewußtſeyn dieſer Mitglieder be-

ruht. Inſofern kann man ſagen, daß jedes Gewohnheits-

recht auf Notorietät beruht (b). Man wende nicht ein,

daß dieſes zu viel beweiſe, indem nun niemals über ein

Gewohnheitsrecht geſtritten und Beweis verlangt werden

könne. Alles kommt darauf an, für wen und in welchem

Kreiſe Etwas notoriſch iſt. Nichts iſt notoriſcher in jedem

Volk, als ſeine geſammte Sprache; und doch wird der

Fremde, der ein Land betritt, von dieſer Sprache viel-

leicht kein Wort verſtehen. Eben ſo iſt es mit dem Ge-

wohnheitsrecht für Diejenigen, die außer dem Kreiſe jenes

gemeinſamen Rechtsbewußtſeyns ſtehen, und deren Erkennt-

niß des Gewohnheitsrechts daher nur eine mittelbare

oder künſtliche ſeyn kann. Nur dürfen wir dabey nicht

blos an Fremdlinge denken, denn es gehören dahin gewiß

auch alle Unmündige, und für viele Rechtsſätze auch die

Frauen. Alſo auch innerhalb des Volks, in welchem das

Gewohnheitsrecht beſteht, müſſen wir die Wiſſenden oder

Kundigen von denjenigen unterſcheiden, die an dem gemein-

ſamen Rechtsbewußtſeyn nicht wirklichen Antheil nehmen,

deren Rechtsverhältniſſe aber nicht minder unter dem Ge-

wohnheitsrecht ſtehen. Ja die Anzahl dieſer Kundigen

wird ſehr verſchieden ſeyn können je nach dem Inhalt

(b) L. 36 de leg. (1. 3.)

„Immo magnae auctoritatis hoc

jus habetur, quod in tantum

probatum est, ut non fuerit

necesse scripto id comprehen-

dere.”

|0239 : 183|

§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.

der einzelnen Rechtsregeln, und je nach der Sinnesart

und Bildungsſtufe des Volks; für eigentliche Juriſten ſind

ſolche des Gewohnheitsrechts Kundige in keinem Fall zu

halten. Auf einem ſolchen Zuſtand unmittelbarer Erkennt-

niß des Gewohnheitsrechts beruhte das altgermaniſche In-

ſtitut der Schöffengerichte, die aus Kundigen zuſammen-

geſetzt waren.

Es iſt nun ferner anzugeben, wie für Diejenigen, die

außer dem Kreiſe der Kundigen ſtehen, die ihnen allein

zugängliche mittelbare Erkenntniß des Gewohnheitsrechts

entſtehen könne, zu deren Erwerb ſie bald durch das eigene

Intereſſe an ihren Rechtsverhältniſſen, bald durch das

uneigennützige Bedürfniß der Belehrung, angetrieben wer-

den können. Sie können dieſe Erkenntniß erlangen erſtlich

durch einzelne Fälle der Übung, und wie dieſe beſchaffen

ſeyn müſſen, um zu einem ſolchen Zweck tauglich zu ſeyn,

iſt bereits beſtimmt worden (§ 29). Zweytens durch das

Zeugniß Derjenigen, die als Kundige eine unmittelbare

Erkenntniß haben. Ein ſolches Zeugniß kann geſucht und

gegeben werden für das vorübergehende Bedürfniß einer

einzelnen, in der Gegenwart wichtigen Rechtsfrage; es

kann aber auch in Aufzeichnungen niedergelegt ſeyn, deren

Wirkſamkeit eine größere Ausdehnung und Dauer hat.

 

Solche Zeugniſſe für ein einzelnes Vedürfniß der Ge-

genwart waren die von den alten Schöffen ausgeſtellten

Weisthümer (c). Auch den Römern war ein ſolches Ver-

 

(c) Eichhorn deutſches Privatrecht §. 5. 14. 26. — Manche

|0240 : 184|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

fahren nicht fremd, welches ſich aus folgendem merkwür-

digen Fall ergiebt. Juſtinian war gebeten worden, über

das foenus nauticum (bey uns Bodmerey genannt), ein

neues Geſetz zu geben. Er befahl einem Beamten, ſolche

Perſonen, die dieſes Gewerbe betrieben, über die darin

beobachteten Rechtsregeln eidlich als Zeugen zu verneh-

men, und in Gemäßheit dieſer Ausſagen erließ er ein Ge-

ſetz, wodurch der Inhalt der erkundeten Gewohnheiten

beſtätigt wurde (d). Wie ſelbſt in unſrer Zeit eine ſolche

Erforſchung des Gewohnheitsrechts durch das Bedürfniß

einzelner Fälle veranlaßt werden könne, wird ſogleich be-

merkt werden, da wo von dem Verhalten des Richters in

Beziehung auf ein zweifelhaftes Gewohnheitsrecht die

Rede ſeyn wird.

Unter die Aufzeichnungen, die ein Gewohnheitsrecht

auch für weitere Kreiſe und für künftige Zeiten bezeugen,

gehören zuerſt auch viele Weisthümer, die nicht durch das

Bedürfniß eines einzelnen Falles veranlaßt waren. Fer-

ner gehören dahin größtentheils die alten Völkergeſetze,

die ſpäteren Rechtsbücher, die Deutſchen Stadt- und Land-

rechte, die Statuten Italieniſcher Städte, und die Franzö-

 

möchten glauben, ein ſolches Ver-

fahren ſey nur in ſo einfachen

Zeiten, wie die der alten Schöf-

fen waren, möglich, nicht in un-

ſrer Zeit. Zur Widerlegung dient

England, wo man noch in un-

ſren Tagen ſehr geübt iſt in der

Erforſchung von Volkszuſtänden

aller Art, durch Vernehmung

von Sachkundigen der verſchie-

denſten Stände. Die dort übli-

chen Formen könnten theilweiſe

auch bey uns angewendet werden,

da wo es auf die Feſtſtellung ei-

nes Gewohnheitsrechts ankommt.

(d) Nov. 106. Vgl. Puchta

I. S. 116. II. S. 133.

|0241 : 185|

§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.

ſiſchen Coutumes. Allerdings findet ſich in dieſen ver-

ſchiedenartigen Sammlungen nicht ſelten geſetzliches Recht

zur Ergänzung eingemiſcht; ganz beſonders aber haben

ſie ſpäter in ähnlicher Art wie eigentliche Geſetze gewirkt,

ſo daß darüber ihre urſprüngliche Beſtimmung, als auf-

gezeichnetes Gewohnheitsrecht zu gelten, großentheils in

Vergeſſenheit gerathen iſt.

Es wäre zu wünſchen, daß in dem Geiſt dieſer Samm-

lungen früherer Zeit auch noch jetzt für die Verbreitung

und Erhaltung des beſtehenden Gewohnheitsrechts geſorgt

würde. Dieſes iſt die wahre Aufgabe der ſogenannten

Provinzialgeſetzbücher, die ſich von allgemeinen Geſetzbü-

chern beſonders dadurch unterſcheiden, daß ſie nicht, wie

dieſe, über das ganze Rechtsſyſtem Rede zu ſtehen haben,

ſondern nur über ſolche Gegenſtände, worüber die Ver-

faſſer gerade jetzt Etwas wiſſen, ſo daß ſie den Stoff mit

ihrem Denken völlig beherrſchen. Bedenklich aber iſt es,

eine ſolche Arbeit als etwas Augenblickliches, Abgeſchloſſe-

nes zu behandeln, ſo wie ein gewöhnliches Geſchäft, das

jetzt fertig werden muß; beſſer, wenn ſie als etwas all-

mälig Fortſchreitendes, in ſich Wachſendes, mit höheren

Gerichten in Verbindung gebracht wird. Aller Erfolg

beruht dabey auf der rechten Auswahl der Arbeiter, in

welchen zwey mögliche Einſeitigkeiten verderblich werden

können: die Vorliebe für die Centraliſation und Unifor-

mität des Rechts, wodurch allerdings die Bequemlichkeit

der Richter, und die Aufſicht auf die Geſchäftsmaſchine

 

|0242 : 186|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

ſehr befördert wird; auf der andern Seite aber die Lieb-

haberey an dem Eigenthümlichen und Alterthümlichen als

ſolchem. Dieſe Liebhaberey iſt ſchön und gut, aber die

eigentliche Wahrhaft iſt doch ſchöner, und die Sorge für

das Bedürfniß der lebendigen Gegenwart iſt doch beſſer. —

Soll nun eine ſolche Arbeit wahrhaft gelingen, ſo muß

ſie in derſelben Weiſe unternommen werden, wie vormals

die Weisthümer abgefaßt wurden; insbeſondere iſt dabey

die ſorgfältige Erkundigung auch bey Nichtjuriſten nicht

zu verſchmähen, bey welchen oft, neben dem Mangel an

wiſſenſchaftlicher Bildung, die anſchaulichſte Kenntniß von

dem Weſen der Rechtsverhältniſſe ſelbſt anzutreffen ſeyn

wird (Note c).

Von dieſer allgemeinen Betrachtung über die verſchie-

denen Arten, zur Erkenntniß eines Gewohnheitsrechts zu

gelangen, gehen wir jetzt über zu der beſondern Lage eines

Richters, der nach einem ſolchen Recht zu urtheilen hat.

Hierüber iſt folgende Anſicht ſehr verbreitet. Das Ge-

wohnheitsrecht ſey eine Thatſache, wie jede andere, die

zur Begründung eines Rechts gehöre, z. B. das Daſeyn

eines Vertrags oder Teſtaments. Der Richter nehme

keine Thatſache an, die ihm nicht von einer Partey ange-

führt und bewieſen werde; daher gelte über die Beweis-

laſt, und über die Führung des Beweiſes, in Beziehung

auf das Daſeyn eines Gewohnheitsrechts, alles Dasje-

nige, was in Beziehung auf andere Thatſachen, wie Ver-

träge und Teſtamente, von Keinem bezweifelt werden

 

|0243 : 187|

§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.

könne. — Allerdings haben Manche dieſe Anſicht in der

Anwendung gemildert, und dadurch das Bedenkliche der-

ſelben vermindert; ſie muß aber vielmehr von Grund aus

verworfen werden (e).

Jedes Rechtsverhältniß hat eine zwiefache Grundlage,

eine allgemeine und eine beſondere: jene iſt die Rechtsre-

gel, dieſe beſteht in den Thatſachen, wodurch die Anwen-

dung der Regel auf den einzelnen Fall vermittelt wird

(§ 5). Die Rechtsregel kann und ſoll der Richter kennen

(jus novit curia), von den Thatſachen kann und darf er

Nichts wiſſen, ſo lange nicht eine Partey ſie ihm ange-

führt und zur Überzeugung gebracht hat. Dieſer Gegen-

ſatz bleibt derſelbe, die Rechtsregel mag nun aus Geſetzen,

aus dem Gewohnheitsrecht, oder der Wiſſenſchaft hervor-

gegangen ſeyn. Jene Lehre alſo beruht auf einer Ver-

wechslung beider Grundlagen des Rechtsverhältniſſes,

indem ſie auf die Erkenntniß der Rechtsregel Dasjenige

überträgt, was nur von der Erkenntniß der beſonderen

Thatſachen des einzelnen Falles wahr iſt; denn von die-

ſen allein gilt die bemerkte Nothwendigkeit des Beweiſes

nach beſtimmten Prozeßregeln, und eben um dieſe wich-

tige Eigenthümlichkeit derſelben zu bezeichnen, nennen wir

ſie allein Thatſachen, wenn wir dieſen Ausdruck im

techniſchen Sinn gebrauchen. Dadurch erhält dieſer Aus-

druck, wie es bey jeder techniſchen Beſchränkung geſchieht,

 

(e) Puchta I. S. 105. II. S.

151 fg. Vgl. auch Lange Begrün-

dungslehre des Rechts, Erlangen

1821. § 16.

|0244 : 188|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

eine zweydeutige Natur, und dieſe Zweydeutigkeit hat die

erwähnte Verwechslung erzeugt oder doch befeſtigt. Denn

in einem allgemeineren Sinn kann man allerdings auch

die Entſtehung des Gewohnheitsrechts eine Thatſache nen-

nen, und das geſchieht eben von den Vertheidigern jener

Lehre. Wollten ſie aber hierin conſequent bleiben, ſo

müßten ſie daſſelbe Verfahren auch auf die Geſetze anwen-

den; denn auch das Geſetz beruht auf der Thatſache der

Promulgation, und der Richter dürfte alſo kein Geſetz

zur Anwendung bringen, deſſen Daſeyn und Inhalt ihm

nicht von einer Partey angegeben und bewieſen wäre.

Dieſes aber iſt wohl noch von Keinem behauptet worden,

obgleich hierin Geſetz und Gewohnheitsrecht, von dem

Standpunkt allgemeiner Betrachtung aus, vollkommen

gleiche Natur haben. Wollte man insbeſondere die hier

dargeſtellte Lehre (welches auch ihre innere Wahrheit ſeyn

möchte) aus dem Römiſchen Recht zu begründen verſu-

chen (f), ſo könnte auch dieſes nicht zugegeben werden, da

in der That das Römiſche Recht über den Beweis des

Gewohnheitsrechts keine Vorſchriften aufſtellt.

Dennoch iſt in dieſer, der Hauptſache nach irrigen, Lehre

ein wahres Element enthalten, und nur indem wir dieſes aner-

kennen, und in ſeine wahren Gränzen einſchließen, dürfen wir

hoffen, den damit vermiſchten Irrthum völlig zu beſeitigen (g).

 

(f) So ſcheint es anzuſehen

Eichhorn deutſches Privatrecht

§ 26.

(g) Vgl. Puchta Gewohnheits-

recht II. S. 165 fg.

|0245 : 189|

§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.

Unſer Rechtszuſtand iſt ein künſtlicher geworden; wir for-

dern von dem Richter ein wiſſenſchaftliches Rechtsſtudium,

über welches er ſich durch beſtimmte Prüfungen ausweiſen

muß, und dadurch wird ſeine Stellung eine ganz an-

dere als die der alten Schöffen war. Dieſe legten

bey jedem Rechtsſtreit Zeugniß ab von dem im Volk

lebenden Recht, deſſen unmittelbares Bewußtſeyn ihnen

beywohnte wie allen Übrigen, nur vielleicht durch größere

Übung reiner und vollſtändiger als Anderen. Indem wir

von dem heutigen Richter auf einer Seite weit mehr for-

dern, als von jenen gefordert wurde, müſſen wir auf der

anderen Seite unſere Forderungen herabſtimmen. Er ſoll

urtheilen mit Hülfe der nicht ohne Aufwand vieler Kräfte

erworbenen Wiſſenſchaft, daher können wir nicht erwar-

ten, daß er auch durch das Leben im Volke ein unmit-

telbares Rechtsbewußtſeyn, gleich den alten Schöffen,

erworben haben werde (h). Daraus folgt nun, daß unſer

heutiger Richter ſich anders verhalten muß zu dem Theil

des Rechts, welcher aus Geſetz oder Wiſſenſchaft, anders

zu dem, welcher aus Gewohnheitsrecht hervorgegangen

(h) Theilweiſe gründet ſich

dieſe Verſchiedenheit allerdings

auf den Umſtand, daß wir ein

fremdes Recht angenommen ha-

ben, welches ſeiner Natur nach

ſtets ein gelehrtes Studium nö-

thig macht; dennoch wäre es ir-

rig, hierin auch nur den Haupt-

grund zu ſuchen. Die Engländer

haben kein fremdes Recht, aber

die Maſſe ihrer Parlamentsacte

und Präjudicien iſt ſo ungeheuer,

daß die nothwendige Kenntniß

derſelben dem heutigen Engli-

ſchen Richter, eben ſo wie bey

uns das Studium des Römiſchen

Rechts, einen’ völlig verſchiedenen

Character von dem der alten

Schöffen giebt.

|0246 : 190|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

iſt. Das geſetzliche und wiſſenſchaftliche Recht kann und

ſoll er kennen, und er verletzt ſeine Amtspflicht, wenn er

aus Unkenntniß deſſelben unrichtig urtheilt; mit dem Ge-

wohnheitsrecht ſteht es für ihn nicht alſo. Die Partey

folglich, die ſicher ſeyn will, daß nicht zu ihrem Schaden

eine Regel des Gewohnheitsrechts überſehen werde, muß

dieſe Regel dem Richter anzeigen, und zugleich zur Über-

zeugung bringen; verſäumt ſie jenes, oder mislingt ihr

dieſes, ſo hat ſie ſich ſelbſt den Nachtheil zuzuſchreiben,

und den Richter trifft im Allgemeinen kein Vorwurf.

Hierin alſo liegt die unverkennbare praktiſche Ähnlich-

keit zwiſchen dem Gewohnheitsrecht und den eigentlichen,

wahren Thatſachen; denn auch dieſe müſſen allegirt und

bewieſen werden. Dennoch iſt dieſe Ähnlichkeit ſehr ver-

ſchieden von gänzlicher Übereinſtimmung, indem nämlich

folgende ſehr wichtige praktiſche Verſchiedenheiten daneben

beſtehen (i). Die Thatſache darf der Richter niemals ſup-

pliren, wenn nicht eine Partey ſie vorbringt; das Ge-

wohnheitsrecht darf und ſoll er beachten, wenn er auch

nur zufällig Kenntniß davon hat. Die Thatſache muß

in beſtimmten Zeitpunkten des Rechtsſtreits vorgebracht,

und nach beſtimmten Regeln und Formen des Prozeſſes

bewieſen werden; das Gewohnheitsrecht kann in jeder

Lage des Rechtsſtreits auf die Beurtheilung Einfluß be-

kommen, und über die Art der Beweisführung hat dabey

der Richter ganz freye Macht. Das Gewohnheitsrecht

 

(i) Puchta Gewohnheitsrecht II. S. 169. 176. 187 fg.

|0247 : 191|

§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.

iſt alſo hierin völlig ähnlich den ausländiſchen Geſetzen,

von welchen die Entſcheidung manches Rechtsſtreits ab-

hängig ſeyn kann. Ihre Kenntniß wird von dem Richter

nicht gefordert, und die Partey muß ſie angeben und

beweiſen, ganz wie es hier von dem Gewohnheitsrecht

bemerkt worden iſt, alſo auch ohne daß ſie dadurch mit

eigentlichen Thatſachen völlig auf gleiche Linie treten.

Kommt es alſo in einem Rechtsſtreit auf ein Gewohn-

heitsrecht an, ſo wird der Richter, um darüber Gewiß-

heit zu erlangen, nach freyer Erwägung der Umſtände

zu verfahren haben. Er kann ſeine Überzeugung ſchöpfen

aus einzelnen Fällen der Übung einer Rechtsregel, und

die nothwendige Beſchaffenheit ſolcher Fälle iſt ſchon oben

feſtgeſtellt worden (§ 29). Er kann aber auch ſolche Per-

ſonen, die des Gewohnheitsrechts unmittelbar kundig ſind,

über deſſen Inhalt vernehmen, die dann nicht ſowohl als

Zeugen, denn als Sachverſtändige betrachtet werden müſ-

ſen, da ſie nicht über einen Gegenſtand ſinnlicher Wahr-

nehmung befragt werden (k). Es wäre nicht richtig, die-

ſes Verfahren als unmittelbare Anwendung des Juſtinia-

niſchen Geſetzes, welches davon redet, zu betrachten

(Note d); denn Juſtinian ſagt nicht, was der Richter

thun ſolle, um ein Gewohnheitsrecht zu erfahren, ſondern

was er ſelbſt gethan habe, um in einem beſtimmten Fall

 

(k) Puchta II. S. 125 fg. S.

135 fg. Er führt auch frühere

Schriftſteller an, die dieſes Ver-

fahren billigen. — Vgl. oben

Note c.

|0248 : 192|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

ein dem Gewohnheitsrecht entſprechendes Geſetz vorzube-

reiten. Indem aber der Richter dieſes Beyſpiel befolgt,

handelt er gewiß im Geiſt unſrer Geſetze, und inſofern

kann auch die angeführte Novelle als Rechtfertigung dieſes

Verfahrens dienen. — Geſetzt, dieſelbe Regel des Ge-

wohnheitsrechts, die jetzt in einem Rechtsſtreit angeführt

und beſtritten wird, wäre ſchon in einem früheren Rechts-

ſtreit geltend gemacht worden, und es hätte ſie derſelbe

oder ein anderer Richter, nach ſorgfältiger Prüfung, als

wahr anerkannt, ſo wäre dieſes frühere Urtheil eine wich-

tige Autorität, gleichſam ein amtliches Zeugniß, wodurch

die gegenwärtige neue Erforſchung erleichtert oder ganz

entbehrlich gemacht werden könnte; um ſo mehr, als in

jenem früheren Rechtsſtreit der Widerſpruch des Gegners

die Aufmerkſamkeit des prüfenden Richters geſchärft haben

muß. Daher giebt Ulpian mit Recht dem Richter den

Rath, vor Allem nach ſolchen früheren Präjudicien über

das gegenwärtig beſtrittene Gewohnheitsrecht Erkundigung

anzuſtellen (l).

Wir dürfen jedoch nicht vergeſſen, daß dieſe etwas

abweichende Behandlung des Gewohnheitsrechts, in Ver-

gleichung mit anderen Rechtsquellen, nicht in dem Weſen

 

(l) L. 34 de leg. (1. 3.) „Cum

de consuetudine civitatis vel

provinciae confidere quis vide-

tur: primum quidem illud ex-

plorandum arbitror, an etiam

contradicto aliquando judicio

consuetudo firmata sit.” Vgl.

Puchta I. S. 96. II. S. 129 fg.

— Mit Unrecht haben Manche

hieraus die Nothwendigkeit

richterlicher Urtheile zur Begrün-

dung eines Gewohnheitsrechts

herleiten wollen (§ 29).

|0249 : 193|

§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.

jenes Rechts ſelbſt ihren Grund hat, ſondern in den un-

vermeidlichen Unvollkommenheiten unſres Rechtszuſtandes,

die wir nicht zu verantworten haben, wohl aber ausglei-

chen müſſen, ſo gut wir können. Daher iſt es nöthig,

den Fall dieſer Abweichungen, die ſtets als Nothhülfe an-

zuſehen ſind, in ſo enge Gränzen als möglich einzuſchlie-

ßen. Es kann nun davon nicht die Rede ſeyn, zuvörderſt

bey den dem gemeinen Recht angehörenden Gewohnheiten.

Denn dieſe ſind ohne Ausnahme durch das Medium wiſ-

ſenſchaftlicher Verarbeitung und Anerkennung hindurch

gegangen, und tragen alſo den volksmäßigen Character

nicht an ſich, der den Grund der hier dargeſtellten Schwie-

rigkeit ausmacht. Wenn alſo eine Partey, mit dem Wi-

derſpruch des Gegners, behauptet, daß das nudum pactum

eine Klage bewirke, oder daß die leges restitutae im Co-

dex, imgleichen die publiciſtiſchen Sätze des Römiſchen

Rechts, keine praktiſche Geltung haben, ſo ſind dieſes

zwar Sätze des allgemeinen Gewohnheitsrechts; aber kein

Richter wird darüber ein Beweisverfahren anſtellen, durch

Aufſuchung einzelner Fälle der Übung jener Sätze, oder

durch Abhörung kundiger Zeugen über dieſelben. — Da-

durch beſchränkt ſich alſo die Anwendung jener Abwei-

chungen auf das partikuläre Gewohnheitsrecht. Aber

auch in dieſem wird ſie wegfallen, wenn durch die oben

als wünſchenswerth dargeſtellten Maaßregeln für die

Sammlung und Aufzeichnung des beſtehenden Gewohn-

heitsrechts im Allgemeinen vorgeſorgt iſt. Werden in

13

|0250 : 194|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

unſren Tagen ſolche Sammlungen veranſtaltet, ſo wird

darüber ohnehin nicht leicht ein Zweifel entſtehen können,

weil die Sammlungen ſelbſt meiſt eine geſetzliche Beſtäti-

gung erhalten werden.

Was endlich die Wirkungen des Gewohnheitsrechts

betrifft, ſo mußte daſſelbe im Allgemeinen wohl den Ge-

ſetzen gleich geſtellt werden, da dieſe Gleichheit im Rö-

miſchen Recht, das man hierin als Norm anerkannte,

ganz ausdrücklich vorgeſchrieben war. In jedem einzelnen

Fall eines Gewohnheitsrechts aber konnte ſich dieſe Wir-

kung auf zweyerley Weiſe äußern, je nachdem für die-

ſelbe Rechtsfrage auch ſchon ein Geſetz vorhanden war,

oder nicht. Im letzten Fall entſtand keine Schwierigkeit,

indem nun das Gewohnheitsrecht unſtreitig in dieſem

Punkt die unvollſtändige Geſetzgebung ergänzte. Im

erſten Fall (wenn das Gewohnheitsrecht mit einem Geſetz

im Widerſtreit ſtand) führte das Princip der Gleichheit

dahin, jederzeit dem neueren unter dieſen beiden Rechten

den Vorzug zu geben, ohne Unterſchied, ob es das Geſetz

war oder das Gewohnheitsrecht. Einigen Zweifel hieran

erregte allerdings die L. 2 C. quae sit longa consu. Den-

noch haben ſtets die Meiſten dem Gewohnheitsrecht die

Kraft der Abänderung früherer Geſetze eingeräumt, und

nur für gewiſſe Fälle, wegen jener Stelle des Codex,

eine Ausnahme behauptet (m). — In neuerer Zeit aber

iſt von Mehreren folgender Unterſchied geltend gemacht

 

(m) Vgl. die Beylage II.

|0251 : 195|

§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.

worden. Es ſoll entweder die Rede ſeyn von der bloßen

Abſchaffung eines Geſetzes durch Nichtgebrauch (desuetudo),

oder von der Verdrängung deſſelben durch ein Gewohn-

heitsrecht, welches eine andere Regel an die Stelle ſetze

(consuetudo obrogatoria). Die letzte ſey immer unbedenk-

lich erlaubt, die erſte aber gänzlich zu verwerfen (n). —

Dieſer Unterſchied jedoch iſt zuerſt durch die angeführte

Stelle des Codex auch nicht einmal ſcheinbar begründet,

da dieſe, wenn man ſie buchſtäblich nehmen will, beide

Fälle gleichmäßig verwirft: denn eine Gewohnheit, die

eine neue Regel aufſtellt, z. B. die Strafe des Geſetzes

erhöht oder vermindert, überwindet ja eben ſo gut das

Geſetz als eine ſolche, die das Strafgeſetz blos aufhebt,

indem ſie die bisher ſtrafbare Handlung ſtraflos macht.

Auch in dem Weſen des Gewohnheitsrechts liegt kein

Grund für dieſe Unterſcheidung. Freylich kann ſich hinter

den Ausdruck desuetudo Etwas verſtecken, das gar nicht

Gewohnheitsrecht iſt, nämlich die Nichtanwendung eines

Geſetzes einen langen Zeitraum hindurch, weil gerade kein

Fall der Anwendung vorgekommen war. In einer ſolchen

Unterlaſſung kann ſich keine Rechtsüberzeugung offenbart

haben, alſo kann auch darin kein Gewohnheitsrecht liegen.

Dieſes kann vielmehr nur dann angenommen werden, wenn

(n) Die ausführliche Verthei-

digung dieſer Meynung iſt der

Zweck von: Schweitzer de de-

suetudine Lips. 1801. Für die-

ſelbe Anſicht erklärt ſich: (Hüb-

ner) Berichtigungen und Zuſätze

zu Höpfner S. 159. — Die rich-

tige Anſicht iſt ſehr befriedigend

dargeſtellt von Puchta Gewohn-

heitsrecht II. S. 199 fg.

13*

|0252 : 196|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

wirklich ſolche Fälle vorgekommen ſind, und man dennoch

die Anwendung des Geſetzes unterlaſſen hat. Dann aber

iſt in der That kein Grund vorhanden, der wahren,

eigentlichen Gewohnheit jener Nichtanwendung weniger

Kraft gegen das Geſetz einzuräumen, als derjenigen

Gewohnheit, welche eine andere poſitive Regel anſtatt

des Geſetzes aufſtellt. Ja eigentlich kann man jede

desuetudo auch zugleich ſo auffaſſen, daß dadurch eine

andere Regel ſubſtituirt wird. Denn wenn z. B. das Ver-

bot der Zinſeszinſen für die laufenden Rechnungen des

Handelsſtandes abgeſchafft wird, ſo iſt das allerdings

zunächſt eine desuetndo; allein dieſe hat zugleich die Folge,

daß in ſolchen Fällen die allgemeinere Rechtsregel an-

wendbar wird, wodurch alle nicht beſonders verbotene

Zinsverträge für gültig erklärt werden.

Eine Modification der Wirkung tritt ein, wenn eine

partikuläre Gewohnheit entweder mit dem Staatsintereſſe,

oder mit einem abſoluten allgemeinen Landesgeſetz in Wi-

derſtreit iſt. Hier muß der Gewohnheit, ſelbſt wenn ſie

neuer iſt als das Geſetz, jede Kraft abgeſprochen werden,

und dieſer Satz folgt nicht nur aus der richtigen Erklä-

rung der angeführten Stelle des Codex, ſondern auch aus

der Natur des Verhältniſſes eines einzelnen Theils des

Staates zum Ganzen (o). So würde z. B. ein neues

Wuchergeſetz allgemein angewendet werden müſſen, und

keine partikuläre Gewohnheit, möchte ſie vor oder nach

 

(o) Vgl. die angeführte Beylage II.

|0253 : 197|

§. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechtsq.

jenem Geſetz entſtanden ſeyn, dürfte dieſe Anwendung

hindern.

§. 31.

Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die

Rechtsquellen.

Die hier dargeſtellten Anſichten neuerer Schriftſteller

konnten nicht ohne Einfluß auf die in unſrer Zeit entſtan-

denen Geſetzbücher bleiben, und es ſoll nun noch angege-

ben werden, wie, von dem Standpunkt dieſer Geſetzbücher

aus, die Rechtsquellen zu betrachten ſind.

 

Das Preußiſche Landrecht (das älteſte unter ihnen)

hebt zuerſt das ganze bis dahin geltende gemeine Recht

auf, ſetzt ſich alſo allein an deſſen Stelle: und dieſe Auf-

hebung war ganz conſequent, indem alles Brauchbare aus

dem früheren Recht hier aufgenommen ſeyn ſollte (a). —

Für die Zukunft beſtimmt es zuerſt die Art, wie die Ge-

ſetze abgefaßt, und wie ſie bekannt gemacht werden ſoll-

ten (b). Auch das war nicht inconſequent, da ja über-

haupt das Landrecht viele Stücke des Staatsrechts in

ſich aufnahm; nur wurden einige Zeit nachher dieſe Be-

ſtimmungen ganz unzureichend befunden, und durch andere

erſetzt. — Das bisher geltende allgemeine Gewohnheits-

recht war in der Aufhebung des gemeinen Rechts mitbe-

griffen. Das partikuläre Gewohnheitsrecht ſollte geſam-

melt, und binnen zwey Jahren, ſoweit es brauchbar wäre,

 

(a) Publikationspatent § 1.

(b) L. R. Einleitung § 7—11.

|0254 : 198|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

neben den provinziellen Geſetzen, in Provinzialgeſetzbüchern

zuſammengeſtellt werden. Was hier nicht aufgenommen

wäre, ſollte nur gelten, inſoferne das Landrecht entweder

in einzelnen Stellen auf Ortsgewohnheiten verwieſe, oder

dadurch ergänzt würde (c). Über die künftige Entſtehung

eines neuen Gewohnheitsrechts iſt Nichts beſtimmt; ohne

Zweifel ſollte auch dieſes nur unter den zwey erwähnten

alternativen Vorausſetzungen, alſo auch nur als partiku-

läres Recht zuläſſig ſeyn. — Endlich über das wiſſen-

ſchaftliche Recht wird geſagt: „Auf Meynungen der Rechts-

lehrer, oder ältere Ausſprüche der Richter, ſoll, bey künf-

tigen Entſcheidungen, keine Rückſicht genommen wer-

den (d).“ Unter den Ausſprüchen der Richter ſind hier

gewiß die Präjudicien, nicht die rechtskräftigen Urtheile

gemeynt, obgleich der Ausdruck auf beide Arten der Ein-

wirkung bezogen werden könnte. Daß darauf, ſo wie

auf die Meynungen der Rechtslehrer, keine Rückſicht ge-

nommen werden ſoll, hat gewiß nur den Sinn, daß ihnen

keine bindende, den Geſetzen ähnliche Kraft beyzulegen iſt;

denn den Einfluß auf die Anſicht und Überzeugung des

künftigen Richters, alſo die (vielleicht unbewußte) Rück-

ſicht darauf kann ja kein Geſetz verhindern.

Das Franzöſiſche Geſetzbuch enthält, eben ſo con-

ſequent, über dieſe Gegenſtände keine directe Beſtimmung,

da es ſich überhaupt nicht auf das öffentliche Recht

 

(c) Publikationspatent § 7. — L. R. Einleitung § 3. 4.

(d) L. R. Einleitung § 6.

|0255 : 199|

§. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechtsq.

erſtreckt. Die Aufhebung des bisher geltenden fremden

Rechts, der königlichen Ordonnanzen, ſo wie der provin-

ziellen und örtlichen Rechte, inſofern deren Gegenſtand

in dem Code berührt wäre, wurde in einem beſondern

Geſetze ausgeſprochen (e). Der Code ſelbſt enthält nur

die wichtige indirecte Beſtimmung, daß kein Richter we-

gen der Dunkelheit oder Unzulänglichkeit der Geſetze ſein

Urtheil verweigern dürfe (f). Darin liegt die Berechtigung

des Richters, ſich in ſolchen Fällen ſelbſt zu helfen, wie

er kann; gegen den Misbrauch dieſes Rechts ſchützt der

Caſſationshof, ſo daß alſo hierin ein conſequent durchge-

führtes Syſtem wahrzunehmen iſt. Außerdem verweiſt

der Code in einigen wenigen Lehren (Servituten und

Miethvertrag) auf örtliche Gewohnheiten und Regle-

ments (g). Von der künftigen Rechtserzeugung wird

Nichts geſagt: ohne Zweifel aber iſt es ſo gemeynt, daß

ein allgemeines Gewohnheitsrecht künftig nicht entſtehen

ſoll, ein partikuläres aber nur in den wenigen Fällen,

(e) Loi du 21. Mars 1804 „à

compter du jour ou les lois

composant le code civil sont

exécutoires, les lois romaines,

les ordonnances, les coutumes

générales ou locales, les sta-

tuts et reglements ont cessé

d’avoir force de loi générale

ou particulière dans les ma-

tieres qui sont l’objet de ces

lois.” Coutumes générales ou

locales heißt nicht etwa allge-

meines oder partikuläres Gewohn-

heitsrecht, ſondern: Provinzial-

recht oder Stadtrecht (ohne Un-

terſchied, ob geſchrieben oder un-

geſchrieben). Gewohnheitsrecht

heißt usage.

(f) Code civil art. 4.

(g) Code civil art. 645. 650.

663. 671. 674. 1736. 1754. 1758.

1777. — Nur ſcheinbar gehören

dahin art. 1135. 1159. 1160.

|0256 : 200|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

worin der Code auch ſchon jetzt auf Ortsgewohnheiten

verweiſt.

Das Öſterreichiſche Geſetzbuch enthält die Auf-

hebung des gemeinen Rechts, und namentlich auch der

Gewohnheiten, im Einführungspatent von 1811. Im

Geſetzbuch ſelbſt wird über die Geſetzgebung Nichts be-

ſtimmt, wie es ſich denn überhaupt auf das Privatrecht

beſchränkt. Gewohnheiten ſollen nur bey den Gegenſtän-

den gelten, wobey ein Geſetz auf dieſelben verweiſt. Von

richterlichen Urtheilen wird nur geſagt, daß ſie nie die

Kraft eines Geſetzes haben, und daß ſie auf andere Fälle

oder andere Perſonen nicht ausgedehnt werden können (h).

 

Unter allen dieſen Beſtimmungen ſind minder wichtig

die, welche die Geſetzgebung betreffen, indem, was hierin

wichtig iſt, doch anderwärts, und nicht in dem allgemeinen

Geſetzbuch, ſeine Erledigung findet: eben ſo was das Ge-

wohnheitsrecht angeht, indem ohnehin dieſe Art der Rechts-

bildung, inſofern ſie als rein volksmäßig, und von dem

wiſſenſchaftlichen Recht unabhängig gedacht wird, in neue-

ren Zeiten weniger vorkommt. Wichtig dagegen iſt das

Verhältniß, in welches in jedem dieſer Staaten das Par-

tikularrecht zu dem allgemeinen Recht geſtellt iſt: dieſes

jedoch liegt außer dem Kreiſe unſrer Betrachtung. Das

allerwichtigſte aber iſt das Verhältniß der Geſetzbücher

zu dem wiſſenſchaftlichen Recht, das heißt einestheils der

fortwährende Einfluß der Literatur und des Gerichtsge-

 

(h) Öſterreichiſches Geſetzbuch § 10. 12.

|0257 : 201|

§. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechtsq.

brauchs auf die wirkliche Rechtspflege, anderntheils die

Art, wie das neue Recht von dem Richterſtand geiſtig

aufgenommen und verarbeitet werden ſollte: und zwar

nicht wie dieſes Verhältniß in den Geſetzbüchern ausdrück-

lich beſtimmt iſt (denn das iſt wenig oder Nichts), ſon-

dern wie man daſſelbe gedacht, erwartet, vorbereitet hat,

und wie es in der That geworden iſt. Hierin nun zeigt

ſich ein merkwürdiger Unterſchied (§ 21). In Preußen

hatte die ganze Reform keine politiſche Veranlaſſung, ſondern

lediglich den reinen, wohlwollenden Zweck, einen mangel-

haften Zuſtand zu verbeſſern, und etwas recht Gutes an

die Stelle zu ſetzen. Die fühlbarſten Übel aber hiengen

mit dem Zuſtand der juriſtiſchen Literatur zuſammen. In

dieſer fand ſich wohl Gelehrſamkeit und Forſchungsgeiſt,

alſo mancher gute Stoff, aber wenig Zuſammenhang,

und beſonders war der praktiſche Theil der Rechtswiſſen-

ſchaft hinter der allgemeinen Zeitbildung zurück geblieben,

und außer Anſehen gekommen. Daß der Zuſammenhang

mit dieſer Literatur ganz abſterbe, ſchien ein Vortheil, ja

nothwendig. Es iſt alſo augenſcheinlich, daß bey der

ganzen Unternehmung ähnliche Gedanken zum Grund

lagen, wie ſie einſt Juſtinian hegte (§ 26), nur mit den

Unterſchieden, die aus dem freyeren und geiſtigeren Zu-

ſtand unſrer Zeit hervorgehen mußten. Darum wurde

zu einer ähnlichen Unterdrückung aller Wiſſenſchaft über-

haupt kein Verſuch gemacht. Auf der Baſis des neuen

Geſetzbuchs ſollte vielmehr eine neue Rechtswiſſenſchaft

|0258 : 202|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

entſtehen, darauf war die große Ausführlichkeit des Ge-

ſetzbuchs, und ſelbſt deſſen lehrender Ton eingerichtet.

Der negative Theil dieſer Erwartung iſt unmittelbar in

Erfüllung gegangen, denn der Zuſammenhang mit der

früheren Rechtswiſſenſchaft hat größtentheils aufgehört.

Eine neue Rechtswiſſenſchaft aber ſchien beynahe Vierzig

Jahre lang auch nicht entſtehen zu wollen. Erſt ſeit Kur-

zem hat ſich hierin eine bedeutende Regſamkeit entwickelt,

welche zu den günſtigſten Erwartungen berechtigt. — In-

wieferne der eigentliche Zweck der neuen Geſetzgebung,

die Praxis ausſchließend und vollſtändig zu beherrſchen

und dadurch gleichförmig zu machen, erreicht worden iſt,

das würde ſich nur durch Vergleichung der in den einzel-

nen Gerichten herrſchenden Anſichten beurtheilen laſſen,

wozu es jedoch an literariſchem Material lange gefehlt

hat. Indeſſen iſt auch zur Förderung dieſes Zwecks nun-

mehr ein trefflicher Anfang gemacht worden (i).

Faſt Alles war anders in Frankreich (§ 21). Nicht

daß man den Zuſtand des Rechts ſchlecht, oder gar uner-

träglich gefunden hätte, war hier die Urſache der neuen

Geſetzgebung, ſondern dieſe gehörte zur natürlichen Ent-

wicklung der Revolution. Das Streben derſelben war

vorzüglich auf die Zerſtörung der hiſtoriſchen Verhältniſſe,

beſonders auch der Verſchiedenheit der Provinzen, gerich-

tet, und dieſe gleichſtellende Auflöſung alles örtlich Ver-

 

(i) Simon und Strampff Rechtsſprüche preußiſcher Gerichts-

höfe. Berlin 1828. fg. 8.

|0259 : 203|

§. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechtsq.

ſchiedenen in einem einfachen Frankreich ſollte nun auch

von Seiten des Privatrechts vollzogen werden; das war

der Hauptzweck des Code. Nun hatte vor der Revolu-

tion zwar die gelehrte Seite der Rechtswiſſenſchaft weit

niedriger geſtanden als in Deutſchland, die praktiſche Seite

dagegen höher. Die gerichtliche Beredſamkeit, die Ver-

bindung mit der geſelligen Bildung der großen Haupt-

ſtadt, der Glanz und Einfluß der Parlamente — Alles

hatte zuſammen gewirkt, um dem Stand und der Thä-

tigkeit der Richter und Advokaten höhere Vildung, und

durch dieſe auch bedeutendes Anſehen zu erhalten. Die

ſo entſtandene Jurisprudence zu verdrängen, dachte man

bey der Abfaſſung des Code nicht, man rechnete vielmehr

auf ihre ungeſtörte Fortdauer, und eben in dieſer Vor-

ausſetzung konnte man oft die wichtigſten Rechtsinſtitute

ſo kurz abfertigen. Der wirkliche Erfolg ſtimmt damit

ganz überein. Die neuere juriſtiſche Literatur ſteht mit

der früheren in ſo ununterbrochenem Zuſammenhang, daß

man kaum glauben ſollte, es liege zwiſchen ihnen eine ſo

wichtige Thatſache, wie die Erſcheinung des Code. Ja

es iſt vielleicht keine Seite des öffentlichen Lebens in

Frankreich, die durch die Revolution ſo wenig von Grund

aus erſchüttert und verändert worden wäre, als die bür-

gerliche Rechtspflege.

So hat ſich alſo auch hierin der verſchiedene Geiſt

der Nationen, mit ihren eigenthümlichen Vorzügen und

Schwächen, bewährt. Gewiß alſo werden Diejenigen,

 

|0260 : 204|

Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.

denen die höhere Leitung einer jeden obliegt, wohl thun,

deren beſonderes Bedürfniß zu bedenken, und zugleich die

Kräfte zu beachten, auf welche in ihr vorzugsweiſe zu

rechnen iſt, um Großes zu bewirken. Namentlich in

Deutſchland würde es nicht räthlich ſeyn, die Entwicklung

des Rechts in ähnlicher Art, wie es im Mittelalter und

noch ſpäterhin geſchah, ſich ſelbſt zu überlaſſen, woraus

eben die moderne Praxis entſtanden iſt. Auf der andern

Seite aber wäre es eben ſo wenig räthlich, wenn für

dieſen Zweck durch die höchſten Staatsbehörden (zunächſt

die Juſtizminiſterien) im gewöhnlichen Geſchäftsmechanis-

mus geſorgt würde, ſo wie für jedes laufende Geſchäft,

das eben, ſo gut es gelingen will, fertig gemacht werden

muß. Vielmehr iſt anzuerkennen, daß der Zweck nicht

erreicht werden kann durch Wiſſenſchaft allein, eben ſo

wenig aber durch Praxis allein, ſondern nur dadurch,

daß beide verbunden werden und ſich durchdringen. Die-

ſes aber könnte in jedem größeren Staate geſchehen durch

eine aus gründlichen Gelehrten und erfahrnen Geſchäfts-

männern gebildete Geſetzkommiſſion, die in fortgeſetzter

lebendiger Verbindung mit den höheren Gerichten ſtehen,

und durch dieſe die Erfahrungen des im Leben vorkom-

menden Rechts einſammeln müßte. Durch eine ſolche

Einrichtung würde mit Bewußtſeyn, und daher mit ſichre-

rem Erfolg, geſchehen, was in den früheren Jahrhunder-

ten bewußtlos geſchah. Zugleich wäre dieſe Einrichtung,

bey gänzlicher Verſchiedenheit der äußeren Form, dem

|0261 : 205|

§. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechtsq.

inneren Weſen nach ähnlich derjenigen Fortbildung, die

im Römiſchen Recht durch das jährlich revidirte präto-

riſche Edict bewirkt wurde. — Jedoch iſt dieſe Bemerkung

nur zu beziehen auf diejenige Fortbildung des Rechts,

welche durch die demſelben inwohnende organiſche Kraft,

alſo durch innere Entwicklung, bewirkt wird (§ 7). Dann

kann in dieſer Form Vieles von demjenigen zweckmäßig

und befriedigend geleiſtet werden, was außerdem der Ge-

ſetzgebung anheim fallen müßte (§ 13). Daß dieſer Ge-

genſatz nicht hier willkührlich erſonnen, ſondern durch Er-

fahrung bewährt, und im Großen (wenngleich vielleicht

nicht mit klarem Bewußtſeyn) anerkannt iſt, zeigt beſon-

ders das Beyſpiel ſolcher Staaten, worin das Recht der

Geſetzgebung durch künſtliches Zuſammenwirken verſchie-

dener Gewalten ausgeübt wird, wie in England und

Frankreich. Denn wie ſehr auch dieſe einzelnen Gewalten

ſich gegen jede Beſchränkung ihrer Theilnahme an jenem

wichtigen Recht eiferſüchtig zeigen, ſo liegt ihnen doch

jene innere, ſtille Rechtsbildung ſo ſehr außer dem Ge-

biet eines möglichen Streites, daß ſie dieſelbe ungeſtört

ſich ſelbſt überlaſſen. Nur wo zuweilen eine neue Rechts-

beſtimmung beſondere politiſche Beziehungen darbietet, fällt

ſie nothwendig der ſtrengen Form der Geſetzgebung an-

heim: noch mehr aber, wo das Recht auf eine ſo um-

faſſende und durchgreifende Weiſe umgebildet wird, wie

es in dem Geſetzbuch Napoleons geſchehen iſt.

|0262 : 206|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

Viertes Kapitel.

Auslegung der Geſetze.

§. 32.

Begriff der Auslegung.

Eintheilung in legale und doctrinelle.

Bis hierher wurde der Inhalt der Rechtsquellen als

die ſelbſtſtändige Regel des Rechts, mithin als ein Ge-

gebenes, betrachtet. Soll dieſe Regel in das Leben über-

gehen, ſo iſt es nöthig, daß wir von unſrer Seite etwas

dazu thun, daß wir ſie auf beſtimmte Weiſe in uns auf-

nehmen. Dieſe Aufnahme kann zu den verſchiedenſten

Anwendungen führen: in dem Gelehrten zur Ausbildung

der Wiſſenſchaft in vielartigen Formen; in dem Richter

zu Urtheilen und deren Ausführung; in den Einzelnen

zur Einrichtung ihrer Lebensverhältniſſe in beſtimmter Ge-

ſtalt. Die Eigenthümlichkeit ſolcher beſonderen Entwick-

lungen iſt unſrer Aufgabe fremd; ihnen Allen aber liegt als

Gemeinſames zum Grunde eine beſtimmte Weiſe, den In-

halt der Rechtsquellen aufzunehmen, und dieſes Gemein-

ſame ſoll in dem gegenwärtigen Abſchnitte dargeſtellt werden.

 

Das, was von unſrer Seite gefordert wird, iſt eine

geiſtige Thätigkeit, alſo, wie einfach es auch oft ausſehe,

ein wiſſenſchaftliches Geſchäft, Anfang und Grundlage

der Rechtswiſſenſchaft. Von dieſer war oben die Rede,

als von einem zur Rechtserzeugung mitwirkenden Princip;

 

|0263 : 207|

§. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle.

hier aber erſcheint ſie auf umgekehrte Weiſe, inſoferne ſie

das unabhängig von ihr entſtandene Recht aufnimmt und

zum beſtimmten Bewußtſeyn bringt.

Eine ſolche Aufnahme des Rechts iſt denkbar und

nothwendig bey allen Arten der Rechtsquellen. Jedoch

bey dem Gewohnheitsrecht und bey dem wiſſenſchaftlichen

Recht iſt das Geſchäft einfacherer Natur. Zwar über

das Weſen dieſer Arten der Rechtserzeugung kommen ſehr

einflußreiche Irrthümer vor, wovon ſchon oben gehandelt

worden iſt. Sind aber dieſe erkannt und vermieden, ſo

iſt das Geſchäft ſelbſt einer ins Einzelne gehenden Anwei-

ſung nicht bedürftig. Anders verhält es ſich mit den Ge-

ſetzen, bey welchen gerade dieſes Geſchäft oft eine ſehr

verwickelte Natur hat. Aus dieſem Grunde hat der ge-

genwärtige Abſchnitt die ſpecielle Bezeichnung von der

Auslegung der Geſetze erhalten.

 

Die hierin enthaltene freye Geiſtesthätigkeit läßt ſich

dahin beſtimmen, daß wir das Geſetz in ſeiner Wahr-

heit erkennen, das heißt ſo wie uns deſſen Wahrheit durch

Anwendung eines regelmäßigen Verfahrens erkennbar wird.

Sie iſt bey jedem Geſetze, wenn es in das Leben eingrei-

fen ſoll, nothwendig, und in dieſer ihrer allgemeinen Noth-

wendigkeit liegt zugleich ihre Rechtfertigung. — Ihre

Anwendbarkeit iſt alſo nicht etwa, wie Viele annehmen,

bedingt durch den ganz zufälligen Umſtand der Dunkelheit

eines Geſetzes (§ 50). Allerdings kann ſie dadurch beſon-

ders wichtig und erfolgreich werden. Allein jene Eigen-

 

|0264 : 208|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

ſchaft des Gefetzes iſt eine Unvollkommenheit, und es iſt

nöthig von der Betrachtung des geſunden Zuſtandes aus-

zugehen, um für den mangelhaften Zuſtand ſicheren Rath

zu finden. — Eben ſo aber iſt auf der anderen Seite

jene Thätigkeit nicht etwa ausgeſchloſſen durch einen hohen

Grad der Dunkelheit (a). Vielmehr müſſen wir behaup-

ten, daß namentlich den Richter, nach der allgemeinen

Natur ſeines Amtes, die Dunkelheit eines Geſetzes niemals

abhalten darf, eine beſtimmte Meynung über deſſen In-

halt zu faſſen, und darnach ein Urtheil zu ſprechen. Denn

auch die Thatſachen können in einem Rechtsſtreit höchſt

zweifelhaft ſeyn, ohne daß deshalb der Richter ſein Urtheil

verweigern darf. Zwiſchen beiden Elementen des Urtheils

(Rechtsregel und Thatſachen) iſt aber in dieſer Hinſicht

kein weſentlicher Unterſchied. Die ausdrückliche Vorſchrift

des Franzöſiſchen Rechts alſo, welche dem Richter verbie-

tet, wegen eines mangelnden, dunklen, oder unzulänglichen

Geſetzes ſein Urtheil zu verweigern (b), iſt der allgemeinen

Natur des Richteramts völlig angemeſſen.

In Einem Fall jedoch iſt jene freye Thätigkeit aller-

dings ausgeſchloſſen: wenn nämlich die Auffaſſung eines

Geſetzes ſelbſt wieder Gegenſtand einer neuen Rechtsregel

geworden iſt. Iſt alſo durch ein neues Geſetz, oder auch

durch ein wahres Gewohnheitsrecht beſtimmt worden, wie

 

(a) Der Zuſammenhang dieſer

Meynung mit den Vorſchriften

des Juſtinianiſchen Rechts kann

erſt weiter unten klar gemacht

werden. Vgl. § 48.

(b) Code civil art. 4.

|0265 : 209|

§. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle.

ein älteres Geſetz verſtanden werden ſoll, ſo iſt dadurch

jene freye Thätigkeit gänzlich ausgeſchloſſen, und das

ältere Geſetz muß in dem nunmehr vorgeſchriebenen Sinn

auch von Denjenigen aufgefaßt und angewendet werden,

welche etwa für ſich von der Unrichtigkeit dieſer Ausle-

gung überzeugt ſeyn mögen. Die Neueren nennen dieſes,

je nachdem es auf Geſetz oder Gewohnheitsrecht (c) be-

ruht, die authentiſche und uſuelle Interpretation,

beide zuſammen die legale, welche ſie nun der doctri-

nellen, das heißt der oben beſchriebenen freyen oder wiſ-

ſenſchaftlichen Thätigkeit entgegenſetzen. — Die Vorſtel-

lungsweiſe, welche dieſen Kunſtausdrücken zum Grunde

liegt, iſt inſoferne richtig, als man blos das letzte Ziel,

nämlich den anzuerkennenden Inhalt des Geſetzes, ins

Auge faßt. Dann heißt Auslegung jedes Mittel zu die-

ſem Zweck, und dieſer Begriff unterliegt ferner der eben

erwähnten Eintheilung. Wenn man dagegen auf das

Weſen des Verfahrens ſieht, ſo muß man nothwen-

dig von dem oben aufgeſtellten Begriff der Auslegung als

einer freyen Thätigkeit ausgehen, weil dieſe durch die Be-

ſtimmung eines jeden Geſetzes ſelbſt, als das allgemeine

und nothwendige gegeben iſt. Denn jedes Geſetz ſoll ins

Leben treten, was zunächſt nur durch geiſtige Auffaſſung

(c) Dieſes interpretirende Ge-

wohnheitsrecht wird immer zu-

gleich die Natur des wiſſenſchaft-

lichen Rechts an ſich tragen

(§ 14. 20.). Denn ein allgemei-

nes Volksbewußtſeyn, welches

die Auffaſſung eines einzelnen

Geſetzes zum Gegenſtand hätte,

iſt nur in den ſeltenſten Fällen

denkbar.

14

|0266 : 210|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

möglich iſt, und es kann gewiß nicht als der natürliche

Zuſtand angeſehen werden, daß jedem Geſetze ein anderes,

ſeinen Sinn beſtimmendes, nachfolge; ja ſelbſt wenn dieſer

Hergang der natürliche wäre, ſo würde dennoch zunächſt,

bis zur Erſcheinung des neuen Geſetzes, jene freye Thä-

tigkeit unentbehrlich ſeyn. Geht man nun von dem

Grundbegriff der Auslegung als einer freyen Thätigkeit

aus, ſo erſcheint dann die ſogenannte legale Interpretation

nicht als eine ihr coordinirte Art derſelben Gattung, ſon-

dern vielmehr als reiner Gegenſatz, als Ausſchließung

oder Verbot jener freyen Thätigkeit überhaupt. Und dieſe

Auffaſſung bewährt ſich auch dadurch als die richtige,

daß in derſelben das wahre und unläugbare Verhältniß

von Regel und Ausnahme am deutlichſten hervortritt.

Es wird daher von jetzt an unter Auslegung überhaupt

nur allein die ſogenannte doctrinelle Interpretation ver-

ſtanden werden. — Neuere Schriftſteller freylich haben

hierin das Verhältniß von Regel und Ausnahme gerade

umgekehrt. Es iſt behauptet worden, alle Auslegung ſey

ihrer Natur nach eigentlich eine Art der Geſetzgebung,

und ſie könne nur durch Delegation von Seiten der höch-

ſten Gewalt an einzelne Behörden oder gar in Privat-

hände gerathen (d). Dieſe Behauptung hängt aber zuſam-

men mit anderen Vorſtellungen neuerer Schriftſteller, nach

welchen die Auslegung nicht in den Gränzen einer reinen,

(d) Zachariä Hermeneutik des Rechts, Meiſſen 1805. S. 161

—165.

|0267 : 211|

§. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle.

wahren Auffaſſung bleibt, ſondern in der That zu einer

Umbildung des Geſetzes wird; davon kann jedoch erſt

weiter unten geredet werden.

Die Auslegung iſt eine Kunſt, und die Bildung zu

derſelben wird durch die trefflichen Muſter aus alter

und neuer Zeit, die wir in reichem Maaße beſitzen, geför-

dert. Ungleich mangelhafter iſt Dasjenige, was bis jetzt

als Theorie derſelben aufgeſtellt worden iſt. Dieſe Un-

zulänglichkeit der bisherigen Theorie iſt eine zufällige:

allein es iſt wichtig, daß man ſich über den Werth einer

ſolchen Theorie überhaupt, auch der beſten, nicht täuſche.

Denn dieſe Kunſt läßt ſich eben ſo wenig, als irgend eine

andere, durch Regeln mittheilen oder erwerben. Allein

wir können durch die Betrachtung vorzüglicher Muſter

ergründen, worin die Trefflichkeit derſelben liegt; dadurch

aber werden wir unſren Sinn ſchärfen für das, worauf

es bey jeder Auslegung ankommt, und unſer Streben auf

die rechten Punkte richten lernen. Dieſes, und die Ver-

meidung der mancherley möglichen Abwege, iſt es, was

wir hier, wie in jeder Kunſt, durch die Theorie zu gewin-

nen hoffen dürfen.

 

Auch hier müſſen wir wieder auf die wichtige Frage

eingehen, ob die Vorſchriften des Römiſchen Rechts über

die Auslegung, da wo dieſes Recht gilt, bindende Kraft

haben. Dieſe Frage wurde oben (§ 27) für die Fortbil-

dung des Rechts ſelbſt, aufgeworfen und verneint; hier

betrifft ſie das Verhalten der Einzelnen zu den Quellen

 

14*

|0268 : 212|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

des Rechts, und es könnten daher beide Fragen, obgleich

unverkennbar verwandt, dennoch verſchieden beantwortet

werden. An dieſer Stelle jedoch iſt eine erſchöpfende Be-

antwortung der erwähnten Frage noch nicht möglich.

Daher werden bey der Darſtellung dieſer Lehre die Aus-

ſprüche des Römiſchen Rechts zwar vorläufig benutzt wer-

den, es wird aber einſtweilen dahin geſtellt bleiben, ob

ſie als bindende Geſetze, oder nur als eine wichtige Au-

torität, gelten ſollen.

Die Aufgabe dieſes Kapitels hat zwey Theile: zu-

nächſt die Auslegung der einzelnen Geſetze für ſich betrach-

tet, dann die des Quellenkreiſes im Ganzen. Da nämlich

dieſer zur vollſtändigen Beherrſchung des Rechts beſtimmt

iſt, ſo muß in ihm ſowohl Einheit gefunden werden, als

ein erſchöpfendes Ganze. Die erſte Forderung macht es

nothwendig, alle Widerſprüche zu entfernen, die zweyte,

alle Lücken auszufüllen.

 

§. 33.

A. Auslegung einzelner Geſetze.

Grundregeln der Auslegung.

Jedes Geſetz iſt dazu beſtimmt, die Natur eines Rechts-

verhältniſſes feſtzuſtellen, alſo irgend einen Gedanken (ſey

er einfach oder zuſammengeſetzt) auszuſprechen, wodurch

das Daſeyn jenes Rechtsverhältniſſes gegen Irrthum und

Willkühr geſichert werde. Soll dieſer Zweck erreicht wer-

den, ſo müſſen Die, welche mit dem Rechtsverhältniß in

 

|0269 : 213|

§. 33. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln.

Berührung kommen, jenen Gedanken rein und vollſtändig

auffaſſen. Dieſes geſchieht, indem ſie ſich in Gedanken

auf den Standpunkt des Geſetzgebers verſetzen, und deſſen

Thätigkeit in ſich künſtlich wiederholen, alſo das Geſetz

in ihrem Denken von Neuem entſtehen laſſen. Das iſt

das Geſchäft der Auslegung, die wir daher beſtimmen

können als die Reconſtruction des dem Geſetze inwohnen-

den Gedankens (a). Nur auf dieſe Weiſe iſt es möglich,

eine ſichere und vollſtändige Einſicht in den Inhalt des

Geſetzes zu erlangen, und nur ſo iſt daher der Zweck des

Geſetzes zu erreichen.

Soweit iſt die Auslegung der Geſetze von der Ausle-

gung jedes anderen ausgedrückten Gedankens (wie ſie z. B.

in der Philologie geübt wird) nicht verſchieden. Das

Eigenthümliche derſelben zeigt ſich aber, wenn wir ſie in

ihre Beſtandtheile zerlegen. So müſſen wir in ihr Vier

Elemente unterſcheiden: ein grammatiſches, logiſches, hiſto-

riſches und ſyſtematiſches.

 

Das grammatiſche Element der Auslegung hat zum

Gegenſtand das Wort, welches den Übergang aus dem

Denken des Geſetzgebers in unſer Denken vermittelt. Es

 

(a) Ich gebrauche den Aus-

druck Gedanke, weil ich durch

ihn den geiſtigen Inhalt des Ge-

ſetzes am beſtimmteſten bezeich-

net finde. Andere gebrauchen,

nicht weniger richtig, den Aus-

druck Sinn. Dagegen iſt Ab-

ſicht zu vermeiden, weil es zwey-

deutig iſt: denn es kann auch

auf das außer dem Inhalt des

Geſetzes liegende Ziel bezogen

werden, worauf das Geſetz mit-

telbar einwirken will. Die Rö-

mer gebrauchen abwechſelnd die

Ausdrücke mens und sententia.

|0270 : 214|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

beſteht daher in der Darlegung der von dem Geſetzgeber

angewendeten Sprachgeſetze.

Das logiſche Element geht auf die Gliederung des

Gedankens, alſo auf das logiſche Verhältniß, in welchem

die einzelnen Theile deſſelben zu einander ſtehen.

 

Das hiſtoriſche Element hat zum Gegenſtand den

zur Zeit des gegebenen Geſetzes für das vorliegende Rechts-

verhältniß durch Rechtsregeln beſtimmten Zuſtand. In

dieſen Zuſtand ſollte das Geſetz auf beſtimmte Weiſe ein-

greifen, und die Art dieſes Eingreifens, das was dem

Recht durch dieſes Geſetz neu eingefügt worden iſt, ſoll

jenes Element zur Anſchauung bringen.

 

Das ſyſtematiſche Element endlich bezieht ſich auf

den inneren Zuſammenhang, welcher alle Rechtsinſtitute

und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpft (§ 5).

Dieſer Zuſammenhang, ſo gut als der hiſtoriſche, hat dem

Geſetzgeber gleichfalls vorgeſchwebt, und wir werden alſo

ſeinen Gedanken nur dann vollſtändig erkennen, wenn wir

uns klar machen, in welchem Verhältniß dieſes Geſetz zu

dem ganzen Rechtsſyſtem ſteht, und wie es in das Syſtem

wirkſam eingreifen ſoll (b).

 

(b) Auch das ſyſtematiſche Ele-

ment iſt ein weſentliches, unent-

behrliches Stück der Auslegung.

Nur iſt freylich in den vorhan-

denen zahlreichen Commentaren

über die Juſtinianiſchen Rechts-

bücher (in welchen man daſſelbe

vorzugsweiſe erwarten möchte)

bey weitem der kleinſte Theil als

wahre Auslegung zu betrachten.

Es ſind meiſt Abhandlungen do-

gmatiſcher, zuweilen auch hiſtori-

ſcher Art, die nur von dem com-

mentirten Text Gelegenheit neh-

men, ſich über die darin berühr-

ten Rechtsſätze zu verbreiten.

|0271 : 215|

§. 33. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln.

Mit dieſen vier Elementen iſt die Einſicht in den In-

halt des Geſetzes vollendet. Es ſind alſo nicht vier Arten

der Auslegung, unter denen man nach Geſchmack und

Belieben wählen könnte, ſondern es ſind verſchiedene Thä-

tigkeiten, die vereinigt wirken müſſen, wenn die Auslegung

gelingen ſoll. Nur wird freylich bald die eine, bald die

andere wichtiger ſeyn und ſichtbarer hervortreten, ſo daß

nur die ſtete Richtung der Aufmerkſamkeit nach allen die-

ſen Seiten unerläßlich iſt, wenngleich in vielen einzelnen

Fällen die ausdrückliche Erwähnung eines jeden dieſer

Elemente als unnütz und ſchwerfällig unterlaſſen werden

kann, ohne Gefahr für die Gründlichkeit der Auslegung.

Von zwey Bedingungen aber hängt der Erfolg jeder Aus-

legung ab, und darin laſſen ſich jene vier Elemente kurz

zuſammen faſſen: erſtlich daß wir uns die geiſtige Thätigkeit,

woraus der vor uns liegende einzelne Ausdruck von Gedanken

hervorgegangen iſt, lebendig vergegenwärtigen: zweytens,

daß wir die Anſchauung des hiſtoriſch-dogmatiſchen Gan-

zen, woraus dieſes Einzelne allein Licht erhalten kann, in

hinlänglicher Bereitſchaft haben, um die Beziehungen deſ-

ſelben in dem vorliegenden Text ſogleich wahrzunehmen.

Erwägen wir dieſe Bedingungen, ſo vermindert ſich da-

durch das Auffallende mancher Erſcheinung, die uns leicht

an der Richtigkeit unſres Urtheils irre machen könnte.

Wir finden nämlich nicht ſelten bey gelehrten und berühm-

ten Schriftſtellern Interpretationen von faſt unbegreiflicher

Verkehrtheit, während talentvolle Schüler, denen wir denſel-

 

|0272 : 216|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

ben Text vorlegen, vielleicht das Rechte treffen. Solche Er-

fahrungen laſſen ſich beſonders an den zahlreichen Rechtsfäl-

len machen, woraus ein ſo großer und lehrreicher Theil

der Digeſten beſteht.

Das Ziel der Auslegung geht bey jedem Geſetze dahin,

gerade aus ihm ſo viel als möglich an wirklicher Rechts-

kenntniß zu gewinnen; die Auslegung alſo ſoll von der

einen Seite individuell, von der andern reichhaltig in Re-

ſultaten ſeyn (c). Dieſer Erfolg kann in verſchiedenen

Graden erreicht werden, und es iſt dieſe Verſchiedenheit

abhängig theils von der Kunſt des Auslegers, theils aber

auch von der Kunſt des Geſetzgebers, in dem Geſetze viel

von ſicherer Rechtskenntniß niederzulegen, alſo von dieſem

Punkte aus das Recht ſo viel als möglich zu beherrſchen.

Es beſteht alſo hierin eine Wechſelwirkung zwiſchen treff-

licher Geſetzgebung und trefflicher Auslegung, indem der

Erfolg einer jeden durch die andere bedingt und ge-

ſichert iſt.

 

§. 34.

Grund des Geſetzes.

Iſt es nun die Aufgabe der Auslegung, uns den In-

 

(c) Dieſes Ziel des Verfahrens

auszudrücken, iſt der Name Aus-

legung (explicatio) beſonders

geeignet, indem er darauf geht,

daß das in dem Wort Einge-

ſchloſſene an das Licht gezogen

und dadurch öffenbar gemacht

werde. Der Name Erklärung

dagegen deutet mehr darauf hin,

daß der (zufällige) Zuſtand der

Unklarheit aufgehoben und in

Klarheit verwandelt werde, be-

zeichnet alſo weniger die allge-

meine Natur des Geſchäfts.

|0273 : 217|

§. 34. Grund des Geſetzes.

halt des Geſetzes zum Bewußtſeyn zu bringen, ſo liegt

Alles, was nicht Theil dieſes Inhalts iſt, wie verwandt

es ihm auch ſeyn möge, ſtreng genommen außer den Grän-

zen jener Aufgabe. Dahin gehört alſo auch die Einſicht

in den Grund des Geſetzes (ratio legis). Der Begriff

dieſes Grundes iſt auf ſehr verſchiedene Weiſe aufgefaßt

worden, indem man ihn bald in die Vergangenheit geſetzt

hat, bald in die Zukunft. Nach der erſten Anſicht gilt

als Grund die ſchon vorhandene höhere Rechtsregel, deren

conſequente Durchführung das gegenwärtige Geſetz her-

beygeführt hat. Nach der zweyten Anſicht gilt als Grund

die Wirkung, die durch das Geſetz hervorgebracht werden

ſoll, ſo daß der Grund, von dieſem Standpunkt aus, auch

als Zweck oder als Abſicht des Geſetzes bezeichnet wird.

Es würde irrig ſeyn, dieſe beiden Anſichten in einem ab-

ſoluten Gegenſatz zu denken. Vielmehr iſt anzunehmen,

daß dem Geſetzgeber ſtets beide Beziehungen ſeines Ge-

dankens gegenwärtig geweſen ſind. Eine relative Ver-

ſchiedenheit aber liegt allerdings darin, daß bald die eine,

bald die andere derſelben bey einzelnen Geſetzen überwie-

gend ſeyn kann. Hierin iſt beſonders von Einfluß der

oben erklärte Unterſchied des regelmäßigen und anomali-

ſchen Rechts (§ 16). Bey dem regelmäßigen Recht (Jus

commune) wird meiſt vorherrſchend ſeyn die Beziehung

auf ſchon beſtehende Rechtsregeln, die hier zur vollſtändi-

geren Entwicklung kommen ſollen; der Zweck iſt blos der

allgemeine, daß das Recht beſtimmter erkannt und ſicherer

|0274 : 218|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

angewendet werde. Bey dem anomaliſchen Recht (Jus

singulare) iſt dagegen vorherrſchend die Beziehung auf

das, was in der Zukunft erreicht werden ſoll; ſo z. B.

ſoll durch die Wuchergeſetze die Bedrückung armer Schuld-

ner verhütet werden, und das Vorhergehende iſt blos die

allgemeine Maxime, durch eine Art vormundſchaftlicher

Aufſicht einzugreifen, wenn durch gewiſſe Rechtsgeſchäfte

der Wohlſtand ganzer Klaſſen in Gefahr kommt.

Die Kenntniß des Geſetzgrundes kann mehr oder we-

niger gewiß ſeyn. Die höchſte Sicherheit erhält ſie da-

durch, daß der Grund in dem Geſetze ſelbſt ausgeſprochen

wird. Aber ſelbſt in dieſem Fall bleibt der Grund von

dem das Recht beſtimmenden Inhalt des Geſetzes getrennt,

und darf nicht etwa als Beſtandtheil deſſelben angeſehen

werden. Eben ſo wird auf der anderen Seite der Kraft

des Geſetzes durch den gänzlichen Mangel eines uns be-

kannten Grundes Nichts entzogen; ja ſelbſt wenn wir

beſtimmt wiſſen, daß das Geſetz gar keinen eigentlichen

Grund je gehabt hat (von welchem Fall ſogleich weiter

die Rede ſeyn wird), vermindert ſich dadurch deſſen bin-

dende Kraft nicht. — Eine beſondere Art der Ungewiß-

heit entſteht aus dem Daſeyn mehrerer, neben einander

beſtehender Gründe, deren Verhältniß zu einander zweifel-

haft ſeyn kann; ferner, bey einem an ſich gewiſſen (viel-

leicht im Geſetz ausgeſprochenen) Grund, aus der Mög-

lichkeit nicht ausgeſprochener Mittelglieder zwiſchen dem

Grund und dem Inhalt des Geſetzes, durch welche viel-

 

|0275 : 219|

§. 34. Grund des Geſetzes.

leicht eine ſcheinbare Verſchiedenheit zwiſchen beiden erklärt

und gerechtfertigt werden kann (a).

Eben ſo giebt es auch verſchiedene Grade in der Ver-

wandtſchaft des Grundes mit dem Inhalt des Geſetzes.

Sie können zu einander ſtehen in dem einfachen, rein logi-

ſchen Verhältniß des Grundes zur Folge: dann erſcheint

der Geſetzgrund als identiſch mit dem Inhalt (b). In

anderen Fällen dagegen werden beide ſehr entfernt von

einander ſtehen (c). Beide Fälle ſollen hier durch die Na-

men ſpecieller und genereller Gründe unterſchieden

werden. Dieſe Begriffe aber ſind relativ, eine ſcharfe

Gränze beſteht zwiſchen denſelben nicht, und es laſſen ſich

vielmehr ſehr allmälige Übergänge denken.

 

(a) Das Sc. Macedonianum

hatte zum Zweck, wucherliche, die

Familienverhältniſſe gefährdende

Geſchäfte mit Kindern in väter-

licher Gewalt zu verhindern. Das

Verbot wurde aber viel weiter

gefaßt, ſo daß auch ganz unſchul-

dige Fälle darunter fielen, weil

es außerdem unmöglich war, die

wirklich gemeynten Fälle ſicher

zu treffen.

(b) L. 13 § 1 de pign. act.

(13. 7.) beſtimmt den Grad der

Culpa für den Pfandcontract;

dieſe Beſtimmung iſt eine reine

Folgerung aus der allgemeineren

in L. 5 § 2 commodati (13. 6.)

enthaltenen Rechtsregel. Eben

ſo bey mehreren anderen daſelbſt

erwähnten Contracten, z. B. dem

Depoſitum. Eine gleiche Anwen-

dung, wie bey dem Depoſitum,

wäre bey der Tutel denkbar ge-

weſen, weil auch der Vormund

keinen Vortheil aus ſeiner Ver-

waltung zieht. Allein hier wird

das rein logiſche Verhältniß ge-

ſtört durch die Einwirkung an-

derer Gründe, ſo daß alſo hier

das vorher erwähnte Verhältniß

concurrirender Gründe eintritt;

und zwar iſt hier dieſes Verhält-

niß der verſchiedenen Gründe zu

einander ſo beſchaffen, daß ſie

einander durchkreuzen.

(c) Die allgemeinere Rechts-

regel über die Culpa (L. 5 § 2

comm.) beruht auf einem Grund-

ſatz der aequitas, deſſen Aner-

kennung und Begränzung an ſich

ſchwankend iſt, und dieſer einzel-

nen Anwendung ſehr entfernt liegt.

|0276 : 220|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

Der Gebrauch des Geſetzgrundes iſt zuerſt unbedenk-

lich und wichtig, wo es darauf ankommt, die Natur der

in dem Geſetz enthaltenen Rechtsregel zu beſtimmen: näm-

lich, ob ſie eine abſolute oder vermittelnde iſt, desgleichen,

ob ſie als Jus commune oder singulare angeſehen werden

muß (§ 16). — Ungleich bedenklicher, und nur mit großer

Vorſicht zuläſſig, iſt der Gebrauch des Geſetzgrundes zur

Auslegung der Geſetze; insbeſondere iſt dieſer Gebrauch

auch abhängig von den verſchiedenen Graden der Gewiß-

heit und der Verwandtſchaft des Grundes, wie dieſe

Verſchiedenheiten ſo eben genauer erklärt worden ſind.

Die beſonderen Beſtimmungen hierüber können erſt weiter

unten gegeben werden.

 

Es ſind alſo hier bey den Geſetzgründen mancherley Ver-

ſchiedenheiten bemerkt worden: in der Art der Beziehung auf

den Inhalt, in der Gewißheit, in der Verwandtſchaft mit

dem Inhalt, und in der Anwendbarkeit. Allein neben

dieſen Verſchiedenheiten beſteht das Gemeinſame, daß ſie

ſtets ein Verhältniß haben zu dem Weſen des Geſetzin-

haltes ſelbſt, oder mit anderen Worten eine objective, aus

dem Denken des Geſetzgebers heraustretende Natur. Die-

ſer ihrer Natur nach ſind ſie an ſich für Jeden erkenn-

bar, und wir können es nur für zufällig anſehen, wenn

ſie uns in einzelnen Fällen verborgen bleiben. Sie ſtehen

daher in einem ſcharfen Gegenſatz zu denjenigen That-

ſachen, welche ein blos ſubjectives Verhältniß zu dem

Denken des Geſetzgebers haben, und bey denen die Erkenn-

 

|0277 : 221|

§. 34. Grund des Geſetzes.

barkeit für Andere eben ſo zufällig eintritt, wie ſie bey

den Geſetzgründen natürlich iſt und nur zufällig fehlen

kann. Dahin gehören ſolche Begebenheiten, welche zu

einem Geſetz den Anſtoß gegeben haben, die aber eben ſo

auch zu ganz anderen Maaßregeln hätten führen kön-

nen (d). Eben dahin gehören die zuweilen ganz indivi-

duellen und vorübergehenden Wirkungen, um deren Wil-

len der Geſetzgeber die bleibende und ins Allgemeine wir-

kende Regel aufgeſtellt hat (e). — Solchen ſubjectiven

Beziehungen müſſen wir ſelbſt den beſchränkten Gebrauch

gänzlich abſprechen, welcher den Geſetzgründen ſo eben

eingeräumt worden iſt. Nur der negative Gebrauch

kann von ihnen gemacht werden, daß vielleicht aus ihnen

die Abweſenheit irgend eines wahren Geſetzgrundes erhellt:

dann werden ſie dazu dienen, uns gegen die irrige An-

nahme eines ſolchen zu verwahren (f).

(d) So z. B. das Verbrechen,

welches zu dem Sc. Macedonia-

num Veranlaſſung gegeben hat.

L. 1 pr. de Sc. Maced. (14. 6.).

(e) So z. B. unter K. Clau-

dius das Geſetz, welches die Ehe

mit des Bruders Tochter allge-

mein frey gab, nur damit der

Kaiſer die Agrippina, Tochter des

Germanicus, zur Gemahlin neh-

men konnte. Suetonii Claud.

C. 26. Taciti annal. XII. 5—7.

(f) Gewöhnlich werden dieſe

ſubjective Beziehungen von dem

Grund des Geſetzes nicht hin-

reichend geſondert, wozu denn

die ſchwankenden Ausdrücke Be-

weggrund, Veranlaſſung,

Abſicht des Geſetzes nicht we-

nig beytragen. Am wenigſten

ungenau ſcheint hierin Hufe-

land Geiſt des Römiſchen Rechts

Th. 1. Gieſſen 1813. S. 13—19.

|0278 : 222|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

§. 35.

Auslegung mangelhafter Geſetze. Arten derſelben,

und Hülfsmittel dagegen.

Die aufgeſtellten Grundſätze der Auslegung (§ 33) kön-

nen genügen für den geſunden Zuſtand des Geſetzes, da

der Ausdruck einen in ſich vollendeten Gedanken darſtellt,

und kein Umſtand vorhanden iſt, der uns hindert, dieſen

Gedanken als wahren Inhalt des Geſetzes anzuerkennen.

Es ſind aber nun noch die ſchwierigeren Fälle mangel-

hafter Geſetze darzuſtellen, und zugleich die Hülfsmittel

anzugeben, wodurch dieſe Schwierigkeiten beſeitigt werden

können. Die an ſich denkbaren Fälle ſolcher mangelhaften

Geſetze ſind folgende:

 

I. Unbeſtimmter Ausdruck, der alſo überhaupt auf

keinen vollendeten Gedanken führt.

 

II. Unrichtiger Ausdruck, indem der von ihm unmittel-

bar bezeichnete Gedanke von dem wirklichen Gedanken des

Geſetzes verſchieden iſt.

 

In dieſen Fällen iſt eine Stufenfolge des Bedürfniſſes

ſichtbar. Denn die Beſeitigung des erſten Mangels, wo

er vorkommt, iſt eben ſo unbedenklich als ſchlechthin noth-

wendig. Der zweyte führt ſchon größere Bedenken mit

ſich, und macht wenigſtens beſondere Vorſicht nöthig.

 

Ehe aber dieſe Fälle im Einzelnen dargeſtellt werden,

iſt es nöthig, auch die Hülfsmittel zu erwägen, die bey

ihrer Behandlung angewendet werden können.

 

|0279 : 223|

§. 35. Auslegung mangelhafter Geſetze.

Das erſte Hülfsmittel beſteht in dem inneren Zuſam-

menhang der Geſetzgebung; ein zweytes in dem Zuſam-

menhang des Geſetzes mit ſeinem Grunde; ein drittes in

dem innern Werthe des aus der Auslegung hervorgehen-

den Inhalts.

 

A. Innerer Zuſammenhang der Geſetzgebung. Dieſer

kann auf zweyerley Weiſe als Hülfsmittel der Auslegung

bey mangelhaften Geſetzen benutzt werden. Erſtlich inſo-

ferne der mangelhafte Theil eines Geſetzes aus einem an-

dern Theil deſſelben Geſetzes erklärt wird, welches die ſicherſte

unter allen Erklärungsweiſen iſt (a): zweytens durch Erklä-

rung des mangelhaften Geſetzes aus anderen Geſetzen (b).

Dieſe letzte Art der Auslegung wird um ſo gewiſſer ſeyn,

je näher die beiden Geſetze einander ſtehen, alſo am ge-

wiſſeſten, wenn ſie von einem und demſelben Geſetzgeber

herrühren. Jedoch können auch die anderen (zur Erklä-

rung benutzten) Geſetze älter ſeyn, als das aus ihnen

erklärte, wobey alſo die richtige Vorausſetzung zum Grunde

liegt, der Urheber des jetzt auszulegenden Geſetzes habe

dieſe älteren vor Augen gehabt, und ſie ſeyen alſo ein

ergänzendes Stück ſeines Gedankens geweſen (c). Die

 

(a) L. 24 de legibus (1. 3.)

„Incivile est, nisi tota lege

perspecta, una aliqua particula

ejus proposita, judicare vel

respondere.”

(b) Dieſe Art der Auslegung

des einzelnen mangelhaften Ge-

ſetzes mit Hülfe eines andern iſt

nicht zu verwechſeln mit der Aus-

gleichung der Widerſprüche, die

zur Behandlung des Quellenkrei-

ſes als eines Ganzen gehört. Da-

von wird erſt weiter unten die

Rede ſeyn (§ 42—45).

(c) L. 26. 27 de leg. (1. 3.)

„Non est novum, ut priores

leges ad posteriores trahan-

tur. — Ideo, quia antiquiores

|0280 : 224|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

zur Erklärung benutzten Geſetze können endlich auch neuere

ſeyn: nur wird dieſer Fall ſeltener in das Gebiet der

reinen Auslegung gehören. Denn in den meiſten Fällen

werden ſolche neuere Geſetze zu dem mangelhaften in dem

Verhältniß einer Abänderung ſtehen, oder wenigſtens einer

authentiſchen Auslegung (§ 32), welche nicht mehr wahre

Auslegung iſt. Wo dieſes Verfahren als reine Ausle-

gung vorkommt, beruht es auf der Vorausſetzung, daß

die Denkweiſe des früheren Geſetzgebers auch in der ſpä-

teren Geſetzgebung ſich erhalten habe (d).

B. Der Grund des Geſetzes kann gleichfalls ein Hülfs-

mittel zur Auslegung des mangelhaften Geſetzes ſeyn,

jedoch nicht ſo unbedingt, als der Zuſammenhang der

Geſetzgebung. Vielmehr wird ſeine Anwendbarkeit abhän-

gen von dem Grade der Gewißheit, womit wir ihn

erkennen, und von dem Grade ſeiner Verwandtſchaft

zu dem Inhalt (§ 34). Steht eine dieſer Rückſichten

entgegen, ſo wird er zwar noch immer auf die Beſeiti-

gung der erſten Art von Mängeln (der Unbeſtimmtheit)

 

leges ad posteriores trahi usi-

tatum est, et semper quasi hoc

legibus inesse credi oportet,

ut ad eas quoque personas et

ad eas res pertinerent, quae

quandoque similes erunt.”

(d) L. 28 de leg. (1. 3.) „Sed

et posteriores leges ad prio-

res pertinent, nisi contrariae

sint.” Hier iſt blos der Fall

der Abänderung, als den Ge-

brauch zur Auslegung ausſchlie-

ßend, bezeichnet. Aber auch im

Fall der authentiſchen Auslegung

iſt es einleuchtend, daß wir den

durch das ſpätere Geſetz angege-

benen Sinn des früheren nicht

deswegen annehmen, weil wir ihn

für wahr halten, ſondern weil

ihn das ſpätere vorſchreibt.

|0281 : 225|

§. 36. Mangelhafte Geſetze. Unbeſtimmter Ausdruck.

angewendet werden können, aber weniger auf die der

zweyten (des unrichtigen Ausdrucks).

C. Der innere Werth des Reſultats endlich iſt unter

allen Hülfsmitteln das gefährlichſte, indem dadurch am

leichteſten der Ausleger die Gränzen ſeines Geſchäfts über-

ſchreiten und in das Gebiet des Geſetzgebers hinüber grei-

fen wird. Daher kann dieſes Hülfsmittel lediglich bey

der Unbeſtimmtheit des Ausdrucks (der erſten Art von

Mängeln) angewendet werden, nicht zur Ausgleichung des

Ausdrucks mit dem Gedanken.

 

Auch unter dieſen Hülfsmitteln iſt alſo wieder eine

ähnliche Stufenfolge ſichtbar, wie unter den Mängeln

ſelbſt. Das erſte iſt unbedenklich überall anzuwenden:

das zweyte macht ſchon größere Vorſicht nöthig: das

dritte endlich kann nur in den engſten Gränzen zugelaſ-

ſen werden.

 

§. 36.

Auslegung mangelhafter Geſetze. Fortſetzung.

(Unbeſtimmter Ausdruck.)

Die Unbeſtimmtheit des Ausdrucks, welche es unmög-

lich macht, durch ihn allein irgend einen vollendeten Ge-

danken zu erkennen, kann zunächſt auf zweyerlei Weiſe

gedacht werden: als Unvollſtändigkeit, oder als Viel-

deutigkeit.

 

Die Unvollſtändigkeit des geſetzlichen Ausdrucks

hat eine ähnliche Natur, wie wenn eine angefangene Rede

unterbrochen wird, ſo daß für den vollſtändigen Gedanken

 

15

|0282 : 226|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

die Bezeichnung unvollendet geblieben iſt. Dieſer Fall

tritt z. B. ein, wenn ein Geſetz zu einem Geſchäfte Zeu-

gen erfordert, ohne die Zahl derſelben zu beſtimmen (a).

Häufiger und wichtiger iſt der Fall der Vieldeutig-

keit, welcher wieder in verſchiedenen Geſtalten vorkom-

men kann: als Vieldeutigkeit des einzelnen Ausdrucks,

oder der Conſtruction.

 

Der einzelne Ausdruck kann einen individuellen Gegen-

ſtand betreffen, und dazu eine Bezeichnung gebrauchen,

welche auf mehrere Individuen paßt: ein Fall, der in

Rechtsgeſchäften häufiger vorkommen wird als in Ge-

ſetzen (b). Er kann aber auch einen abſtracten Begriff

zum Gegenſtand haben, und hier wieder kann die Zwey-

deutigkeit darin liegen, daß der gewählte Ausdruck ganz

verſchiedene Bedeutungen (c), oder daß er eine engere und

eine weitere Bedeutung hat (d).

 

(a) So in Nov. 107. C. 1. —

Eben ſo wenn eine Geldſumme

beſtimmt werden ſollte, und ent-

weder die Zahl oder die Geldart

nicht ausgedrückt iſt. Dieſer Fall

wird (nicht bey Geſetzen, ſondern

bey Teſtamenten) erwähnt in L.

21 § 1 qui test. (28. 1.).

(b) Beyſpiele: L. 21 § 1 qui

test. (28. 1.): der Sclave Sti-

chus iſt legirt, Titius als Lega-

tar ernannt, da Mehrere dieſe

Namen führen. L. 39 § 6 de leg.

1 (30 un.) Fundus Cornelianus

iſt legirt, da der Teſtator meh-

rere unter dieſem Namen in ſei-

nem Vermögen hatte.

(c) So haben ganz verſchie-

dene Bedeutungen die Ausdrücke

familia, puer, potestas. L. 195.

204. 215 de V. S. (50. 16.). —

Merkwürdige Anwendungen die-

ſer Zweydeutigkeit finden ſich in

L. 5 C. fin. reg. (3. 39.) und

L. 30 C. de j. dot. (5. 12.).

In der erſten kann praescriptio

heißen: Einrede, oder Vorſchrift,

nach Manchen auch Verjährung.

In der zweyten können die

Worte: si tamen extant heißen:

wenn ſie nicht vernichtet, oder

auch: wenn ſie nicht veräußert

ſind (extant apud maritum).

(d) Solche engere und weitere

|0283 : 227|

§. 36. Mangelhafte Geſetze. Unbeſtimmter Ausdruck.

Auch die Vieldeutigkeit der Conſtruction kann den Sinn

eines Geſetzes zweifelhaft machen, und obgleich dieſelbe

in Rechtsgeſchäften häufiger vorkommt, als in Geſetzen,

ſo iſt ſie doch in dieſen nicht ohne Beyſpiel (e).

 

So verſchieden nun dieſe Geſtalten des hier darge-

ſtellten Mangels ſeyn mögen, ſo haben ſie doch das mit

einander gemein, daß jede derſelben uns hindert, irgend

einen vollſtändigen Gedanken mit Sicherheit in dem ſo

beſchaffenen Geſetze zu erkennen. — Die Entſtehung dieſes

Mangels kann gegründet ſeyn in einem unklaren Gedan-

ken, oder in einer unvollkommenen Herrſchaft über den

Ausdruck, oder auch in beiden Umſtänden zugleich. Für

den Ausleger iſt dieſe Entſtehung gleichgültig, denn für

ihn iſt das Bedürfniß der Abhülfe ſtets gleich dringend

und unabweislich, da das Geſetz in dieſer Geſtalt zur

Feſtſtellung einer Rechtsregel untauglich iſt. Die Erkennt-

niß dieſes Bedürfniſſes iſt auch vollkommen gewiß, da ſie

 

Bedeutungen kommen vor bey

den Ausdrücken cognatio, pi-

gnus, hypotheca, adoptio (L.

1 § 1 de adopt. 1. 7.), familia

(L. 195 de V. S. 50. 16.). —

Eben ſo kann der Vertrag ne

luminibus officiatur ſowohl auf

den gegenwärtigen Zuſtand allein,

als auf den gegenwärtigen und

künftigen zugleich gehen. L. 23

pr. de S. P. U. (8. 2.). — Die

Auslegung nach der weiteren

oder engeren Bedeutung nennt

man gewöhnlich lata oder stri-

cta: jede Auslegung zu Entfer-

nung einer Zweydeutigkeit de-

clarativa. Thibaut Pandekten

§ 48. 50. 53.

(e) Die Erklärung der ſchwie-

rigen L. 2 de div. temp. prae-

scr. (44. 3.) hängt lediglich da-

von ab, ob die Schlußworte mihi

contra videtur mit der ganzen

Stelle in Verbindung gedacht

werden ſollen, oder nur mit ei-

nem Theile derſelben. — Bey-

ſpiele von vieldeutiger Conſtruc-

tion in Rechtsgeſchäften finden

ſich bey Mühlenbruch I. § 59

not. 1.

15*

|0284 : 228|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

durch ein rein logiſches Verfahren erlangt wird. Eben

darum aber endigt ſie mit der deutlichen Einſicht in die

Natur des vorliegenden Zweifels, und ſchließt nicht zu-

gleich deſſen Auflöſung in ſich. Dieſe muß vielmehr an-

derwärts aufgeſucht werden, und dazu dienen die bereits

aufgeſtellten drey Klaſſen der Hülfsmittel (§ 35). Sie

alle ſind dazu anwendbar, und ihr verſchiedener Werth

kommt nur inſoferne in Betracht, als eine Klaſſe vor der

andern anzuwenden iſt.

Zuerſt alſo iſt wo möglich die Unbeſtimmtheit aufzu-

heben durch den Zuſammenhang der Geſetzgebung, und

wo dieſes Mittel ausreicht, wird jedes andere als weni-

ger ſicher, und zugleich als überflüſſig, ausgeſchloſſen.

 

Zweytens iſt zu dieſem Zweck anzuwenden der Grund

des Geſetzes, und zwar wo möglich der ſpecielle, mit dem

Inhalt des Geſetzes unmittelbar verwandte Grund (§ 35),

wenn wir einen ſolchen nachzuweiſen vermögen. Verläßt

uns dieſer, ſo iſt auch ſchon ein allgemeinerer Grund zu-

läſſig. So z. B. wenn der Inhalt des Geſetzes nur über-

haupt auf aequitas beruht, was bey dem regelmäßigen

Recht (§ 16) der neueren Zeit durchaus angenommen wer-

den muß, ſo iſt unter zwey an ſich möglichen Erklärun-

gen diejenige vorzuziehen, welche durch dieſe aequitas ge-

rechtfertigt wird (f).

 

(f) So iſt zu verſtehen L. 8.

C. de jud. (3. 1.) vom J. 314:

„Placuit, in omnibus rebus

praecipuam esse justitiae aequi-

tatisque [scriptae], quam stricti

juris rationem.” Das heißt:

wenn bey einem zweydeutigen

Geſetze die eine Erklärung dem

|0285 : 229|

§. 36. Mangelhafte Geſetze. Unbeſtimmter Ausdruck.

Drittens endlich kann die Unbeſtimmtheit aufgehoben

werden durch die Vergleichung des innern Werthes des-

jenigen Inhalts, der durch die eine und die andre an ſich

mögliche Erklärung dem Geſetze zugeſchrieben wird. So

z. B. wenn die eine Erklärung auf einen leeren, zwecklo-

ſen Inhalt führt, die andere nicht (g). Eben ſo wenn

das Reſultat der einen Erklärung dem vorliegenden Zweck

angemeſſener iſt, als das der anderen (h). Endlich wenn

 

ſtrengen Recht, die andere der

aequitas entſpricht, ſo ſoll dieſe

letzte vorgehen (praecipuam esse

rationem). Scheinbar wider-

ſpricht L. 1 C. de leg. (1. 14.)

vom J. 316: „Inter aequitatem

jusque interpositam interpre-

tationem nobis solis et opor-

tet et licet inspicere.” Die

Annahme, daß L. 8 cit. älteres,

L. 1 cit. neueres Recht darſtelle,

jene alſo durch dieſe antiquirt

ſey, iſt höchſt unwahrſcheinlich,

da beide in Conſtantin’s Regie-

rung fallen, und nur zwey Jahre

aus einander liegen. Um den

Widerſpruch zu heben, hat man in

L. 8 cit. die Leſeart scriptae an-

genommen (eine durch Geſetz an-

erkannte aequitas), die zwar die

alten Ausgaben von Chevallon

(Paris. 1526. 8.) und von Ha-

loander für ſich hat, aber aus

inneren Gründen ganz verwerf-

lich iſt. Donellus (I. 13) erklärt

L. 8 von einer bloßen Einſchrän-

kung, L. 1 von gänzlicher Auf-

hebung des ſtrengen Rechts durch

aequitas: für dieſen Unterſchied

iſt aber in den Stellen ſelbſt gar

keine Andeutung. — Der Wi-

derſpruch wäre ſchon entfernt,

wenn man nur die L. 1 cit. auf

die Correction des Ausdrucks

durch den Gedanken (§ 37) be-

zöge, die wegen der bloßen ae-

quitas dem Richter nicht geſtat-

tet ſeyn ſoll. Allein ich glaube

vielmehr, daß die Stelle gar

nicht von Auslegung, ſondern

von Fortbildung des Rechts

(§ 47) zu verſtehen iſt, wodurch

denn jeder Widerſpruch mit L. 8

cit. völlig verſchwindet; der Aus-

druck interpretationem ſteht da-

bey nicht im Wege.

(g) L. 19 de leg. (1. 3.) „In

ambigua voce legis ea potius

accipienda est significatio, quae

vitio caret” …

(h) L. 67 de R. J. (50. 17.)

„Quotiens idem sermo duas

sententias exprimit, ea potis-

simum excipiatur, quae rei ge-

rendae aptior est.” Eine An-

wendung dieſer Regel enthält

L. 3 de constit. (1. 4.) „Bene-

ficium Imperatoris, quod a di-

|0286 : 230|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

die eine Erklärung auf ein milderes, wohlwollenderes Ziel

führt als die andere (i).

§. 37.

Auslegung mangelhafter Geſetze. Fortſetzung.

(Unrichtiger Ausdruck.)

Der zweyte denkbare Mangel eines Geſetzes beſteht

in der Unrichtigkeit des Ausdrucks, indem dieſer zwar

unmittelbar einen beſtimmten und anwendbaren Gedanken

bezeichnet, aber einen ſolchen, der von dem wirklichen

Gedanken des Geſetzes verſchieden iſt. Bey dieſem inne-

ren Widerſpruch der Elemente des Geſetzes entſteht die

Frage, welchem derſelben wir den Vorzug geben ſollen.

Da nun der Ausdruck bloßes Mittel iſt, der Gedanke aber

der Zweck, ſo iſt es unbedenklich, daß der Gedanke vor-

gezogen, der Ausdruck alſo nach ihm berichtigt werden

 

vina scilicet ejus indulgentia

proficiscitur, quam plenissime

interpretari debemus.”

(i) L. 192 § 1 de R. J. (50. 17.):

„In re dubia benigniorem in-

terpretationem sequi non mi-

nus justum est quam tutius.”

L. 56. 168 pr. eod. — L. 18 de

leg. (1. 3.) „Benignius leges in-

terpretandae sunt, quo volun-

tas earum conservetur.” Die

Schlußworte können heißen: weil

das der allgemeine Wille der

Geſetzgeber iſt. Richtiger aber

ſcheint mir dieſe Erklärung: in-

ſofern das nicht ihrem beſtimmt

ausgeſprochenen Inhalt wider-

ſpricht (alſo quo für quatenus).

— Einzelne Anwendungen dieſer

Regel: Bey zweydeutigen Straf-

geſetzen geht die mildere Strafe

vor (L. 42 de poenis 48. 19.).

Bey Teſtamenten iſt durch Aus-

legung die Erbeinſetzung zu be-

günſtigen, die Enterbung nicht zu

begünſtigen (L. 19 de lib. et

posth. 28. 2.). — Dieſe Anwen-

dungen zeigen, daß die Regel ei-

nen anderen Sinn hat, als die,

welche der aequitas den Vorzug

einräumt (Note f), womit man

ſie gewöhnlich, aber irrig, iden-

tificirt.

|0287 : 231|

§. 37. Mangelhafte Geſetze. Unrichtiger Ausdruck.

muß (a). Die Annahme dieſer Regel macht keine Schwie-

rigkeit, dagegen kann ihre Anwendung ſehr ſchwierig ſeyn,

indem Alles darauf ankommt, daß die hier vorausgeſetzte

Thatſache zur Gewißheit erhoben werde.

Die Fälle dieſer Art bieten eine weit geringere Man-

nichfaltigkeit dar, als die des unbeſtimmten Ausdrucks

(§ 36). Ihre Verſchiedenheit bezieht ſich nur auf das

logiſche Verhältniß des Ausdrucks zum Gedanken, indem

jener entweder weniger oder mehr enthalten kann als der

Gedanke. Im erſten Fall geſchieht die Berichtigung des

Ausdrucks durch eine ausdehnende Auslegung, im zwey-

ten durch eine einſchränkende (b). Beide gehen ledig-

lich darauf aus, den Ausdruck mit dem wirklichen Ge-

danken in Übereinſtimmung zu bringen.

 

Dieſe Behandlung des unrichtigen Ausdrucks iſt von

der des unbeſtimmten in den wichtigſten Beziehungen ver-

ſchieden. — Zum Grunde liegt die Vorausſetzung, es ſey

vorhanden ein beſtimmter Gedanke, in Verbindung mit

einem unvollkommenen Ausdruck. Dieſes Verhältniß kön-

nen wir nicht, wie die Unbeſtimmtheit, auf logiſchem,

ſondern nur auf hiſtoriſchem Wege erkennen, weshalb die

 

(a) L. 17 de leg. (1. 3.) „Scire

leges non est verba earum te-

nere, sed vim ac potestatem.”

L. 6 § 1 de V. S. (50. 16.). L.

13 § 2 de excus. (27. 1.). L. 19

ad exhib. (10. 4.).

(b) Die Neueren nennen es

mit nichtrömiſchen Ausdrücken

interpfetatio extensiva, restri-

ctiva, und ſetzen dann wohl bei-

den entgegen die declarativa,

die weder ausdehnt noch ein-

ſchränkt, indem ſie ſich gar nicht

auf ein in dieſer Art mangelhaf-

tes Geſetz bezieht (§ 36 d).

|0288 : 232|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

Erkenntniß deſſelben ſchon an ſich unſicherer, und zugleich

verſchiedener Grade der Gewißheit empfänglich iſt. Dieſe

Schwierigkeit aber wird noch erhöht durch den Umſtand,

daß uns das nächſte und natürlichſte Erkenntnißmittel für

den Gedanken entzogen iſt: denn dieſes beſteht eben in

dem Ausdruck, und der Ausdruck iſt es gerade, dem wir

hier den Glauben verſagen. — Ferner war bey der Un-

beſtimmtheit das Bedürfniß einer künſtlichen Abhülfe un-

abweislich, indem ohne ſie gar Nichts vorhanden war,

das wir als Geſetz hätten betrachten und anwenden kön-

nen. Hier iſt es anders, indem uns auch ſchon der un-

berichtigte Ausdruck einen verſtändlichen und anwendbaren

Gedanken darbietet. — Endlich war bey der Unbeſtimmtheit

die Erkenntniß des Mangels gänzlich verſchieden von der

Abhülfe, hier fallen beide zuſammen. Denn wir erkennen

die Unrichtigkeit des Ausdrucks nur durch deſſen Verglei-

chung mit dem wahren Gedanken: iſt aber dieſer von uns

erkannt, ſo iſt damit auch zugleich die Abhülfe für jenen

Mangel gefunden.

Es ſollen nunmehr die drey oben angegebenen Hülfs-

mittel (§ 35) in ihrer Anwendbarkeit auf den hier darge-

ſtellten Mangel, der in dem unrichtigen Ausdruck beſteht,

einzeln geprüft werden.

 

Am unbedenklichſten erſcheint auch hier wieder der

innere Zuſammenhang der Geſetzgebung als Mittel der

Abhülfe. Ein Beyſpiel findet ſich bey dem Senatuscon-

ſult, welches die hereditatis petitio näher beſtimmte. Nach

 

|0289 : 233|

§. 37. Mangelhafte Geſetze. Unrichtiger Ausdruck.

dieſem ſollte der redliche Beſitzer, welcher Erbſchaftsſachen

verkauft hatte, den erlangten Kaufpreis herausgeben

(pretia quae pervenissent). Unter dieſem Ausdruck war

auch der Fall begriffen, da er denſelben Kaufpreis wieder

verloren hatte, denn er war doch einmal erlangt geweſen.

Allein aus den nachfolgenden Worten deſſelben Senatus-

conſults wurde gefolgert, daß dieſer Fall ausgenommen

ſey. Es wurde alſo der gebrauchte Ausdruck in der Art

einſchränkend erklärt, als wenn nicht von jedem erlang-

ten, ſondern nur von dem erlangten und nicht wieder ver-

lorenen Kaufpreis die Rede geweſen wäre (c). — Ein

anderes Beyſpiel findet ſich bey Strafgeſetzen. Wenn ein

ſolches am Schluß eine allgemeine Strafe für ein gewiſſes

Verbrechen ausſpricht, nachdem es vorher für einen ein-

zelnen Fall deſſelben Verbrechens eine andere Strafe be-

ſtimmt hatte, ſo iſt der allgemeine Schluß durch die Aus-

nahme dieſes beſonderen Falles einſchränkend zu erklären (d).

Wichtiger, aber auch bedenklicher, iſt die Anwendung

des zweyten Hülfsmittels, welches darin beſteht, daß der

wirkliche Gedanke des Geſetzes aus ſeinem Grunde er-

kannt, und darnach der Ausdruck berichtigt wird. In

dieſer Beziehung nun iſt vorzüglich wichtig die Unterſchei-

dung der ſpeciellen und generellen Gründe (§ 34).

 

Ein ſpecieller Grund kann in der That zu dem ange-

gebenen Zweck angewendet werden. Am unbedenklichſten

 

(c) L. 20 § 6. L. 23 de her. pet. (5. 3.).

(d) L. 41 de poenis (48. 19.).

|0290 : 234|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

geſchieht dieſes, wenn die buchſtäbliche Auslegung des

Ausdrucks auf einen Widerſpruch mit dem anerkannten

Grunde führen würde. Iſt alſo z. B. ein Rechtsſatz ein-

geführt zur Begünſtigung gewiſſer Perſonen, ſo würde

jede einzelne Anwendung zu ihrem Schaden mit dem

Grunde im Widerſpruch ſtehen, und dieſes muß verhütet

werden durch eine einſchränkende Auslegung des zu allge-

meinen Ausdrucks (e). Wenn daher ein durch Betrug

veranlaßter Vertrag zufällig dem Betrogenen vortheilhaft

iſt, ſo bleibt er gültig, obgleich der Ausdruck des Edicts

alle ſolche Verträge für ungültig erklärt (f). Wenn der

Minderjährige ohne Curator Prozeß führt und gewinnt,

ſo bleibt das Verfahren gültig (g). Eben ſo iſt ein Ver-

gleich über Alimente auch ohne Prätor gültig, wenn da-

durch die Lage des Berechtigten unbedingt verbeſſert

wird (h). — Häufiger aber, und zugleich ſchwieriger ſind

die Fälle, da wir den Ausdruck berichtigen, nicht gerade

um einen Widerſpruch mit dem Grunde zu verhüten, ſondern

nur um die wahre Gränze der Anwendung zu finden,

alſo damit nicht die Anwendung auf eine unvollſtändige

oder überflüſſige Weiſe geſchehe. Für dieſe Art der Be-

richtigung müſſen wir beſonders darin die Beſtätigung

ſuchen, daß wir die Veranlaſſung des ungenauen Aus-

(e) L. 25 de leg. (1. 3.). L.

6 C. eod. (1. 14.).

(f) L. 7 § 7 de pactis (2. 14.).

L. 30 C. de transact. (2. 4.).

(g) L. 2 C. qui legit. pers.

(3. 6.). L. 14 C. de proc. (2.

13.).

(h) L. 8 § 6 de transact. (2.

15.).

|0291 : 235|

§. 37. Mangelhafte Geſetze. Unrichtiger Ausdruck.

drucks auf wahrſcheinliche Weiſe erklären: etwa indem

ein concreter Ausdruck gebraucht iſt, weil es an einem

entſprechenden abſtracten fehlte, oder wegen der größeren

Anſchaulichkeit, die jener mit ſich führt. Dadurch allein

kann der Zweifel ſicher entfernt werden, ob in der That

der Gedanke, der aus unſrer Auslegung hervorgeht, der

wirkliche Gedanke des Geſetzgebers iſt, oder ob er es nur

hätte conſequenterweiſe ſeyn ſollen. In dieſem letzten

Falle aber würden wir durch unſre Auslegung nicht mehr

den Ausdruck berichtigen, ſondern den Gedanken ſelbſt,

und daß dieſes nicht in der Befugniß des Auslegers ent-

halten iſt, wird weiter unten gezeigt werden (§ 50). —

Folgende Beyſpiele werden das hier Geſagte anſchaulich

machen. Das Edict drohte die Infamie für den Fall,

da eine Wittwe noch in der Trauerzeit wieder heirathen

würde. Der Zweck war lediglich Verhütung aller Zwei-

fel über die Paternität eines nachher gebornen Kindes.

Hätte man dieſes unmittelbar ausſprechen und zugleich

genau begränzen wollen, ſo wäre eine weitläufige, ab-

ſtracte Beſtimmung, und zugleich eine Entſcheidung ſchwie-

riger Fragen (über die mögliche Dauer der Schwanger-

ſchaft) nöthig geweſen. Das wurde vermieden durch die

völlig anſchauliche Angabe der Trauerzeit, die auch für

die allermeiſten Fälle ganz zutreffend war, und zugleich

jene ſchwierige Fragen durch weites Hinausgreifen beſei-

tigte. Nun kamen aber Fälle vor, da die Wittwe bald

nach des Mannes Tod ein Kind geboren hatte; dadurch

|0292 : 236|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

war jeder Zweifel über künftige Kinder unbedingt geho-

ben, und nun wurde die Ehe, vermittelſt einer einſchrän-

kenden Auslegung des Edicts, zugelaſſen. Auf der andern

Seite kamen Fälle vor, worin gar keine Trauer für den

Verſtorbenen, alſo auch keine Trauerzeit, ſtatt fand; den-

noch war die Ehe verboten, und das Edict wurde hier

ausdehnend ausgelegt (i). — Die actio ad exhibendum

hat jeder bey der Exhibition Intereſſirte (cujus interest),

und wahrſcheinlich ſtand dieſes ſo in dem Edict. Dieſer

Ausdruck paßte auf Jeden, dem es Vortheil bringen

konnte, eine Sache zu ſehen. Allein der anerkannte Zweck

ging dahin, Rechtsanſprüche von der Hemmung zu be-

freyen, die ihnen aus den zufälligen und räumlichen Ver-

hältniſſen einer Sache entſtehen konnte. Daher wurde

jener Ausdruck durch Auslegung auf dasjenige Intereſſe

eingeſchränkt, welches mit einem Rechtsanſpruch in

Verbindung ſteht (k). — Die zwölf Tafeln forderten für

die Uſucapion zwey Jahre Beſitz bey dem fundus, ein

Jahr bey allen anderen Sachen. Wohin ſollten nun Häu-

ſer gehören? Wörtlich waren ſie freylich nicht unter dem

Ausdruck fundus enthalten. Da aber die Uſucapion alle

Sachen überhaupt umfaßte, und da zu dieſem Zweck alle

Sachen in zwey große Maſſen abgetheilt werden ſollten,

ſo war ohne Zweifel die Meynung des Geſetzes, alle un-

bewegliche Sachen wegen ihrer völligen Gleichartigkeit

(i) L. 1 L. 11 § 1. 2. 3 de his qui not. (3. 2.).

(k) L. 19 ad exhib. (10. 4.).

|0293 : 237|

§. 37. Mangelhafte Geſetze. Unrichtiger Ausdruck.

zuſammen zu ſtellen, und es wurde blos deswegen der

concrete Ausdruck fundus gebraucht, weil es an einem

entſprechenden abſtracten Ausdruck fehlte. Daher wurde

jenes Wort ausdehnend auf alle unbewegliche Sachen,

alſo auch auf Häuſer, bezogen, und dieſe Auslegung

ſcheint auch niemals beſtritten geweſen zu ſeyn (l). — In

manchen Geſetzen freylich, welche von concreten Fällen

handeln, wird ausdrücklich hinzugefügt, daß dieſelben nicht

als bloßer Ausdruck abſtracterer Regeln angeſehen wer-

den ſollen: durch eine ſolche Vorſchrift iſt dieſe Art aus-

dehnender Erklärung ausdrücklich ausgeſchloſſen (m). —

Endlich gehört zu dieſer Art ausdehnender Auslegung auch

die Annahme eines indirecten Ausdrucks, welche man das

argumentum a contrario nennt. Es kann nämlich eine

Regel bis zu einer beſtimmten Gränze dergeſtalt ausge-

ſprochen ſeyn, daß darin der beſtimmte Gedanle enthalten

iſt, jenſeits dieſer Gränze ſolle das Entgegengeſetzte gelten.

So z. B. wenn der Prätor eine Klage einführte mit dem

gewöhnlichen Ausdruck: intra annum judicium dabo, ſo

lag darin zugleich der Sinn: post annum non dabo, und

die Beziehung des Ausdrucks hierauf iſt eine unzweifel-

hafte ausdehnende Auslegung (n). So ſagte die L. Julia

(l) Cicero, top. § 4.

(m) Beyſpiele ſind L. 10 C.

de revoc. don. (8. 56.) und Nov.

115. C. 3 pr.

(n) L. 22 de leg. (1. 3.) „Cum

lex in praeteritum quid indul-

get, in futurum vetat.” Donel-

lus (I. 14.) erklärt dieſe ſchwie-

rige Stelle mit vieler Wahr-

ſcheinlichkeit von Fällen der hier

beſchriebenen Art, ſo daß das

praeteritum und futurum nicht

auf den Zeitpunkt des erlaſſenen

Geſetzes zu beziehen iſt (da ja

|0294 : 238|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

de vi, der für dieſes Verbrechen angeordnete Prätor könne

ſeine Gerichtsbarkeit übertragen „si proficiscatur”; darin

lag der umgekehrte Satz, daß er es außerdem nicht

könne (o). Eben ſo deutet jede geſetzliche Ausnahme auf

das Daſeyn einer Regel, ohne welche dieſe Ausnahme

keinen Sinn hätte, iſt alſo ein indirecter Ausdruck dieſer

Regel. Wenn alſo die L. Julia de adulteriis den crimi-

nell verurtheilten Frauen die Fähigkeit des gerichtlichen

Zeugniſſes entzog, ſo folgte daraus von ſelbſt, daß ande-

ren Frauen dieſe Fähigkeit zuſtand (p).

Dagegen kann der generelle Grund eines Geſetzes (z.

B. die aequitas, worauf es beruht) nicht zu einer Ausle-

gung führen, wodurch der Ausdruck als unrichtig ange-

nommen und einer Berichtigung unterworfen werden ſoll.

Denn dieſe Behandlung trägt ſchon ganz den Character

einer von der Auslegung verſchiedenen Fortbildung des

Rechts an ſich, da wir nicht fragen, was in dem Gedan-

ken des Geſetzes enthalten iſt, ſondern was in denſelben

conſequenterweiſe hätte aufgenommen werden müſſen, wenn

ſich der Geſetzgeber dieſes klar gemacht hätte. Es kommt

aber noch hinzu die bey dieſer letzten Behauptung ſtets

zurück bleibende Ungewißheit, indem bey der Entfernung

 

dieſes nicht wohl über ſchon ver-

gangene Handlungen verfügen

kann), ſondern auf den in der

Zukunft liegenden Zeitpunkt, hier

alſo auf den Ablauf des Jahres

nach entſtandenem Klagrecht. Vor

dieſem Ablauf ſoll die Klage er-

laubt ſeyn (in praeteritum in-

dulget), alſo nachher verboten

(in futurum vetat).

(o) L. 1 pr. de off. ejus cui

mand. (1. 21.).

(p) L. 18 de testibus (22. 5.).

|0295 : 239|

§. 37. Mangelhafte Geſetze. Unrichtiger Ausdruck.

des Geſetzes von dieſem ſeinem generellen Grunde viele

entgegenwirkende Mittelglieder gedacht werden können,

durch die der Geſetzgeber ſelbſt bey deutlicher Einſicht in

das ganze Verhältniß, dennoch abgehalten werden mochte,

dem Geſetze die von uns verlangte Modification zu geben

(§ 34). Wenn wir nicht ſelten Auslegungen dieſer Art

bey den Römiſchen Juriſten finden, ſo können uns dieſe

hierin nicht als Muſter dienen, da die Römer, wie ſich

unten zeigen wird, Auslegung und Fortbildung nicht ſcharf

unterſchieden haben (q). Dahin gehört unter andern auch

die Regel, daß in jedes blos verbietende Geſetz ſtets die

Nichtigkeit des darin verbotenen Rechtsgeſchäfts hinein

gedacht werden müſſe (r). Wollten wir dieſes als eine

für unſre Auslegung gültige Regel betrachten, ſo würde

es mit der eben aufgeſtellten Behauptung im Widerſpruch

ſtehen, da hier dem Ausdruck des bloßen Verbots, aus

dem generellen Grunde der Zweckmäßigkeit und Wirkſam-

keit, eine große Ausdehnung beygelegt würde. Es iſt

aber in der That jene Vorſchrift ein ganz poſitives Ge-

ſetz, und, in Verbindung gedacht mit anderen, ein bloßes

Verbot ausſprechenden Stellen unſrer Rechtsbücher, eine

authentiſche Auslegung dieſer Stellen ſelbſt: alſo nicht An-

weiſung und Muſter für unſere eigene Auslegung.

(q) Beyſpiele dieſer Art finde

ich in folgenden Stellen: L. 40

pr. de her. pet. (5. 3.), L. 2

§ 1. 3 ad Sc. Vell. (16. 1.), L.

1 § 6 de aedil. ed. (21. 1.), L.

15. L. 6 § 2 de j. patr. (37. 14.),

L. 2 pr. § 1 de cust. (48. 3.). —

Vgl. unten § 47 und § 50 am

Ende.

(r) L. 5 C. de leg. (1. 14.).

|0296 : 240|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

Iſt nun alſo der ſpecielle Geſetzgrund zur Berichtigung

des Ausdrucks zuläſſig, der generelle unzuläſſig, ſo muß

zugleich daran erinnert werden, daß es zwiſchen dieſen

beiden Arten von Gründen keine ſcharfe Gränze giebt

(§ 34). Durch die mancherley allmäligen Übergänge, die

ſich hierin bilden, wird oft die Möglichkeit wahrer Aus-

legung zweifelhaft, und die Unterſcheidung derſelben von

Fortbildung des Rechts ſchwierig werden.

 

Dagegen iſt es durchaus keinem Zweifel unterworfen,

daß das dritte oben angegebene Hülfsmittel, der innere

Werth des Reſultats (§ 35), auf die Erkenntniß und Ver-

beſſerung des unrichtigen Ausdrucks niemals angewendet

werden darf. Denn es iſt einleuchtend, daß darin nicht

eine Ausgleichung des Ausdrucks mit dem Gedanken, ſon-

dern eine verſuchte Verbeſſerung des Gedankens ſelbſt,

enthalten ſeyn würde. Dieſes kann als Fortbildung des

Rechts heilſam ſeyn, von einer Auslegung kann es nur

den Namen an ſich tragen.

 

§. 38.

Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze (Kritik).

Die aufgeſtellten allgemeinen Grundſätze der Ausle-

gung ſollen nunmehr auf die Juſtinianiſche Geſetzgebung

insbeſondere angewendet werden, deren Auslegung wieder

neue Schwierigkeiten mit ſich führt, und neue Regeln

des Verfahrens nöthig macht. Dabey wird hier die

geſchichtliche Kenntniß dieſer Geſetzgebung vollſtändig

 

|0297 : 241|

§. 38. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik.

vorausgeſetzt, ſo daß nur von der Anwendung dieſer

Kenntniß auf das Geſchäft der Auslegung die Rede

ſeyn wird (a).

Die ganz eigenthümliche Lage des Auslegers gründet

ſich hier auf die große Entfernung zwiſchen ihm und der

Entſtehung der auszulegenden Geſetze. Dieſe giebt dem

Studium des Römiſchen Rechts einen vorzugsweiſe ge-

lehrten Character. Wir entbehren darin alle Vortheile

der Anſchaulichkeit und unmittelbaren Gewißheit, die aus

dem Mitleben mit dem Volke, worin ein Recht entſtand,

hervorgehen können, und wir müſſen ſuchen dieſe Vortheile

durch geiſtige Anſtrengung ſo viel als möglich zu erſetzen.

Dadurch erhält insbeſondere die Auslegung noch ein an-

deres Ziel, als das der Erwerbung eines reinen Reſul-

tates an ſicheren Rechtsregeln. Wir müſſen ſuchen, die

überlieferten Rechtsquellen in ihrer ganzen Eigenthümlich-

keit ſo vollſtändig in uns aufzunehmen, daß ſie uns die

Stelle des Mitlebens vertreten. So ſchwierig dieſe Auf-

gabe an ſich iſt, ſo wird ſie doch durch die hohe literari-

ſche Vortrefflichkeit erleichtert, die wir in den wichtigſten

Theilen jener Rechtsquellen wahrnehmen.

 

Die Grundlage aller Auslegung iſt ein auszulegender

Text, und die Feſtſtellung dieſes Textes heißt Kritik.

Dieſe geht alſo der Auslegung vorher, jedoch darf dieſes

 

(a) Ganz abſichtlich alſo wird

hier nicht geſprochen von der

Entſtehung der Juſtinianiſchen

Rechtsquellen, von ihren Be-

ſtandtheilen, von ihrer Sprache,

und den Hülfsmitteln, die wir

dabey benutzen, von den Hand-

ſchriften und Ausgaben des Textes.

16

|0298 : 242|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

Vorhergehen nur von dem Verfahren im Ganzen verſtan-

den werden, nicht von jeder einzelnen Anwendung: denn

im Einzelnen wird oft das Geſchäft der Kritik nur ge-

meinſchaftlich mit dem der Auslegung vollzogen werden

können. — Die Kritik kommt vor in zwey Stufen: als

diplomatiſche (oder niedere), und als höhere Kritik.

Die Aufgabe der erſten geht darauf, das Material ſicher

und vollſtändig herbeyzuſchaffen, die der zweyten auf die

Beſtimmung des wahren Textes aus dem gegebenen

Material.

An ſich iſt das Geſchäft der Kritik ein eben ſo allge-

meines, als das der Auslegung, und keinesweges auf das

Römiſche Recht beſchränkt. Da es jedoch hier größere

Wichtigkeit und Schwierigkeit als bey anderen Geſetzge-

bungen hat, ſo habe ich es vorgezogen, erſt an dieſer

Stelle davon zu reden, wo es im vollſtändigen Zuſam-

menhang, und ohne läſtige Wiederholungen, dargeſtellt

werden kann.

 

In Beziehung auf Kritik iſt zuerſt der einfachſte Fall

zu erwägen, da uns der Geſetzgeber den Text des Ge-

ſetzes in einer ſolchen Geſtalt unmittelbar übergiebt, wel-

cher er ſelbſt öffentlichen Glauben beylegt. In dieſem

Fall, der durch die Erfindung der Buchdruckerkunſt nicht

nur möglich, ſondern auch ſehr gewöhnlich geworden iſt,

fällt die diplomatiſche Kritik von ſelbſt weg; es ſcheint

aber, daß auch die höhere Kritik, wenn ſie etwa einen

Druckfehler behaupten wollte, als Auflehnung gegen den

 

|0299 : 243|

§. 38. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik.

Willen des Geſetzgebers abgewehrt werden müßte. Allein

es iſt oben gezeigt worden, daß ſelbſt der wirkliche Aus-

druck des Geſetzes aus dem Gedanken deſſelben durch

Auslegung berichtigt werden darf (§ 37), welches Verfah-

ren auf dem Vorzug des Geiſtes vor dem Buchſtaben

beruht. Nun iſt aber der gedruckte Text, im Verhältniß

zu dem wirklichen Ausdruck, doch nur als der Buchſtab

des Buchſtabs anzuſehen, ſo daß er tiefer ſteht als

jener; daher wird auch er einer gleichen Berichtigung ſich

nicht entziehen können. Freylich aber wird dieſer Fall

ſehr ſelten vorkommen, und er hat daher in der allgemei-

nen Betrachtung der Kritik geringe Erheblichkeit (b).

Allein der hier beſchriebene Fall iſt auch keinesweges

der, in welchem wir uns befinden im Verhältniß zu den

Quellen des Juſtinianiſchen Rechts. Daß wir keinen ge-

ſetzlich überlieferten Text haben, giebt wohl Jeder zu.

 

(b) Ein merkwürdiges Bey-

ſpiel aus neuerer Zeit iſt folgen-

des. Das Königlich Weſtphäli-

ſche Dekret vom 18. Jan. 1813

Art. 3, legte dem Zehentherrn

eines Gutes den zehenten Theil

der Grundſteuer auf „wenn der

Zehentherr den zehnten Theil des

reinen Ertrages bezieht:“

außer dieſem Fall, nach Verhält-

niß, mehr oder weniger als ein

Zehentheil (Bülletin N. 3 von

1813. S. 45). In einem ſpäte-

ren Stück des Geſetzbülletins

aber ſteht: „Bülletin Nr. 3 …

des reinen Ertrags, lies:

des rohen Ertrags.“ Dieſe

Berichtigung, die gleichzeitig im

Moniteur vom 3. Febr. ſtand,

war jedoch ohne Unterſchrift oder

andere Beglaubigung, und ſtand

überdem im Widerſpruch mit der

ſchriftlichen Originalurkunde. Das

praktiſche Reſultat beider Leſe-

arten iſt höchſt verſchieden, und

es fragte ſich nun, welche vor-

gehen ſollte. Nach der erſten

Leſeart war das Geſetz in conſe-

quentem Zuſammenhang mit den

allgemeinen Steuergrundſätzen,

aber ſehr ſchwer auszuführen:

nach der zweyten Leſeart verhielt

ſich Beides gerade umgekehrt.

16*

|0300 : 244|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

Wäre in Bologna das kritiſche Streben der Gloſſatoren

zu einem abgeſchloſſenen Ziel gekommen, ſo würde die

Reception dieſer Vulgata die Stelle eines geſetzlichen Tex-

tes vertreten, obgleich auch dadurch, wie ſo eben gezeigt

worden iſt, das Geſchäft der höheren Kritik nicht ausge-

ſchloſſen wäre. Allein eine fertige Vulgata in dieſem

Sinn hat nie beſtanden, und eine Reception derſelben war

alſo unmöglich (§ 17). Wir haben folglich Nichts vor

uns als eine bedeutende Anzahl Handſchriften, die an

Alter und Werth ſehr verſchieden ſind. Selbſt die gänz-

liche Übereinſtimmung derſelben in einer Leſeart kann der

geſetzlichen Mittheilung nur durch eine Art von Fiction

gleichgeſtellt werden. In Wahrheit entſteht aus einer

ſolchen Übereinſtimmung doch nur ein höherer Grad von

Wahrſcheinlichkeit daß wir den urſprünglichen Text vor

uns haben, keine Gewißheit. Neuere Schriftſteller haben

befürchtet, es würde um alle Sicherheit der Praxis ge-

ſchehen ſeyn, wenn man die Kritik walten ließe, und ſie

haben daher dieſelbe entweder gänzlich verworfen, oder

doch in willkührliche enge Gränzen eingeſchloſſen (c).

Dieſe Ängſtlichkeit will einen gegebenen Text gegen die

Gefahr willkührlicher Abweichungen bewahren. Sie iſt

aber dadurch nichtig, daß das Gegebene, welches ſie

(c) Thibaut verwarf den

praktiſchen Gebrauch der Kritik

gänzlich (Verſuche Bd. 1 Num.

16), gab aber ſpäterhin dieſe

Meynung auf (Logiſche Ausle-

gung § 44). — Feuerbach will

die freye Conjecturalkritik nur

zulaſſen, um Unſinn oder Wi-

derſpruch auszurotten (civiliſti-

ſche Verſuche Th. 1 Num. 3).

Eben ſo Glück I. § 35 Num. 5.

|0301 : 245|

§. 38. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik.

bewachen will, gar nicht exiſtirt. Sieht man zu, was ſie

ſich als ein ſolches denken, ſo entdeckt man eben ſo ver-

ſchiedene als unklare Vorſtellungen. Die Vulgata, oder Bo-

logneſiſche Recenſion, könnte dafür gelten, wenn ſie zu Stande

gekommen wäre. Die Ubereinſtimmung aller erhaltenen Hand-

ſchriften giebt wieder einen beſtimmten Begriff, wenngleich

kein Recht zu Abweiſung der Kritik: allein dieſe meynen

ſie auch nicht. Denn theils war bis jetzt in Fällen ſtrei-

tiger Kritik faſt niemals auch nur ein Anfang dazu ge-

macht worden, jene Übereinſtimmung zu erfahren, theils

beruhte der Kampf gegen die Kritik hauptſächlich auf der

Furcht, die in Gerichten hergebrachten Meynungen könn-

ten durch tiefer gehende Unterſuchung geſtört werden,

wobey ja gerade die Vergleichung von Handſchriften be-

ſonders gefährlich war. Giebt man aber dieſe Beſtim-

mungen des gegebenen Textes (welcher unantaſtbar ſeyn

ſoll) auf, ſo bleibt faſt Nichts übrig, als denjenigen Text

dafür zu nehmen, der den Meiſten vor Augen liegt, weil

er gerade in den verbreitetſten Ausgaben ſteht, wofür

vielleicht die Gothofrediſchen gelten dürften (d). Allein

ein ſo ſchwankender und ſo willkührlich angenommener

Begriff darf doch gewiß nicht auf ernſthafte Rückſicht An-

ſpruch machen.

(d) Die meiſten Widerſacher

der Kritik denken dergleichen,

ohne es ſich klar zu machen oder

auszuſprechen. Deutlich ausge-

ſprochen, unter vielem Verworre-

nen, iſt es bey Dabelow Hand-

buch des Pandectenrechts Th. 1

S. 204 (Halle 1816), der aber

gerade keinen Gebrauch davon

macht, ſondern der Kritik große

Freyheit einräumt.

|0302 : 246|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

§. 39.

Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. (Kritik.)

Fortſetzung.

Iſt nun durch dieſe Gründe das Recht der Kritik gel-

tend gemacht, ſo müſſen ferner die Regeln ihres Verfah-

rens aufgeſtellt werden. — Die diplomatiſche Kritik hat

das handſchriftliche Material zu ſammeln, und, durch

Prüfung der Handſchriften nach ihrem Alter und Werth,

äußerlich zu ordnen. Sie hat ferner den recipirten Ca-

non durch Ausſcheidung aller fremdartigen Theile (§ 17)

rein zu erhalten, die demſelben, nach der Einrichtung der

meiſten neueren Ausgaben, aus Verſehen leicht zugezählt

werden können (a). — Das Geſchäft der höheren Kritik

zerfällt in zwey Theile: Verarbeitung des durch die diplo-

matiſche Kritik überlieferten handſchriftlichen Vorraths,

und Verbeſſerung deſſelben. Sie hat alſo zunächſt, dem

erſten Theile nach, durch freye Auswahl aus dem hand-

ſchriftlichen Vorrath einen Text zu bilden. Allerdings

 

(a) Noch ſchlimmer, als die

irrige Anwendung des nicht

gloſſirten aber ächten Textes, iſt

es freylich, wenn hie und da die

ſeit dem vierzehnten Jahrhundert

verfaßten und ſpäter in die Aus-

gaben aufgenommenen Summa-

rien als Beſtandtheile des Rö-

miſchen Rechts angeſehen wor-

den ſind, welcher ſtarke Misgriff

jedoch leicht zu erklären iſt. Denn

die Gloſſe und die neueren An-

merkungen ſtehen ſtets am Rande

der Ausgaben, dieſe Summa-

rien aber als Überſchriften mit-

ten im Text, daher ſie der Un-

kundige leicht für Text halten

kann. Vgl. hierüber Savigny

Beruf unſrer Zeit S. 62, und:

Geſchichte des R. R. im Mittel-

alter B. 6 S. 162.

|0303 : 247|

§. 39. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik. Fortſetzung.

muß ſie diejenige Wahrſcheinlichkeit mit in Anſchlag brin-

gen, die aus der Zahl und dem Werth der Handſchriften

für eine unter mehreren Leſearten hervorgehen kann. Aber

frey bleibt ſie darum dennoch in der Auswahl, ohne durch

die Rückſicht auf irgend eine Klaſſe von Handſchriften

(z. B. die Vulgata) gebunden zu ſeyn: ja dieſe Freyheit

iſt ſogar in ſehr wichtigen Anwendungen ſtets allgemein

anerkannt worden, ſelbſt von Solchen, die ſich in der

allgemeinen Theorie entſchieden gegen den Gebrauch der

Kritik ausſprachen. Es giebt nämlich in den Digeſten

eine anſehnliche Zahl von Stellen, worin der Florentini-

ſche Text durch Lücken ſinnlos iſt, andere Handſchriften

aber einen vollſtändigen Text von unzweifelhafter Ächt-

heit darbieten: eben ſo giebt es viele Stellen, worin der

umgekehrte Fall eintritt (b). Nun weiß ich auch keinen

einzigen Schriftſteller, der in ſeinem kritiſchen Rigorismus

ſo weit gienge, dieſe zwiefachen Verbeſſerungen abzuwei-

ſen: und doch hat die Meynung, welche etwa dem Bo-

logneſiſchen Text die ausſchließende Herrſchaft zuſchreiben

möchte, unter allen oben dargeſtellten willkührlichen Be-

ſchränkungen noch am meiſten hiſtoriſchen Schein für ſich.

(b) Savigny Geſchichte des

R. R. im Mittelalter B. 3 § 167.

171. Allerdings könnte man ſa-

gen, die hier angeführten Er-

gänzungen aus der Florentina

ſeyen ja ſchon ſelbſt Beſtandtheile

der Vulgata geworden. Allein

die Bologneſer haben uns nicht

wenige ganz ähnliche Verbeſſe-

rungen zu machen übrig gelaſſen,

die erſt in ſpäterer Zeit aus der

Florentina hinzugefügt worden

ſind, und woran dennoch nie-

mals Anſtoß genommen wor-

den iſt.

|0304 : 248|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

In unſren gangbaren Ausgaben freylich merken wir jene

zwiefache Noth gar nicht, indem darin überall die erwähn-

ten Verbeſſerungen ſchon aufgenommen ſind. Und in dieſer

Anwendung wird es recht anſchaulich, daß in der Aner-

kennung eines beſtimmten Textes zu keiner Zeit eine ähn-

liche allgemeine Meynung feſt geworden iſt, wie es von

ſo vielen und wichtigen praktiſchen Rechtsſätzen nicht ge-

läugnet werden kann (§ 20). — Zu dieſem erſten Theile

des Geſchäfts der höheren Kritik gehört endlich auch noch

die Interpunktion, durch welche die logiſche Gliederung

einer Stelle beſtimmt wird, und die daher ihrer innern

Natur nach als Auslegung angeſehen werden könnte, ob-

gleich ſie in ihrer Form mit dem Geſchäft des Kritikers

zuſammenfällt. Merkwürdigerweiſe haben Manche auch

ſchon die Veränderung der gewöhnlichen Interpunktion

als eine Art von Emendation angeſehen (c). Allein die

Vorſtellung von einer gewöhnlichen Interpunktion iſt,

eben ſo wie die von einem gewöhnlichen Text überhaupt,

eine ganz leere und nichtige. In der That liefern uns

die Handſchriften faſt Nichts als ununterbrochene Reihen

von Buchſtaben: wie wir dieſe in Worte ſondern, und

dieſe Worte zu Sätzen gliedern wollen, das iſt ganz un-

frer Einſicht überlaſſen. Die geringen und unſicheren An-

fänge von Interpunktion in einigen Handſchriften können

gar nicht in Betracht kommen.

Es bleibt nun noch übrig, den zweyten Theil des Ge-

 

(c) Feuerbach a. a. O., S. 93.

|0305 : 249|

§. 39. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik. Fortſetzung.

ſchäfts der höheren Kritik zu betrachten, der in der Ver-

beſſerung des handſchriftlichen Textes, alſo in der Emen-

dation durch Conjecturen (d) beſteht. Dieſe Conjectural-

kritik iſt es eigentlich, welche eine ſo große Aufregung

gegen die kritiſche Behandlung unſrer Quellentexte über-

haupt hervorgebracht hat. Auch iſt nicht zu läugnen, daß

dieſelbe ſeit dem ſechszehnten Jahrhundert von Manchen,

beſonders Franzoſen und Holländern, auf eine willkühr-

liche, ja leichtſinnige Weiſe geübt worden iſt. Dieſem

Misbrauch das Wort zu reden, iſt gewiß nicht meine Ab-

ſicht, aber das wichtige, ja unentbehrliche Recht auf ihren

richtigen Gebrauch dürfen wir darum weder aufgeben, noch

durch willkührliche Bedingungen einſchränken laſſen (e).

Die beiden hier angegebenen Anwendungen der höhe-

ren Kritik, zur Auswahl unter handſchriftlichen Texten,

und zu deren Berichtigung, haben unverkennbare Ähnlich-

keit mit den beiden Auslegungsarten mangelhafter Geſetze,

im Fall des unbeſtimmten und des unrichtigen Ansdrucks

(§ 35 — 37). Fragen wir alſo auch hier nach den Er-

 

(d) Emendation iſt ganz rela-

tiv, und bezieht ſich ſtets auf ir-

gend einen, willkührlich voraus-

geſetzten, Text, der gerade jetzt

verbeſſert werden ſoll. Daher

kann auch ſchon die bloße Be-

richtigung von Druckfehlern als

eine ſolche gelten; doch beſchränkt

man gewöhnlich den Ausdruck

auf die Verbeſſerungen von wiſ-

ſenſchaftlichem Character, d. h.

auf ſolche, die den Text beſtimm-

ter Handſchriften, oder der auf

Handſchriften gebauten Ausga-

ben, zum Gegenſtand haben.

(e) Eine ſolche unzuläſſige Ein-

ſchränkung iſt es, wenn man

Conjecturen nur als letztes Mit-

tel gegen Sinnloſigkeit des Tex-

tes oder innern Widerſpruch der

Geſetzgebung zulaſſen will, ſ. o.

§ 38 Note c.

|0306 : 250|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

kenntnißmitteln für den wahren Text, den wir feſtzuſtellen

haben, ſo finden wir, als das erſte und wichtigſte Mittel,

die aus dem Zuſammenhang einer Stelle ſelbſt hervorge-

hende innere Nothwendigkeit. Dieſe aber darf nicht nach

allgemeinen Begriffen angenommen werden, ſondern nach

dem beſonderen literariſchen Character der Stelle, worauf

ſich die Kritik eben bezieht, oder der Klaſſe von Stellen,

wozu dieſe einzelne gehört. Daher iſt denn bey dieſer

Art der Kritik mit Regeln wenig auszurichten: die Haupt-

ſache beruht auf einem durch anhaltendes Quellenſtudium

ausgebildeten kritiſchen Blick, und auf einem behutſamen,

ſich ſelbſt mistrauenden Wahrheitsſinn. — Ein ähnliches

Mittel beſteht in der Vergleichung der zweifelhaften Ge-

ſetzſtelle mit anderen Stellen; dieſe Vergleichung kann

jedoch der Verbeſſerung nur in dem Maaße Sicherheit

geben, in welchem zwiſchen beiden Stellen eine nähere

Verwandtſchaft obwaltet. — Die auf dieſe Weiſe begrün-

dete Verbeſſerung aber kann noch eine mehr äußere Be-

kräftigung dadurch erhalten, wenn es uns gelingt auf

eine wahrſcheinliche Weiſe zu erklären, wie der Text,

den wir für den unrichtigen erklären, aus dem wahren

Texte bey den Abſchreibern entſtanden iſt. Dieſes kann

geſchehen erſtens durch die Analogie. Es giebt nämlich

gewiſſe Fehler, die ſehr häufig und gleichförmig wieder-

kehren, und deren Vorausſetzung daher von ſelbſt eine

gewiſſe Wahrſcheinlichkeit mit ſich führt. Dahin gehört

die häufige Verwechslung beſtimmter Buchſtaben unter

|0307 : 251|

§. 39. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik. Fortſetzung.

einander: ferner die Auslaſſung eines Buchſtabs, wenn

derſelbe Buchſtab unmittelbar vorhergieng, wobey wir

alſo den ausgefallenen wiederherſtellen wollen (Gemina-

tion): endlich das Überſpringen oder Verſetzen ganzer Zeilen

in der dem Abſchreiber vorliegenden Urhandſchrift, welche

Annahme freylich ſchon weit bedenklicher iſt. — Die wahr-

ſcheinliche Erklärung der Entſtehung des irrigen Textes kann

zweytens geſchehen dadurch, daß eine von mehreren Leſe-

arten ſchwerer als andere zu verſtehen iſt, ſo daß die

Abſchreiber den wahren Text verwarfen, blos weil ſie

ihn nicht verſtanden. — Sie kann endlich auch geſchehen

dadurch, daß zu der Zeit, worin die Abſchriften entſtan-

den, das Recht ſelbſt ſich verändert hatte, ſo daß das

damals geltende Recht in die Abſchriften hinein corrigirt

wurde (f). — Dagegen iſt zu verwerfen diejenige Erklä-

rung des Fehlers, welche auf der Vorausſetzung von

Siglen in den Urhandſchriften beruht, die dann von den

Abſchreibern unrichtig aufgelöſt ſeyn möchten. Denn da

Juſtinian den Gebrauch der Siglen bey den Abſchriften

(f) Dahin gehört § 4 J. de

nupt. (1. 10): „Duorum autem

fratrum vel sororum liberi,

vel fratris et sororis, jungi

non possunt.” Viele Hand-

ſchriften haben das non, viele

andere haben es nicht. Die an

ſich unbedenkliche Verwerfung

des non wird nun dadurch be-

ſtärkt, daß zur Zeit der Entſte-

ſtehung unſrer Handſchriften ge-

wiß jeder Abſchreiber wußte, daß

die Ehe unter Geſchwiſterkindern

(durch das canoniſche Recht) ver-

boten ſey. Solche Fälle ſind

nun freylich ſelten. Dagegen

liegt es viel näher und ſcheint

viel fruchtbarer, die vorjuſtinia-

niſche Rechtsgeſchichte zur Emen-

dation zu benutzen; aber gerade

dieſe Benutzung iſt meiſt ganz

unzuläſſig, wie weiter unten ge-

zeigt werden wird.

|0308 : 252|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

ſeiner Geſetze unbedingt verboten hat (g), ſo können ſich

gewiß nur wenige aus Verſehen eingeſchlichen haben, und

dieſe können nicht hinreichen, um irgend eine Wahrſchein-

lichkeit in einzelnen Fällen zu begründen.

§. 40.

Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. Fortſetzung.

(Einzelne Stellen für ſich.)

Bey der Auslegung ſelbſt beziehen ſich die der Juſti-

nianiſchen Geſetzgebung eigenthümlichen Regeln nur auf

die zwey größten und wichtigſten Theile derſelben, die

Digeſten und den Codex. Jedes dieſer beiden Rechtsbü-

cher bildet ein großes Ganze, zuſammengeſetzt aus einer

Menge von hiſtoriſch verſchiedenen und erkennbaren ein-

zelnen Beſtandtheilen. Wie dieſe Beſtandtheile einzeln für

ſich, und wie ſie im Verhältniß zu dem Ganzen, dem ſie

angehören, zu behandeln ſind, ſoll nunmehr angegeben

werden.

 

Zur Auslegung der einzelnen Stellen für ſich ſind zu-

vörderſt alle hiſtoriſche Charactere derſelben zu benutzen,

alſo Alles, was wir aus den Überſchriften und Unter-

ſchriften über Zeitalter, Verfaſſer, Veranlaſſung der Stellen

wiſſen, ſo wie über das völlig verſchiedene Ganze, dem

ſie vielleicht urſprünglich angehört haben mögen (a). Dann

 

(g) Const. Omnem § 8. L. 1

§ 13 C. de vet j. enucl. (1. 17).

L. 2 § 22 eod. Const. Cordi § 5.

(a) Dieſes Letzte gilt haupt-

ſächlich von den Digeſten, worin

jede Stelle als urſprünglicher

Theil eines juriſtiſchen Buchs

betrachtet werden muß. Hie und

|0309 : 253|

§. 40. Juſtinianiſche Geſetze. Einzelne Stellen für ſich.

aber iſt uns zu dieſer Auslegung das reichſte Material

gegeben durch die Vergleichung, nicht nur mit allen an-

deren Stellen der Juſtinianiſchen Geſetzgebung, ſondern

auch mit den geſammten früheren und ſpäteren Rechts-

quellen; denn durch die oben feſtgeſtellten Gränzen des

aufgenommenen Canons (§ 17) kann uns der wiſſenſchaft-

liche Gebrauch jenes reichen Schatzes auf keine Weiſe

beſchränkt werden.

Ferner iſt in dieſer Beziehung wichtig die große Ver-

ſchiedenheit jener Beſtandtheile, nach welcher wir zwey

Klaſſen derſelben annehmen können. Die erſte und zahl-

reichſte Klaſſe umfaßt die ganzen Digeſten, und im Codex

die Reſcripte. Dieſe ſind, ihrer Hauptbeſtimmung nach,

Zeugniſſe für das damals beſtehende Recht, ſie haben

inſoferne einen wiſſenſchaftlichen Character, und das ſyſte-

matiſche Element der Auslegung iſt in ihnen vorherrſchend

(§ 33). Jedoch muß hier gegen einen zweyfachen Mis-

brauch gewarnt werden, der von der Anerkennung dieſes

Characters gemacht werden könnte. Zuerſt nämlich haben

ſich die Reſcripte keinesweges ſtrenge in dieſen Gränzen

gehalten, vielmehr iſt in einem nicht unbedeutenden Um-

fang auch die Fortbildung des Rechts durch ſie bewirkt

worden (§ 24); ja auch den wiſſenſchaftlichen Arbeiten

 

da iſt es aber auch auf Stellen

des Codex anzuwenden, wenn

mehrere derſelben urſprünglich

nur Eine Conſtitution gebildet

haben (Coaſſation). Dieſer Fall

kommt häufiger im Theodoſiſchen

Codex vor, doch iſt er auch dem

Juſtinianiſchen nicht fremd. Als

Beyſpiel kann dienen L. 5 C. de

act. emti (4. 49.) verbunden mit

L. 3 C. in quib. causis (2. 41).

|0310 : 254|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

der alten Juriſten iſt dieſe Fortbildung, wenngleich in

geringerem Maaße als bey den Reſcripten, nicht fremd

(§ 14. 19.), welches noch deutlicher bey der Characteriſtik

ihrer Weiſe der Auslegung hervortreten wird. Zweytens

wäre es ganz irrig, wenn man die oben dargeſtellten all-

gemeinen Grundſätze der Geſetzauslegung auf die Re-

ſcripte im Codex, und auf die geſammten Digeſten, darum

weniger anwenden wollte, weil dieſe Stücke der Quellen

urſprünglich keine Geſetze waren; denn jene Grundſätze

ſind ihrem innern Weſen nach auf jede andere Form juri-

ſtiſcher Gedankenbildung eben ſo anwendbar, als auf Ge-

ſetze, obgleich die Entwicklung derſelben zunächſt um der

Geſetze willen nothwendig war. Auch habe ich deshalb

bisher die erläuternden Beyſpiele der Auslegung ohne

Rückſicht darauf gewählt, ob die auszulegenden Stellen

urſprünglich die Natur von Geſetzen an ſich trugen oder

nicht. — Die zweyte Klaſſe von Beſtandtheilen der gro-

ßen Rechtsbücher iſt die der urſprünglichen Geſetze, wohin

alſo nur die Edicte im Codex gehören. Bey dieſen iſt

das hiſtoriſche Element der Auslegung (§ 33) eben ſo vor-

herrſchend, wie es dort das ſyſtematiſche war (b). Eine

ganz gleiche Natur aber haben auch die Novellen, welche

überhaupt nicht Beſtandtheile eines größeren Ganzen, ſon-

dern nur einzeln ſtehende Geſetze ſind.

(b) So z. B. iſt bey der Aus-

legung der L. un. C. de nudo

j. quir. toll. (7. 25.) die Haupt-

frage dieſe: welches Recht galt

hierin im Anfang der Regierung

Juſtinians, und was wurde alſo

durch jenes Geſetz wahrhaft ge-

ändert?

|0311 : 255|

§. 41. Juſtinianiſche Geſetze. Verhältniß zur Compilation.

§. 41.

Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. Fortſetzung.

(Einzelne Stellen im Verhältniß zur Compilation.)

Es iſt nun ferner zu beſtimmen, was für die Ausle-

gung einzelner Stellen folgt aus ihrem Verhältniß zu der

Compilation, welcher ſie als einem Ganzen angehören.

 

Zunächſt bekommt durch dieſes Verhältniß eine ganz

neue Bedeutung und Wichtigkeit dasjenige Hülfsmittel der

Auslegung mangelhafter Geſetze, welches in dem Zuſam-

menhang dieſes Geſetzes mit ſich ſelbſt beſteht (§ 35).

Denn indem jetzt die ganzen Digeſten als Ein großes

Geſetz von Juſtinian zu betrachten ſind, und eben ſo der

ganze Codex, ſo bekommt dadurch jenes Hülfsmittel eine

ungemein große und wohlbegründete Ausdehnung (a).

 

Ferner entſteht ein neues Mittel der Auslegung da-

durch, daß eine einzelne Stelle gerade in dieſen beſtimm-

ten Titel eingerückt iſt. Denn da jeder Titel der Dige-

ſten und des Codex durch das beſondere Rechtsinſtitut,

worauf er ſich bezieht, von allen übrigen Titeln unter-

ſchieden iſt, ſo läßt ſich aus dieſem eigenthümlichen Ge-

genſtand deſſelben auf den zweifelhaften Sinn einer ein-

 

(a) Die Vergleichung zweyer

Stellen in den Digeſten kann

zu ganz verſchiedenen Zwecken

angeſtellt werden. Erſtlich um

dem unbeſtimmten oder unrich-

tigen Ausdruck der einen durch

die andere abzuhelfen: davon iſt

hier die Rede. Zweytens um

einen Widerſpruch zwiſchen bei-

den Stellen wegzuräumen: da-

von kann erſt weiter unten ge-

handelt werden.

|0312 : 256|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

zelnen darin enthaltenen Stelle ein wohlbegründeter Schluß

ziehen. Nur darf dabey nicht überſehen werden, daß

manche Stellen aus Verſehen, und nur nach dem äußeren

Schein einer Verwandtſchaft, in einen ganz unpaſſenden

Titel eingerückt worden ſind, in welchem Fall jene Aus-

legungsregel gar nicht gelten darf (b). Aber auch in den

gewöhnlichen Fällen würde man jener Regel eine über-

triebene Ausdehnung geben, wenn man jede Stelle auf

den beſonderen Gegenſtand ihres Titels beſchränken wollte,

da ſie neben demſelben, auch ohne Verſehen der Compila-

toren, noch ganz Anderes, ja viel Wichtigeres, wirklich

enthalten kann. — Ein ähnliches Mittel der Auslegung

könnte man verſucht ſeyn, in der Ordnung zu ſuchen,

worin die einzelnen Stellen eines Titels gegen einander

ſtehen, wenn dieſe Ordnung durch ihren Inhalt beſtimmt

würde. Allein im Codex ſtehen die Stellen jedes Titels

augenſcheinlich in chronologiſcher Ordnung. In den Di-

geſten herrſcht zwar nicht die chronologiſche, wohl aber

in der Regel gleichfalls eine ganz äußerliche Ordnung,

wodurch jener Gebrauch zur Auslegung eben ſo ausge-

ſchloſſen wird. Nur ausnahmsweiſe wird der Ort, den

eine Stelle in dem Titel einnimmt, durch den Inhalt

(b) Man nennt das leges

fugitivae. Ein Beyſpiel giebt

L. 6 de transact. (2. 15.), die

blos zufällig und irrig, wegen

des darin vorkommenden Wortes

transigi, in den Titel de trans-

actionibus gekommen iſt, da ſie

gar keine die Transactionen be-

treffende Regel enthält, wie die

Vergleichung mit L. 1 § 1 testam.

quemadm. aper. (29. 3.) deut-

lich zeigt.

|0313 : 257|

§. 41. Juſtinianiſche Geſetze. Verhältniß zur Compilation.

beſtimmt, und dann kann derſelbe auch zur Auslegung

benutzt werden (c).

Endlich aber ſind ganz beſonders wichtig die Ände-

rungen, die an unzähligen Stellen bey ihrer Aufnahme

in die Compilationen vorgenommen worden ſind. Und

zwar ſind dieſe Änderungen von dreyerley Art.

 

Die erſte und unmittelbarſte Art beſteht darin, wenn

manche Stellen, bey der Aufnahme in die Compilationen,

theilweiſe umgeſchrieben worden ſind, welches Verfahren

eine Interpolation oder Emblema Triboniani genannt

zu werden pflegt. Manche dieſer Interpolationen laſſen

ſich mit großer Sicherheit nachweiſen (d), eine weit grö-

ßere Zahl kann nur mit einiger Wahrſcheinlichkeit behaup-

tet werden, oder bleibt uns auch gänzlich verborgen. Die

Erlaubniß zu ſolchen Interpolationen, ja die Anweiſung

dazu, hat Juſtinian den Verfaſſern der Compilationen

ausdrücklich gegeben, und der ſehr natürliche Zweck lag

darin, daß ältere Stellen, wenn darin einzelne Ausdrücke

zu dem gegenwärtigen Recht nicht mehr paßten, durch

 

(c) Bluhme Ordnung der

Fragmente in den Pandectenti-

teln, Zeitſchrift f. geſchichtl. Rwiſſ.

B. 4. S. 290. 366. 414.

(d) So z. B. dauerte die Uſu-

capion der Grundſtücke bis auf

Juſtinian zwey Jahre, er aber

ſetzte ſie auf zehen, zuweilen

zwanzig Jahre, was nach einem

alten Sprachgebrauch longum

tempus hieß. Daher wurden

nun in den Stellen der alten

Juriſten, welche von Grundſtük-

ken handelten, die Ausdrücke usu-

capio und usucapere ganz ge-

wöhnlich (obgleich unnöthiger-

weiſe) in longi temporis capio

und longo tempore capere ver-

wandelt. Vgl. L. 10 § 1. L. 17.

L. 26. L. 33 § 3 de usurp. (41.

3.), und manche ähnliche Stellen.

17

|0314 : 258|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

deren Änderung zur Aufnahme in die Rechtsbücher taug-

lich gemacht werden ſollten (e). Hieraus folgt aber die

wichtige Regel, daß zur Textkritik die Vergleichung mit

den vorjuſtinianiſchen Rechtsquellen nur auf die beſchränk-

teſte Weiſe zuläſſig iſt, nämlich nur etwa in ſolchen Fäl-

len, worin ſich darthun läßt, daß eine Änderung des

Rechts, alſo eine Veranlaſſung zur Interpolation, gewiß

nicht ſtatt gefunden hat.

Eine zweyte, weniger ſichtbare, Art der Änderungen

beſteht darin, daß einzelne Ausdrücke mancher Stellen,

im Zuſammenhang der Compilation, eine andere Bedeu-

tung angenommen haben, als die, worin ſie von den

urſprünglichen Verfaſſern niedergeſchrieben worden waren.

Dadurch wurden die Stellen für die Compilation paſſend,

ohne daß man nöthig hatte etwas umzuſchreiben. Ein

unzweifelhaftes Beyſpiel findet ſich in der Lehre von den

Servituten. Dieſe wurden nach altem Recht regelmäßig

durch in jure cessio erworben, weshalb die alten Juriſten

ſehr häufig von einer cessio bey Servituten ſprachen. Zu

Juſtinians Zeit war die in jure cessio gänzlich verſchwun-

den: allein der Ausdruck cessio konnte überall auch in

der allgemeinen Bedeutung einer Übertragung überhaupt,

ohne Rückſicht auf die dabey angewendete Form, gebraucht

werden, und ſo ließ man in vielen Stellen jenen Ausdruck

unverändert ſtehen, in der ganz richtigen Erwartung, er

 

(e) L. 1 § 7. L. 2 § 10 C. de

vet. j. enucl. (1. 17.), Const.

Haec quae necess. § 2, Const.

Summa § 3, Const. Cordi § 3.

|0315 : 259|

§. 41. Juſtinianiſche Geſetze. Verhältniß zur Compilation.

werden nunmehr von Jedem in dieſer allgemeinen Bedeu-

tung verſtanden werden (f). — Noch häufiger und wichti-

ger iſt der Fall, da nicht ein einzelner Ausdruck, ſondern

ſelbſt die Entſcheidung einer Rechtsfrage, unverändert

geblieben iſt, aber in der Compilation in einem andern

Zuſammenhang gedacht, und auf einen andern Grund

zurück geführt werden muß, als bey dem alten Juriſten:

ſo daß die Entſcheidung zwar hier und dort gleich richtig

iſt, aber auf verſchiedene Weiſe (g). — Die Auslegung,

(f) Dahin gehören L. 63 de

usufructu (7. 1.), L. 20 § 1. L.

39 de S. P. U. (8. 2.), L. 3 § 3.

L. 10. L. 11. L. 14 de S. P. R.

(8. 3.), L. 15. L. 18 comm.

praed. (8. 4.). Es iſt möglich,

daß in manchen dieſer Stellen

urſprünglich ſtand in jure ces-

sio, und daß die Worte in jure

weggeſtrichen wurden. Dann ge-

hörten dieſelben theilweiſe zur

erſten Art von Änderungen, theil-

weiſe noch immer hierher, indem

doch wenigſtens das beybehaltene

Wort cessio eine andere Bedeu-

tung angenommen hätte. Allein

nothwendig iſt auch jene Annahme

nicht; freylich pflegen Gajus und

Ulpian die Worte in jure mei-

ſtens hinzu zu ſetzen, doch wer-

den ſie auch von ihnen zuweilen

weggelaſſen. Gajus I. § 168 —

172. II. § 30. 35. Ulpian. XI.

§ 7.

(g) So z. B. ſagt L. 11 pr. de

public. (6. 2.): „Si de usu-

fructu agatur tradito, Publi-

ciana datur.” (Eben ſo nachher

von den Prädialſervituten). Da-

bey dachte Ulpian ohne Zweifel

dieſes: wenn ein Uſusfructus

nicht förmlich (durch in jure

cessio), aber doch mit Tradition

beſtellt iſt, ſo kann zwar nicht die

wahre confessoria (die vindicatio

ususfructus) gelten, wohl aber

die publiciana, zu deren Be-

gründung überall die Tradition

hinreicht. Für das Juſtinianiſche

Recht hat die Stelle nur dadurch

Sinn, daß man hinzudenkt, der

Uſusfructus ſey von einem Nicht-

eigenthümer beſtellt worden: denn

das iſt ja der einzige Fall über-

haupt, worin jetzt noch von jener

Klage die Rede ſeyn kann. —

Wenn meines Nachbars Haus

baufällig iſt, und ich erſt eine

missio, dann noch ein zweytes

Decret erhalte, ſo ſoll ich die

publiciana und die Fähigkeit zur

Uſucapion erlangen. L. 5 pr.

L. 18 § 15 de damno infecto

(39. 2.). Das hatte urſprünglich

den Sinn, daß der Prätor durch

das zweyte Decret das Eigen-

17*

|0316 : 260|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

welche auf einer vorausgeſetzten Änderung dieſer zweyten

Art beruht, wird paſſend eine duplex interpretatio genannt.

Endlich giebt es noch eine dritte Art der Änderungen,

die der zweyten ähnlich iſt, jedoch mit dem Unterſchied,

daß ſie ſich nicht auf einzelne abgeänderte Rechtsſätze,

ſondern auf den ganzen innern Bau der Compilationen

bezieht. Dahin rechne ich die ganz neue und ſehr wich-

tige Stellung, welche die zahlreichen Reſcripte durch ihre

Aufnahme in den Codex erhalten haben. Die Reſcripte

ſollten gleich Anfangs Geſetzeskraft haben, aber nur für

den einzelnen Fall, worin ſie erlaſſen waren, nicht für

andere gleiche Fälle (§ 24). In der Compilation haben

ſie eine gerade umgekehrte Wirkſamkeit erhalten. Für

den einzelnen Rechtsfall, der ſie veranlaßte, ſind ſie gar

Nichts mehr, denn dieſer war ſchon zu Juſtinians Zeit

gänzlich verſchollen: dagegen ſind die Rechtsregeln, die

ſie in concreter Form ausgedrückt enthalten, jetzt zu all-

gemeinen Geſetzen erhoben. Dieſe neue Bedeutung der

Reſcripte würden wir ſchon aus ihrer bloßen Aufnahme

in den Codex folgern dürfen, da dieſe keinen andern denk-

baren Zweck haben konnte: Juſtinian aber hat ihnen die-

ſelbe auch noch durch ausdrückliche Erklärungen beyge-

legt (h). — Die Aufgabe beſteht alſo hier darin, aus der

Entſcheidung des einzelnen Falles die darin ausgedrückte

 

thum geben wollte, aber nicht

mehr als das bonitariſche geben

konnte: jetzt muß es von dem

Fall verſtanden werden, da der

Nachbar kein (erweisliches) Ei-

genthum hat.

(h) Const. Haec quae necess.

§ 2, Const. Summa § 3.

|0317 : 261|

§. 41. Juſtinianiſche Geſetze. Verhältniß zur Compilation.

allgemeine Regel heraus zu finden, welches dadurch ge-

ſchieht, daß in der Abſonderung der concreten Umgebung

das rechte Maas gehalten wird, indem darin leicht zu

viel oder zu wenig geſchehen kann (i). Zuweilen wird

es auch nicht gelingen, mit völliger Gewißheit zu beſtim-

men, wie Vieles unter die zufälligen, der Rechtsregel

fremden, Umſtände des vorgelegten einzelnen Falles zu

rechnen iſt. — Dieſes Verfahren iſt weſentlich verſchieden

von der ausdehnenden Auslegung eines Geſetzes durch

Vergleichung mit ſeinem Grunde (§ 37). Denn durch

dieſe ſoll der zu enge, alſo mangelhafte, Ausdruck berich-

tigt werden: bey jener Behandlung der Reſcripte iſt

Nichts zu berichtigen, ſondern nur die in individueller

Anwendung ausgeſprochene Regel richtig zu erkennen (k). —

Bey dieſer Auslegung der Reſcripte nun iſt das oben

dargeſtellte argumentum a contrario (§ 37) gefährlicher,

als in jedem andern Falle der Auslegung, indem es nicht

(i) Ein Beyſpiel, wie in die-

ſer Hinſicht die Reſcripte ſchon

von den Römiſchen Juriſten be-

handelt wurden, findet ſich in

L. 9 § 5 de j. et f. ignor. (22.

6.). Sie waren zu dieſem Ver-

fahren dadurch veranlaßt, daß

auch ſchon bey ihnen die in den

Reſcripten enthaltenen Regeln

als große Autoritäten galten,

wenngleich nicht als Geſetze (§ 24).

(k) Es iſt alſo hier vor einer

zweyfachen Verwechslung der

ausdehnenden Auslegung zu war-

nen: 1) Verwechslung mit der

hier beſchriebenen Verwandlung

der concreten Entſcheidung in die

darin enthaltene, bald offenbare,

bald verborgene, allgemeine Re-

gel. 2) Verwechslung mit der

Anwendung der im Reſcripte

enthaltenen Regel auf gleiche

einzelne Fälle. Dieſe Anwen-

dung war (als eine mit Geſetzes-

kraft verſehene) im alten Recht

verboten (§ 24); für die in den

Codex aufgenommenen Reſcripte

iſt ſie vorgeſchrieben. Mit beiden

Verfahrungsarten hat die ausdeh-

nende Auslegung Nichts zu ſchaffen.

|0318 : 262|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

leicht gelingen wird, den Zweifel gänzlich zu beſeitigen,

ob nicht der Theil des Reſcripts, worin man den ver-

ſteckten Gegenſatz wahrzunehmen glaubt, doch nur zu

den zufälligen Bedingungen des einzelnen Rechtsfalls

gehört hat (l).

§. 42.

B. Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen.

(Widerſpruch.)

Bisher iſt von der Auslegung der einzelnen Geſetze

die Rede geweſen. Allein die Geſammtheit der oben an-

gegebenen Rechtsquellen (§ 17—21) bildet ein Ganzes,

welches zur Löſung jeder vorkommenden Aufgabe im Ge-

biete des Rechts beſtimmt iſt. Damit es zu dieſem Zweck

tauglich ſey, müſſen wir daran zwey Anforderungen ma-

chen: Einheit und Vollſtändigkeit. — Hierin aber

können wir uns nicht auf die Geſetze allein beſchränken,

ſondern es müſſen vielmehr alle Arten der Rechtsquellen

berückſichtigt werden. — Dagegen ſind auch hier (wie bey

der Auslegung der einzelnen Geſetze) zuerſt die Grund-

ſätze des regelmäßigen Verfahrens, dann die Hülfsmittel

für mangelhafte Zuſtände anzugeben.

 

Das regelmäßige Verfahren beſteht in der Bildung

eines Rechtsſyſtems aus der Geſammtheit der Quellen.

Dieſe iſt ihrem Weſen nach ähnlich der Conſtruction der

einzelnen Rechtsverhältniſſe und Rechtsinſtitute (§ 4. 5.),

nur daß dieſe Conſtruction hier mehr im Großen durch-

 

(l) Mühlenbruch, Archiv für civil. Praxis II. S. 427.

|0319 : 263|

§. 42. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch.

geführt wird. In dieſem großen Zuſammenhang erhält

der Geſetzgrund, der oben in Beziehung auf einzelne Ge-

ſetze betrachtet worden iſt (§ 34), eine wichtigere Bedeu-

tung und Wirkſamkeit, und die organiſch bildende Kraft

der Rechtswiſſenſchaft (§ 14) erſcheint hier in der größten

Ausdehnung. Der geſammte Quellenkreis, und insbeſon-

dere der Theil deſſelben, welchen wir das Juſtinianiſche

Corpus Juris nennen, kann von dieſem Standpunkt aus

als Ein Geſetz betrachtet werden, ſo daß die Regel der

Auslegung eines einzelnen Geſetzes aus ſich ſelbſt (§ 35)

darauf in gewiſſem Grade anwendbar wird. Es iſt alſo

hier von beſonderer Wichtigkeit der Parallelismus der

einzelnen Stellen, deſſen vollſtändiger Beſitz durch den

Umfang, wie durch die Mannichfaltigkeit jener Quellen

beſonderen Schwierigkeiten unterliegt (a).

Die mangelhaften Zuſtände jenes Ganzen, die mit den

Mängeln der einzelnen Geſetze verglichen werden können

(§ 35), beziehen ſich auf die zwey oben gemachten Anfor-

derungen. Fehlt die Einheit, ſo haben wir einen Wider-

ſpruch zu entfernen, fehlt die Vollſtändigkeit, ſo haben

wir eine Lücke auszufüllen. Eigentlich aber läßt ſich

Beides auf einen gemeinſamen Grundbegriff zurückführen.

Denn überall iſt es Herſtellung der Einheit, was wir

 

(a) Eine ſehr brauchbare und

dankenswerthe Grundlage für die

Sammlung der Parallelſtellen

liefert die Gloſſe. Für den er-

ſten Anlauf ſind auch ſchon die

Noten des D. Gothofredus zu

brauchen, die in dieſer Hinſicht,

als Auszug aus der Gloſſe, eine

Art von Werth haben.

|0320 : 264|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

ſuchen: der negativen, durch Entfernung von Widerſprü-

chen, der poſitiven, durch die Ausfüllung von Lücken.

Der Fall des inneren Widerſpruchs unter einzelnen

Stücken des Quellenkreiſes hat Verwandtſchaft mit dem

unbeſtimmten Ausdruck in einzelnen Geſetzen (§ 35. 36.).

Beide Mängel kommen darin überein, daß die Erkenntniß

derſelben auf rein logiſchem Wege erlangt wird, daß die

Abhülfe ſchlechthin nothwendig iſt, und daß dieſelbe an-

ders, als auf logiſchem Wege (hier durch hiſtoriſche Mit-

tel) zu ſuchen iſt. Der allgemeinſte Grundſatz führt da-

hin, den Widerſpruch wo möglich in bloßen Schein auf-

zulöſen, alſo die Vereinigung des ſcheinbar Widerſpre-

chenden zu ſuchen. Nur wo dieſe Vereinigung nicht

gelingt, finden die folgenden Regeln ihre Anwendung.

 

Der Widerſpruch kann vorkommen entweder innerhalb

unſres allgemeinen Quellenkreiſes (§ 17—20), oder nur

mit Rückſicht auf die demſelben hypothetiſch hinzutretenden

Quellen (§ 21).

 

Der allgemeine Quellenkreis beſteht in Deutſchland aus

den Juſtinianiſchen Geſetzen, dem canoniſchen Recht, den

Reichsgeſetzen, und dem wiſſenſchaftlich entſtandenen Ge-

wohnheitsrecht, oder dem Gerichtsgebrauch. Findet ſich

hierin ein unauflöslicher Widerſpruch, ſo gilt die Regel,

daß das neuere Quellenſtück dem älteren vorzuziehen iſt.

Der Grund dieſer Regel liegt darin, daß ein Widerſpruch

der hier beſchriebenen Art zu der fortſchreitenden Entwick-

lung des Rechts gehört, ſo daß mit der Gründung der

 

|0321 : 265|

§. 42. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch.

neuern Rechtsregel die wirkliche Vernichtung der ältern

verbunden war. Wenn wir nun eine Regel für den ge-

genwärtigen Rechtszuſtand ſuchen, ſo kann dieſe nur aus

den noch beſtehenden, nicht aus den bereits vernichteten,

hergenommen werden (b). Durch dieſen Grund aber iſt

zugleich eine natürliche Beſchränkung der erwähnten Re-

gel gegeben. Wenn nämlich neben der älteren Regel eine

Ausnahme derſelben beſtand, ſo iſt die Aufhebung nicht

nothwendig auch auf dieſe Ausnahme mit zu beziehen:

vielmehr beſteht die Ausnahme auch neben der neueren

Regel fort, wenn ſie nicht noch beſonders aufgehoben iſt (c).

Die Anwendung der Hauptregel geſchieht auf folgende

 

(b) Man kann daher dieſe Art

des Widerſpruchs nur inſoferne

zu den mangelhaften Zuſtänden

rechnen, als man das ältere Ge-

ſetz ſelbſt noch für einen Beſtand-

theil der Rechtsquellen (und zwar

nun nothwendig für einen abge-

ſtorbenen) anſieht; der Zuſtand

der noch gültigen Rechtsquellen

ſelbſt iſt darum nicht mangelhaft

zu nennen. Daher liegt auch in

der Behauptung eines ſolchen

Widerſpruchs kein Tadel des

Rechtszuſtandes, anſtatt daß die

Annahme mangelhafter einzelner

Geſetze (§ 35—37) ſtets einen

Tadel in ſich ſchließt.

(c) L. 80 de R. J. (50. 17.)

„In toto jure generi per spe-

ciem derogatur, et illud potis-

simum habetur quod ad spe-

ciem directum est.” L. 41 de

poenis (48. 19.) „… nec ambi-

gitur, in cetero omni jure spe-

ciem generi derogare …” (der

übrige Theil dieſer Stelle iſt ſchon

oben § 37 Note d benutzt wor-

den). — Ob die Aufhebung auch

auf die Ausnahme gehen ſoll, kann

nur aus dem Inhalt des neue-

ren Geſetzes erkannt werden. —

Man darf den hier als Beſchrän-

kung der Hauptregel aufgeſtellten

Grundſatz nicht auf alle ſpeci-

elle Beſtimmungen des früheren

Rechts beziehen, ſondern nur auf

diejenigen, die den Ausnahmecha-

racter an ſich tragen: alſo nicht

auf ſolche ſpecielle Beſtimmungen,

welche ſelbſt nur Folgerungen aus

der früheren Regel waren. —

Vgl. überhaupt Thibaut civiliſt.

Abhandlungen Num. 7, wo je-

ner Grundſatz befriedigend behan-

delt iſt.

|0322 : 266|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

Weiſe. Der wahre Gerichtsgebrauch, als die neueſte Ver-

arbeitung der früher vorhandenen Rechtsquellen, geht al-

lem Übrigen vor. Dann folgen in der Reihe der Anwen-

dung die Reichsgeſetze. Ferner das canoniſche Recht. Zu-

letzt das Römiſche Recht. — Nur die Rangordnung der

zwey letzten Stücke bedarf einer genaueren Erörterung.

Ob nämlich das canoniſche Recht (bey Fragen des Pri-

vatrechts) dem Römiſchen vorgehe, darüber wird ſehr ge-

ſtritten. Zwar das iſt unzweifelhaft, daß auch hier vor

Allem eine Vereinigung verſucht werden müſſe. Für den

Fall aber, da eine ſolche nicht gelingen will, da vielleicht

die Abſicht einer Abänderung klar vorliegt, iſt folgende

Behauptung aufgeſtellt worden. Beide Rechte, ſagt man,

gelten nicht aus eigener Kraft, ſondern vermittelſt der

Reception; dieſe hat bey uns für beide zu derſelben Zeit

ſtatt gefunden, alſo ſind ſie für uns gleichzeitig, keines

hat vor dem anderen einen regelmäßigen Vorzug, und in

jedem einzelnen Widerſpruch kann der Vorzug nur durch

einen beſonderen Gerichtsgebrauch beſtimmt werden (d). —

Allein das canoniſche Recht hat zu dem Römiſchen, bey

privatrechtlichen Gegenſtänden, ganz das Verhältniß von

Novellen: beſonders die Decretalen, in welchen der Con-

flict vorzugsweiſe ſeinen Sitz hat. In dieſem Verhältniß

 

(d) (Hübner) Berichtigun-

gen und Zuſätze zu Höpfner S.

14—22. Mühlenbruch I. § 70.

— Richtigere Anſichten finden ſich

bey Böhmer Jus eccl. prot. Lib. 1.

Tit. 2 § 70—73, der die Frage

ſehr ausführlich erörtert, ohne je-

doch zu einem klar beſtimmten

Reſultate zu kommen. Vgl. auch

Hofacker I. § 53.

|0323 : 267|

§. 42. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch.

wurden beide Rechte in Bologna wirklich recipirt, und

als die Decretalen, erſt einzeln, dann in unſeren Samm-

lungen, erſchienen, war die Reception ſchon geſchehen,

und jene Decretalen traten in der That als neue abän-

dernde Geſetze hinzu. In Deutſchland freylich geſchah die

Reception des canoniſchen Rechts, und zwar hier gleich

Anfangs des ganzen und vollſtändigen, gleichzeitig mit der

des Römiſchen; allein ſie geſchah doch in demſelben Sinn,

in welchem ſie in Bologna geſchehen war, ſo wie man ja

auch die Gränzen des Römiſchen Quellencanons von dort

empfangen hatte (§ 17). Dieſer vollſtändige Hergang

könnte höchſtens in dem Fall bezweifelt werden, wenn das

canoniſche Recht zwar in Italien als Geſetz Eingang ge-

funden hätte, in Deutſchland aber gar nicht aufgenom-

men worden wäre; allein in Deutſchland war zur Zeit

der Reception das Anſehen des Pabſtes und des von ihm

ausgehenden Rechts völlig eben ſo groß als in Italien,

ſo daß jenes Grundverhältniß beider Rechte in Deutſch-

land anerkannt wurde nicht blos auf die Autoritaͤt von

Bologna, ſondern aus denſelben Gründen wie in Bologna.

— Aus dieſer Betrachtung folgt, daß bey privatrechtli-

chen Gegenſtänden das canoniſche Recht vor dem Römi-

ſchen in der Regel den Vorzug hat. Eine Ausnahme die-

ſer Regel wird nur begründet werden können entweder

durch ſpeciellen Gerichtsgebrauch, oder (in evangeliſchen

Ländern) durch die einem canoniſchen Satz des Privat-

rechts widerſprechenden Grundſätze des evangeliſchen Kir-

|0324 : 268|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Quellen des heutigen R. R.

chenrechts. Außerdem kann dieſelbe Wirkung, wie durch

eine ſolche Ausnahme, auch hervorgebracht werden durch

den ſchon oben aufgeſtellten regelmäßigen Vorzug der

Reichsgeſetze vor dem canoniſchen Recht: wenn nämlich

die Reichsgeſetze einen einzelnen Satz des canoniſchen Rechts

mißbilligt, und dadurch der entgegenſtehenden Römiſchen

Regel wiederum Eingang verſchafft haben (e).

§. 43.

Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen.

(Widerſpruch). Fortſetzung.

Wichtiger aber, und ſchwieriger zu behandeln, iſt der

Widerſpruch zwiſchen einzelnen Stücken der Juſtiniani-

ſchen Geſetzgebung. Dieſer kommt in großer Ausdehnung

vor, und die Meynungen der neueren Schriftſteller ſind

darüber außerordentlich verſchieden (a).

 

Vor Allem iſt es nöthig, die Novellen von den drey

Rechtsbüchern zu unterſcheiden. Die Novellen waren dazu

beſtimmt, als einzelne Geſetze nach und nach das Recht

 

(e) So z. B. in der Lehre von

den Zinſen, worin wenigſtens das

allgemein anerkannt iſt, daß das

durchgreifende Zinſenverbot des

canoniſchen Rechts durch die

Reichsgeſetze beſeitigt, alſo die

Zuläſſigkeit der Zinſen überhaupt,

ſo wie im Römiſchen Recht, feſt-

geſtellt iſt. Die näheren Beſtim-

mungen freylich ſind ſehr be-

ſtritten.

(a) Vieles Gute findet ſich bey

Thibaut civiliſt. Abhandlungen

Num. 6 und bey Löhr Juſtini-

aus Campilation in: Grolman

und Löhr Magazin B. 3 Num. 7.

— Sehr reichhaltiges Verzeichniß

von Schriftſtellern bey Haubold

Inst. jur. Rom. hist. dogm. ed.

1826 § 300.

|0325 : 269|

§. 43. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.

abzuändern und fortzubilden; zu einer Sammlung ſind ſie

von dem Geſetzgeber niemals vereinigt worden. Daher

muß im Fall eines Widerſpruchs jede Novelle nicht nur

den drey Rechtsbüchern, ſondern auch jeder anderen älte-

ren Novelle, unbedingt vorgezogen werden (b). Auch iſt

hier die Vorausſetzung eines Widerſpruchs unbedenklicher,

alſo der Verſuch der Vereinigung weniger ſtrenge nöthig,

als bey den Rechtsbüchern, da es gerade die Beſtimmung

der Novellen war, das Recht abzuändern. — Zwar ſind

alle Novellen gleichzeitig mit den Rechtsbüchern bey uns

recipirt worden, und man könnte glauben, daß dadurch

der natürliche Vorzug, der ihnen als neueren Geſetzen

zukam, wieder vernichtet wäre (c). Allein jene Reception

geſchah doch im Sinne von Juſtinian, als eines von ihm

hinterlaſſenen Vermächtniſſes von Geſetzen, folglich ganz

in der Art, wie ſich die Gültigkeit derſelben am Ende

ſeiner langen Regierung von ſelbſt feſtgeſtellt hatte. Da-

mals nun hatten bereits die Novellen das ihnen entge-

(b) Für dieſen Zweck iſt daher

auch praktiſch wichtig, ja unent-

behrlich, das chronologiſche Ver-

zeichniß in Bieners Geſchichte

der Novellen Anhang Num. IV.

Man wende nicht ein, daß die

Gloſſatoren ein ſolches Verzeich-

niß nicht beſeſſen haben. Das

Princip haben ſie auch anerkannt

und nach ihrer Einſicht angewen-

det, eine andere, irrige, chrono-

logiſche Reihe aber haben ſie nicht

feſtgeſtellt; ſie haben alſo von die-

ſer Seite eben ſo wenig der beſ-

ſeren Einſicht den Weg verſperrt,

als von Seiten der Kritik des

Textes (§ 17. 38.).

(c) Überflüſſige Noth mit die-

ſem Einwurf macht ſich (Hüb-

ner) Berichtigungen und Zuſätze

zu Höpfner S. 8—14. Am Ende

läßt er zwar die hier angenom-

mene Auskunft auch zu, aber nur

als Nothbehelf, was ganz un-

richtig iſt.

|0326 : 270|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Quellen des heutigen R. R.

genſtehende frühere Recht vernichtet, und es iſt alſo für

uns ganz gleichgültig, daß wir die Novellen gleichzeitig

mit dem früheren Rechte recipirt haben.

Für die drey Rechtsbücher iſt zunächſt ein allgemeiner

Geſichtspunkt aufzuſtellen, von welchem aus die beſonde-

ren Regeln über den Fall von Widerſprüchen gefunden

werden können. Juſtinian ſelbſt wollte ſie unzweifelhaft

als Ein zuſammenhängendes Ganze betrachtet wiſſen, und

zwar als ein eigentliches Geſetzbuch, das heißt als ein

Werk, aus welchem ausſchließend die Entſcheidung jedes

Rechtsfalles genommen werden dürfe, welches aber auch

für dieſen Zweck völlig hinreiche (d). Dieſes Ziel ſollte

erreicht werden durch eine Auswahl aus dem in großem

Umfang vorhandenen Rechtsmaterial, dergeſtalt, daß die

ausgewählten Stücke, mit unzerſtörter hiſtoriſcher Geſtalt,

zu einem neuen Ganzen zuſammen gefügt wurden. — In

dieſem neuen Rechtsgebäude waren die Digeſten das

Hauptſtück, das einzige für ſich verſtändliche und zugleich

für die Anwendung nicht unzureichende, an welches ſich

die zwey anderen Stücke nur anſchließen als Auszug oder

 

(d) Constit. Omnem § 7.

Const. Summa § 3. L. 2 §. 12.

23 C. de vet. j enucl. (1. 17.).

— Hufeland Geiſt des R. R. I.

S. 143—145 läugnet dieſen Cha-

racter eines Geſetzbuchs, weil die

Rechtsbücher ſo viel blos Wiſſen-

ſchaftliches enthalten. Allein das

betrifft blos ihre Entſtehungsart

und ihre Form: über ihre Be-

ſtimmung, als Geſetzbuch zu die-

nen, laſſen die angeführten Stel-

len keinen Zweifel, und darauf

kann es allein ankommen. Es

kann damit ganz wohl beſtehen,

daß viele einzelne Stellen nicht

Geſetz, ſondern nur hiſtoriſches

Material ſeyn ſollen, von wel-

cher Annahme ſogleich noch Ge-

brauch gemacht werden wird.

|0327 : 271|

§. 43. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.

als Ergänzung. In dieſer ihrer Stellung liegt jedoch

kein Grund, ihren Inhalt dem Inhalt der anderen Stücke

gerade vorzuziehen. — Von den Inſtitutionen haben

Manche behauptet, ſie müßten dem Übrigen vorgehen als

eigenes von Juſtiman herrührendes Werk: Andere, ſie

müßten nachſtehen als bloßer Auszug der Digeſten; beides

unrichtig. Ihre Beſtimmung zu einem Lehrbuch in den

Rechtsſchulen kommt hier nicht in Betracht. Als Beſtand-

theil der Geſetzgebung bilden ſie eine einzelne Juſtinia-

niſche Conſtitution (e), und ſie ſind in dieſer Beziehung

den größeren Rechtsbüchern weder vorzuziehen, noch nach-

zuſetzen. Einige beſondere Rückſichten für den Fall eines

Conflicts werden noch geltend gemacht werden. — Für

den Codex endlich iſt von Manchen nicht ohne Schein

ein allgemeiner Vorzug vor den übrigen Stücken, ähnlich

dem Vorzug der Novellen, deswegen behauptet worden,

weil dieſer unſer gegenwärtiger Codex um ein Jahr ſpä-

ter als die Inſtitutionen und Digeſten Geſetzeskraft erhal-

ten hat. Deswegen ſollte im Conflict einzelner Stellen

ſtets der Codex den Vorzug haben. Aus dieſer Annahme

aber würde folgendes ſeltſame Reſultat hervorgehen. Der

ältere Codex (mit unſerm neueren, dem allergrößten Theile

nach, ſicher übereinſtimmend) erſchien 529. Als nachher

533 die Inſtitutionen und Digeſten publicirt wurden, de-

rogirten ſie dem Codex in allen widerſprechenden Stellen.

Zuletzt erſchien 534 der neue Codex, der alſo wiederum

(e) Prooem. Inst. § 6. L. 2 § 11 C. de vet. j. enucl. (1. 17.).

|0328 : 272|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Quellen des heutigen R. R.

den Inſtitutionen und Digeſten derogiren mußte, und da-

durch gerade die Stellen des erſten Codex wiederherſtellte,

die ein Jahr zuvor aufgehoben worden waren. Einen ſo

leichtſinnigen Wechſel des Rechts konnte Juſtinian unmög-

lich herbeyführen wollen (f). Ja er konnte gar nicht an

ein Derogiren dieſer Art denken, weil er zwiſchen den

Rechtsbüchern keine Widerſprüche, ſondern nur gänzliche

Übereinſtimmung annahm. Die einzigen Stellen des neuen

Codex, welche wir als derogirend betrachten könnten, ohne

zur Annahme jener widerſinnigen Abwechslung genöthigt

zu ſeyn, und ohne der von Juſtinian angenommenen Har-

monie zu widerſprechen, ſind die wenigen, welche zwiſchen

der Geſetzeskraft der Digeſten (30. Dec. 533), und der

Promulgation des Codex (17. Dec. 534), alſo in dem

Zeitraum von weniger als einem Jahre, erſchienen ſind (g).

Daß dieſe dem Recht der Digeſten vorgehen müſſen, iſt

unzweifelhaft, dieſer Vorzug aber folgt ſchon aus einem

anderen, durchgreifenderen Grunde, von welchem ſogleich

ein ausgedehnter Gebrauch gemacht werden wird, und es

iſt um ihretwillen nicht nöthig, die ſpätere Promulgation

(f) Dieſer Grund wird mit

Recht geltend gemacht von Thi-

baut a. a. O., S. 83.

(g) Solcher Conſtitutionen zählt

Reland Elf auf (fasti p. 710).

Darunter ſind aber mehrere, die

ihrem kirchlichen oder publiciſti-

ſchen Inhalte nach, mit den Di-

geſten gar nicht in Widerſpruch

kommen können. Es bleiben da-

her nur folgende Sechs übrig,

die das Privatrecht betreffen, und

neues Recht einführen wollen:

L. 2 C. de jur.propt. cal. (2.59.).

L. 29 C. de nupt. (5. 4.). L. 31

C. de test. (6. 23.). L. un. C.

de cad. toll. (6. 51.). L. 15

C. de leg. her. (6. 58.). L. un.

C. de lat. lib. toll. (7. 6.).

|0329 : 273|

§. 44. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.

des neuen Codex, worin ſie enthalten ſind, geltend zu

machen. — Faſſen wir alſo nochmals den allgemeinen

Grundſatz über die Behandlung der drey Rechtsbücher

kurz zuſammen, ſo iſt es dieſer: Sie ſind beſtimmt zu

gelten als Ein großes, zuſammenhängendes Werk, ihre

nicht völlig gleichzeitige Promulgation iſt ohne Einfluß,

und wir können ſie, ohne Gefahr eines Irrthums, ſo be-

handeln, als ob ſie gleichzeitig promulgirt worden wä-

ren (h). Aus dieſem Grundſatz ſind nun beſondere Re-

geln abzuleiten für die Behandlung einzelner Widerſprüche,

die uns innerhalb der drey Rechtsbücher vorkommen moͤgen.

§. 44.

Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen.

(Widerſpruch.) Fortſetzung.

Zuvörderſt gewinnt in dieſem Fall die allgemeine Re-

gel, den Widerſpruch wo möglich durch Vereinigung in

bloßen Schein aufzulöſen (§ 42), eine ganz beſondere

Kraft und Bedeutung. Einmal weil die drey Rechtsbü-

cher ein einziges Werk darſtellen, worin alſo die Einheit

des Gedankens ſchon an ſich als der natürliche Zuſtand

anzuſehen iſt; dann aber weil Juſtinian ausdrücklich ver-

ſichert, es ſeyen hier keine Widerſprüche vorhanden, und

wo wir ſolche wahrzunehmen glaubten, ſollten wir nur

recht genau (subtili animo) zuſehen, ſo würden wir ſchon

 

(h) Löhr a. a. O., S. 201.

18

|0330 : 274|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

einen verborgenen Grund der Vereinigung finden (a). Dieſe

Anweiſung iſt außerordentlich wichtig, indem dadurch auch

ein etwas künſtliches Verfahren der Vereinigung völlig ge-

rechtfertigt wird: nur freylich nicht ein völlig willkührli-

ches, indem wir ganz von außen Unterſcheidungen hinein

tragen, wozu weder in den widerſprechenden Stellen ſelbſt,

noch in anderen Theilen der Geſetzgebung, irgend ein An-

laß vorhanden iſt (b).

Eine ſolche Vereinigung aber iſt auf zwey verſchiede-

nen Wegen möglich: auf dem ſyſtematiſchen und auf

dem hiſtoriſchen. Beide Wege ſind an ſich zuläſſig,

jedoch iſt der zweyte nur da einzuſchlagen, wo nicht ſchon

der erſte zum Ziele führt.

 

Die ſyſtematiſche Vereinigung kann geſchehen da-

durch, daß jede der widerſprechenden Stellen beſondere

Bedingungen der Anwendung, alſo ein eigenthümliches Ge-

biet der Herrſchaft erhält: entweder indem wir das Ge-

biet einer Regel, je nach verſchiedenen Bedingungen, in

zwey gleiche Hälften zerlegen, oder indem wir die eine

Stelle als Regel behandeln, wozu ſich die andere blos

als Ausnahme verhalten ſoll. Sie kann aber auch da-

durch geſchehen, daß beide Stellen als ein Ganzes ge-

dacht werden, ſo daß die eine Stelle durch die andere er-

gänzt, alſo die ſcheinbare Allgemeinheit der einen durch

 

(a) L. 2 § 15. L. 3 § 15 C.

de vet. j. enucl. (1. 17.).

(b) L. 2 § 15 cit. „… sed est

aliquid novum inventum vel oc-

culte positum, quod dissonan-

tiae querelam dissolvit, et ali-

am naturam inducit discordiae

fines effugientem.”

|0331 : 275|

§. 44. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.

die andere näher beſtimmt und eingeſchränkt wird (c). Fol-

gende Anwendungen werden dieſes Verfahren anſchaulich

machen. Mehrere Stellen erklären die Uſucapion für mög-

lich, wenn ein Titel zwar nicht vorhanden, aber doch von

dem Beſitzer als vorhanden angenommen ſey (d); andere

Stellen erklären in dieſem Fall die Uſucapion für unmög-

lich (e). Die Vermittlung liegt darin, daß die Uſucapion

möglich iſt, wenn ein wahrſcheinlicher Grund jenes Irr-

thums nachgewieſen werden kann, außerdem nicht (f). —

Eben ſo ſagen mehrere Stellen, zwiſchen Ehegatten ſey

ein Kauf ſchlechthin ungültig, wenn der Kaufpreis ab-

ſichtlich höher oder niedriger, als der wahre Werth be-

trägt, beſtimmt werde (g); andere Stellen beſchränken

dieſe gänzliche Ungültigkeit auf den Fall, worin ein ſol-

cher Kauf lediglich geſchloſſen wird, um die Schenkung

zu bewirken: würde dagegen der Kauf auch unabhängig

von dieſer Nebenabſicht geſchloſſen worden ſeyn, ſo iſt der

Kauf gültig, und nur die in der Preisbeſtimmung liegende

(c) So ſagt L. 1 § 9 C. de

vet. j. en. (1. 17), für diejeni-

gen Sätze, die ſchon im Codex

ſtänden, ſeyen in der Regel keine

Stellen in die Digeſten aufge-

nommen worden „nisi forte

vel propter divisionem, vel

propter repletionem, vel pro-

pter pleniorem indaginem hoc

contigerit.” Das kann auch auf

die ſyſtematiſche Auflöſung von

Widerſprüchen angewendet wer-

den. — Ein Beyſpiel ſyſtemati-

ſcher Vereinigung für zwey Stel-

len des Codex giebt Juſtinian

ſelbſt in der Nov. 158.

(d) L. 3 L. 4 § 2 pro suo

(41. 10.).

(e) L. 27 de usurp. (41. 3.),

§ 11 J. de usuc. (2. 6.).

(f) L. 11 pro emt. (41. 4.),

L. 4 pro leg. (41. 8.), L. 5 § 1

pro suo (41. 10.).

(g) L. 38 de contr. emt. (18.

1.), L. 17 pr. ad Sc. Vell.

(16. 1.).

18*

|0332 : 276|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

Geldſchenkung ungültig (h). — Bey dieſem Verfahren liegt

alſo die richtige Anſicht zum Grunde, daß eine Regel die

Beſchränkung vermittelſt näherer Beſtimmungen oder Aus-

nahmen, durch die bloße unbeſtimmte Allgemeinheit ihres

Ausdrucks nicht ausſchließt, ſondern nur durch die aus-

drückliche Verneinung einer ſolchen Beſchränkung. In den

hier angeführten vermittlenden Stellen haben die alten

Juriſten ſelbſt ein ſolches Verfahren angedeutet. — Jus-

beſondere iſt dabey Rückſicht zu nehmen auf die eigen-

thümliche Natur der von den Juriſten auf wiſſenſchaftli-

chem Wege gebildeten Regeln oder Formeln (§ 14). Wo

alſo zwey widerſprechende Stellen den Gegenſatz einer ſol-

chen Formel mit einer concreten Beſtimmung darbieten,

werden wir faſt immer dieſer letzten den Vorzug zu ge-

ben haben. Ganz in dieſem Sinn verfährt Afrikanus

(Note f); eine noch wichtigere und anſchaulichere Anwen-

dung dieſes Grundſatzes iſt an einem andern Orte ge-

macht worden (Beilage VIII. Num. VIII.).

Die hiſtoriſche Vereinigung geſchieht durch die An-

nahme, daß die eine der widerſprechenden Stellen den

wahren und bleibenden Ausſpruch der Geſetzgebung, die

andere blos hiſtoriſches Material enthalte. Dieſes Ver-

fahren iſt durch Manche in üblen Ruf gekommen, indem

ſie es auf etwas rohe Weiſe aufgefaßt und angewendet

haben. Sie nahmen die bloße Zeitfolge als entſcheidend

 

(h) L. 5 § 5 L. 32 § 26 de don. int. vir. (24. 1.). — Vgl.

unten § 154 Note b. c.

|0333 : 277|

§. 44. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.

an, und ließen überall die neuere Stelle (eines Kaiſers

oder eines Juriſten) der älteren vorgehen. Dieſe, aller-

dings einfache und bequeme, Behandlung läßt ſich ſchon

nach dem allgemeinen Plane der Rechtsbücher nicht recht-

fertigen: ganz beſtimmt aber widerſpricht ihr Juſtinian

ſelbſt, indem er namentlich für die Digeſten erklärt, daß

jede aufgenommene Stelle als von ihm ausgegangen, als

Kaiſergeſetz, betrachtet werden ſolle (i). — Dagegen läßt

ſich die hiſtoriſche Vereinigung völlig rechtfertigen, ſobald

für die Aufnahme der älteren Stelle ein hiſtoriſcher Zweck

wahrſcheinlich gemacht werden kann: ſie wird dann der

neueren nachgeſetzt, nicht weil ſie älter iſt, ſondern weil

ſie gar nicht die Beſtimmung hatte, unmittelbar angewen-

det zu werden (k). Ein ſolcher hiſtoriſcher Zweck aber

kann auf zweyerley Weiſe vorkommen. Erſtlich wegen der

zur Zeit der Compilation ſchon beſtehenden Rechtsverhält-

niſſe, indem dieſe noch nach den älteren Geſetzen entſchie-

den werden mußten (l). Zweytens, was wichtiger iſt, und

(i) L. 1 § 5. 6. L. 2 § 10. 20.

C. de vet. j. en. (1. 17.). — L. 1.

§ 6 cit. ſagt: „omnia enim me-

rito nostra facimus;” ähnlich

reden die anderen Stellen. —

Allerdings ſollen dieſe Äußerun-

gen zunächſt den ſcharfen Gegen-

ſatz gegen das bis dahin geltende

Geſetz von Valentinian III. (§ 26)

ausdrücken, damit man nicht etwa

Stellen des Julian in den Dige-

ſten geringer achte, als Stellen

des Ulpian: allein die Regel ſelbſt

iſt ſo allgemein, daß ſie eben ſo

gut den Vorzug der neueren Stel-

len vor den älteren, gegründet

auf dieſe bloße Zeitverſchieden-

heit, ausſchließt.

(k) Sehr befriedigend iſt die-

ſer Punkt ausgeführt von Löhr

a. a. O., S. 180. 189 — 197.

(l) An ſich war es für dieſen

Zweck nicht eben nothwendig, äl-

tere Stücke, die auf künftige

Fälle nicht mehr angewendet wer-

den ſollten, in die Rechtsbücher

|0334 : 278|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

eine weit ausgedehntere Anwendung zuläßt, weil die neuere,

allein gültige Stelle durch aufgenommene Stellen aus dem

älteren Recht deutlicher werden ſollte. Dabey alſo wird

vorausgeſetzt, daß die älteren Stellen dazu aufgenommen

wurden, um ein Stück der Rechtsgeſchichte mitzutheilen,

welches zur Erläuterung der neueſten Stelle nöthig ſchien.

Die Richtigkeit dieſer letzten Vorausſetzung wird aber

durch folgende Umſtände vollkommen beſtätigt. Erſtlich

durch die Zuſammenſetzung der Rechtsbücher aus einem

ſeit Jahrhunderten allmälig entſtandenen hiſtoriſchen Ma-

terial, wobey die Entwicklung der Rechtsſätze durchaus

ſichtbar werden mußte, anſtatt daß ſie bey einem neu ge-

ſchriebenen Werk wohl hätte verwiſcht werden können.

Zweytens durch die ſorgfältige Beybehaltung der hiſtori-

ſchen Bezeichnung jeder Stelle, wobey kein anderer Zweck

gedacht werden kann, als die Erklärung des Geltenden

aus dem Früheren möglich zu machen. Drittens durch ſo

viele neue, abändernde Conſtitutionen, welche faſt gar

nicht zu verſtehen ſind, wenn man ſie nicht mit dem frü-

heren Recht, das ſie abändern ſollen, vergleicht. Endlich

durch die Beſchaffenheit der Inſtitutionen insbeſondere.

Dieſe ſollten nichts Veraltetes enthalten (m), und dennoch

 

aufzunehmen, da ja die alten

Conſtitutionen und Bücher nicht

zerſtört wurden. Daß es aber

in der That geſchehen iſt, ſagt

ausdrücklich Juſtinian ſelbſt. Nov.

89. C. 7.

(m) Prooem. Inst. § 3 „ut ..

nihil inutile, nihil perperam

positum, sed quod in ipsis re-

rum obtinet argumentis, ac-

cipiant.”

|0335 : 279|

§. 44. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.

die geſchichtliche Entwicklung darſtellen (n), was ſie auch

in manchen Lehren mit großer Vollſtändigkeit leiſten (o).

Dadurch wird Alles klar: die verſchwundenen Inſtitute,

wie die Mancipation und die ſtrenge Ehe, ſollten nicht

berührt werden, aber die geſchichtliche Ausbildung der

noch beſtehenden ſollte nicht fehlen, weil ohne dieſe auch

deren neueſte Geſtalt nicht verſtanden werden konnte. Was

nun hier bey den Inſtitutionen ſo klar vor unſern Augen

liegt, ja was auch an ſich ſo natürlich iſt, wie ſollten

wir zweifeln, es auch auf die Digeſten und den Codex,

ſo wie auf das Verhältniß der drey Rechtsbücher zu ein-

ander, anzuwenden? — Von dieſem Standpunkt aus ver-

ſchwinden zugleich alle Einwürfe, die nicht ohne Schein

gegen unſre Vorausſetzung verſucht worden ſind. Juſti-

nian, ſagt man, hat erklärt, jede Stelle ſolle angeſehen

werden, als ob ſie von ihm ausgienge (Note i); damit

kann aber wohl beſtehen, daß Einiges nicht unmittelbar

zur Anwendung, ſondern zur geſchichtlichen Erläuterung,

beſtimmt iſt. Ferner: es ſolle nichts Veraltetes aufge-

nommen werden (p); wie das zu verſtehen iſt, wurde ſo

eben bey Gelegenheit der Inſtitutionen erklärt. Endlich:

es fänden ſich in den Rechtsbüchern keine Widerſprüche (q);

allein ein Widerſpruch iſt es ja nicht, wenn zwey Stellen

(n) Prooem. Inst. § 5 „In

quibus breviter expositum est

et quod antea obtinebat, et

quod postea desuetudine inum-

bratum ab Imperiali remedio

illuminatum est.”

(o) So z. B. § 4 — 7 J. de fid.

hered. (2. 23.).

(p) Const. Haee quae necess.

§ 2 L. 1 § 10 C. de vet. j.

enucl. (1. 17.).

(q) Const. Haec quae necess.

|0336 : 280|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

von abweichendem Inhalt deswegen aufgenommen wer-

den, damit die eine aus der anderen hiſtoriſches Licht em-

pfange. — So unbedenklich nun, nach dieſen Gründen,

die hiſtoriſche Vereinigung iſt, ſo darf ſie dennoch nur da

angewendet werden, wo die ſyſtematiſche nicht anwendbar

iſt (r). Dieſer Vorrang der ſyſtematiſchen Vereinigung iſt

eine natürliche Folge davon, daß die Rechtsbücher für

den praktiſchen Zweck gegeben ſind, weshalb auch von je-

dem ihrer Beſtandtheile angenommen werden muß, er ſey

zur unmittelbaren Anwendung beſtimmt, wenn nicht dieſe

Annahme durch beſondere Gründe widerlegt wird, welches

hier durch den ſonſt unvermeidlichen Widerſpruch mit an-

deren Stellen geſchieht.

Das wichtigſte aber und zugleich das ſchwierigſte iſt

die Feſtſtellung der Bedingungen für die hiſtoriſche Verei-

nigung. Der Fall nämlich iſt der allerſeltenſte, worin

uns geradezu ein Stück Rechtsgeſchichte im Zuſammen-

hang vorgetragen wird, ſo wie oben ein Beyſpiel aus den

Inſtitutionen nachgewieſen worden iſt (Note o). Faſt im-

mer muß vielmehr jene Art der Vereinigung erſt durch

ein künſtliches Verfahren herbeygeführt werden. Woran

können wir nun mit Sicherheit erkennen, daß der Fall

derſelben wirklich vorhanden iſt? darüber mag folgende

 

§ 2. Const. Summa § 1. L. 1

§ 4. 8 C. de vet. j. enucl. (1. 17.).

L. 2 pr. § 15 eod. Nov. 158.

(r) Eine Beſtätigung liegt dar-

in, daß Juſtinian ſelbſt nur auf

die ſyſtematiſche Vereinigung aus-

drücklich hinweiſt, offenbar, in-

dem er ſie als die regelmäßige

und natürliche, als die welche

vor Allem verſucht werden ſoll,

anſieht. L. 2 § 15 C. de vet. j.

enucl. (1. 17.). Nov. 158.

|0337 : 281|

§. 44. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.

Regel gelten. Finden ſich zwey widerſprechende Stellen

aus verſchiedener Zeit, ſo kann es geſchehen, daß die Ver-

ſchiedenheit des Inhalts erweislich gerade durch dieſes ver-

ſchiedene Alter bewirkt worden iſt, indem in der That

eine Abänderung des Rechts eingetreten iſt, entweder in

der Zwiſchenzeit zwiſchen beiden Stellen (s), oder, was

noch häufiger iſt, gerade durch die neuere Stelle ſelbſt,

wenn dieſe den Charakter eines abändernden Geſetzes an

ſich trägt. In ſolchen Fällen iſt die hiſtoriſche Vereini-

gung wirklich begründet, da wir beſtimmt behaupten kön-

nen, daß die Urheber beider Stellen, wenn ſie gleichzeitig

geſchrieben hätten, mit einander übereinſtimmen würden.

Nun alſo dürfen wir die ältere Stelle als bloßes Mate-

rial zur rechtsgeſchichtlichen Erläuterung der neueren an-

ſehen (t). Dabey kann es auch ganz gleichgültig ſeyn, ob

(s) Dieſes iſt denkbar durch ein

in die Zwiſchenzeit fallendes neues

Geſetz; aber auch (und noch häu-

figer) durch die fortſchreitende

wiſſenſchaftliche Entwicklung ei-

ner Rechtsregel. So galt z. B.

in der Lehre vom Darlehen zu-

erſt die ſtrenge Regel, daß nur

durch unmittelbares Hingeben des

Geldes eine Klage gegen den Em-

pfänger erworben werden könne.

Als aber die Lehre vom Beſitzer-

werb eine freyere Ausbildung er-

hielt, wirkte dieſe auch auf die

zuläſſige Form des Darlehens zu-

rück. Zur Zeit des Africanus

war, wie es ſcheint, dieſe Ent-

wicklung noch nicht vollendet (L. 31

pr. mand. 17. 1.), zur Zeit des

Ulpian war ſie vollendet (L. 15

de R. C. 12. 1.). Hier iſt alſo

die Stelle des Africanus blos hi-

ſtoriſches Material, wodurch die all-

mälige Ausbildung dieſes Rechts-

ſatzes erkennbar wird. — Ein da-

mit verwandter Fall kommt vor

in der Beylage X. Ein anderer

Fall (L. 23 de don. int. vir. 24.

1.) im § 161.

(t) Ein ſehr erläuternder Fall

findet ſich bey dem Int. de vi.

Hier wird in den Digeſten der

Satz des älteren Rechts, welcher

das Interdict auf Grundſtücke ein-

ſchränkt, ausführlich dargeſtellt.

(L. 1 § 3 — 8 de vi). Der Co-

|0338 : 282|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

die Compilatoren dieſes mit Abſicht ſo eingerichtet haben

(was freylich niemals ſtreng erweislich ſeyn wird), oder

ob die ältere Stelle nur aus Verſehen aufgenommen wor-

den iſt. Denn auch in dieſem letzten Fall geſchieht eine

ſolche Vereinigung ganz im Sinn der Compilation, und

unſer Verfahren iſt durch die Natur und Beſtimmung der-

ſelben völlig gerechtfertigt (u). — Im Gegenſatz des hier

beſchriebenen Falles wäre demnach die hiſtoriſche Vereini-

gung zu verwerfen in folgenden Fällen. Erſtens wenn

beide Stellen, ſo viel wir wiſſen, gleichzeitig ſind, wel-

ches faſt immer wird angenommen werden müſſen, wenn

zwey Pandektenſtellen von demſelben Schriftſteller, oder

von zwey gleichzeitig lebenden, herrühren, da wir über

die Chronologie der einzelnen Werke wenig wiſſen. Zwey-

tens, wenn jene Stellen zwar ungleichzeitig ſind, aber ſo,

daß dieſes Zeitverhältniß nicht der Grund des abweichen-

den Inhalts iſt, indem ſie eben ſo verſchieden lauten könn-

dex und die Inſtitutionen behan-

deln es als anwendbar auf Sa-

chen aller Art. Ich ſetze dabey

freylich voraus die Richtigkeit der

Anſicht, welche in meinem Buch

über den Beſitz § 40 aufgeſtellt

iſt, denn allerdings iſt dieſe Frage

ſehr ſtreitig. — Ein anderer Fall

findet ſich in der Lehre vom ca-

strense peculium. Starb ein

filius familias, der ein ſolches

beſaß, ohne darüber zu teſtiren,

ſo fiel es an den Vater, nicht

als Erbſchaft, ſondern jure pri-

stino. Dieſer Rechtsſatz iſt noch

in den Digeſten ausführlich dar-

geſtellt, und kommt ſelbſt noch

im Codex vor. (L. 1. 2. 9. 19

§ 3 de castr. pec. 49. 17., L. 5.

C. eod. 12. 37.). Allein ſeit der

Ausbildung der ſogenannten Ad-

ventitien paßte dieſer Grundſatz

nicht mehr, und ſo ſagen die In-

ſtitutionen, freylich nur beiläufig,

jenes Recht des Vaters gelte nur,

wenn der Sohn weder Kinder

noch Geſchwiſter hinterlaſſe. pr.

J. quib. non est permissum. 2. 12.

(u) Löhr a. a. O., S. 212.

|0339 : 283|

§. 45. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.

ten, wenn ſie gleichzeitig verfaßt wären. Dieſes iſt z. B.

anzunehmen bey ſolchen Streitfragen, die ſich Jahrhun-

derte lang bey den Römiſchen Juriſten fortgepflanzt ha-

ben; wenn ſich eine ſolche noch in die Digeſten verloren

hat, ſo iſt es ja ganz gleichgültig, daß vielleicht die eine

Stelle von Julian, die andere von Modeſtin herrührt, in-

dem auch Gleichzeitige ganz auf dieſelbe Weiſe gegen ein-

ander ſtritten. In ſolchen Fällen iſt die ältere Stelle

kein Zeugniß für das ältere Recht, alſo konnte auch ihre

Aufnahme keinen hiſtoriſchen Zweck haben, und es muß

daher die hiſtoriſche Vereinigung unterbleiben, weil dieſe

überhaupt nicht durch das verſchiedene Alter an ſich, ſon-

dern allein durch den hiſtoriſchen Zweck begründet werden

kann, welcher nur aus der erweislichen Fortbildung des

Rechts zu folgern iſt. Eben daher muß aber die hiſtori-

ſche Vereinigung auch bey denjenigen ungleichzeitigen Stel-

len unterbleiben, bey welchen es nur unentſchieden iſt, wel-

ches der beiden Verhältniſſe zum Grunde liegen möge: in-

dem nur der erweisliche hiſtoriſche Zweck jene Vereini-

gungsart zu rechtfertigen vermag.

§. 45.

Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen.

(Widerſpruch). Fortſetzung.

Wenden wir dieſe Regeln auf die einzelnen Rechtsbü-

cher an, ſo ergiebt ſich zunächſt für den Codex eine ſehr

ausgedehnte Zuläſſigkeit der hiſtoriſchen Vereinigung. Iſt

 

|0340 : 284|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

nämlich die neuere Stelle ein Edict, ſo wird es meiſt un-

zweifelhaft ſeyn, daß daſſelbe geradezu beſtimmt war,

neues Recht einzuführen: beſonders wenn ein ſolches von

Juſtinian herrührt, und ganz vorzüglich wenn es unter

die kleine Zahl derjenigen gehört, die erſt nach der Ge-

ſetzeskraft der Digeſten erſchienen ſind (a). Ja ſelbſt bey

dem größten Theil der ſpäteren Reſcripte, namentlich bey

den ſehr zahlreichen Diocletianiſchen, darf ein ähnliches

Verhältniß angenommen werden, da dieſe wenigſtens ſehr

häufig von einer wirklichen Fortbildung des Rechts Zeug-

niß geben. Allein ein allgemeiner Vorzug des Codex vor

den Digeſten darf darum dennoch nicht behauptet werden,

indem viele ältere Reſcripte des Codex mit Pandektenſtel-

len in einem ſolchen Verhältniſſe ſtehen werden, worin

nach den aufgeſtellten Regeln die hiſtoriſche Vereinigung

unzuläſſig iſt (b). — Bey ungleichzeitigen Stellen der Di-

geſten wird die hiſtoriſche Vereinigung ſeltner gerechtfer-

tigt werden können: daß ſie aber auch hier vorkommen

kann, iſt bereits an einem Beyſpiele gezeigt worden (c).

— Wenn endlich die Inſtitutionen mit den größeren

Rechtsbüchern im Widerſpruch ſtehen, ſo werden ſich meiſt

(a) Vgl. §. 13 Note g. — Für

dieſe Stellen alſo wird hier der

Vorrang wirklich geltend gemacht,

aber aus einem andern Grunde

als aus der ſpäteren Promulga-

tion des neuen Codex, welche

oben als ein nicht entſcheidender

Grund abgewieſen wurde.

(b) Einen unbedingten Vorzug

des Codex vor den Digeſten be-

haupten Thibaut S. 93 und

Löhr S. 213, womit ich alſo

nicht einſtimmen kann.

(c) § 44 Note s.

|0341 : 285|

§. 45. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.

folgende Fälle mit hinreichender Sicherheit feſtſtellen laſ-

ſen. Zuweilen iſt augenſcheinlich eine Übereilung bey der

Abfaſſung der Inſtitutionen begangen worden, etwa da-

durch veranlaßt, daß man in die Inſtitutionen des Gajus

die Stelle eines andern Juriſten ungeſchickt eingefügt hat:

dann ſind unbedenklich die Inſtitutionen nachzuſetzen (d).

Manche andere Stelle der Inſtitutionen enthält gerade

(d) Ein ganz unzweifelhafter

Fall dieſer Art iſt in der erſten

Beylage dieſes Bandes nachge-

wieſen worden: jedoch hat dieſer

keinen Satz des praktiſchen Rechts

zum Gegenſtand. — Eben ſo iſt

§ 16 J. de L. Aquilia (4. 3.)

zuſammengeſetzt aus Gajus III.

219, und der Stelle des Ulpia-

nus ad ed., die wir als L. 7

§ 7 de dolo (4. 3.) beſitzen. Durch

die Zuſammenfügung aber ent-

ſteht der Schein, als könnte in

Fällen wie dieſer letzte die a. uti-

lis L. Aquiliae nicht gelten, da

ſie doch in L. 27 § 19. 20. 21 ad

L. Aquil. (9. 2.) zugelaſſen wird.

— In § 3 J. de emt. (3. 24.)

wird geſagt, für die custodia

eines Sklaven ſey der Verkäufer

nur durch beſonderes Verſprechen

verpflichtet, außerdem nicht Das

hängt damit zuſammen, daß Skla-

ven auch bey anderen Rechtsge-

ſchäften nicht cuſtodirt zu werden

brauchten. L. 5 § 6. 13 commod.

(13. 6.). Nun ſetzt aber der an-

geführte § der Inſtitutionen, nach

Erwähnung des Sklaven, noch

hinzu: „Idem et in ceteris ani-

malibus ceterisque rebus intel-

ligimus.” Durch dieſen Zuſatz

wollten die Compilatoren ſagen,

es ſey in der zuerſt vorgetrage-

nen Regel (die ſie ohne Zweifel

wörtlich aus einem alten Juri-

ſten entnommen hatten) nur zu-

fällig ein Sklave genannt, wo-

durch alſo der Satz noch prakti-

ſcher werden ſollte: ſie überſahen

aber dabey, daß es nicht zufällig

war, ſondern daß in der That

bey anderen beweglichen Sachen

die entgegengeſetzte Regel gilt,

und zwar aus gutem Grunde.

L. 35 § 4 de contr. emt. (18. 1.).

L. 3 L. 4 § 1. 2 de peric. (18. 6.).

— Der § 39 J. de action. (4. 6.)

läßt die Compenſation nur zu für

das „quod invicem actorem ex

eadem causa praestare opor-

tet.” Dieſe Beſchränkung paßt

nicht zu dem geſammten übrigen

Juſtinianiſchen Recht, und na-

mentlich nicht zu § 30 J. eod.

Sie war ſchon aufgegeben zur

Zeit des Paulus Paul, II 5 § 3.

Ja ſie konnte nicht mehr fort-

dauern ſeitdem Marc Aurel die

Compenſation auf die (ſtets ein-

ſeitige) Stipulationsklage ange-

wendet hatte. § 30 J. cit. Wir

|0342 : 286|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

umgekehrt eine beſonnene eigene Erklärung des Geſetzge-

bers: eine ſolche aber iſt wie ein Juſtinianiſches Edict

anzuſehen, und jeder anderen widerſprechenden Stelle vor-

zuziehen (e). Meiſtens aber wird weder der eine noch der

andere Fall angenommen werden können, vielmehr werden

beide Stellen, die der Inſtitutionen und die der Digeſten,

als einander ergänzend anzuſehen ſeyn: dieſes aber ge-

hört zu der ſyſtematiſchen Vereinigung (§ 44), wodurch

jedes andere Verfahren überflüſſig wird (f).

Was ſoll endlich geſchehen in den Fällen, in welchen

beide Arten der Vereinigung nicht anwendbar ſind (§ 44),

obgleich ein Widerſpruch durchaus eingeräumt werden

muß? Es bleibt Nichts übrig, als unter beiden wider-

ſprechenden Stellen diejenige vorzuziehen, welche den übri-

gen unzweifelhaften Grundſätzen der Juſtinianiſchen Ge-

ſetzgebung am meiſten entſpricht. Dieſe Regel beruht auf

der Vorausſetzung der organiſchen Einheit der Römiſchen

Geſetzgebung, welche wiederum in der allgemeinen Natur

des poſitiven Rechts überhaupt (§ 5) ihre tiefere Begrün-

 

wiſſen nun jetzt, daß jene un-

paſſenden Worte blos unbedacht-

ſamerweiſe abgeſchrieben ſind aus

Gajus IV. § 61, zu deſſen Zeit

alſo die Beſchränkung noch Gül-

tigkeit hatte.

(e) Thibaut a. a. O., S. 96.

(f) Dahin rechne ich folgende

Fälle. § 25 J. de rer. div. (2. 1.)

und L. 7 § 7 de a. rer. dom.

(41. 1.) ergänzen ſich gegenſeitig.

Die Inſtitutionenſtelle iſt voll-

ſtändiger durch die Regel wegen

des gemiſchten Eigenthums: die

Pandektenſtelle dagegen durch die

genauere Erwägung und Berich-

tigung des Falles vom gedroſche-

nen Getraide. Beide Stellen

müſſen daher in Gedanken ver-

ſchmolzen werden. — Eben ſo

wird L. 2 § 6 mand. (17. 1.) nur

noch ergänzt durch den Schluß

von § 6 J. de mand. (3. 27.).

|0343 : 287|

§. 45. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.

dung findet. Eine Beſtätigung ihrer Richtigkeit liegt noch

in dem völlig analogen Verfahren, welches bey zweydeu-

tigen Ausdrücken einzelner Geſetze anzuwenden iſt (§ 35. 36),

und an deſſen Richtigkeit ohnehin Niemand zweifelt. Wie

dort aus zwey Bedeutungen deſſelben Ausdrucks ein Zweifel

entſteht, ſo hier aus zwey widerſprechenden Stellen der-

ſelben Geſetzgebung. Wie dort der ſprachliche Zweifel

am ſicherſten gehoben wird durch Vergleichung mit ande-

ren Theilen deſſelben Geſetzes oder mit anderen Geſetzen,

ſo hier der ſachliche Zweifel durch Vergleichung mit an-

deren unzweifelhaften Grundſätzen derſelben Geſetzgebung.

Die Ähnlichkeit iſt vollſtändig und unwiderſprechlich. —

Eine bloße Anwendung dieſer Regel liegt darin, wenn wir

einen Widerſtreit wahrnehmen zwiſchen einem ganz iſolir-

ten Ausſpruch auf der einen Seite, und mehreren über-

einſtimmenden, etwa aus verſchiedenen Zeiten herrührenden,

Ausſprüchen auf der anderen Seite. Wir haben dann

Grund, den Ausdruck des wahren Sinnes der Geſetzge-

bung vielmehr in dieſer Übereinſtimmung voraus zu ſetzen,

als in jener iſolirten Äußerung (g). — Eben ſo wenn

unter zwey widerſprechenden Stellen die eine an dem Ort

(g) Dahin gehört der Fall der

L. 5 § 3 de praescr. verb. (19.

5), die mit ſo vielen Stellen ver-

ſchiedener Zeiten im Widerſpruch

ſteht. Ferner der Fall der L. 23

de don. int. vir. (24. 1.), welcher

viele ganz klare, unzweifelhafte

Stellen gegenüber ſtehen (§ 164).

Dieſer Fall gehört zugleich in das

Gebiet des § 44; denn eben aus

den widerſprechenden Stellen über-

zeugen wir uns, daß jene Stelle

eine blos hiſtoriſche Bedeutung

haben kann, welches aus ihr, für

ſich allein betrachtet, keinesweges

zu erſehen ſeyn würde.

|0344 : 288|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

ſteht, wohin die ſtreitige Regel unmittelbar gehört, die

andere an einem davon entfernten Ort. Denn von der

erſten kann nun angenommen werden, daß die Compila-

toren von dem Sinn und Einfluß derſelben, bey ihrer

Aufnahme, ein deutliches Bewußtſeyn hatten, anſtatt daß

bey der zweyten das, was den Widerſpruch begründet,

leichter überſehen werden konnte. Daher drückt alſo jene

Stelle den Sinn der Geſetzgebung im Ganzen zuverläſſiger

aus als dieſe (h).

Zwar iſt nicht weg zu läugnen Juſtinians beſtimmte

Verſicherung, daß Widerſprüche nicht vorkommen (§ 44. a.);

allein was vermag dieſe Verſicherung gegen die augen-

ſcheinliche Wirklichkeit, und gegen das unabweisliche Be-

dürfniß einer Aufhebung des Widerſpruchs wo er uns be-

gegnet? Ja man könnte ſelbſt bezweifeln, ob es mit jener

Verſicherung ſo gründlicher Ernſt geweſen ſey. In dem

Plane freylich lag die Verhütung von Widerſprüchen: aber

eben ſo auch die Verhütung von Wiederholungen und von

Auslaſſung wichtiger Stellen des älteren Rechts (similia

und praetermissa). Nun wird ausdrücklich erklärt, es

möchten doch wohl Verſehen dieſer zwey letzten Arten vor-

gefallen ſeyn, und dieſe werden ſehr richtig entſchuldigt

mit der Schwäche der menſchlichen Natur (i). Allein dieſe

Entſchuldigung, und alſo auch das Bekenntniß, worauf

 

(h) Aus dieſem Grund wird

der § 3 J. de usufr. (2. 4.) vor-

gezogen werden müſſen der L. 66

de j. dot. (23. 3).

(i) L. 2 § 14. 16 C. de vet. j.

enucl. (1. 17.)

|0345 : 289|

§. 45. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.

ſie ſich bezieht, paßt völlig eben ſo auf die Widerſprüche,

und es ſcheint ganz zufällig, daß es dabey nicht auf gleiche

Weiſe ausgedrückt iſt.

Bisher war die Rede von einem Widerſpruch inner-

halb unſres allgemeinen Quellenkreiſes (§ 42 fg.); es iſt

nun noch der Widerſpruch in Anwendung auf die hypo-

thetiſch hinzutretenden Rechtsquellen (§ 21) zu erwägen.

 

Im Allgemeinen gelten für dieſen zweyten Fall dieſel-

ben Regeln, wie für den erſten. Insbeſondere muß auch

hier das neuere Geſetz dem älteren vorgehen, wodurch

der regelmäßige Vorzug des Landesrechts vor dem gemeinen

Recht beſtimmt wird. Eben ſo wird auch hier dieſe Re-

gel beſchränkt durch die Rückſicht auf Ausnahmen der

älteren Regel, welche durch die neuere, abändernde Regel

nicht nothwendig berührt werden. — Es tritt aber hier

noch eine eigenthümliche zweyte Ausnahme hinzu. Wenn

nämlich das neuere Geſetz für ein weiteres Gebiet gilt,

als das ältere, ſo iſt dadurch das ältere in der Regel

nur dann aufgehoben, wenn das neuere eine abſolute

Natur hat (§ 16), außerdem dauert das ältere fort (k).

 

(k) L. 3 § 5 de sepulchro viol.

(47. 12.). In einer Stadt war

durch die lex municipalis die Be-

erdigung innerhalb der Mauern

erlaubt, Hadrian verbot ſie ſpäter

allgemein, man zweifelte welches

vorgehe: dennoch wurde in dieſem

Fall die allgemeine, aber abſolute,

ſpätere Vorſchrift vorgezogen. —

C. 1 de const. in VI. (1. 2.). „.. Ro-

manus pontifex … quia … lo-

corum specialium … consuetu-

dines et statuta … potest pro-

babiliter ignorare: ipsis … per

constitutionem a se noviter

editam, nisi expresse caveatur

in ipsa, non intelligitur in ali-

quo derogare.“

19

|0346 : 290|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

Dafür findet ſich dieſer alte Ausdruck: Willkühr bricht

Stadtrecht, Stadtrecht bricht Landrecht, Landrecht bricht

gemein Recht (l).

§. 46.

Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen.

(Lücken. Analogie.)

Finden wir unſre Rechtsquellen zur Entſcheidung einer

Rechtsfrage nicht zureichend, ſo haben wir dieſe Lücke

auszufüllen, da die Forderung der Vollſtändigkeit ein

eben ſo unbedingtes Recht für ſich hat, als die der Ein-

heit (§ 42). Es fragt ſich nur, wo wir dieſe Ergänzung

zu ſuchen haben. So mannichfaltig über dieſe Frage der

Ausdruck unſrer Schriftſteller erſcheint, laſſen ſie ſich doch

dem Weſen nach auf zwey Meynungen zurückführen. Nach

der erſten Meynung wird ein allgemeines Normalrecht

(das Naturrecht) angenommen, welches neben jedem poſi-

tiven Recht als ein ſubſidiariſches ſtehen ſoll, in ähnlicher

Weiſe wie in Deutſchland neben den einzelnen Landes-

rechten das Römiſche. Dieſe beſondere Anwendung einer

ſchon oben im Allgemeinen verworfenen Anſicht (§ 15)

bedarf hier keiner neuen Widerlegung. — Nach der zwey-

ten Meynung wird unſer poſitives Recht aus ſich ſelbſt

ergänzt, indem wir in demſelben eine organiſch bildende

Kraft annehmen. Dieſes Verfahren müſſen wir nach un-

frer Grundanſicht des poſitiven Rechts (§ 5) als das rich-

 

(l) Eichhorn deutſches Privatrecht § 30.

|0347 : 291|

§. 46. Rechtsquellen als Ganzes. Lücken. Analogie.

tige und nothwendige anerkennen, und es iſt weſentlich

daſſelbe, welches auch ſchon zur Herſtellung der Einheit

durch Beſeitigung von Widerſprüchen angewendet worden

iſt (§ 45). Das Verhältniß der durch dieſes Verfahren

gefundenen Rechtsſätze zu dem gegebenen poſitiven Recht

nennen wir die Analogie (a), und ſie iſt es daher wo-

durch wir jede wahrgenommene Lücke auszufüllen haben.

Es kommt aber dieſe Rechtsfindung durch Analogie

in zwey Stufen vor. Erſtlich wenn ein neues, bisher

unbekanntes, Rechtsverhältniß erſcheint, für welches da-

her ein Rechtsinſtitut, als Urbild, in dem bisher ausge-

bildeten poſitiven Recht nicht enthalten iſt. Hier wird

ein ſolches urbildliches Rechtsinſtitut, nach dem Geſetze

innerer Verwandtſchaft mit ſchon bekannten, neu geſtaltet

werden. Zweytens, und viel häufiger, wenn in einem

ſchon bekannten Rechtsinſtitut eine einzelne Rechtsfrage

neu entſteht. Dieſe wird zu beantworten ſeyn nach der

inneren Verwandtſchaft der dieſem Inſtitute angehörenden

Rechtsſätze, zu welchem Zweck die richtige Einſicht in die

Gründe der einzelnen Geſetze (§ 34) ſehr wichtig ſeyn

wird. — Die analogiſche Rechtsfindung kann in beiden

Stufen vorkommen als Anſtoß zur Fortbildung des Rechts,

z. B. durch Geſetzgebung, in welchem Fall ſie mit größe-

 

(a) In demſelben Sinn nah-

men den Ausdruck die Römer:

Varro de lingua lat. Lib. 10

(in ältern Ausgaben 9) C. 3—6.

Quinctilian. I. C. 6. Gellius

II. C. 25. Isidor. I. C. 27. —

Über das eigentliche Weſen der

Analogie erklärt ſich ſehr gut

Stahl Philoſophie des Rechts

II. 1. S. 166.

19*

|0348 : 292|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

rer Freyheit geübt werden kann. Sie kann aber auch

vorkommen (ſo wie wir ſie hier betrachten) als eine Art

reiner Auslegung, etwa indem einem Richter zuerſt das

neue Rechtsverhältniß oder die neue Rechtsfrage zur Ent-

ſcheidung vorgelegt wird. Für dieſe Art der Anwendung

der Analogie ſollen nunmehr noch einige nähere Beſtim-

mungen gegeben werden.

Jede Anwendung der Analogie beruht auf der voraus-

geſetzten inneren Conſequenz des Rechts: nur iſt dieſe nicht

immer eine blos logiſche Conſequenz, wie das reine Ver-

hältniß zwiſchen Grund und Folge, ſondern zugleich eine

organiſche, die aus der Geſammtanſchauung der prakti-

ſchen Natur der Rechtsverhältniſſe und ihrer Urbilder her-

vorgeht (§ 4. 5.). Wir müſſen dabey ſtets ausgehen von

einem Gegebenen, welches wir zur Löſung der vorliegen-

den Aufgabe erweitern. Dieſes Gegebene kann ſeyn ein

beſtimmtes einzelnes Geſetz, in welchem Fall der Name

einer Entſcheidung ex argumento legis üblich iſt; weit

häufiger aber wird das Gegebene in ſolchen Beſtandthei-

len der Rechtstheorie enthalten ſeyn, die ſelbſt ſchon auf

dem künſtlichen Wege der Abſtraction entſtanden waren.

In allen Fällen aber iſt dieſes Verfahren weſentlich ver-

ſchieden von der oben erklärten ausdehnenden Auslegung

(§ 37), womit es ſehr häufig verwechſelt wird. Denn

dieſe ſoll nicht etwa eine Lücke des Rechts ausfüllen, ſon-

dern den unrichtig gewählten Ausdruck eines Geſetzes aus

deſſen wirklichem Gedanken berichtigen. Bey dem Verfah-

 

|0349 : 293|

§. 46. Rechtsquellen als Ganzes. Lücken. Analogie.

ren nach Analogie nehmen wir an, daß es an dem wirk-

lichen Gedanken irgend eines leitenden Geſetzes gänzlich

fehlt, und wir ſuchen uns über dieſen Mangel durch die

organiſche Einheit des Rechts hinweg zu helfen.

Die Auslegung vermittelſt der Analogie findet jedoch

gar keine Anwendung, wenn das Gegebene, von welchem

wir ausgehen, die Natur der Ausnahme von einer Regel

hat. In einem ſolchen Fall wird meiſtens die Anwendung

der Analogie ſchon deswegen verworfen werden müſſen,

weil die Grundbedingung derſelben, der Mangel einer

Regel, nicht vorhanden ſeyn wird. Wenn alſo z. B. ein

vorhandenes Geſetz durch ein neues Geſetz theilweiſe

aufgehoben wird, ſo beſtehen die nicht aufgehobenen Theile

fort (b). Wollten wir auch darauf die Aufhebung aus-

dehnen, ſo wäre das nicht Analogie, indem ja dafür eine

Regel gar nicht fehlt, ſondern vielmehr eine ausdehnende

Auslegung, und zwar eine willkührliche, grundloſe. —

Eben ſo wird es ſich verhalten mit der analogiſchen Er-

weiterung eigentlicher Privilegien (§ 16), neben welchen

es ja an einer eigentlichen Rechtsregel niemals fehlen

wird. — Und derſelbe Fall würde auch da eintreten, wo

ein anomaliſches Recht oder Jus singulare (§ 16) über

ſeine unmittelbaren Gränzen erweitert werden ſollte, in-

dem auch da eine Regel ſchon vorhanden iſt, die durch

die Erweiterung nur geſtört werden würde. Dieſer Fall

 

(b) Ein Beyſpiel kommt vor

in L. 32 § 6 C. de apell. (7. 62.).

— Vgl. auch Thibaut logiſche

Auslegung § 20.

|0350 : 294|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

indeſſen, der häufigſte und wichtigſte unter allen, bedarf

noch einer genaueren Erörterung. Ein ſolches anomali-

ſches Recht nämlich könnte man auch dazu benutzen wol-

len, nicht eben um die darin liegende Ausnahme zu er-

weitern, ſondern um eine ähnliche, wirklich unentſchiedene,

Rechtsfrage darnach zu entſcheiden. Dann wäre der Fall

der Analogie wirklich vorhanden, und der eben geltend

gemachte Grund der Verwerfung würde nicht mehr paſſen.

Und dennoch darf auch in einem ſolchen Fall gerade der

anomaliſche Rechtsſatz zur Entſcheidung nach Analogie

nicht benutzt werden, ſondern es iſt dazu ein verwandter

Satz des regelmäßigen Rechts aufzuſuchen. Denn das

ganze Verfahren nach Analogie beruht ja lediglich auf

dem inneren Zuſammenhang des Rechtsſyſtems; die ano-

maliſchen Rechtsſätze aber ſind aus fremdartigen Princi-

pien entſprungen, und dem Rechtsſyſtem blos eingefügt

(§ 16), weshalb ihnen die organiſch bildende Kraft des

regelmäßigen Rechts nicht zugeſchrieben werden kann.

Die Römer haben von der Ergänzung des Rechts

durch Analogie ſehr richtige Anſichten, nur unterſcheiden

ſie in der Anwendung derſelben nicht überall die Fortbil-

dung des Rechts von der reinen Auslegung; von dieſer

Vermiſchung werden die Gründe weiter unten angegeben

werden. Auch nach ihrer Lehre ſoll bei jeder unentſchie-

denen Rechtsfrage das gegebene Recht, nach dem Geſetz

der inneren Ähnlichkeit und Verwandtſchaft, zu der ge-

 

|0351 : 295|

§. 46. Rechtsquellen als Ganzes. Lücken. Analogie.

ſuchten Entſcheidung erweitert werden (c). Die Formen,

unter welchen dieſe organiſche Erweiterung des Rechts

bewirkt wird, ſind vorzüglich Fictionen (d) und utiles

actiones. Dadurch wird zugleich der innere Zuſammen-

hang des Neuen mit dem Alten geſichert, und ſo die

ſyſtematiſche Einheit des geſammten Rechts erhalten. Ein

Beyſpiel, worin dieſes Verfahren im Großen anſchaulich

wird, iſt die Bonorum possessio, die in ihrer völligen

Ausbildung ganz als eine Fiction der hereditas gedacht

werden muß (e). — Auf das Beſtimmteſte aber erklären

ſich die alten Juriſten gegen die analogiſche Erweiterung

bey jedem Jus singulare (f). Dieſe allgemeine Verwerfung

wird auch im Einzelnen durch mehrere merkwürdige An-

wendungen beſtätigt. Wer z. B. eine Sache von einem

Wahnſinnigen kauft, den er für vernünftig hält, hat ano-

maliſch das Recht der Uſucapion: man würde aber irren,

(c) L. 12 de Leg. (1. 3.) „ad

similia procedere“ L. 27 eod.

„quae quandoque similes erunt.“

L. 32 pr. eod. „quod proximum

et consequens ei est.“ L. 2

§ 18 C. de vet. j. enucl. (1. 17.),

wo K. Hadrian ſagt, die allmä-

lige Ergänzung des Edicts ſolle

geſchehen „ad ejus regulas, ejus-

que conjecturas et imitationes.“

— Juſtinian ſelbſt erwähnt dieſen

Fall, nicht unter dem praetermis-

sum in § 16 eod. (welches die weg-

gelaſſenen Stellen alter Juriſten

ſind), ſondern unter den neuen

negotia in § 18. Wie er ihn

behandelt wiſſen will, wird unten

gezeigt werden.

(d) Vgl. beſonders Gajus IV.

§ 10. § 33—38.

(e) Ulpian. XXVIII. § 12. L. 2

de B. P. (37. 1.). L. 117 de R.

J. (50. 17.)

(f) L. 14 de Leg. (1. 3.) „Quod

vero contra rationem juris re-

ceptum est, non est producen-

dum ad consequentias“ (wie-

derholt in L. 141 pr. de R. J.).

L. 162 de R. J. (50. 17.). „Quae

propter necessitatem recepta

sunt, non debent in argumen-

tum trahi.“

|0352 : 296|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

wenn man dieſen Kauf auch in anderen Beziehungen als

ein gültiges Geſchäft behandeln wollte (g). Wer eine Sache,

in deren Uſucapion er begriffen iſt, als Pfand weggiebt,

ſetzt dennoch anomaliſch die Uſucapion fort: es wäre aber

irrig, ihm der Conſequenz wegen nun auch noch irgend

andere Beſitzrechte zuſchreiben zu wollen, da dieſe vielmehr

insgeſammt dem Gläubiger zukommen (h). Wenn dage-

gen in manchen anderen Anwendungen dennoch eine ana-

logiſche Erweiterung anomaliſcher Rechtsſätze vorkommt,

ſo beruht dieſe auf der Vermiſchung der Auslegung mit

der Fortbildung des Rechts, wovon ſogleich weiter die

Rede ſeyn wird.

§. 47.

Ausſprüche des Römiſchen Rechts über die Auslegung.

Wenn das Römiſche Recht die entſcheidende Kraft der

authentiſchen Auslegung anerkennt (a), desgleichen auch

die der uſuellen (b), ſo liegt darin keine eigenthümliche

Rechtsanſicht, es iſt vielmehr eine einfache Folge davon,

daß überhaupt Geſetz und Gewohnheit als Rechtsquellen

anerkannt werden. Alles kommt darauf an, welche Stel-

lung die ſogenannte doctrinelle Auslegung (§ 32), die allein

wahre Auslegung iſt, erhalten ſoll, und darüber wird

 

(g) L 2 § 16 pro emtore

(41. 4).

(h) L. 16 de usurp. (41. 3.).

L. 36 de adqu. poss. (41. 2.) —

Ein ähnliches Verfahren findet

ſich in L. 23 § 1. L. 44 § 1 de

adqu. poss. (41. 2.). L. 43 § 3

de fid. lib. (40. 5.).

(a) L. 12 § 1 C. de Leg.

(1. 14.).

(b) L. 23. 37. 38. de legibus

(1. 3.).

|0353 : 297|

§. 47. Ausſprüche des Römiſchen Rechts.

durch die bloße Anerkennung einer authentiſchen und uſuel-

len noch gar Nichts entſchieden.

Über die eigentliche Auslegung nun geben die alten

Juriſten in den Digeſten Regeln, die größtentheils ſchon

oben, in Verbindung mit der von mir aufgeſtellten Aus-

legungslehre, benutzt worden ſind, indem dieſe Verbindung

zur gegenſeitigen Ergänzung und Erläuterung dienen konnte.

Dieſe Regeln ſind an ſich gut, wie man ſie von ihren

Urhebern erwarten kann, aber unzulänglich, und beſonders

auf den eigenthümlichen Fall der Juſtinianiſchen Rechts-

bücher, den Jene nicht ahnen konnten, nicht berechnet. —

Vergleicht man mit dieſer von ihnen aufgeſtellten Theorie

ihre eigene Praxis, ſo ſtimmt dieſelbe nicht völlig damit

überein. Sie geht oft weit über die Gränzen wahrer

Auslegung hinaus, und nimmt den Character einer wah-

ren Fortbildung des Rechts an. Insbeſondere geben ſie

ausdehnende Erklärungen aus dem Grund des Geſetzes,

die nicht blos den Ausdruck berichtigen, ſondern das Ge-

ſetz ſelbſt verbeſſern ſollen, was alſo nicht mehr Auslegung

iſt: ja ſie erweitern nach Analogie nicht ſelten auch ein

Jus singulare, obgleich dieſes mit ihrem eigenen beſtimmt

ausgeſprochenen Grundſatz (§ 46) in geradem Widerſpruch

ſteht (c). Dieſe Widerſprüche erklären ſich aus der eigen-

 

(c) So dehnten ſie das Ver-

äußerungsverbot des fundus do-

talis auf den Bräutigam aus.

L. 4 de fundo dot. (23. 5.). —

Desgleichen die freye Form des

Militärteſtaments auf Civilper-

ſonen in Feindes Land. L. un.

de B. P. ex test. mil. (37. 13.).

— Desgleichen die Competenz-

befugniß des Ehemannes auf die

|0354 : 298|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Quellen des heutigen R. R.

thümlichen Stellung der Römiſchen Juriſten, welche aller-

dings auch die Fortbildung des Rechts unmittelbarer in

ihre Hände legte, als dieſes bey uns angenommen wer-

den kann (§ 19). So heißt denn auch bey ihnen Inter-

pretatio keinesweges blos eigentliche Auslegung, ſondern

überhaupt Lehre, Überlieferung, alſo Alles was oben als

wiſſenſchaftliches Recht bezeichnet worden iſt (§ 14. 19.

20.), und zwar in der freyeren Vehandlung, wie ſie ge-

rade in Rom angenommen werden konnte (d). Indeſſen

mögen auch ſchon die alten Juriſten ſelbſt die unſichere

Gränze erkannt haben, die dadurch zwiſchen ihrem eigenen

Beruf, und den Befugniſſen des Prätors oder gar des

Kaiſers entſtehen mußte; ſo ſcheint es zu erklären, wenn

ſie es in manchen Stellen unbeſtimmt laſſen, ob eine Er-

weiterung des Rechts durch ſie ſelbſt, oder vielmehr durch

den Prätor oder Kaiſer zu bewirken ſey (e). — Aber ſelbſt

abgeſehen von dieſer größeren Freyheit, die den Römi-

ſchen Juriſten, in Vergleichung mit den unſrigen, einge-

räumt war, hatten ſie auch ausgedehntere Mittel der Aus-

legung, indem ſie der Entſtehung ihrer Rechtsquellen ſo

nahe ſtanden, alſo unmittelbar wiſſen konnten, wie man-

cher an ſich nicht hinreichend beſtimmte Ausdruck gemeynt

Ehefrau. L. 20 de re jud. (42.

1.). — In dieſen drey Fällen iſt

es ein Jus singulare, welches

erweitert wird.

(d) Über dieſe Bedeutung von

Interpretatio vgl. L. 2 § 5 de

O. J. (1. 2.). Hugo Rechtsge-

ſchichte S. 441 der 11. Ausg.

Puchta Gewohnheitsr. I. S. 16 fg.

(e) L. 11 de leg. (1. 3.) „aut

interpretatione aut constitu-

tione optimi principis“ … L. 13

eod. „vel interpretatione vel

certe jurisdictione suppleri.“

|0355 : 299|

§. 47. Ausſprüche des Römiſchen Rechts.

war, und in welchem Sinn er gleich von ſeinen Urhebern

angewendet wurde (f). — In allen dieſen Beziehungen

ſtehen wir anders als ſie, beſonders wenn wir nicht unſre

einheimiſchen Geſetze, ſondern die uns ſo fern ſtehenden

Juſtinianiſchen auszulegen haben. Unſere Lage iſt darin

ungleich ſchwieriger; aber hier, wie in vielen anderen

Fällen, iſt die durch die Schwierigkeit gebotene Anſtren-

gung nicht ohne Frucht geblieben. Der Begriff und die

Gränze wahrer Auslegung iſt dadurch unter uns zu einer

ſchärferen Ausbildung gelangt, als jemals bey den Rö-

mern, denen eine gleiche Nothwendigkeit nicht aufer-

legt war.

Unter den Kaiſern traten allmälig, beſonders ſeit der

Mitte des dritten Jahrhunderts unſrer Zeitrechnung, völlig

veränderte Verhältniſſe ein. Die Fortbildung des Rechts

durch Edicte der Obrigkeiten hörte auf, und die freye

Stellung des Juriſtenſtandes wäre kaum mehr mit der

völlig entwickelten Kaiſerlichen Gewalt vereinbar geweſen;

 

(f) So z. B. hatte der Prätor

für den Fall einer operis novi nun-

ciatio ein Interdict verſprochen

(L. 20 pr. de O. N. N. 39. 1.).

Das wurde ausgelegt blos von

einer Veränderung des Bodens,

und zwar blos von einer ſolchen,

die an einem Gebäude ſtatt fand

(L. 1 § 11. 12 eod.). — An einem

andern Orte ſagte das Edict:

quod vi aut clam factum est

(L. 1 pr. quod vi 43.24.). Auch das

wurde ausgelegt blos von einem

opus in solo, aber dieſesmal

nicht blos an Gebäuden, ſondern

auch an Aeckern, Bäumen u. ſ. w.

(L. 7 § 5 eod.). Dieſe Beſchrän-

kungen und Unterſchiede lagen

nicht in den Worten, noch we-

niger waren ſie willkührlich: ſie

gründeten ſich auf die traditio-

nelle Bekanntſchaft mit den Fällen

und Bedürfniſſen, wofür durch

das eine und das andere Edict

geſorgt werden ſollte.

|0356 : 300|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

doch konnte davon bald ſchon deswegen nicht mehr die

Rede ſeyn, weil die Rechtswiſſenſchaft nur noch in den

Büchern der alten Juriſten fortlebte, perſönliche Nachfol-

ger derſelben aber kaum noch vorhanden waren. Nun

wäre höchſtens noch eine Auslegung der Richter möglich

geweſen, und es kann weniger auffallen, wenn ſelbſt dieſe

unter ganz neue und willkührliche Beſtimmungen geſtellt

wurde. Vollendet wurden dieſe erſt durch Juſtinian aber

der Anfang dazu findet ſich ſchon weit früher. — So

verordnet Conſtantin (g): Inter aequitatem jusque in-

terpositam interpretationem nobis solis et oportet et

licet inspicere. Das heißt: „wenn durch Auslegung irgend

ein Satz der aequitas gegen das ſtrenge Recht neu einge-

führt werden ſoll, ſo darf das nur vom Kaiſer ſelbſt ge-

ſchehen.“ Offenbar iſt hier nicht von reiner Auslegung,

ſondern von Fortbildung, und zwar von einer Eroberung

der aequitas in dem Gebiet des bisher geltenden ſtrengen

Rechts die Rede. Dieſes Verfahren, welches ſonſt regel-

mäßig vom prätoriſchen Edict, ſehr oft auch von den

Juriſten, ausgegangen war, wird jetzt dem Kaiſer vorbe-

halten. Darin liegt Nichts, was man nicht nach der

veränderten Verfaſſung ohnehin ſchon erwarten möchte. —

Eine Verordnung von Valentinian und Martian ſagt,

der Kaiſer habe in den Geſetzen Dunkelheiten zu entfernen,

und Härten zu mildern. Theils wird aber hier dieſer

(g) L. 1 C. de leg. (1. 14.), oder

L. 3 C. Th. de div. rescr. (1. 2.)

(neu entdeckt). — Vgl. oben

§ 36 Note f.

|0357 : 301|

§. 47. Ausſprüche des Römiſchen Rechts.

Beruf des Kaiſers nicht als ganz ausſchließend bezeichnet,

ſondern nur auf das längſt übliche Verfahren durch Con-

ſultationen, als den ſicherſten Weg verwieſen, theils könnte

man, nach der Verbindung beider Sätze, wohl annehmen,

es ſey nur von ſolchen Geſetzerklärungen die Rede, die

zugleich eine Milderung, alſo eine wahre Änderung des

Rechts, in ſich ſchlöſſen (h). — Endlich wird verordnet,

Zweifel über ein neues, noch nicht durch Gewohnheit feſt-

gewordenes Recht müßten dem Kaiſer vorgelegt werden (i).

Es iſt aber dabey unbeſtimmt gelaſſen, ob von einem

Zweifel über Geſetzauslegung, oder etwa gerade über das

Daſeyn eines vollendeten Gewohnheitsrechts, die Rede

ſeyn ſoll.

Ungleich entſchiedener und durchgreifender ſind die Ver-

ordnungen, die über dieſen Gegenſtand Juſtinian ſelbſt

gegeben hat. Die erſte iſt erlaſſen im J. 529, bald nach

der Einführung des älteren Codex (k). Der Gang ihrer

Gedanken iſt kurz folgender: „Wir finden in alten Ge-

ſetzen (l) einen Zweifel darüber, ob die vom Kaiſer aus-

 

(h) L 9 C. de leg. (1. 14.)

„… Si quid vero in iisdem

legibus.. obscurius fuerit, opor-

tet id Imperiali interpretatione

patefieri, duritiamque legum

nostrae humanitati incongruam

emendari.“ Es iſt der etwas

umgebildete Anfang von Nov.

Martiani 4, worin freylich ge-

rade die letzten Worte (von du-

ritiamque an) nicht ſtehen.

(i) L. 11 C. de leg. (1. 14.),

von Leo und Zeno.

(k) L. 12 § 1 C. de leg.

(1. 14.).

(l) „In veteribus legibus in-

venimus dubitatum.“ Damit

können wohl nur Stellen alter

Juriſten gemeynt ſeyn: vielleicht

Stellen aus der erſten Zeit der

Kaiſerregierung, als die bin-

dende Kraft der Reſcripte noch

|0358 : 302|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

gehenden Geſetzauslegungen verbindliche Kraft haben.

Dieſer ſpitzfindige Zweifel iſt aber ganz lächerlich, und

wird durch gegenwärtige Vorſchrift beſeitigt. Jede vom

Kaiſer ausgehende Geſetzauslegung, ſie mag erfolgen in

einem Reſcript (sive in precibus), oder in einem Kaiſer-

lichen Urtheil (sive in judiciis) (m), oder auf irgend eine

andere Weiſe (alſo z. B. in einem authentiſch interpreti-

renden Geſetz) ſoll als bindend und unfehlbar gelten. Denn

da in der gegenwärtigen Verfaſſung der Kaiſer allein Ge-

ſetze geben kann, ſo kann auch nur er ſie auslegen. Warum

würde auch ſonſt von allen über ein Geſetz zweifelnden

Richterbehörden bey ihm angefragt, wenn nicht er allein

die Befugniß zur Auslegung hätte? (n). Oder wer könnte

die Dunkelheiten der Geſetze wegräumen, als der welcher

allein Geſetze geben kann? Hinfort mögen alſo alle lächer-

liche Zweifel ſchwinden, und es ſoll der Kaiſer als ein-

ziger Geſetzgeber nicht nur, ſondern auch als einziger In-

terpret anerkannt werden. Doch ſoll dieſe Vorſchrift dem

Recht keinen Abbruch thun, welches hierin den alten Ju-

nicht unzweifelhaft anerkannt war,

alſo gewiß älter als Gajus.

(m) Die Worte laſſen eine

zwiefache Deutung zu. Preces

kann alle Reſcripte bedeuten,

Judicia die Decrete, ſo daß für

die übrigen Arten die Edicte und

Mandate übrig bleiben. Man

kann aber auch Preces auf die

Privatreſcripte beſchränken, ſo

daß Judicia neben den Decreten

auch noch die Reſcripte im Con-

ſultationenproceß umfaßte. Die

erſte Erklärung ſcheint mir jedoch

einfacher und natürlicher, um ſo

mehr da das Principium der Stelle

blos von Decreten handelt, alſo

dieſe beſonders heraushebt.

(n) „Si non a nobis inter-

pretatio mera procedit?“

|0359 : 303|

§. 47. Ausſprüche des Römiſchen Rechts.

riſten von den Kaiſern verliehen worden iſt“ (o). — In

dieſer Verordnung liegen zwey ganz verſchiedene Sätze:

erſtlich die verbindliche Kraft der Kaiſerlichen Auslegung, in

welcher Form ſie auch geſchehe; zweytens das Verbot jeder

Privatauslegung. Dieſes letzte iſt nun eigentlich das Neue

und Wichtige; aber auch das erſte bedarf noch einiger

Erläuterung. In dieſer Hinſicht will hier Juſtinian au-

genſcheinlich nichts Neues vorſchreiben, ſondern nur das

einſchärfen und gegen nichtige Zweifel ſichern, was ſich

eigentlich ohnehin von ſelbſt verſtehe. Darum beſtimmt

er hier auch Nichts über die Art der Wirkſamkeit dieſer

Kaiſerlichen Auslegungen, ſondern er läßt es hierin ganz bey

der bisherigen Verfaſſung. Alſo die Auslegung in einem

Edict ſollte bindend ſeyn für Alle, ſo wie jedes Geſetz:

die in einem Decret, wenn es ein Endurtheil war, gleich-

falls für Alle, alſo auch für künftige andere Fälle, wie

es das Principium dieſer Stelle feſtſetzt: die in einem

Interlocut nur für dieſen einzelnen Fall: endlich die in

einem Reſcript (welches ja nie publicirt wurde) gleich-

falls nur für den einzelnen vorliegenden Fall. Es iſt alſo

durchaus unrichtig, wenn manche annehmen, die interpre-

tirenden Reſcripte ſollten nach dieſer Verordnung auch für

künftige andere Fälle Geſetzeskraft haben (§ 24), ſo wie

(o) Das heißt: „die in den

Schriften von Papinian u. ſ. w.

enthaltenen Auslegungen ſollen

noch ferner diejenige geſetzliche

Kraft haben, die ihnen die Ver-

ordnung von Valentinian III. bey-

legt.“ Dieſe Verordnung näm-

lich wurde erſt vier Jahre ſpäter,

durch die Promulgation der Di-

geſten, außer Kraft geſetzt.

|0360 : 304|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

es das Principium allerdings für die Decrete, wenn ſie

Endurtheile ſind, vorſchreibt: vergleicht man beide Theile

der Stelle mit einander, ſo kann man über die gänzliche

Verſchiedenheit des Ausdrucks, wie der Gründe der Be-

handlung beider Fälle, nicht zweifelhaft ſeyn.

Die zweyte Verordnung Juſtinians über die Auslegung

findet ſich mitten in dem Publicationspatent über die Di-

geſten vom J. 533, d. h. in L. 2 § 21 C. de vet. jure

enucl. (1. 17.). Sie ſteht in Verbindung mit dem Ver-

bot, juriſtiſche Bücher zu ſchreiben (§ 26), und ergänzt

daſſelbe auf folgende Weiſe: „Eigentliche Bücher, ins-

beſondere Commentare über die Geſetze, werden verboten.

Findet ſich aber irgend ein Zweifel über den Sinn eines

Geſetzes (p), ſo ſollen dieſen die Richter dem Kaiſer zur

Entſcheidung vortragen, denn dieſer iſt, wie der einzige

Geſetzgeber, ſo auch der einzige rechtmäßige Interpret (q).

 

§. 48.

Ausſprüche des Römiſchen Rechts über die Auslegung.

(Fortſetzung.)

Beide übereinſtimmende Geſetze ſind von ſo ſchroffem

Inhalt, daß man augenblicklich Bedenken haben könnte,

 

(p) „Si quid vero … ambi-

guum fuerit visum“ etc. Das

darf keinesweges blos von zwey-

deutigen Ausdrücken eines Ge-

ſetzes verſtanden werden, die ja

von Juſtinians Standpunkt aus

unmöglich als etwas Beſonderes

angeſehen werden konnten, ſon-

dern es bezeichnet Zweifel und

Schwierigkeiten jeder Art, alſo

alles Auslegungsbedürfniß über-

haupt, gerade wie die omnes

ambiguitates judicum in L. 12

§ 1 cit.

(q) „Cui soli concessum est le-

ges et condere et interpretari.“

|0361 : 305|

§. 48. Ausſprüche des Römiſchen Rechts. Fortſetzung.

ſie ganz buchſtäblich zu nehmen. Allein jeder Zweifel muß

verſchwinden vor der öfter wiederholten ausſchließenden

Befugniß des Kaiſers zur Auslegung, noch mehr aber

vor der ſtets wiederkehrenden Parallele zwiſchen Geſetzge-

bung und Auslegung: denn da gewiß Keiner als der Kaiſer

Geſetze geben konnte, ſo ſollte (wegen der völligen Gleich-

ſtellung beider Geſchäfte) auch Keiner als er ſie auslegen

dürfen. Und in der That lag darin nur eine conſequente

Durchführung deſſelben Grundſatzes, welcher auf das

Verbot jeder künftigen Rechtswiſſenſchaft führte (§. 26).

Zwar denken ließe ſich noch neben dieſem Verbot eine den

Richtern geſtattete freye Auslegung; daß es Juſtinian nicht

ſo gemeynt hat, iſt ganz klar aus der zweyten Verordnung,

welche gerade den Richtern für jeden Zweifel über den

Sinn eines Geſetzes die Anfrage bei dem Kaiſer ſchlecht-

hin zur Pflicht macht. Auch conſequenter war es ſo, wie

Juſtinian es wirklich einrichtete. Es ſollte nun Jedem,

der mit den Geſetzen in Berührung kam, Lehrer oder Rich-

ter, nur ein mechaniſches Verfahren erlaubt, jede freye

Geiſtesthätigkeit ſchlechthin verboten ſeyn. Alle dieſe Vor-

ſchriften waren ſichtbar aus Einem Stück. — Zwar könnte

man es für inconſequent halten, daß Juſtinian zugleich

vorſchreibt, bey ſcheinbaren Widerſprüchen subtili animo

eine Vereinigung zu ſuchen (§ 44); allein dieſes darf bei

ihm nicht als ſcharfſinnige Auslegung gedacht werden,

die gewiß nicht in ſeinem Sinne iſt, ſondern als ein Her-

umſuchen nach einem verſteckten Wort, worin die Ver-

20

|0362 : 306|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

ſchiedenheit der Fälle angedeutet werde, folglich wieder

als ein blos mechaniſches Geſchäft. Ferner könnte es

inconſequent ſcheinen, daß in die Digeſten ſo viele in einem

weit freyeren Sinn gedachte Anweiſungen zur Auslegung

aufgenommen ſind, wenn der Richter dieſe nicht ſollte au-

wenden dürfen. Allein ſtehen nicht neben dieſen Anwei-

ſungen auch Regeln über die Abfaſſung der Geſetze (a)?

Und doch wollte Juſtinian damit gewiß nicht ſeinen Un-

terthanen eine Theilnahme an der Geſetzgebung anbieten.

Jene und dieſe Regeln ſollten zunächſt ankündigen, in

welcher Weiſe der Kaiſer Geſetze geben und auslegen

werde: dann auch zugleich als Anweiſung dienen für die-

jenigen Beamten, die in dieſen Geſchäften von ihm ge-

braucht werden würden. Darin lag alſo keine Inconſequenz.

Unſere Schriftſteller freylich haben für dieſe Verord-

nungen folgende mildere Deutung verſucht. Die wahre,

auf hermeneutiſchen Regeln beruhende, Auslegung ſoll

völlig frey geblieben ſeyn. Nur bey ganz unverſtändli-

chen, verzweifelten Geſetzen, bey welchen alle Hermeneu-

tik nicht anſchlagen will, ſollen jene Verordnungen die

Auslegung für ein kaiſerliches Reſervat erklären (b). Allein

 

(a) L. 3. 4. 5. 6. 7. 8. de leg.

(1. 3.). L. 2 de const. princ.

(1. 4.).

(b) Thibaut logiſche Ausle-

gung S. 25. 47. 112. Hufeland

Geiſt des Römiſchen Rechts I.

S. 121. Mühlenbruch I. §. 54.

— Hufeland hat noch das Eigen-

thümliche, daß er dieſe Erklärung

auf L. 2 § 21 cit. beſchränkt; die

L. 12 § 1 cit. dagegen erklärt er

S. 46—51 ſo, daß das Verbot

nur für den Fall gelten ſoll, wenn

der Kaiſer bereits wirklich aus-

gelegt hat. Von dieſer Beſchrän-

kung enthält aber die Stelle keine

Spur, ja ſie wird völlig wider-

legt durch den Grund, wodurch

|0363 : 307|

§. 48. Ausſprüche des Römiſchen Rechts. Fortſetzung.

zuvörderſt glaube ich nicht, daß es Geſetze giebt, woran

die Auslegungskunſt gänzlich verzweifeln müßte. Beſon-

ders aber im Munde von Juſtinian iſt eine Verordnung

dieſes Inhalts ganz undenkbar. Juſtinian iſt von dem

Selbſtgefühl wegen des glänzenden Erfolgs ſeiner Unter-

nehmung ſo durchdrungen, daß er beſtimmt erklärt, ſeine

Geſetzbücher enthielten durchaus keine Widerſprüche, die

doch bey dem größten Fleiße ſchwer zu verhüten waren.

Und er ſollte daneben annehmen, in dieſen vollkommenen

Geſetzbüchern fänden ſich ganz unverſtändliche, alſo äu-

ßerſt ſchlechte Geſetze? Er ſollte dieſen Fall als ſo wich-

tig und häufig anſehen, daß er es nöthig fände, in zwey

verſchiedenen Jahren darüber Verordnungen zu erlaſſen?

Alle allgemeine Betrachtungen alſo machen dieſe Erklä-

rung ganz verwerflich: unglaublich ſchwach aber ſind die

ſpeciellen Gründe, die man zu ihrer Rechtfertigung ange-

führt hat. In L. 9 C. de leg., ſagt man, ſteht: si quid ..

obscurius fuerit; das bezeichne eine undurchdringliche Dun-

kelheit. Allein, abgeſehen davon, daß der Ausdruck ge-

rade nicht in Juſtinians eigenen Verordnungen vorkommt,

von deren Sinn hier allein die Rede iſt, hat auch dieſer

abſolut gebrauchte Comparativ vielmehr eine mildernde

Bedeutung; es heißt: einigermaßen dunkel, nicht ganz klar.

Ferner, ſagt man, nennt die ältere Verordnung das, was

die Vorſchrift außer Zweifel ge-

ſetzt werden ſoll: „wozu die An-

fragen, wenn nicht der Kaiſer

allein zur Auslegung berufen

wäre?“ Zur Zeit einer Anfrage

hatte der Kaiſer gewiß noch nicht

ausgelegt.

20*

|0364 : 308|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Quellen des heutigen R. R.

ſie dem Kaiſer vorbehält: legum aenigmata solvere; das

heiße: das unerklärliche erklären. Allein im Begriff des

Räthſels liegt ſo wenig die Unauflöslichkeit, daß vielmehr

die Räthſel nur zum Zweck der Auflöſung erfunden zu

werden pflegen. Auch iſt es aus anderen Stellen von

Juſtinian klar, daß in ſeiner etwas ſchwülſtigen Sprache

aenigma jede Schwierigkeit, keinesweges blos die unbe-

zwingliche, bezeichnet (c). Jene Erklärung der Juſtinia-

niſchen Verordnungen erſcheint alſo von allen Seiten ſo

ganz unhaltbar, daß deren treffliche Vertheidiger gewiß

nicht ihre Zuflucht dazu genommen hätten, wären ſie nicht

durch das Gefühl der äußerſten Noth dazu getrieben wor-

den; von dieſer Noth aber und von den Hülfsmitteln da-

gegen kann erſt in dem folgenden §. die Rede ſeyn.

Nachdem jetzt der Sinn von Juſtinians Vorſchriften

feſtgeſtellt worden iſt, muß noch hinzugefügt werden, wie

er ſich die Ausführung dachte, wodurch ſie ins Leben tre-

ten ſollten. Das iſt klar, daß bey jedem Zweifel über

 

(c) In L. un. C. de nudo j.

quir. (7. 25.) heißt es: nec jure

Quiritium nomen quod nihil ab

aenigmate discrepat. Wir ken-

nen den Sinn dieſes Kunſtaus-

drucks ſchon durch Ulpian ganz

leidlich, ſeit Gajus noch viel beſ-

ſer; in Juſtinians Zeit, wo man

ſo viele vollſtändige Institutiones

u. ſ. w. hatte, war die Schwie-

rigkeit noch weit geringer. —

Eben ſo verbietet L. 1 § 13 C.

de vet. j. enucl. (1. 17.) die

siglorum compendiosa aenig-

mata. Die Bedeutung der Siglen

aber konnte man von jedem Ab-

ſchreiber erfahren, auch gab es

ſchon damals Schriften, worin ſie

erklärt waren, namentlich die des

Valerius Probus. — In beiden

Stellen alſo heißt aenigma nicht

etwas Unerforſchliches, ſondern

etwas das man lernen muß, das

man nicht ſchon durch die tägli-

che Erfahrung, alſo nicht ohne

einige Anſtrengung, kennen lernt.

|0365 : 309|

§. 48. Ausſprüche des Römiſchen Rechts. Fortſetzung.

den Sinn eines Geſetzes angefragt werden ſollte. Dieſe

Anfragen aber ſollten nicht etwa zu authentiſchen Ausle-

gungen durch Edicte führen, ſondern nur zu Reſcripten,

die für den vorliegenden Fall bindende Kraft hatten, nicht

weiter. Und dieſer Zuſtand der Dinge ſcheint ſich auch

in der folgenden Zeit unverändert erhalten zu haben. Denn

als Juſtinian, Acht Jahre nach Einführung der Digeſten,

die Privatreſcripte in der Novelle 113 für unverbindlich

erklärte (§ 24), ſetzte er ausdrücklich hinzu, die Anfragen

und Reſcripte wegen Geſetzauslegung ſollten wie bisher

fortbeſtehen. Noch ſpäter (im J. 544) verbot die No-

velle 125 auch die Conſultationen (§ 24), und zwar ohne

jenen ausdrücklichen Vorbehalt. Dennoch muß derſelbe

ſtillſchweigend hinzugedacht werden. Denn es iſt völlig

undenkbar, daß Juſtinian die Privatauslegung, die er wie-

derholt und auf die feyerlichſte Art verboten hatte, nun-

mehr indirect und gleichſam verſtohlnerweiſe wieder frey

gegeben haben ſollte. Ohne Zweifel alſo gieng das Ver-

bot nur auf die eigentlichen Conſultationen, die den Kai-

ſer veranlaßten den Rechtsſtreit ſelbſt zu entſcheiden, alſo

anſtatt des Richters (ſo wie es unſre Facultäten thun)

ein Urtheil abzufaſſen. Die Anfragen wegen Geſetzausle-

gung ſollten dadurch nicht berührt ſeyn.

Indeſſen iſt dieſer von Juſtinian klar vorgeſchriebene

Geſchäftsgang nicht ohne praktiſche Schwierigkeit. Man

könnte denken, er hätte durch Anfragen ſo überhäuft wer-

den müſſen, daß an übriges Regieren kaum mehr zu den-

 

|0366 : 310|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

ken geweſen wäre. Täuſchen wir uns dabey nicht durch

die Wahrnehmung, daß auch die nicht beſonders gelehr-

ten unter unſern Richtern ſich dennoch mit Juſtinians Ge-

ſetzen leidlich genug zurecht finden. Ihnen ſteht zur Seite

die freundliche Hülfe irgend eines Collegienheftes oder Lehr-

buches, welches ihnen die genießbare Frucht einer ſieben-

hundertjährigen Arbeit und Überlieferung auf die gemäch-

lichſte Weiſe darbietet. Denken wir uns nun aber dieſe

Arbeit von Sieben Jahrhunderten hinweg, und dann dem

Corpus Juris gegenüber, blos auf eigene perſönliche Kraft

verwieſen, einen ungelehrten Richter, wie ſie alle ſeyn

würden, wenn Juſtinians Vorſchriften über die Rechts-

wiſſenſchaft bisher befolgt worden wären. Ich glaube,

bey einem ſolchen Richter, wenn er nur gewiſſenhaft wäre,

würden wenige Gerichtstage vergehen ohne Anfragen bey

dem Geſetzgeber, der aber dann in einem großen Lande

die Arbeit nicht mehr bezwingen könnte, die blos dazu er-

fordert würde, die Maſchine der Rechtspflege im täglichen

Gang zu erhalten. Dennoch muß ſich dieſer Erfolg in

Juſtinians Reich nicht gezeigt haben; ſonſt hätte er ſchwer-

lich noch Acht Jahre nach Einführung der Digeſten die

Vorſchrift der Anfragen zum Zweck der Auslegung wie-

derholen können (d), da man in dieſer Zeit doch hinrei-

chende Erfahrungen geſammelt haben konnte. Dieſe auf-

fallende Erſcheinung erklärt ſich daraus, daß nicht ſelten

ganz entgegengeſetzte Kräfte zu demſelben Ziele führen

(d) Nov. 113. C. 1 pr. von 541.

|0367 : 311|

§. 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Ausſprüche.

können. Geiſt und Kenntniß werden bey dem Richter,

dem die Auslegung geſtattet iſt, nicht einmal das Bedürf-

niß einer Anfrage entſtehen laſſen. In Juſtinians Reich

mögen ſich die Richter, denen er die Auslegung verboten

hatte, durch Gedankenloſigkeit und Willkühr geholfen ha-

ben, ohne zu häufigeren Anfragen zu ſchreiten, als der

Kaiſer zu erledigen im Stande war.

§. 49.

Praktiſcher Werth der Römiſchen Ausſprüche

über die Auslegung.

Nachdem die Beſtimmungen des Römiſchen Rechts über

die Auslegung dargeſtellt worden ſind (§ 47. 48), iſt nun

zu unterſuchen, welchen Werth dieſelben, da wo über-

haupt Römiſches Recht gilt, für uns haben. Dieſe Frage

iſt offenbar verwandt mit der gleichnamigen, ſchon oben

beantworteten, Frage über die Rechtsquellen (§ 27), aber

zugleich auch von ihr verſchieden. Denn dort war die

Rede von der Erzeugung des Rechts, die an ſich dem

öffentlichen Rechte angehört; hier iſt die Rede von der

Aufnahme deſſelben, alſo von dem Verhalten der Einzel-

nen ihm gegenüber, und warum ſollte nicht dafür, ſo gut

wie für alles Andere was die Einzelnen betrifft, das Rö-

miſche Recht die Regel darbieten können?

 

Nur müßte dabey ſchon aus formellen Gründen Eine Ju-

ſtinianiſche Conſtitution, die L. 3 C. de vet. jure enucleando,

ausgeſchloſſen bleiben, weil dieſe unter die reſtituirten Stel-

 

|0368 : 312|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Quellen des heutigen R. R.

len gehört (§ 17). Indeſſen iſt dieſe Ausſchließung ganz

unerheblich, da jene Stelle doch nur die griechiſche Ab-

faſſung der unmittelbar vorhergehenden (L. 2 eod.) iſt,

alſo keinen eigenen, von dieſer verſchiedenen Inhalt hat.

Ein Theil der Stellen nun, welche man hierher zu

rechnen pflegt, muß ohne allen Zweifel als entſcheidend

anerkannt werden; ich meyne diejenigen Verordnungen Ju-

ſtinians, worin er ſich über die Beſtimmung ſeiner Rechts-

bücher und ihrer einzelnen Beſtandtheile ausſpricht. Wenn

er z. B. ſagt, die Stellen der Juriſten in den Digeſten,

und die Reſcripte im Codex, ſollten nicht als bloße Be-

lehrungen, ſondern als wahre, von ihm ſelbſt ausgehende

Geſetze angeſehen werden, ſo iſt das weniger eine Ausle-

gungsregel, als vielmehr Stück des Publicationspatentes;

denn es betrifft nicht eigentlich das was wir zu thun ha-

ben, ſondern den Sinn deſſen was er ſelbſt thut. Etwas

ähnliches freylich, nur in viel entfernterer Weiſe, ließe

ſich auch von den eigentlichen Auslegungsregeln ſagen,

da dieſelben in der That folgenden Sinn haben: „alle

Stellen der Digeſten und des Codex ſollen verſtanden wer-

den nach den hier gegebenen Auslegungsregeln, denn un-

ter Vorausſetzung dieſer Regeln habe ich die Stellen ſelbſt

aufgenommen. Eben ſo ſollen verſtanden werden meine

künftigen Geſetze, und die Geſetze meiner Nachfolger, da

wir unſre geſetzgebende Gewalt ſtets in dieſer Voraus-

ſetzung ausüben werden.“ Dann wären die Auslegungs-

regeln in Beziehung auf jede einzelne Stelle gewiſſerma-

 

|0369 : 313|

§. 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Ausſprüche.

ßen ſelbſt ſchon eine Art authentiſcher Interpretation.

Dieſe Anſicht würde dann ferner zu folgender Unterſchei-

dung führen. Die Römiſchen Auslegungsregeln wären

anwendbar und geſetzlich bindend für Juſtinians Rechts-

bücher, für ſeine Novellen, und für die Geſetze der fol-

genden griechiſchen Kaiſer (wenn dieſe von uns recipirt

wären); ſie wären aber nicht anwendbar für das cano-

niſche Recht, die Reichsgeſetze, und unſere Landesgeſetze.

Denn Juſtinian konnte doch unmöglich, wie durch ein le-

gislatives Fideicommiß auf ewige Zeiten, beſtimmen wol-

len, in welchem Sinn künftig Päbſte, deutſche Kaiſer,

oder deutſche Landesfürſten, ihre geſetzgebende Gewalt

ausüben würden (a).

So ſteht die Sache nach einer allgemeinen, blos for-

mellen, Betrachtung, und den Römiſchen Auslegungsre-

geln wäre dadurch ein ſehr ausgedehntes Gebiet der Herr-

ſchaft geſichert, nämlich über Juſtinians Rechtsbücher, wel-

ches gerade der wichtigſte Fall der Anwendung iſt. Allein

ſehen wir auf den beſonderen Inhalt jener Regeln, ſo

kommen wir vielmehr zu der Überzeugung, daß ſie auch

ſelbſt in dieſer Anwendung eine geſetzlich bindende Kraft

 

(a) Die Vergleichung mit fol-

gendem Fall entgegengeſetzter Art

wird dieſes noch anſchaulicher ma-

chen. In das Preußiſche Land-

recht hat K. Friedrich Wilhelm II.

Regeln über die Auslegung auf-

nehmen laſſen. Dieſe gelten für

das Landrecht ſelbſt, für ſpätere

Geſetze deſſelben Königs, und für

alle Geſetze ſeiner Nachfolger.

Denn ſein Geſetz iſt auch für die

Ausübung der Regentengewalt

ſeiner Nachfolger ſo lange ver-

bindend, bis ſie es wieder auf-

gehoben haben. Auch hier alſo

iſt immer wieder entſcheidend der

Gegenſatz des öffentlichen Rechts

und des Privatrechts.

|0370 : 314|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

nicht haben. Die wichtigſte unter allen dieſen Regeln iſt

unſtreitig die, welche wir in beiden Verordnungen von

Juſtinian finden (§ 47. 48); ſie ſagt uns ganz deutlich,

wie wir auslegen ſollen, nämlich gar nicht. Gerade dieſe

wichtigſte Regel aber können wir als Geſetz aus zwey

Gründen nicht anerkennen.

Erſtens weil ſie in unzertrennlicher Verbindung ſteht

mit Juſtinians Verbot, juriſtiſche Bücher zu ſchreiben (§ 26).

Dieſe Verbindung erhellt nicht blos aus dem Inhalt und

Zweck beider Vorſchriften, ſondern auch aus ihrer Faſ-

ſung, indem ſie in der neueren Verordnung unmittelbar

neben einander ſtehen, und zwar ſo, daß die eine als

Folge und nähere Beſtimmung der anderen ausgedrückt

wird. Da nun das Verbot der rechtswiſſenſchaftlichen

Bücher als Geſetz für uns nicht gilt (§ 27), ſo kann

auch das der Auslegung nicht gelten; denn wollten wir

dieſes, herausgeriſſen aus ſeinem Zuſammenhang, einzeln

gelten laſſen, ſo wäre es ja in der That nicht mehr Ju-

ſtinians Vorſchrift, ſondern etwas das wir daraus will-

kührlich gemacht hätten, und worin ſich blos der wört-

liche Schein ſeiner Vorſchrift wiederfände.

 

Zweytens weil ihre Ausführung für uns nicht etwa

ſchwierig, ſondern völlig unmöglich iſt. Denn Juſtinian

macht die Auslegung der Richter entbehrlich durch kaiſer-

liche Reſcripte, eine ſolche Anſtalt aber findet ſich in kei-

nem neueren Staate. Man täuſche ſich nicht durch die

 

|0371 : 315|

§ 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Ausſprüche.

Aushülfe eines authentiſch erklärenden Geſetzes (b); ein

ſolches zu bewirken hat kein Richter die Macht, bis zu

ſeiner Erſcheinung mit dem Urtheil zu warten hat er

nicht das Recht, vor Allem aber wäre es nicht das was

Juſtinian will, ſondern etwas ganz Anderes. Eben ſo

täuſche man ſich nicht durch die Verweiſung auf eine Ge-

ſetzcommiſſion oder auf ein Juſtizminiſterium, welche aller-

dings in manchen Staaten ſolche Belehrungen zu ertheilen

pflegen (c); denn auch dieſes iſt etwas ganz Anderes, und

daß es bey Juſtinian mit der perſönlichen Einwirkung des

Kaiſers auf die Auslegung wahrer Ernſt war, geht aus

dem, was wir von ſeiner Perſon wiſſen, deutlich genug

hervor. Glauben wir aber einmal, uns über Juſtinians

wirkliche Vorſchrift durch irgend ein Surrogat wegſetzen

zu dürfen, warum wollten wir dann auf halbem Wege

ſtehen bleiben, und nicht lieber unſere natürliche Freyheit

der Auslegung geltend machen?

Das Gefühl dieſes Nothſtandes war es, was die oben

(§ 48) angegebene höchſt gewaltſame Erklärung von Ju-

ſtinians Verordnungen veranlaßte; allein eine Rechtferti-

 

(b) Thibaut Abhandlungen

S. 102. Vgl. dagegen Löhr,

Magazin III. S. 208, der nur

mit Unrecht daran Anſtoß nimmt,

daß die authentiſche Auslegung

dann eine rückwirkende Kraft er-

halten müßte. Dieſe hat ſie aber

jederzeit ohnehin, wie unten ge-

zeigt werden wird. Vgl. einſt-

weilen Nov. 143 pr.

(c) Eine ſolche, mit bindender

Kraft interpretirende, Geſetzcom-

miſſion beſtand vormals im Preu-

ßiſchen Staate, iſt aber ſpäter-

hin aufgehoben worden. Vergl.

unten § 51 Note c. Hier iſt

jedoch von Ländern des gemei-

nen Rechts die Rede.

|0372 : 316|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

gung für ein ſo ganz willkührliches Verfahren liegt darin

nicht. Beſſer war es unſtreitig zu ſagen, Juſtinian habe

die Privatauslegung in der That verboten, aber ein all-

gemeines Gewohnheitsrecht habe dieſes Verbot wieder auf-

gehoben (d). Wenigſtens kommt ſchwerlich in der ganzen

Rechtsgeſchichte ein Beyſpiel vor, worin eine allgemeine

Gewohnheit ſo unzweifelhaft wäre, als die der Privat-

auslegung von Irnerius an bis auf unſre Tage. Von

unſerm Standpunkt aus können wir freylich eine ſolche

derogirende Gewohnheit nicht annehmen, da wir der Rö-

miſchen Vorſchrift ſchon an ſich ſelbſt keine Anwendbarkeit

beylegen. Und eben dieſe Behauptung wird nun gerade

durch die nachgewieſene Unmöglichkeit der Ausführung voll-

kommen beſtätigt. Denn dieſe Unmöglichkeit gründet ſich

lediglich darauf, daß Juſtinian ſelbſt ſein Verbot in un-

zertrennliche Verbindung mit einer jetzt verſchwundenen

Staatsanſtalt, den kaiſerlichen Reſcripten, geſetzt hat.

Dadurch hat er daſſelbe zu einem Stück des öffentlichen

Rechts gemacht, und darum müſſen wir deſſen heutige

Anwendbarkeit ſchon nach allgemeinen Grundſätzen vernei-

nen (§ 1. 17.). — Vergleichen wir den letzten Erfolg der

hier aufgeſtellten Anſicht mit dem, welcher aus jener ge-

waltſamen Erklärung von Anderen hergeleitet wird, ſo

(d) Ungefähr in dieſer Art

nimmt es Zachariä Hermeneu-

tik S. 164, nur noch mit dem

unrichtigen Zuſatz, das Juſtinia-

niſche Recht ſelbſt ſey in dieſem

Punkt ſchwankend, indem einige

Stellen die Auslegung zuließen,

andere ſie unterſagten; dieſes

Schwanken ſey durch unſre Praxis

zu Gunſten der Zuläſſigkeit ent-

ſchieden.

|0373 : 317|

§. 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Ausſprüche.

ſind beide in der That nicht verſchieden. Jene laſſen Ju-

ſtinians Verbote als Geſetze gelten, beſchränken ſie aber

auf den gar nicht exiſtirenden Fall völlig ſinnloſer Ge-

ſetze. Hier iſt der Sinn der Verbote in ſeiner vollen Aus-

dehnung anerkannt, zugleich aber ihre heutige Anwendbar-

keit gänzlich geläugnet worden.

Alle dieſe Gründe betreffen nur Juſtinians Verbot der

Auslegung; die in den Digeſten enthaltenen Regeln könn-

ten an ſich auch für uns mit geſetzlicher Kraft beſtehen.

Doch halte ich es für conſequenter, auch ihnen dieſe Kraft

abzuſprechen, und alſo die verſchiedenen Beſtimmungen des

Juſtinianiſchen Rechts über die Auslegung als untrennbar

ſtehen und fallen zu laſſen. Jede Trennung dieſer Art

iſt ſtets eine halbe Maaßregel: ſcheinbare Aufrechthaltung

bey weſentlicher Umbildung; denn wer kann ſagen, welche

ganz andere Regeln Juſtinian gut gefunden hätte, wenn

ihm überhaupt die Privatauslegung als zuläſſig erſchienen

wäre? Von praktiſcher Wichtigkeit iſt dieſe Frage übri-

gens nicht. Denn ganz neue Vorſchriften über die Aus-

legung, wodurch unſre allgemeinen Anſichten poſitiv um-

gebildet würden, finden ſich in den Digeſten nicht; durch

unſre Behauptung aber ſoll weder ihnen das Anſehen ei-

ner Achtung gebietenden Autorität, noch uns die Beleh-

rung, die wir aus ihnen ſchöpfen können, entzogen wer-

den. Auch ſind ſie von mir auf ſolche Weiſe, neben der

hier verſuchten Theorie der Auslegung, ſchon bisher be-

nutzt worden.

 

|0374 : 318|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

§. 50.

Anſichten der Neueren von der Auslegung (a).

Von abweichenden Anſichten neuerer Schriftſteller iſt

ſchon neben meiner eigenen Darſtellung häufig die Rede

geweſen. Am Schluſſe ſollen dieſelben noch in einigen

Hauptpunkten zuſammengeſtellt werden, welche auf dieſe

Lehre im Ganzen beſonderen Einfluß ausüben.

 

Dahin gehört zuerſt der faſt allgemein herrſchende Be-

griff der Auslegung als einer Erklärung dunkler Ge-

ſetze (b). Indem hier ein zufälliger und zwar mangelhaf-

ter Zuſtand der Geſetze zur Bedingung ihres Daſeyns ge-

macht wird, erhält ſie ſelbſt die zufällige Natur einer blo-

ßen Abhülfe von einem Übel, woraus von ſelbſt folgt,

daß ſie in demſelben Verhältniß entbehrlicher werden muß,

als die Geſetze vollkommner werden (c). — Nun wird

Niemand läugnen, daß bey dunklen Geſetzen die Ausle-

 

(a) Ich führe hier folgende

Schriftſteller an, die theils be-

ſonders reichhaltiges Material dar-

bieten, theils als Repräſentanten

der gangbarſten Meynungen gel-

ten können: Chr. H. Eckhard

hermeneutica juris ed. C. W.

Walch Lips. 1802. 8. — Thi-

baut Theorie der logiſchen Aus-

legung des R. R. 2te Ausg. Al-

tona 1806. 8. — Mühlenbruch I.

§ 53—67. — Vorzüglich frey von

herrſchenden Vorſtellungen, und

reich an eigenen Gedanken, iſt

hier wie anderwärts Donellus I.

13. 14. 15.

(b) Forster de j. interpret.

I. 1. Hellfeld § 29. Hofacker I.

§ 149. 151. 152. (Hübner) Be-

richtigungen und Zuſätze zu Höpf-

ner S. 173. Hufeland Lehr-

buch des Civilrechts I. § 28. —

Die Römer ſahen die Sache an-

ders an. L. 1 § 11 de inspic.

ventre. (25. 4.). „Quamvis sit

manifestissimum Edictum Prae-

toris, attamen non est negli-

genda interpretatio ejus.”

(c) Wörtlich erklärt dieſes Za-

chariä Hermeneutik S. 160.

|0375 : 319|

§. 50. Anſichten der Neueren.

gung beſonders wichtig und nöthig iſt, und daß ſich bey

ihnen die Kunſt des Auslegers oft beſonders glänzend zei-

gen kann: auch beſchäftigt ſich aus dieſem Grunde der

größere Theil der hier aufgeſtellten Regeln mit dem Fall

mangelhafter Geſetze (§ 35 fg.). Allein zwey Betrach-

tungen laſſen uns dennoch jene Faſſung des Grundbegriffs

als zu beſchränkt und für die ganze Lehre nachtheilig er-

ſcheinen. Erſtens iſt eine gründliche und erſchöpfende Be-

handlung des kranken Zuſtandes unmöglich, wenn nicht

die Betrachtung des geſunden, auf welchen jener zurück

geführt werden ſoll, zum Grunde gelegt wird. Zweytens

verſchwindet uns durch jene Faſſung des Begriffs gerade

die edelſte und fruchtbarſte Anwendung der Auslegung,

welche darauf ausgeht, bey nicht mangelhaften, alſo nicht

dunklen Stellen den ganzen Reichthum ihres Inhalts und

ihrer Beziehungen zu enthüllen; ein Verfahren, welches

beſonders bey den Digeſten von ſo großer Wichtigkeit iſt.

— Wenn man übrigens dieſe willkührliche Beſchränkung

der Auslegung auf dunkle Geſetze zuſammenhält mit der

oben angeführten Meynung, nach welcher wiederum ſehr

dunkle Geſetze durch Juſtinian der Auslegung entzogen

ſeyn ſollen (§ 48), ſo ergiebt ſich daraus die ſonderbare

Folge, daß Geſetze weder zu klar noch zu dunkel ſeyn dür-

fen, daß ſie ſich vielmehr auf einem ſchmalen Raume mit-

telmäßiger Dunkelheit befinden müſſen, um als Gegen-

ſtände der Auslegung gelten zu können.

Zweytens gehört dahin die das ganze Gebiet beherr-

 

|0376 : 320|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

ſchende Eintheilung der Auslegung in grammatiſche und

logiſche (d). Dieſe werden nicht etwa gedacht als Ele-

mente jeder Auslegung, die überall zuſammen wirken müſ-

ſen, nur ſo, daß nach Umſtänden bald das eine, bald

das andere Element ergiebiger werden kann (§ 33), ſon-

dern vielmehr als entgegengeſetzt und einander ausſchlie-

ßend. Die grammatiſche ſoll nur nach dem Wortverſtand,

die logiſche nur nach der Abſicht oder dem Grunde des

Geſetzes verfahren: die grammatiſche ſoll als Regel gel-

ten, die logiſche nur ausnahmsweiſe zugelaſſen werden.

In dieſer Entgegenſetzung war nur das Eine deutlich ge-

dacht und allgemein angenommen, die logiſche Auslegung

ſey eine ſolche, die ſich nicht geringe Freyheiten heraus-

nehme, und die man daher ſehr unter Aufſicht halten

müſſe: im Überigen wurde das Verſchiedenartigſte unter

dieſem Ausdruck zuſammengeſtellt. So galt als logiſche

Auslegung die Berichtigung des Ausdrucks nach dem wirk-

lichen Gedanken des Geſetzes (§ 35 fg.): aber auch die

Ergänzung nach Analogie: und endlich noch ein drittes,

wovon ſogleich weiter die Rede ſeyn ſoll. — Iſt nun die

eben gegebene Darſtellung der in der Auslegung vorkom-

menden Aufgaben richtig und erſchöpfend, ſo muß jene

Eintheilung von ſelbſt aufgegeben werden, deren Aufſtel-

lung und Bezeichnung den Gegenſtand gewiß mehr ver-

dunkelt als gefördert hat.

(d) Eckhard § 17. 23. Thi-

baut Pandekten 8te Ausg. § 45.

46. 50—52. Thibaut logiſche

Auslegung § 3. 7. 17—29.

|0377 : 321|

§ 50. Anſichten der Neueren.

Drittens, was das wichtigſte iſt, hat man in das Ge-

biet der Auslegung eine Behandlung der Geſetze gezogen,

die in der That als eine Abänderung derſelben betrachtet

werden muß, und die dennoch unter dem Namen der lo-

giſchen Auslegung mit befaßt wurde. Es iſt oben die

Rede geweſen von einer Berichtigung des Ausdrucks durch

Zurückführung auf den wirklichen Gedanken; hier wird

eine Berichtigung des wirklichen Gedankens ſelbſt verſucht

durch Zurückführung auf denjenigen Gedanken, den das

Geſetz hätte enthalten ſollen. Man geht nämlich auf den

Grund des Geſetzes zurück, und wenn es ſich findet, daß

derſelbe in ſeiner logiſchen Entwicklung auf Mehr oder

Weniger führt, als das Geſetz enthält, ſo wird dieſes

durch eine neue Art von ausdehnender oder einſchrän-

kender Auslegung verbeſſert. Dabey iſt es gleichgültig,

ob der Geſetzgeber mit Bewußtſeyn einen logiſchen Fehler

gemacht hat, oder ob er nur verſäumte, an die conſe-

quenten Anwendungen des Grundes zu denken, wodurch

man ihn jetzt berichtigt; in welchem letzten Falle man

alſo vorausſetzt, er würde unfehlbar eben ſo verfügt ha-

ben, wenn man ihn nur auf dieſe Conſequenzen aufmerk-

ſam gemacht hätte. — So erſcheint wenigſtens dieſes Ver-

fahren in vollſtändiger Durchführung. Es iſt indeſſen auch

mit der Modification geltend gemacht worden, daß zwar

eine Ausdehnung nach dem Grund des Geſetzes geſchehen

dürfe, aber niemals eine Einſchränkung (e); ein überzeu-

 

(e) Thibaut Pandekten § 51. 52.

Er geſtattet die Ausdehnung

21

|0378 : 322|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

gender Grund jedoch für dieſe Unterſcheidung möchte ſchwer-

lich angegeben werden können.

Indem nun bey dieſem Verfahren der Ausleger nicht

den bloßen Buchſtaben, alſo den Schein des Geſetzes, ſon-

dern den wirklichen Inhalt deſſelben zu verbeſſern unter-

nimmt, ſtellt er ſich über den Geſetzgeber, und verkennt

alſo die Gränzen des eigenen Berufs; es iſt nicht mehr

Auslegung die er übt, ſondern wirkliche Fortbildung des

Rechts (f). Eine ſolche Gränzverwirrung zwiſchen we-

ſentlich verſchiedenen Thätigkeiten iſt ein hinreichender for-

meller Grund, dieſe Art der Auslegung gänzlich zu ver-

werfen, und dem Richter, nach dem reinen Begriff ſeines

Amtes, die Befugniß dazu abzuſprechen. Dazu kommen

aber noch zwey in die Sache ſelbſt eingehende Bedenken.

Das erſte liegt in der häufigen Ungewißheit des Geſetz-

grundes (§ 34); wo nun über deſſen Natur ein Irrthum

leicht möglich iſt, da muß jenes Verfahren in gänzliche

Willkühr ausarten, und alle Rechtsſicherheit, wodurch au-

ßerdem die Geſetze ſo wohlthätig werden können, zerſtört

werden (g). Das zweyte Bedenken liegt in der Möglich-

 

in zwey verſchiedenen Fällen, nach

Grund und nach Abſicht; die Ein-

ſchränkung nur allein nach der Ab-

ſicht. — Er nennt überhaupt Ab-

ſicht das was ich als den wirkli-

chen Gedanken des Geſetzes be-

zeichne.

(f) Die Wahrnehmung dieſes

unbefugten Verfahrens ſchlug

dann bey Manchen zu der wie-

derum einſeitigen Abſicht um, nach

welcher alle Auslegung überhaupt

nicht dem Richter, ſondern dem

Geſetzgeber zuſtehe, der ſie aber

freylich delegiren könne. S. o.

§ 32 Note d.

(g) Das iſt der wahre Sinn

von L. 20. 21 de leg. (1. 3.).

„Non omnium, quae a majori-

bus constituta sunt, ratio reddi

|0379 : 323|

§ 50. Anſichten der Neueren.

keit von Mittelgliedern in der Gedankenreihe (§ 34), wo-

durch der Geſetzgeber ohne Inconſequenz beſtimmt werden

konnte, dem Geſetze ein weiteres oder engeres Gebiet an-

zuweiſen, als worauf der Grund des Geſetzes zu führen

ſchien. Man muß daher vorſichtig ſeyn gegen den täu-

ſchenden Schein logiſcher Sicherheit, womit dieſes Ver-

fahren angewendet zu werden pflegt (h). Nur wo dieſe

materielle Bedenken durch gründliche Forſchung gehoben

werden können, darf eine ſolche Ausdehnung oder Ein-

ſchränkung nach dem Grund des Geſetzes als conſequente

Fortbildung des Rechts (nicht als Auslegung) für zuläſſig

und räthlich gehalten werden. Einer ſolchen Fortbildung

aber ſteht auch ſelbſt die Natur eines anomaliſchen Rechts

nicht im Wege, obgleich dadurch die Anwendung der Ana-

logie für den Richter ausgeſchloſſen werden mußte (§ 46).

Daß dennoch bey den neueren Schriftſtellern dieſes

Verfahren als eine wahre Auslegung, und daher (mit

mehr oder weniger Beſchränkungen) als zuläſſig für den

Richter angenommen zu werden pflegt, erklärt ſich aus

der ſehr gewöhnlichen Verwechslung dieſes Falles mit

ſolchen ſcheinbar ähnlichen Fällen, worin ein freyeres Ver-

fahren allerdings erlaubt und nothwendig iſt. Dahin ge-

 

potest. — Et ideo rationes eo-

rum, quae constituuntur, inquiri

non oportet: alioquin multa ex

his, quae certa sunt, subver-

tuntur.” — Das inquiri non

oportet iſt nicht zu verſtehen als

Einſpruch gegen die Erforſchung

des Grundes an ſich, ſondern nur

inſoferne ſie dazu angewendet wer-

den ſoll, den wirklichen Inhalt

zu modificiren.

(h) Treffende Bemerkungen

hierüber finden ſich bey Stahl

Rechtsphiloſophie II. S. 177.

21*

|0380 : 324|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

hört erſtlich die wahre ausdehnende und einſchränkende

Auslegung, wodurch der wirkliche Inhalt des Geſetzes

nicht (wie hier) verbeſſert, ſondern nur dem Schein des

Buchſtabens gegenüber behauptet und vertheidigt wird

(§ 37). Ein zweyter ähnlicher Fall, womit jenes unrich-

tige Verfahren verwechſelt wird, iſt der der Analogie

(§ 46). In dieſem Fall aber fehlt es überhaupt an einer

Rechtsregel, welche daher durch künſtliche Erweiterung

der vorhandenen Rechtsquellen ergänzt werden ſoll; bey

jenem unrichtigen Verfahren dagegen iſt eine Rechtsregel

wirklich vorhanden, dieſe ſoll aber durch künſtliche Aus-

dehnung eines anderen Geſetzes von der Anwendung auf

den gegebenen Fall verdrängt werden. Der dritte Fall

endlich, welcher zu einer ſolchen Verwechslung Gelegen-

heit zu geben pflegt, iſt bisher noch gar nicht erwähnt

worden. Er bezieht ſich auf ſolche Handlungen, welche

ein Geſetz zwar nicht dem Buchſtaben, wohl aber dem

Geiſt nach, verletzen (in fraudem Legis). Daß auf ſolche

Handlungen das Geſetz bezogen werden muß, iſt unzwei-

felhaft (i). Man pflegt dieſes ſo zu denken, als müſſe zu

dieſem Zweck das umgangene Geſetz durch Auslegung aus-

(i) L. 29 de leg. (1. 3.). „Con-

tra legem facit, qui id facit quod

lex prohibet: in fraudem vero,

qui salvis verbis legis senten-

tiam ejus circumvenit.” L. 5

C. de leg. (1. 14.). „Non du-

bium est, in legem committere

eum, qui verba legis amplexus

contra legis nititur voluntatem.

Nec poenas insertas legibus

evitabit, qui se contra juris sen-

tentiam saeva praerogativa ver-

borum fraudulenter excusat.”

— L. 21 de leg. (1. 3.). L. 64.

§ 1 de condit. (35. 1.).

|0381 : 325|

§. 50. Anſichten der Neueren.

gedehnt werden. Wenn z. B. wucherliche Zinſen unter

dem Schein eines Kaufcontracts oder einer Conventional-

ſtrafe verſprochen werden, ſo nimmt man an, der Geſetz-

geber habe dieſe Fälle nur nicht bedacht: wäre er darauf

aufmerkſam gemacht worden, ſo würde er in einem Zuſatz

zum Wuchergeſetz auch dieſe Verträge verboten haben,

und da er es unterlaſſen, müßten wir jetzt ſeiner Unbe-

dachtſamkeit durch ausdehnende Auslegung zu Hülfe kom-

men. In der That aber ſteht die Sache ganz anders.

Wir haben nicht das Geſetz zu interpretiren, welches ganz

deutlich und zureichend iſt, ſondern die einzelne Hand-

lung (k). Wenden wir auf dieſe den Grundſatz der Si-

mulation an, ſo müſſen wir den ſcheinbaren Kauf oder

Strafvertrag als einen wirklichen Zinsvertrag behandeln,

und wir berichtigen alſo in dieſer Handlung durch unſer

Urtheil den Buchſtaben nach dem wirklichen Gedanken.

Es iſt im Weſentlichen daſſelbe Verfahren, welches in an-

deren Fällen bey Geſetzen anzuwenden iſt (§ 37). Nur

wird dieſes Verfahren bey Rechtsgeſchäften oft noch einen

höheren Grad von Sicherheit mit ſich führen. Denn bey

Geſetzen haben wir mit einer Ungeſchicklichkeit im Ge-

brauch des Ausdrucks zu thun, bey Rechtsgeſchäften im

vorliegenden Fall mit einer unredlichen Abſicht; dieſe aber

(k) Man könnte einwenden,

die Römiſchen Juriſten hätten die

Behandlung dieſes Falles wirk-

lich als Geſetzauslegung angeſe-

hen, wegen L. 64 § 1 de condit.

(35. 1.), „Legem enim .. ad-

juvandam interpretatione.” Al-

lein ſie brauchen den Ausdruck

interpretatio überhaupt in einem

ausgedehnteren Sinn, für jedes

wiſſenſchaftliche Verfahren (§ 47

Note d).

|0382 : 326|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

wird oft weit ſicherer aus den Umſtänden erkannt werden

als jene. — Außer dieſen Verwechslungen aber hat noch

ein anderer Umſtand zur Begünſtigung der hier darge-

ſtellten unrichtigen Auslegungsart beygetragen: das Bey-

ſpiel der Römiſchen Juriſten, die in der That dieſes Ver-

fahren anwenden, und dabey kein Bedenken finden. Allein

eine Rechtfertigung für uns liegt darin auf keine Weiſe.

Denn bey den Römern hängt es zuſammen mit der ganz

eigenthümlichen Stellung der Juriſten, die ihnen einen ſo

unmittelbaren Einfluß auf die Fortbildung des Rechts ge-

währte, wie er den unſrigen (ſeyen ſie Schriftſteller oder

Richter) nicht eingeräumt werden kann (l).

§. 51.

Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die

Auslegung.

Die neueren Geſetzbücher enthalten über die Auslegung

noch weit weniger Beſtimmungen als über die Rechtsquel-

len (§ 31). Das Franzöſiſche Geſetzbuch ſagt darüber gar

Nichts; aber die dem Richter gegebene unbedingte Vor-

ſchrift, über jeden Rechtsſtreit zu urtheilen ungeachtet der

Dunkelheit eines Geſetzes, und die eigenthümliche Stellung

des Caſſationshofes, machen es unzweifelhaft wie dieſer

Gegenſtand im Franzöſiſchen Recht gedacht iſt. Der Rich-

ter hat daſelbſt volle Freyheit der Auslegung, daneben

aber wird die Gewißheit und Einheit des Rechts gegen

 

(l) Vgl. oben § 19 und § 37 Note. q.

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§ 51. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher.

die Gefahr willkührlicher Auslegungen geſchützt durch den

über allen Gerichten ſtehenden Caſſationshof, welcher ſei-

nen belehrenden und zügelnden Einfluß auch da noch aus-

üben kann, wo die Regeln des Prozeſſes eine wirkſame

Abänderung des einzelnen Urtheils nicht mehr geſtatten.

Dieſe Löſung der Aufgabe würde völlig genügen, wenn

der Caſſationshof das Recht hätte, anſtatt eines caſſirten

Urtheils ein eigenes Urtheil zu ſprechen. Er darf aber

nur, nachdem er caſſirt hat, die Entſcheidung an ein an-

deres Gericht verweiſen, ſo daß ſich ein auf irrige Rechts-

ſätze gebautes Urtheil und deſſen Caſſation in derſelben

Rechtsſache mehrmals wiederholen kann. Dieſes umſtänd-

liche und koſtſpielige Verfahren iſt dadurch entſtanden, daß

in der alten Verfaſſung das Caſſationsverfahren gar nicht

vor einem Gericht, ſondern vor einer hohen Verwaltungs-

behörde (dem conseil du Roi) Statt fand, welche nur die

Geſetzverletzung verhüten, nicht ſelbſt Recht ſprechen ſollte.

Dieſer Grund iſt ſeit der Revolution verſchwunden, indem

nun ein beſonderer Caſſationshof beſteht, der ein förmli-

ches Gericht bildet, und gleiche Unabhängigkeit mit allen

anderen Gerichten genießt. Man hat in neueren Zeiten

geſucht, dem erwähnten Übel abzuhelfen. Die erſten Ver-

ſuche dazu waren allerdings nicht genügend (a). Weit

wirkſamer iſt das neueſte Geſetz, welches nach der zwey-

ten Caſſation dasjenige Gericht, an welches nunmehr die

Sache verwieſen wird, geradezu verpflichtet, in ſeinem

(a) Loi du 16 Septembre 1807. — Loi du 30 Juillet 1828.

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Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

Urtheil den vom Caſſationshof ausgeſprochnen Rechtsſatz

zum Grund zu legen (b).

Das Preußiſche Landrecht verordnet, der Richter ſolle

den Geſetzen den Sinn beylegen, der aus den Worten

und ihrem Zuſammenhange, oder aus dem nächſten un-

zweifelhaften Grund des Geſetzes hervorgehe (c). Wich-

tiger war die, dem Juſtinianiſchen Geſetz ſich annähernde,

Beſtimmung, der Richter ſolle jeden Zweifel über die Aus-

legung der Geſetzcommiſſion anzeigen, und dann deren

Entſcheidung befolgen. Dieſe Vorſchrift iſt aber ſpäterhin

aufgehoben worden; nur ſoll der Richter, welcher jetzt

unabhängig auslegt und entſcheidet, ſeinen Zweifel dem

Chef der Juſtiz anzeigen, damit davon für die Geſetzge-

bung Gebrauch gemacht werden könne (d). Im Fall einer

Lücke der Geſetze iſt der Richter angewieſen, nach den all-

gemeinen Grundſätzen des Landrechts, oder nach Verord-

nungen für ähnliche Fälle zu entſcheiden; zugleich ſoll er

die wahrgenommene Lücke anzeigen, damit ſie durch ein

neues Geſetz ausgefüllt werde (e). — In der Rheinpro-

vinz, worin noch die Franzöſiſche Geſetzgebung beſteht, iſt

das Franzöſiſche Verfahren dahin umgebildet worden, daß

 

(b) Loi du 1. Avril 1837.

(Bulletin des lois IXe. Serie

T. 14 p. 223) art. 2. „Si le deux-

ième arrêt ou jugement est

cassé pour les mêmes motifs

que le prémier, la cour royale

ou le tribunal auquel l’affaire

est renvoyée se conformera à

la décision de la cour de cas-

sation sur le point de droit

jugé par cette cour.

(c) Allg. Landrecht Einleitung

§ 46.

(d) A. L. R. Einl. § 47. 48,

und Anhang § 2.

(e) A. L. R. Einl. § 49. 50.

|0385 : 329|

§. 51. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher.

der Caſſationshof, wenn er caſſirt, zugleich ſelbſt das neue

Urtheil ſpricht. Außerdem iſt aber auch für das ganze

übrige Land neuerlich ein Caſſationsverfahren unter dem

Namen der Nichtigkeitsbeſchwerde eingeführt worden, in

welchem gleichfalls der Richter, welcher darüber erkennt

(das Geheime Obertribunal), wenn er das vorige Urtheil

vernichtet, zu gleicher Zeit ſelbſt das Urtheil ſpricht (f).

Das Öſterreichiſche Geſetzbuch endlich verweiſt den

Richter auf die eigenthümliche Bedeutung der Worte des

Geſetzes in ihrem Zuſammenhang, und auf die klare Ab-

ſicht des Geſetzgebers. Fehlt ein Geſetz, ſo iſt zu entſchei-

den nach den Geſetzen für ähnliche Fälle, und nach den

Gründen verwandter Geſetze; reicht auch dieſes nicht aus,

nach den natürlichen Rechtsgrundſätzen. Das Römiſche

Verbot der Privatauslegung iſt hier in die unbedenkliche

Regel umgebildet, daß nur der Geſetzgeber ein Geſetz auf

eine allgemein verbindliche Art erklären könne (g).

 

Fragen wir endlich, was in unſrer Lage und für un-

ſer Bedürfniß räthlich ſey, ſo erſcheint es als unbedenk-

lich, jedem Richter die wahre Auslegung frey zu geben,

dasjenige aber, was nur aus Misverſtändniß für Ausle-

gung gehalten worden iſt, in der Regel zu verſagen. Da

jedoch im Einzelnen die Gränze zwiſchen reiner Auslegung

und eigentlicher Fortbildung des Rechts oft ſehr zweifel-

 

(f) Verordnung vom 14. Dec.

1833 § 17 (Geſetzſammlung 1833

S. 306).

(g) Öſterreich. Geſetzbuch Ein-

leit. § 6. 7. 8.

|0386 : 330|

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.

haft ſeyn kann (§ 37), ſo iſt es wünſchenswerth, daß ir-

gend eine hoch ſtehende Gewalt vorhanden ſey, in welcher

beide Befugniſſe vereinigt angetroffen werden, und deren

Thätigkeit daher durch die Zweifel über jene Gränze nicht

gehemmt ſeyn möge. Beſteht eine zur Fortbildung des

Rechts überhaupt angeordnete Behörde (§ 31), ſo iſt es

ohnehin unzweifelhaft, daß ſie ihren Beruf auch da zu

üben hat, wo das Daſeyn einer zweifelhaften Geſetzaus-

legung dazu die Aufforderung giebt. Allein auch wo eine

ſolche Behörde nicht beſteht, oder auch außer und neben

derſelben, könnte das Recht dieſer freyer waltenden Aus-

legung einem Gerichtshof unbedenklich anvertraut werden,

der überhaupt eine ähnliche Stellung wie der Franzöſiſche

Caſſationshof einnähme. Dieſer würde dann einen ähnli-

chen Einfluß ausüben, und für die Rechtspflege ähnliche

Vortheile darbieten, wie im alten Rom der Prätor und

die Juriſten, ſo daß ihm diejenige ausdehnende und ein-

ſchränkende Auslegung beſonders verliehen wäre, welche

oben als ein dem reinen Richteramt nicht zukommendes

Verfahren aus dem Gebiete wahrer Auslegung verwieſen

werden mußte.

|0387 : [331]|

Zweytes Buch.

Die Rechtsverhältniſſe.

Erſtes Kapitel.

Weſen und Arten der Rechtsverhältniſſe.

§. 52.

Weſen der Rechtsverhältniſſe.

Die allgemeine Natur der Rechtsverhältniſſe überhaupt,

und wie ſich dieſelben in Verhältniſſe des Staatsrechts

und des Privatrechts gliedern, iſt oben dargelegt worden

(§ 4. 9). Das Weſen der dem Privatrecht angehörenden

ſoll nunmehr weiter entwickelt werden; ſie allein liegen in

unſrer Aufgabe, und ſie werden daher von nun an als

Rechtsverhältniſſe ſchlechthin, ohne beſchränkenden Zuſatz,

von uns bezeichnet werden.

 

Der Menſch ſteht inmitten der äußeren Welt, und das

wichtigſte Element in dieſer ſeiner Umgebung iſt ihm die

Berührung mit denen, die ihm gleich ſind durch ihre Na-

tur und Beſtimmung. Sollen nun in ſolcher Berührung

freye Weſen neben einander beſtehen, ſich gegenſeitig för-

dernd, nicht hemmend, in ihrer Entwicklung, ſo iſt die-

ſes nur möglich durch Anerkennung einer unſichtbaren

Gränze, innerhalb welcher das Daſeyn, und die Wirk-

 

|0388 : 332|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

ſamkeit jedes Einzelnen einen ſichern, freyen Raum ge-

winne. Die Regel, wodurch jene Gränze und durch ſie

dieſer freye Raum beſtimmt wird, iſt das Recht. Damit

iſt zugleich die Verwandtſchaft und die Verſchiedenheit zwi-

ſchen Recht und Sittlichkeit gegeben. Das Recht dient

der Sittlichkeit, aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht,

ſondern indem es die freye Entfaltung ihrer, jedem ein-

zelnen Willen inwohnenden, Kraft ſichert. Sein Daſeyn

aber iſt ein ſelbſtſtändiges, und darum iſt es kein Wider-

ſpruch, wenn im einzelnen Fall die Möglichkeit unſittli-

cher Ausübung eines wirklich vorhandenen Rechts behaup-

tet wird.

Das Bedürfniß und das Daſeyn des Rechts iſt eine

Folge der Unvollkommenheit unſres Zuſtandes, aber nicht

einer zufälligen, hiſtoriſchen Unvollkommenheit, ſondern ei-

ner ſolchen, die mit der gegenwärtigen Stufe unſres Da-

ſeyns unzertrennlich verbunden iſt.

 

Viele aber gehen, um den Begriff des Rechts zu fin-

den, von dem entgegengeſetzten Standpunkt aus, von dem

Begriff des Unrechts. Unrecht iſt ihnen Störung der Frey-

heit durch fremde Freyheit, die der menſchlichen Entwick-

lung hinderlich iſt, und daher als ein Übel abgewehrt

werden muß. Die Abwehr dieſes Übels iſt ihnen das

Recht. Daſſelbe ſoll hervorgebracht werden, nach Eini-

gen, durch verſtändige Übereinkunft, indem Jeder ein Stück

ſeiner Freyheit aufgebe, um das Übrige ſicher zu retten;

oder, nach Anderen, durch eine äußere Zwangsanſtalt,

 

|0389 : 333|

§. 52. Weſen.

welche allein der natürlichen Neigung der Menſchen zu

gegenſeitiger Zerſtörung Einhalt thun könne. Indem ſie

auf dieſe Weiſe das Negative an die Spitze ſtellen, ver-

fahren ſie ſo, als ob wir vom Zuſtand der Krankheit

ausgehen wollten, um die Geſetze des Lebens zu erkennen.

Der Staat erſcheint ihnen als eine Nothwehr, die unter

Vorausſetzung einer verbreiteten gerechten Geſinnung als

überflüſſig verſchwinden könnte, anſtatt daß er hier nach

unſrer Anſicht nur um ſo herrlicher und kräftiger hervor-

treten würde.

Von dem nunmehr gewonnenen Standpunkt aus er-

ſcheint uns jedes einzelne Rechtsverhältniß als eine Bezie-

hung zwiſchen Perſon und Perſon, durch eine Rechtsregel

beſtimmt. Dieſe Beſtimmung durch eine Rechtsregel be-

ſteht aber darin, daß dem individuellen Willen ein Gebiet

angewieſen iſt, in welchem er unabhängig von jedem frem-

den Willen zu herrſchen hat.

 

Daher laſſen ſich in jedem Rechtsverhältniß zwey

Stücke unterſcheiden: erſtlich ein Stoff, das heißt jene Be-

ziehung an ſich, und zweytens die rechtliche Beſtimmung

dieſes Stoffs. Das erſte Stück können wir als das ma-

terielle Element der Rechtsverhältniſſe, oder als die bloße

Thatſache in denſelben bezeichnen: das zweyte als ihr

formelles Element, das heißt als dasjenige, wodurch die

thatſächliche Beziehung zur Rechtsform erhoben wird.

 

Allein nicht alle Beziehungen des Menſchen zum Men-

ſchen gehören dem Rechtsgebiet an, indem ſie einer ſol-

 

|0390 : 334|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

chen Beſtimmung durch Rechtsregeln empfänglich und be-

dürftig ſind. Es laſſen ſich in dieſer Hinſicht dreyerley

Fälle unterſcheiden. Menſchliche Verhältniſſe, die ganz,

andere die gar nicht, noch andere die nur theilweiſe dem

Rechtsgebiet angehören, oder durch Rechtsregeln beherrſcht

werden. Als Beyſpiel für die erſte Klaſſe kann das Ei-

genthum, für die zweyte die Freundſchaft, für die dritte

die Ehe gelten, da die Ehe zum Theil in das Rechtsge-

biet fällt, theilweiſe aber außer demſelben liegt.

§. 53.

Arten der Rechtsverhältniſſe.

Das Weſen des Rechtsverhältniſſes wurde beſtimmt

als ein Gebiet unabhängiger Herrſchaft des individuellen

Willens (§ 52). Wir haben alſo zunächſt die Gegen-

ſtände aufzuſuchen, worauf möglicherweiſe der Wille ein-

wirken, alſo ſeine Herrſchaft erſtrecken kann; daraus wird

eine Überſicht der verſchiedenen Arten möglicher Rechts-

verhältniſſe von ſelbſt folgen.

 

Der Wille kann einwirken erſtlich auf die eigene Per-

ſon, zweytens nach außen, alſo auf dasjenige, was wir

in Beziehung auf den Wollenden die äußere Welt nennen

müſſen; dieſes iſt der allgemeinſte Gegenſatz unter den

denkbaren Gegenſtänden jener Einwirkung. Die äußere

Welt aber beſteht theils aus der unfreyen Natur, theils

aus den dem Wollenden gleichartigen freyen Weſen, das

heißt aus fremden Perſonen. Und ſo erſcheinen uns, in

 

|0391 : 335|

§. 53. Arten.

blos logiſcher Betrachtung der aufgeworfenen Frage, drey

Hauptgegenſtände der Willensherrſchaft: die eigene Per-

ſon, die unfreye Natur, fremde Perſonen; hiernach wür-

den, wie es ſcheint, drey Hauptarten aller Rechtsverhält-

niſſe angenommen werden müſſen. Wir haben alſo zu-

nächſt jene Gegenſtände einzeln zu betrachten, und zwar

zuerſt die eigene Perſon, als Gegenſtand eines beſonderen

Rechtsverhältniſſes.

Hierüber nun iſt folgende Anſicht ſehr verbreitet. Der

Menſch, ſagt man, hat ein Recht auf ſich ſelbſt, welches

mit ſeiner Geburt nothwendig entſteht und nie aufhören

kann, ſo lange er lebt, eben daher auch das Urrecht

genannt wird; im Gegenſatz aller anderen Rechte, welche

erſt ſpäter und zufällig an den Menſchen heran kommen,

auch vergänglicher Natur ſind, und daher erworbene

Rechte genannt werden. Manche ſind in dieſer Anſicht

ſo weit gegangen, dem Menſchen ein Eigenthumsrecht an

ſeinen Geiſteskräften zuzuſchreiben, und daraus das was

man Denkfreyheit nennt abzuleiten; es iſt aber gar nicht

die Möglichkeit zu begreifen, wie ein Menſch den andern

am Denken hindern, oder umgekehrt in ihm denken, und

durch Jenes oder Dieſes einen Eingriff in das angegebene

Eigenthumsrecht verüben könnte. Begiebt man ſich aber

auch auf ein verſtändlicheres Gebiet, indem man jenes

Eigenthumsrecht auf die ſichtbare Erſcheinung der Perſon,

den menſchlichen Leib und deſſen einzelne Glieder, beſchränkt,

ſo hat dieſes zwar Sinn, als Ausſchließung einer hierin

 

|0392 : 336|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

allerdings möglichen Verletzung, aber es iſt darum nicht

minder unnütz, ja verwerflich, indem es unter andern in

conſequenter Entwicklung auf die Anerkennung eines Rechts

zum Selbſtmord führt. Das wahre Element aber in je-

ner irrigen Annahme eines auf die eigene Perſon gerich-

teten Urrechts iſt folgendes. Erſtlich kann und ſoll frey-

lich die rechtmäßige Macht des Menſchen über ſich ſelbſt

und ſeine Kräfte nicht bezweifelt werden; noch mehr, dieſe

Macht iſt ſogar die Grundlage und Vorausſetzung aller

wahren Rechte, indem z. B. Eigenthum und Obligationen

nur Bedeutung und Werth für uns haben als künſtliche

Erweiterung unſrer eigenen perſönlichen Kräfte, als neue

Organe, die unſerm Naturweſen künſtlich hinzugefügt wer-

den. Allein für jene Macht über uns ſelbſt bedarf es der

Anerkennung und Begränzung durch poſitives Recht nicht,

und das Ungehörige der hier dargeſtellten Auffaſſung be-

ſteht darin, daß jene natürliche Macht mit dieſen künſtli-

chen Erweiterungen derſelben in eben ſo überflüſſiger als

verwirrender Weiſe auf Eine Linie geſtellt und als gleich-

artig behandelt werden ſoll. — Zweytens iſt für viele ein-

zelne wirkliche Rechtsinſtitute der Ausgangspunkt allerdings

in der Sicherung jener natürlichen Macht des Menſchen

über ſich ſelbſt gegen fremde Einmiſchungen zu ſuchen.

Dahin gehört ein großer Theil des Criminalrechts; ferner

im Civilrecht die bedeutende Zahl von Rechten, welche

auf den Schutz gegen Ehrverletzung, gegen Betrug, und

gegen Gewalt abzwecken, unter andern alſo auch die poſ-

|0393 : 337|

§. 53. Arten.

ſeſſoriſchen Rechtsmittel. Von allen dieſen Rechten iſt die

Unverletzlichkeit der Perſon allerdings der letzte Grund;

dennoch ſind ſie nicht als reine Entwicklungen dieſer Un-

verletzlichkeit anzuſehen, vielmehr bilden ſie ganz poſitive

Rechtsinſtitute, deren beſonderer Inhalt von jener Unver-

letzlichkeit ſelbſt völlig verſchieden iſt. Will man ſie den-

noch als Rechte an der eigenen Perſon darſtellen, ſo wird

durch dieſe Bezeichnung ihre wahre Natur nur verdunkelt.

Nicht einmal die Zuſammenſtellung derjenigen Rechtsin-

ſtitute, die dieſen gemeinſamen Ausgangspunkt haben, kann

als fruchtbar und belehrend angeſehen werden: es iſt hin-

reichend, dieſe ihre Verwandtſchaft im Allgemeinen anzu-

erkennen (a).

(a) Donellus II. 8 § 2. 3

nimmt zweyerley nostrum an:

in persona cujusque und in re-

bus externis. Zu dem erſten

rechnet er Vier Stücke: vita, in-

columitas corporis, libertas,

existimatio. Die incolumitas

animi ſtehe nicht unter dem

Rechtsſchutz, weil ſie deſſen nicht

bedürfe. — Puchta Syſtem des

gem. Civilrechts München 1832

ſetzt als erſte Klaſſe aller Rechte

die an der eigenen Perſon, und

er rechnet dahin das Recht der

Perſönlichkeit und den Beſitz; un-

ter der Perſönlichkeit begreift er

die Rechtsfähigkeit und die Ehre.

Allein die Rechtsfähigkeit iſt Be-

dingung aller Rechte, des Eigen-

thums und der Obligationen nicht

minder als der Rechte erſter

Klaſſe, wenn man eine ſolche an-

nimmt, z. B. des Beſitzes; ſie iſt

alſo ein Element aller Rechte, und

kann keiner Klaſſe vorzugsweiſe

angehören. Das, was man nach

der allgemeinen Bezeichnung zu-

nächſt erwarten möchte, das Recht

über die eigenen Gliedmaaßen,

fehlt ganz, und außerdem fehlt

ſehr vieles Andere, was da ſeyn

müßte, wenn zwiſchen B. 3 und

B. 5. Kap. 5. N. VI. ein wahrer

Zuſammenhang ſichtbar werden

ſollte. Hieraus erhellt eben die

Willkührlichkeit in der Bildung

der erſten Klaſſe von Rechten,

welche nun faſt blos angenom-

men zu ſeyn ſcheint, um dem Be-

ſitz eine angemeſſene Stellung zu

verſchaffen. — Hegel Naturrecht

§ 70 und Zuſatz zu § 70 ſpricht

22

|0394 : 338|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

Scheiden wir demnach die ſogenannten Urrechte gänz-

lich aus, und erkennen wir die erworbenen Rechte als die

einzigen an, worauf unſre fernere Unterſuchung zu rich-

ten iſt, ſo bleiben uns nur noch zwey Gegenſtände mög-

licher Willensherrſchaft übrig: die unfreye Natur, und

fremde Perſonen.

 

Die unfreye Natur kann von uns beherrſcht werden

nicht als Ganzes, ſondern nur in beſtimmter räumlicher

Begränzung; ein ſo begränztes Stück derſelben nennen wir

Sache, und auf dieſe bezieht ſich daher die erſte Art

möglicher Rechte: das Recht an einer Sache, welches

in ſeiner reinſten und vollſtändigſten Geſtalt Eigen-

thum heiſt.

 

Nicht ſo einfach ſind diejenigen Rechtsverhältniſſe, de-

ren Gegenſtände fremde Perſonen ſind, da wir zu ſolchen

in zwey ganz ungleichartigen Beziehungen ſtehen können.

— Die erſte mögliche Beziehung zu einer fremden Perſon

iſt die, worin dieſelbe, auf ähnliche Weiſe wie eine Sache,

in das Gebiet unſrer Willkühr herein gezogen, alſo unſrer

Herrſchaft unterworfen wird. Wäre nun dieſe Herrſchaft

eine abſolute, ſo würde dadurch in dem Andern der Be-

griff der Freyheit und Perſönlichkeit aufgehoben; wir wür-

den nicht über eine Perſon herrſchen, ſondern über eine

Sache, unſer Recht wäre Eigenthum an einem Menſchen,

 

ſich gegen dieſes Recht auf die

eigene Perſon aus, und macht

namentlich die ſonſt unvermeid-

liche Annahme eines Rechts zum

Selbſtmord geltend.

|0395 : 339|

§. 53. Arten.

ſo wie es das Römiſche Sklavenverhältniß in der That

iſt. Soll dieſes nicht ſeyn, wollen wir uns vielmehr ein

beſonderes Rechtsverhältniß denken, welches in der Herr-

ſchaft über eine fremde Perſon, ohne Zerſtörung ihrer

Freyheit, beſteht, ſo daß es dem Eigenthum ähnlich, und

doch von ihm verſchieden iſt, ſo muß die Herrſchaft nicht

auf die fremde Perſon im Ganzen, ſondern nur auf eine

einzelne Handlung derſelben bezogen werden; dieſe Hand-

lung wird dann, als aus der Freyheit des Handelnden

ausgeſchieden, und unſerm Willen unterworfen gedacht.

Ein ſolches Verhältniß der Herrſchaft über eine einzelne

Handlung der fremden Perſon nennen wir Obligation.

Dieſe hat mit dem Eigenthum nicht blos darin eine ähn-

liche Natur, daß in beiden eine erweiterte Herrſchaft un-

ſers Willens über ein Stück der äußeren Welt enthalten

iſt, ſondern ſie hat zu demſelben auch noch ſpeciellere Be-

ziehungen: erſtlich durch die mögliche Schätzung der Obli-

gationen in Geld, welche nichts Anderes iſt, als Ver-

wandlung in Geldeigenthum; zweytens dadurch, daß die

meiſten und wichtigſten Obligationen keinen anderen Zweck

haben, als zum Erwerb von Eigenthum, oder zum vor-

übergehenden Genuß deſſelben, zu führen. — Durch beide

Arten der Rechte alſo, das Eigenthum wie die Obliga-

tionen, wird die Macht der berechtigten Perſon nach au-

ßen, über die natürlichen Gränzen ihres Weſens hin, er-

weitert. Die Geſammtheit der Verhältniſſe nun, welche

auf dieſe Weiſe die Macht eines Einzelnen erweitern, nen-

22*

|0396 : 340|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

nen wir das Vermögen deſſelben, und die Geſammtheit

der darauf bezüglichen Rechtsinſtitute das Vermögens-

recht (b).

In der bisher betrachteten Beziehung der Perſon zu

einer fremden Perſon wurde jede derſelben aufgefaßt als

ein in ſich abgeſchloſſenes Ganze, ſo daß jede, in ihrer

abſtracten Perſönlichkeit, der anderen, als einem völlig

fremden (wiewohl gleichartigen) Weſen gegenüber ſtand.

Ganz verſchieden davon iſt die zweyte mögliche Beziehung

zu fremden Perſonen, die nunmehr dargeſtellt werden ſoll.

Hier betrachten wir den einzelnen Menſchen nicht als ein

für ſich beſtehendes Weſen, ſondern als Glied des orga-

niſchen Ganzen der geſammten Menſchheit. Indem nun

ſein Zuſammenhang mit dieſem großen Ganzen ſtets durch

beſtimmte Individuen vermittelt iſt, ſo iſt ſeine Beziehung

zu dieſen Individuen die Grundlage einer neuen, ganz ei-

genthümlichen Art von Rechtsverhältniſſen. In dieſen er-

ſcheint uns der Einzelne nicht, ſo wie in den Obligationen,

als ein ſelbſtſtaͤndiges Ganze, ſondern als ein unvollſtän-

diges, der Ergänzung in einem großen Naturzuſammen-

hang bedürftiges Weſen. Dieſe Unvollſtändigkeit des Ein-

 

(b) Die deutſche Bezeichnung

des angegebenen Rechtsbegriffs iſt

die treffendſte, die dafür gefunden

werden konnte. Denn es wird

dadurch unmittelbar das Weſen

der Sache ausgedrückt, die durch

das Daſeyn jener Rechte uns zu-

wachſende Macht, das was wir

durch ſie auszurichten im Stande

ſind oder vermögen. Weniger

das Weſen treffend iſt der Rö-

miſche Ausdruck bona, der in die

neueren romaniſchen Sprachen

übergegangen iſt, und der zu-

nächſt einen Nebenbegriff bezeich-

net, nämlich das durch jene Macht

begründete Wohlſeyn, oder die

Beglückung, die ſie uns gewährt.

|0397 : 341|

§. 53. Arten.

zelnen, ſo wie die darauf bezügliche Ergänzung, zeigt ſich

in zwey verſchiedenen Richtungen. Erſtlich in der Tren-

nung der Geſchlechter, deren jedes, einzeln für ſich be-

trachtet, die menſchliche Natur nur unvollſtändig in ſich

enthält; hierauf bezieht ſich die Ergänzung der Individuen

durch die Ehe (c). — Zweytens in dem zeitlich beſchränk-

ten Daſeyn des einzelnen Menſchen, welches wiederum

auf verſchiedene Weiſe zu dem Bedürfniß und der Aner-

kennung von ergänzenden Rechtsverhältniſſen führt. Zu-

nächſt, und am unmittelbarſten, durch das vergängliche

Leben des Einzelnen; hier liegt die Ergänzung in der

Fortpflanzung, wodurch nicht blos für die Gattung, ſon-

dern auf beſchränktere Weiſe auch für die Individualität,

eine ſtete Fortdauer vermittelt wird. Dann aber durch die

Einrichtung der menſchlichen Natur, nach welcher der Ein-

zelne im Anfang ſeines Lebens die Macht über ſich ſelbſt

völlig entbehrt, und erſt ganz allmälig erlangt; hier liegt

die Ergänzung in der Erziehung. Das Inſtitut des Rö-

miſchen Rechts, worin dieſe zwiefache Ergänzung ihre ge-

meinſchaftliche Anerkennung und Ausbildung findet, iſt die

väterliche Gewalt; an dieſe aber ſchließt ſich, theils

in weiterer Entwicklung, theils in blos natürlicher, oder

minder juriſtiſcher, Analogie die Verwandtſchaft an (d).

(c) Dieſe Anſicht drückt Fichte

Sittenlehre S. 449 etwas ener-

giſch alſo aus: „Es iſt die abſo-

lute Beſtimmung eines jeden In-

dividuum beider Geſchlechter, ſich

zu verehlichen .... Die unver-

heirathete Perſon iſt nur zur

Hälfte ein Menſch.“

(d) Als weitere Entwicklung

nämlich in der Agnation, die nur

das residuum einer früher vor-

handenen väterlichen Gewalt mit

|0398 : 342|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

— Die Geſammtheit aller dieſer ergänzenden Verhältniſſe

nun — Ehe, väterliche Gewalt, Verwandtſchaft — nen-

nen wir die Familie, und die hierauf bezüglichen Rechts-

inſtitute das Familienrecht (e).

Da das Familienverhältniß, eben ſo wie die Obliga-

tion, ein Verhältniß zu beſtimmten Individuen iſt, ſo liegt

es ſehr nahe, dieſe beiden Verhältniſſe entweder zu iden-

tificiren, das heißt die Familie unter die Obligationen zu

rechnen, oder doch beide als näher verwandt dem Eigen-

thum, welches eine ſolche individuelle Beziehung nicht in

 

ſtetiger Fortbildung iſt; als na-

türliche Analogie die Cognation,

in welcher das jus gentium die

auf der Abſtammung beruhende

Gemeinſchaft der Individuen an-

erkennt, wie das jus civile in

der Agnation.

(e) Es muß dabey ausdrück-

lich bemerkt werden, daß dieſe

Bezeichnung nicht aus dem Rö-

miſchen Recht hergenommen iſt.

Bey den Römern hat der Aus-

druck familia verſchiedene Bedeu-

tungen; die wichtigſte und am

meiſten techniſche iſt die, worin

es die Geſammtheit der Agnaten

bezeichnet, alſo nur einen Theil

der Verhältniſſe, die ich darun-

ter begreife. Wenn aber auch

nicht der hier gewählte Ausdruck

im Römiſchen Rechte begründet

iſt, ſo iſt doch die Zuſammenſtel-

lung der dadurch bezeichneten Ver-

hältniſſe, ſo wie der Grund die-

ſer Zuſammenſtellung, dem Sinn

der Römiſchen Juriſten völlig an-

gemeſſen. Es iſt nämlich genau

dasjenige, was ſie als jus natu-

rale bezeichnen. Ulpian ſagt

darüber in L. 1 § 3 de J. et J.

„Jus naturale est quod natura

omnia animalia docuit .... Hinc

descendit maris atque foeminae

conjunctio, quam nos matrimo-

nium appellamus: hinc libero-

rum procreatio, hinc educa-

tio.” (Vgl. Beylage I.). Daß die

alten Juriſten aus hiſtoriſchen

Gründen, in ihrer Abhandlung

der Rechtsinſtitute ſelbſt, andere

Geſichtspunkte ſichtbarer hervor-

treten ließen, wie wir es bey

Gajus ſehen, ſteht mit ihrer An-

erkennung jenes allgemeinen, na-

türlichen Zuſammenhangs gar

nicht im Widerſpruch. — Mit dem

heutigen Sprachgebrauch ſtimmt

die von mir gewählte Bezeichnung

gewiß überein, ſo wie auch zu

unſerm heutigen Rechtszuſtand

jene Zuſammenſtellung einzig und

allein paßt.

|0399 : 343|

§. 53. Arten.

ſich ſchließt, entgegen zu ſetzen. Dieſe Betrachtungsweiſe

findet ſich daher auch bey Vielen, wenngleich oft nicht in

ihrer vollen Ausdehnung, oder nicht mit klarem Bewußt-

ſeyn. Sie iſt aber durchaus zu verwerfen, und es iſt für

die richtige Einſicht in das Weſen der Familie von Wich-

tigkeit, daß ſie als irrig aufgegeben werden. Es ſollen

daher gleich hier diejenigen weſentlichen Verſchiedenheiten

angegeben werden, die auf dem bisher gewonnenen Stand-

punkt klar gemacht werden können; mit dem Vorbehalt,

das eigenthümliche, völlig unterſcheidende, Weſen der Fa-

milie weiter unten (§ 54) noch beſtimmter zur Anſchauung

zu bringen. Die Obligation hat zum Gegenſtand eine ein-

zelne Handlung, das Familienverhältniß die Perſon als

Ganzes, inſofern ſie ein Glied in dem organiſchen Zuſam-

menhang der geſammten Menſchheit iſt. Der Stoff der

Obligationen iſt willkührlicher Natur, indem bald dieſe

bald jene Handlung zum Inhalt einer Obligation gemacht

werden kann; der Stoff der Familienverhältniſſe iſt durch

die organiſche Natur des Menſchen beſtimmt, trägt alſo

den Character der Nothwendigkeit in ſich. Die Obliga-

tion iſt in der Regel vorübergehender Natur, das Fami-

lienverhältniß iſt zu einem fortdauernden Daſeyn beſtimmt.

Daher bilden ſich die einzelnen Familienverhältniſſe, wo

ſie vollſtändig erſcheinen, in zuſammengeſetzte Geſellſchaf-

ten aus, die eben den Geſammtnamen der Familien füh-

ren. In den Familien nun ſind die Keime des Staats

|0400 : 344|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

enthalten, und der ausgebildete Staat hat die Familien,

nicht die Individuen unmittelbar zu Beſtandtheilen.

Hiernach ſchließt ſich in der That die Obligation in

näherer Verwandtſchaft an das Eigenthum an, indem das

dieſe beyden Verhältniſſe umfaſſende Vermögen eine Er-

weiterung der individuellen Macht über ihre natürliche

Gränze bildet, anſtatt daß das Familienverhältniß zur Er-

gänzung des an ſich unvollſtändigen Selbſt beſtimmt iſt.

Das Familienrecht liegt daher näher als das Vermögens-

recht den ſogenannten Urrechten, und wie dieſe oben von

dem Gebiet des poſitiven Rechts gänzlich ausgeſchloſſen

worden ſind, ſo muß von der Familie behauptet werden,

daß ſie nur theilweiſe dem Rechtsgebiet angehört, anſtatt

daß das Vermögen ganz und ausſchließend in daſſelbe fällt.

 

Blicken wir nun zurück auf den Punkt, wovon dieſe

unſre Unterſuchung ausgieng, ſo finden wir drey Gegen-

ſtände, auf welche eine Herrſchaft unſers Willens denkbar

iſt, und, dieſen Gegenſtänden entſprechend, drey concen-

triſche Kreiſe, worin unſer Wille herrſchen kann:

 

1) Das urſprüngliche Selbſt. Ihm entſpricht das ſo-

genannte Urrecht, welches wir gar nicht als eigentliches

Recht behandeln.

 

2) Das in der Familie erweiterte Selbſt. Die hierin

mögliche Herrſchaft unſres Willens gehört nur theilweiſe

dem Rechtsgebiet an, und bildet hier das Familienrecht.

 

3) Die äußere Welt. Die Herrſchaft des Willens,

die ſich hierauf bezieht, fällt ganz in das Rechtsgebiet,

 

|0401 : 345|

§. 54. Familienrecht.

und bildet das Vermögensrecht, welches wieder in das

Sachenrecht und das Obligationenrecht zerfällt.

Hieraus ergeben ſich drey Hauptklaſſen der Rechte,

die wir von dieſem Standpunkt der Unterſuchung aus an-

zunehmen haben:

 

Familienrecht,

Sachenrecht,

Obligationenrecht.

Allein ſo abgeſondert beſtehen dieſe Klaſſen der Rechte

nur in unſrer Abſtraction, in der Wirklichkeit dagegen er-

ſcheinen ſie auf die mannichfaltigſte Weiſe verbunden, und

in dieſer ſteten Berührung ſind gegenſeitige Einwirkungen

und Modificationen unausbleiblich. Indem wir nunmehr

die einzelnen Rechtsinſtitute der angegebenen drey Klaſſen

näher zu betrachten haben, müſſen zugleich dieſe Modifi-

cationen berückſichtigt werden, ſo wie überhaupt die be-

ſondere Entwicklung, die jene Inſtitute in unſerm poſiti-

ven Recht erhalten haben.

 

§. 54.

Familienrecht.

Das Weſen der Familie, die nunmehr genauer betrach-

tet werden ſoll, iſt bereits angegeben worden (§ 53); ihre

Beſtandtheile waren die Ehe, die väterliche Gewalt, und

die Verwandtſchaft. Der Stoff eines jeden dieſer Ver-

hältniſſe iſt ein Naturverhältniß, welches als ſolches ſo-

gar über die Gränzen der menſchlichen Natur hinaus

 

|0402 : 346|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

reicht (jus naturale). Daher muß ihnen, ihrem allgemei-

nen Daſeyn nach, eine von dem poſitiven Recht unab-

hängige Nothwendigkeit zugeſchrieben werden, wenngleich

die beſondere Geſtalt, worin ſie zur Anerkennung kommen,

je nach dem poſitiven Recht verſchiedener Völker ſehr man-

nichfaltig iſt (a). Dieſes Naturverhältniß iſt aber für den

Menſchen nothwendig zugleich ein ſittliches Verhältniß;

und indem endlich noch die Rechtsform hinzutritt, erhält

die Familie drey unzertrennlich vereinigte Geſtalten, die

(a) So z. B. iſt alſo das Da-

ſeyn der Monogamie ein poſiti-

ves Rechtsinſtitut, während wir

der Ehe überhaupt (in welcher

Geſtalt ſie vorkommen möge) eine

allgemeine Nothwendigkeit zu-

ſchreiben; damit ſoll nun aber

nicht geſagt werden, daß zwiſchen

Polygamie und Monogamie eine

durch zufällige Umſtände beſtimmte

Wahl eintrete; vielmehr iſt jene

als eine niedere Stufe in der ſitt-

lichen Entwicklung der Völker zu

betrachten. — Allerdings wird nun

auch die Nothwendigkeit der Ehe

überhaupt (nicht blos der Mono-

gamie) beſtritten, z. B. von Hugo

Naturrecht § 210—214. Und in

der That kann von dem abſtrahi-

renden Verſtand das Weſen der-

ſelben zerſetzt, und durch freye

Phantaſie irgend ein anderer Zu-

ſtand an ihrer Stelle erdichtet

werden, z. B. eine regelloſe Ge-

ſchlechtsliebe, oder Fortpflanzung

als Staatsanſtalt. Aber der ge-

ſunde Lebensſinn aller Völker,

wie aller Zeiten und Bildungs-

ſtufen, würde unſre Behauptung

beſtätigen, ſelbſt wenn ſie nicht in

der chriſtlichen Lebensanſicht ihre

höchſte Bewährung gefunden hätte.

— Eben ſo gehört zu der poſiti-

ven Ausbildung der Familienin-

ſtitute die künſtliche Art, wodurch

ſie zuweilen entſtehen, z. B. die

väterliche Gewalt durch Adoption.

— Ferner hat das Verbot der

Ehe unter den nächſten Verwand-

ten ſeine Wurzel in dem ſittlichen

Gefühl aller Zeiten: aber der

Grad der Ausdehnung dieſes Ver-

bots iſt ganz poſitiver Natur. —

Es muß indeſſen noch hinzuge-

fügt werden, daß auch die poſi-

tive Geſtalt, worin dieſe Ver-

hältniſſe in einem einzelnen po-

ſitiven Recht auftreten, in die-

ſem Recht den abſoluten Charak-

ter an ſich trägt (§ 16), weil ſie

durch die ſittliche Lebensanſicht

eben dieſes Volks beſtimmt wird.

|0403 : 347|

§. 54. Familienrecht.

natürliche, ſittliche, und rechtliche (b). Hieraus folgt, daß

die Familienverhältniſſe nur zum Theil eine juriſtiſche Na-

tur an ſich tragen (§ 53); ja wir müſſen hinzu ſetzen,

daß die juriſtiſche Seite ihres Weſens gerade die gerin-

gere iſt, indem die wichtigere einem ganz anderen Gebiete

als dem des Rechts angehört.

Indem aber hier der Familie, außer dem rechtlichen

und ſittlichen Element, auch noch ein natürliches zuge-

ſchrieben wird, darf dieſes nicht ſo verſtanden werden,

als ob dieſes letzte mit jenem auf gleicher Linie ſtände,

und zu einer ſelbſtſtändigen Herrſchaft gelangen dürfte.

In dem Thier herrſcht der einem allgemeinen Naturzweck

dienende Trieb. Dieſer Trieb und jener Naturzweck fin-

det ſich in dem Menſchen völlig ſo wie in dem Thier; in

dem Menſchen aber ſteht über dem Naturtrieb das höhere

ſittliche Geſetz, welches alle Theile ſeines Weſens, alſo

auch dieſen Trieb, durchdringen und beherrſchen ſoll, wo-

durch das Natürliche in dem Menſchen nicht vernichtet

oder geſchwächt, ſondern zur Theilnahme an dem höheren

Element des menſchlichen Weſens empor gehoben wird. —

Hierin hat Kant gefehlt, welcher in der Ehe den blos

natürlichen Beſtandtheil (den Geſchlechtstrieb) zum Ge-

genſtand eines obligatoriſchen Rechtsverhältniſſes machen

 

(b) Dieſe dreyfache Natur der

Familienverhältniſſe iſt in An-

wendung auf die Ehe ſehr be-

ſtimmt ausgeſprochen von He-

gel Naturrecht § 161. Sehr

ſchön ſagt er von der Ehe, „daß

ſie die rechtlich ſittliche Liebe iſt.“

Nur der Ausdruck iſt noch dahin

zu ergänzen: rechtlich ſittliche Ge-

ſchlechtsliebe — was ohnehin in

dem Gedanken des Verfaſſers

unzweifelhaft liegt.

|0404 : 348|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

wollte, wodurch das Weſen derſelben gänzlich verkannt

und herabgewürdigt werden mußte (c).

Fragen wir nun nach dem eigentlichen Inhalt der zur

Familie gehörenden Rechtsverhältniſſe, ſo ſcheint derſelbe

zu liegen in dem Recht, welches wir gegen die andere

unſerm Willen unterworfene Perſon haben, nur daß dieſe

Unterwerfung nicht als eine totale, ſondern als eine be-

ſchränkte, lediglich die Familienbeziehung afficirende, ge-

dacht werden müßte (d). Und dieſe Annahme ſcheint ihre

Beſtätigung zu finden in den beſonderen Beſtimmungen des

Römiſchen Familienrechts, welches größtentheils auf ſtrenge

Herrſchaft des Hausvaters über die anderen Glieder der

Familie gegründet iſt. Dennoch müſſen wir dieſelbe, ge-

rade auch von dem Standpunkt des Römiſchen Rechts

aus, gänzlich verwerfen. Allerdings hat hier der Vater

unbedingte Herrſchaft über den Sohn, eine Herrſchaft die

für die älteſte Zeit von dem wahren Eigenthum kaum zu

unterſcheiden ſeyn dürfte. Allein dieſe Herrſchaft iſt nicht

der eigentliche Inhalt des Rechtsverhältniſſes. Sie iſt

der natürliche Character der väterlichen Gewalt, worin

ſich der Vater durch eigene Macht behauptet wie in der

Herrſchaft über den Sklaven oder über ſein Haus oder

ſein Pferd. Nirgend iſt von einer juriſtiſchen Verpflich-

tung des Sohnes zum Gehorſam die Rede, nirgend von

einer Klage des Vaters gegen den ungehorſamen Sohn,

 

(c) Vgl. hierüber unten § 141. d.

(d) So wird es in der That

aufgefaßt von Puchta, rhein.

Muſeum B. 3 S. 301. 302.

|0405 : 349|

§. 54. Familienrecht.

ſo wenig als gegen den ungehorſamen Sklaven. Nur erſt

wenn fremde Perſonen Eingriffe thun in die Herrſchaft

des Hausvaters, werden Klagen gegen dieſe gegeben.

Noch anſchaulicher aber wird unſre Behauptung bey der

freyen Ehe. In dieſer iſt von ſtrenger Herrſchaft und

Gehorſam gar nicht die Rede, und doch kennt das Rö-

miſche Recht auch keine einzelnen Rechtsanſprüche eines

Ehegatten gegen den andern, keine Klagen zum Schutz

ſolcher einzelnen Rechte für den Fall der Verweigerung.

Demnach iſt es nicht die partielle Unterwerfung einer

Perſon unter den Willen der andern, was den juriſtiſchen

Character der Familienverhältniſſe, alſo den eigentlichen

Inhalt dieſer Klaſſe von Rechtsverhältniſſen bildet. Auch

iſt nur, wenn man dieſe, an ſich ſo ſcheinbare, Anſicht

aufgiebt, eine ſcharfe Unterſcheidung der Familienverhält-

niſſe von den Obligationen möglich, indem die Vertheidi-

ger dieſer Anſicht unvermeidlich die Natur der Obligatio-

nen in die Familie hineintragen, ſo ſehr ſie ſich auch in

Worten dagegen verwahren mögen.

Was bleibt uns nun aber übrig als wahrer Inhalt

der zur Familie gehörenden Rechtsverhältniſſe? Wir be-

trachteten ſie zuerſt als Ergänzungen der für ſich unvoll-

ſtändigen Individualität (§ 53). Daher liegt das eigent-

liche Weſen derſelben in der Stellung, welche der Ein-

zelne in dieſen Verhältniſſen einnimmt, darin, daß er nicht

blos Menſch überhaupt, ſondern auch noch insbeſondere

Ehegatte, Vater, Sohn iſt, alſo in einer feſt beſtimmten,

 

|0406 : 350|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

von der individuellen Willkühr unabhängigen, in einem

großen Naturzuſammenhang begründeten Lebensform (e).

Es wird alſo hier keinesweges geläugnet, daß zum

Weſen der Ehe Treue und Hingebung, ſo wie zur väter-

lichen Gewalt Gehorſam und Ehrfurcht gehöre; allein

dieſe an ſich wichtigſten Elemente jener Verhältniſſe ſtehen

unter dem Schutz der Sitte, nicht des Rechts, gerade ſo

wie der edle und menſchliche Gebrauch, den der Hausva-

ter von ſeiner Familiengewalt machen ſoll, auch nur der

Sitte überlaſſen bleiben kann, für welchen letzten Fall die

irrige Auffaſſung, als ob es eine Rechtsregel wäre, nur

zufällig weniger möglich iſt. Daher werden wir von dem

Zuſtand des Familienverhältniſſes in einer Nation nur

eine ſehr unſichere Kenntniß haben, wenn wir lediglich

auf die in ihr geltende Rechtsregel ſehen, ohne die er-

gänzende Sitte zu berückſichtigen. Nicht ſelten haben

neuere Schriftſteller, welche dieſen Zuſammenhang über-

ſahen, einen grundloſen Tadel über das Römiſche Fami-

lienrecht, als über eine herzloſe Tyranney, ausgeſpro-

chen (f). Sie haben nicht erwogen, daß in keinem Volk

des Alterthums die Hausfrauen ſo hoch geehrt waren als

 

(e) Es gehören alſo die Fami-

lienverhältniſſe vorzugsweiſe dem

jus publicum, d. h. dem abſolu-

ten Rechte (§ 16) an. Vgl. oben

Note a. — Darum heißt auch jedes

Familienverhältniß eines Men-

ſchen vorzugsweiſe ein status deſ-

ſelben, das heißt ſeine Stellung

oder ſein Daſeyn im Verhältniß

zu beſtimmten anderen Menſchen.

Vgl. § 59 und Beylage VI.

(f) So Hegel Naturrecht § 175

„das Sklavenverhältniß der rö-

miſchen Kinder iſt eine der dieſe

Geſetzgebung befleckendſten Inſti-

tutionen, und dieſe Kränkung der

Sittlichkeit in ihrem innerſten und

zarteſten Leben iſt eins der wich-

|0407 : 351|

§. 54, Familienrecht.

in Rom (g), und daß eine wirklich knechtiſche, herabwür-

digende Behandlung der Söhne undenkbar war neben ei-

nem Staatsrecht, welches denſelben den Genuß aller politi-

ſchen Rechte, und ſelbſt die Fähigkeit zu den höchſten Ma-

giſtraturen, unbeſchadet der väterlichen Gewalt einräumte.

tigſten Momente, den weltge-

ſchichtlichen Charakter der Römer

und ihre Richtung auf den Rechts-

Formalismus zu verſtehen.“ Bey

ihm iſt das Misverſtändniß um

ſo unbegreiflicher, als er § 161

in der Ehe das nothwendige Zu-

ſammenwirken ſittlicher und recht-

licher Elemente ſehr wohl aner-

kennt, woraus von ſelbſt folgt,

daß bey jedem Volk das Ehe-

recht nur ein unvollſtändiges Bild

der Ehe ſelbſt giebt. Warum ſoll

denn aber nicht daſſelbe für die

väterliche Gewalt gelten? — Noch

weiter führt dieſen Irrthum Adam

H. Müller Elemente der Staats-

kunſt Th. 2 S. 59 — 65. Er

ſpricht von einer „väterlichen und

ehemännlichen Gewalt, ſo wie

ſie in unſern Geſetzbüchern nach

Römiſchem Zuſchnitt verordnet

wird,“ und vermißt deshalb in

den Römiſchen (und unſern) Fa-

milienverhältniſſen alle Gegenſei-

tigkeit. Nach ihm möchte man

glauben, wir ſchlöſſen noch unſre

Ehen durch Confarreation, da

doch ſchon in früher Zeit bey den

Römern die freye Ehe (ohne die

geringſte Spur von Gewalt) die

häufigſte war, und da dieſe allein

mit dem Römiſchen Recht zu uns

herüber gekommen iſt. Ferner

möchte man nach ihm glauben,

als ſpielten blos die Römiſchen

Geſetze eine traurige Rolle, „wenn

ſie ein unſichtbarer Geiſt der Liebe

oder des Zutrauens nicht ergän-

zen oder ſtützen will“ (S. 59).

Als ob je ein Geſetz in der Welt

dieſen unſichtbaren Geiſt entbehr-

lich gemacht oder hervorgebracht

hätte! Was alſo dieſer Schrift-

ſteller als eine Schwäche der Rö-

miſchen Geſetze mit Verachtung

darſtellt, iſt vielmehr eine Ein-

richtung, die Gott der menſchli-

chen Natur im Allgemeinen zu

geben gut gefunden hat.

(g) Dahin gehört auch die ſchöne

Beſchreibung des Familienlebens

früherer Zeiten bey Columella

de re rust. Lib. 12 praef. § 7. 8:

„Erat enim summa reverentia

cum concordia et diligentia mix-

ta .., Nihil conspiciebatur in

domo dividuum, nihil quod aut

maritus aut foemina proprium

esse juris sui diceret, sed in com-

mune conspicabatur ab utro-

que.” Und gerade in der guten

alten Zeit, die er ſchildert, kam

noch die in manum conventio,

alſo die ſtrenge Gewalt des Ehe-

mannes, häufiger vor, als in ſpä-

terer Zeit, worin ſie immer ſel-

tener wurde.

|0408 : 352|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

Dieſe allgemeine Characteriſtik des Familienrechts wird

nun noch anſchaulicher werden durch die Angabe des wah-

ren juriſtiſchen Inhalts ſeiner einzelnen Inſtitute. Er be-

ſteht bey jedem derſelben in den Bedingungen ſeines Da-

ſeyns und ſeiner Anerkennung, wozu folgende einzelne

Stücke gehören: die Vorausſetzungen der Möglichkeit ei-

nes ſolches Rechtsverhältniſſes, die Entſtehungsarten deſ-

ſelben, und die Gründe ſeiner Auflöſung. So bey der

Ehe, der väterlichen Gewalt, der Verwandtſchaft. Auch

beſchränkt ſich hierauf der juriſtiſche Inhalt, inſoweit er

dieſe Rechtsverhältniſſe für ſich ſelbſt betrifft. Es tritt

aber noch bey jedem hinzu der wichtige Einfluß, den daſ-

ſelbe außer ſeinen eigenen Gränzen auf andere Rechtsver-

hältniſſe ausübt; dieſer ſoll nunmehr für jedes der drey

Rechtsverhältniſſe beſonders angegeben werden.

 

Die Ehe hat folgende Wirkungen auf andere Rechts-

verhältniſſe:

 

1) Die Entſtehung der vaͤterlichen Gewalt über die in

der Ehe erzeugten Kinder. Dieſes iſt nämlich wiederum

ein ſelbſtſtändiges Familienverhältniß, worin durchaus keine

neue Beſtimmung für das wechſelſeitige Verhältniß der

Ehegatten ſelbſt enthalten iſt.

 

2) Schutz gegen Verletzung ihrer ſittlichen Würde durch

Anſtalten des Criminalrechts.

 

3) Mannichfaltige Beſtimmungen im Vermögensrecht,

als: dos, donatio propter nuptias u. ſ. w. Die meiſten

und wichtigſten dieſer Inſtitute ſind nicht unmittelbare und

 

|0409 : 353|

§. 54. Familienrecht.

nothwendige Folgen der Ehe ſelbſt, ſondern Folgen will-

kührlicher Handlungen, deren Möglichkeit aber durch das

Daſeyn der Ehe bedingt iſt.

Die väterliche Gewalt äußert ihren Einfluß auf

das Vermögen in folgender Weiſe. Das Kind iſt unfähig

für ſich ſelbſt Vermögen zu erwerben, alſo auch ſolches

zu haben; es iſt dagegen fähig, dem Vater zu erwerben,

ja dieſer Erwerb folgt nothwendig aus den Handlungen

des Kindes. Dieſe ſowohl mögliche als nothwendige Re-

präſentation des Vaters durch die erwerbenden Handlun-

gen des Kindes wird als Perſoneneinheit unter beyden

bezeichnet. Sie wird aber auf mancherley Weiſe einge-

ſchränkt durch die (zum Theil fälſchlich ſo genannten) Pe-

culien. — Vergleicht man dieſen vielfachen Einfluß der

väterlichen Gewalt mit den Naturverhältniſſen, welche

oben als Grundlage der Familie angegeben worden ſind,

ſo ergiebt ſich Folgendes. Das Erziehungsbedürfniß fin-

det ſeine Befriedigung allerdings in der väterlichen Ge-

walt, aber nicht eigentlich in der rechtlichen Seite derſel-

ben, ſondern in der rechtlich unbeſtimmten Macht, die der

Vater ohnehin über das Kind, auch ohne Rückſicht auf

deſſen Alter, hat. Alles Übrige aber, alſo gerade die

oben bemerkte rein juriſtiſche Einwirkung auf das Vermö-

gen, hat mit der Erziehung gar keinen Zuſammenhang.

Hierin zeigt ſich vielmehr unverkennbar die Anſicht, nach

welcher der Sohn die Perſönlichkeit des Vaters in ſich

aufnimmt und über des Vaters Leben hinaus fortführt,

 

23

|0410 : 354|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

um ſie dann auf die eigenen Kinder zu übertragen und in

ihnen weiter fortzuſetzen. Dieſe Anſicht zeigt ſich deutlich

in der Repräſentation des Vaters durch die Erwerbun-

gen des Kindes, ſo wie in der eigenthümlichen Art, wie

der Suus die väterliche Erbſchaft erwirbt. Sie zeigt ſich

auch in der Vermögensunfähigkeit des Kindes, wobey ohne

Zweifel die Anſicht zum Grunde liegt, daß dem Kinde ei-

genes Vermögen entbehrlich iſt, weil des Vaters Vermö-

gen faktiſch auch zugleich das ſeinige iſt (h). Daneben iſt

es durch dieſe Unfähigkeit von ſelbſt einleuchtend, warum

es nicht nöthig war, das Vermögen des in väterlicher Ge-

walt ſtehenden Kindes für die Jahre der Unmündigkeit be-

ſonders zu ſchützen; dieſe Bemerkung aber iſt hier nöthig,

weil in ihr der Ausgangspunkt liegt, aus welchem die

Tutel als ein künſtliches Surrogat hervorgeht (§ 55).

Die Verwandtſchaft endlich iſt das unbeſtimmteſte

unter jenen drey Verhältniſſen, ſchon deshalb weil es in

ſo verſchiedenen Abſtufungen erſcheint, und ſich zuletzt un-

merklich verliert. Ja es wird gewöhnlich nicht als ein

eigenes Familienverhältniß anerkannt, weil man den Cha-

racter eines ſolchen in gegenſeitige Rechtsanſprüche zu

 

(h) Ich ſage, es iſt faktiſch

zugleich das ſeinige, indem das

Kind bey einem natürlichen Zu-

ſtand des Familienlebens die Vor-

theile des Vermögens mit genießt.

Daneben beſteht ſehr wohl die

nur wenig beſchränkte rechtliche

Macht des Vaters, dem Kinde

jene Vortheile in der Gegenwart

zu verſagen, und für die Zukunft

zu entziehen. Es iſt alſo ein ähn-

liches Verhältniß wie bey der dos,

die juriſtiſch dem Manne gehört,

faktiſch der Frau; nur war bey

der dos mehr Veranlaſſung, die-

ſes Verhältniß auszubilden und in

beſtimmten Regeln auszuſprechen.

|0411 : 355|

§. 54. Familienrecht.

ſetzen pflegt, die Verwandten aber als ſolche, mit weni-

gen Ausnahmen, keine Rechte gegen einander haben. Nach

unſrer oben dargelegten Anſicht kann uns jedoch dieſer

Umſtand nicht hindern, auch die Verwandtſchaft als ein

eigenes Familienverhältniß zu behandeln. Denn auch bey

ihr ſind die rechtlichen Bedingungen ihres Daſeyns genau

beſtimmt. Eben ſo fehlt es ihr nicht an Einfluß auf an-

dere Rechtsverhältniſſe. Dieſer Einfluß zeigt ſich zunächſt

bey der Ehe, deren Möglichkeit durch gewiſſe Arten der

Verwandtſchaft ausgeſchloſſen wird. Ferner im Vermö-

gen, und zwar hier auf zweyerley Weiſe. Der wichtigſte

Einfluß iſt der auf das Erbrecht, wodurch allein ſchon die

genaueſte Feſtſtellung dieſes Verhältniſſes unentbehrlich

wird. Ein zweyter, minder wichtiger Einfluß zeigt ſich

in der Obligation auf Alimente, welche jedoch nur bey

einigen Arten der Verwandtſchaft eintritt; in dieſer liegt

der einzige gegenſeitige Rechtsanſpruch, der unter gleichzei-

tig lebenden Verwandten wahrzunehmen iſt.

Nach der hier dargelegten Anſicht iſt jedes Familien-

verhältniß, als ein natürlich-ſittliches betrachtet, ganz in-

dividuell, indem es in einer Wechſelbeziehung zwiſchen

zwey einzelnen Menſchen beſteht; als Rechtsverhältniß be-

trachtet aber iſt es ein Verhältniß Einer Perſon zu allen

übrigen Menſchen, indem es ſeinem eigenen Weſen nach

nur in dem Anſpruch auf allgemeine Anerkennung beſteht.

So z. B. hat ein Vater kraft der väterlichen Gewalt zu-

nächſt nur den Rechtsanſpruch, daß ihm das Daſeyn die-

 

23*

|0412 : 356|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

ſer Gewalt von Jedem, der es beſtreitet, anerkannt werde,

und dieſer Anſpruch geht gegen den Sohn ſelbſt nicht mehr

und nicht weniger, als gegen jeden Dritten. Daneben

aber kann ihm das einmal anerkannte Rechtsverhältniß

als Grundlage mannichfaltiger anderer Anſprüche (auf

Eigenthum, Erbfolge u. ſ. w.) dienen. Dieſe ganze An-

ſicht findet eine merkwürdige Beſtätigung in der Römiſchen

Klagform. Die Klage iſt hier ein praejudicium, das heißt

eine Klage, die nicht etwa eine condemnatio zur Folge

hat, ſondern nur den Ausſpruch über das Daſeyn eines

Verhältniſſes (i). Der Name dieſer Art von Klagen

kommt daher, daß ſie dazu dienen, andere, künftige Kla-

gen vorzubereiten. Alle dieſe Klagen endlich ſind in rem,

das heißt ſie gelten nicht ausſchließend gegen eine be-

ſtimmte verpflichtete Perſon, ſo wie die Klagen aus Obli-

gationen (k).

§. 55.

Familienrecht. Fortſetzung.

Bisher iſt die Familie in ihrem natürlichen Umfang

betrachtet worden. Nach dem Typus dieſer natürlichen

Familieninſtitute können aber durch das poſitive Recht

andere nachgebildet werden, die ſodann eine künſtliche Er-

weiterung des Familienrechts darbieten. Solche künſtliche

 

(i) Gajus IV. § 44. 94. Vgl.

L. 1 § 16 L. 3 § 3. 4 de agnosc,

(25. 3.). L. 1 § 4 de lib. exhi-

bendis (43. 30.).

(k) § 13 J. de act. (4. 6.).

|0413 : 357|

§. 55. Familienrecht. Fortſetzung.

Familienverhältniſſe unterſcheiden ſich von den natürlichen

darin, daß ſie nicht ſo wie dieſe auf einer natürlich-ſitt-

lichen Grundlage beruhen, weshalb ihr Daſeyn auch nicht

in einer allgemeinen Nothwendigkeit gegründet iſt. Nach

dem Römiſchen Kunſtausdruck alſo gehören ſie nicht zu

dem jus naturale.

Das Römiſche Recht kennt folgende Inſtitute dieſes

künſtlich erweiterten Familienrechts:

 

1) Manus. Sie beruht auf einer künſtlichen Verſchmel-

zung der beiden Hauptzweige der natürlichen Familie, der

Ehe mit der väterlichen Gewalt. Die Ehefrau wird da-

durch in das rechtliche Verhältniß einer Tochter des Ehe-

mannes verſetzt, worin alſo ein äußerer Zuſatz zu der

Ehe, und eine Modification derſelben, hauptſächlich in

Beziehung auf das Vermögen, enthalten iſt. — Allerdings

gilt aber dieſe Anſicht der manus nur von einer etwas

ſpäteren Zeit des Römiſchen Rechts, in welcher es der

Willkühr überlaſſen blieb, ob der Ehe noch dieſer beſon-

dere Zuſatz beygegeben werden ſollte. In der älteſten

Zeit war ſie die einzig mögliche Form der Ehe überhaupt.

 

2) Servitus. Das Verhältniß eines Sklaven zu ſei-

nem Gebieter hatte bey den Römern zwey ganz verſchie-

dene juriſtiſche Beziehungen, dominium und potestas, die

nur in der Wirklichkeit ſtets vereinigt waren. Nach der

einen war es reines, wahres Eigenthum, der Sklave ſtand

hierin jeder anderen Sache völlig gleich, er konnte veräu-

ßert werden, nicht nur dem vollen Eigenthum nach, ſon-

 

|0414 : 358|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

dern auch indem ein Uſusfructus, ein Uſus, oder ein

Pfandrecht an ihm beſtellt wurde; endlich galten gegen

jeden Verletzer dieſes Rechts dieſelben Klagen, wie gegen

den Verletzer eines andern Eigenthums, vor allen alſo

die Vindication. — Nach der andern Beziehung war es

ein Beſtandtheil der Familie, der väterlichen Gewalt nach-

gebildet und ſehr ähnlich gemacht. Dieſe Zuſammenſtel-

lung bewährt ſich durch das Eigenthum, welches urſprüng-

lich auch der Vater an den Kindern hatte, durch den ge-

meinſchaftlichen Namen potestas, und endlich darin, daß

die Sklaven den Kindern gleich ſtanden in der Unfähigkeit

zum Vermögen, in der möglichen und nothwendigen Re-

präſentation des Herrn durch die erwerbenden Handlun-

gen des Sklaven, und in dem Peculium. Wenn ſich un-

ſer Gefühl durch dieſe Gleichſtellung der Kinder mit den

Sklaven verletzt findet, ſo dürfen wir nicht vergeſſen, daß

der Sklave in der älteſten Zeit, worin dieſes Inſtitut feſt-

geſtellt wurde, der Ackerknecht des Herrn, alſo der Ge-

hülfe ſeiner Arbeit, und wohl meiſt auch ſein Tiſchge-

noſſe war. Bey der völlig veränderten Lebensweiſe der

ſpäteren Zeit, als die Sklaven Gegenſtände des Luxus

und der gewerblichen Speculation in der übertriebenſten

Ausdehnung wurden, hatte freylich jene Gleichſtellung al-

len Sinn und alle Schicklichkeit verloren. Es iſt aber

überhaupt eine der wichtigſten Krankheitsurſachen des Rö-

miſchen Zuſtandes, daß man nicht frühe und nicht gründ-

lich genug bedacht war, das Verhältniß der Sklaven und

|0415 : 359|

§. 55. Familienrecht. Fortſetzung.

der Freygelaſſenen nach den völlig veränderten Bedürfniſ-

ſen zu modificiren. — Zu dieſer zweyten Beziehung ge-

hört endlich auch noch die Manumiſſion, das heißt die

Fähigkeit des Herrn, dem Sklaven die Freyheit und in

der Regel ſelbſt die Civität zu ertheilen: endlich auch das

liberale judicium, oder die vindicatio in servitutem und

in libertatem, welche der potestas denſelben Schutz ge-

währt, wie die gewöhnliche vindicatio dem dominium. —

Noch etwas verſchieden von dieſem Allen iſt die dem Skla-

ven faſt gänzlich fehlende Rechtsfähigkeit. Denn dieſe

kann ſich auch bey ſolchen finden, über welche jetzt domi-

nium und potestas zufällig nicht beſteht, den servis sine

domino. Denn obgleich das ganze Rechtsinſtitut der Skla-

verey nur um der Gewalt des Herrn willen eingeführt

und ausgebildet worden war, ſo hatte man doch daraus

den allgemeinen Begriff des Sklavenſtandes, als ei-

nes Zuſtandes an ſich, gebildet, der nun auch in den Fäl-

len der zufällig herrenloſen Sklaven ſollte Daſeyn und

Wirkſamkeit haben können (a).

(a) Dahin gehören folgende

Fälle: 1) der servus poenae,

welcher keinesweges im Eigen-

thum des Staats war. L. 17

pr. de poenis (48. 19.). L. 3 pr.

de his q. pro non scr. (34. 8.).

L. 12 de j. fisci (49. 14.). L. 25

§ 3 de adqu. hered. (29. 2.). —

2) Der Nömer, der in Gefan-

genſchaft des Feindes kam; denn

der Feind war rechtlos, konnte

alſo auch keine potestas und kein

dominium haben. — 3) Der Frey-

gelaſſene, an welchem vor der

Freylaſſung ein Anderer den Nies-

brauch erworben hatte. Ulpian I.

§ 19 (L 1 C. comm. de manu-

miss. 7. 15.). — 4) Der von ſei-

nem Herrn derelinquirte Sklave.

L. 38 § 1 de nox. act. (9. 4.).

L. 36 de stip. serv. (45. 3.).

L. 8 pro derelicto (41. 7.). Es

war etwas ganz Specielles und

rein Poſitives, daß nach einem

|0416 : 360|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

3) Patronatus. Die Freylaſſung macht den Sklaven

zu einem Freyen, und ertheilt ihm nach Umſtänden bald

einen höheren, bald einen niederen Stand unter den Freyen.

Daneben ſteht aber ein perſönliches Verhältniß zwiſchen

dem Patron und dem Freygelaſſenen, welches auch ſelbſt

wieder die Natur eines Familienverhältniſſes annimmt, ſo

wie das Sklavenverhältniß dieſe Natur hatte, aus wel-

chem es durch Umwandlung hervorgieng. Das Patronat

hat bedeutenden Einfluß auf das Vermögensrecht, indem

ſich daran auf mannichfaltige Weiſe theils Erbfolge, theils

Obligationen anknüpfen. Dazu kommen noch Inſtitute

des Criminalrechts, welche zum Schutz der hohen Stel-

lung des Patrons, gegenüber dem Freygelaſſenen, be-

ſtimmt ſind.

 

4) Mancipii causa. Da die Herrſchaft des Vaters

über die Kinder in der älteſten Zeit vom Eigenthum in

der That kaum verſchieden war, ſo konnte er ſie auch

veräußern, und daſſelbe galt für den Ehemann, der die

Frau gleich einer Tochter in manu hatte. Allein dieſe

 

Edict des K. Claudius die hart-

herzige Dereliction eines kran-

ken Sklaven dieſem die Latini-

tät geben ſollte. L. 2 qui sine

manum. (40. 8.). L. un. § 3

C. de lat. libert. (7. 6.). Die

Regel blieb daneben unverändert.

— Der Zuſtand des servus poe-

nae war härter, als der des ser-

vus fisci: daher wurde der Ver-

urtheilte durch Begnadigung ser-

vus fisci, und das Kind der zu den

Bergwerken verurtheilten Frau

galt als servus fisci. L. 24 § 5.

6. de fideic. lib. (40. 5.). Auf

der andern Seite aber konnten

die herrenloſen Sklaven niemals

in Libertinität gerathen: wurden

ſie alſo frey (durch Reſtitution

des Verurtheilten, oder durch

Poſtliminium des Gefangenen),

ſo wurden ſie wieder Ingenui.

Paulus IV. 8. § 24.

|0417 : 361|

§. 55. Familienrecht. Fortſetzung.

veräußerten Freyen ſollten doch zu dem neuen Herrn in

einem anderen und milderen Verhältniß ſtehen als eigent-

liche Sklaven. Dieſes war die Mancipii causa, ein Mit-

telzuſtand zwiſchen Freyen und Sklaven, woraus ferner

durch Freylaſſung ein Patronat, ähnlich dem über wahre

Sklaven, entſtehen konnte. Nur in der Unfähigkeit zum

Vermögen, und in dem Erwerb für den Herrn, ſteht die-

ſer Abhängige dem Sklaven ganz gleich. — Dieſe Rechts-

verhältniſſe haben ſich, als blos juriſtiſche Formen bey

Auflöſung der väterlichen Gewalt, in ausgedehnter Übung

erhalten, nachdem ein ernſtlicher Verkauf der Kinder ſchon

längſt ungewöhnlich, ja ſelbſt ſtrafbar geworden war.

5) Tutela und Curatio. Der Kern dieſes Rechtsin-

ſtituts iſt unſtreitig die Tutel über die Unmündigen, und

dieſe muß als Surrogat der väterlichen Gewalt, wo eine

ſolche zufällig fehlt, betrachtet werden. Es fragt ſich nur,

in welchem Sinn ſie ein ſolches Surrogat iſt. Gewiß

nicht inſofern, als in der väterlichen Gewalt eine Perſo-

neneinheit liegt, denn dieſe iſt in der Tutel ſicher nicht

vorhanden. Eher könnte man an das Erziehungsverhält-

niß denken, aber auch dieſes liegt außer den Gränzen der

Tutel und kann nur ganz zufällig mit ihr verbunden ſeyn.

Der wahre Zuſammenhang aber iſt dieſer. Wenn der

Inhaber eines Vermögens unmündig iſt, ſo kann er ſein

Vermögen nicht vertreten, das heißt er iſt handlungsun-

fähig. Die meiſten Unmündigen nun ſtehen in väterlicher

Gewalt, und für ſie beſteht jene Schwierigkeit nicht, da

 

|0418 : 362|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

Alles was ihnen zufällt ohnehin in des Vaters Vermögen

ſich verliert, ſie ſelbſt alſo kein Vermögen haben können

(§ 54). Mit anderen Worten: ihre Handlungsunfähig-

keit wird unſchädlich durch ihre Rechtsunfähigkeit. An-

ders wenn der Unmündige zufällig ohne Vater iſt, alſo

ſelbſt Vermögen haben kann. Hier entſteht ein Misver-

hältniß zwiſchen der vorhandenen Rechtsfähigkeit und der

fehlenden Handlungsfähigkeit, welches einer künſtlichen po-

ſitiven Nachhülfe bedarf. Darauf allein gründet ſich die

urſprüngliche Tutel, denn in dieſem Fall allein iſt ein all-

gemeines, wichtiges, häufiges Naturbedürfniß vorhanden.

Die übrigen Fälle der Tutel, ſo wie die ganze Curatel,

beruhen wohl auf allmäligen Nachbildungen bey ähnlichem

Bedürfniß: das aber haben ſie alle mit jenem Hauptfall

gemein, daß ſie nur da vorkommen, wo nicht ſchon das

ſtreng juriſtiſche Verhältniß einer potestas oder manus

jede künſtlichere Nachhülfe überflüſſig macht. — Der ju-

riſtiſche Inhalt dieſer Verhältniſſe iſt ein zwiefacher. Erſt-

lich erſetzen ſie zunächſt die fehlende Handlungsfähigkeit

eines Rechtsfähigen. Zweytens verwandeln ſie ſich ſpä-

terhin in Obligationen zwiſchen dem, welcher Tutor oder

Curator war, und dem Pflegebefohlnen.

Auf die Fünf hier dargeſtellten Inſtitute des Familien-

rechts beſchränkte ſich deſſen künſtliche Erweiterung zur

Zeit der klaſſiſchen Juriſten. In Juſtinians Zeit hätte

noch ein ſechſtes hinzugefügt werden müſſen, das Colo-

nat, welches damals ſchon längſt eben ſo verbreitet als

 

|0419 : 363|

§. 55. Familienrecht. Fortſetzung.

wichtig war. Das Weſen deſſelben beſtand in einer erb-

lichen, unauflöslichen obligatio zum Bau eines beſtimmten

Bauergutes; es war der servitus verwandt, und doch da-

von weſentlich verſchieden (b). Daß dieſes Verhältniß im

erſten Buch unſrer Inſtitutionen nicht erwähnt wird, er-

klärt ſich nicht aus inneren Gründen, ſondern nur aus

der geringeren geiſtigen Selbſtthätigkeit des Juſtinianiſchen

Zeitalters. Man begnügte ſich die Bücher der klaſſiſchen

Zeit etwas zu modificiren, anſtatt das lebendige Recht der

Gegenwart ſelbſtthätig darzuſtellen, wodurch man in den

Kreis der Gegenſtände jener Bücher, mit wenigen Aus-

nahmen, gebannt blieb.

Die künſtlichen Familienverhältniſſe haben übrigens in

den wichtigſten Beziehungen eine ähnliche Beſchaffenheit

wie die natürlichen (§ 54); auch ſie ſind Rechtsverhält-

niſſe gegen Jeden, der ihre Anerkennung verweigert, und

auch ſie werden durch praejudicia geſchützt (c).

 

Ich habe die Benennung natürlicher und künſtlicher

Familienverhältniſſe gebraucht, um dadurch diejenigen Theile

des Familienrechts, welche juris naturalis ſind, von denen

welche es nicht ſind, ſcharf zu unterſcheiden. Zur Ver-

hütung jedes Misverſtändniſſes iſt aber zu bemerken, daß

die Römer den von mir als künſtlich bezeichneten Inſtituten

eine ſehr verſchiedene Natur zugeſchrieben haben. Bey der

manus und der mancipii causa konnte nicht verkannt wer-

 

(b) Savigny über den Rö-

miſchen Colonat, Zeitſchrift für

geſchichtl. Rechtsw. B. 6. Num. IV.

(c) § 13 J. de act. (4. 6.).

|0420 : 364|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

den, daß ſie dem Römiſchen Recht ganz eigenthümlich

ſeyen, alſo zum jus civile gehörten; dieſelbe Anſicht mag

man auch von dem Patronat gehabt haben. Dagegen

rechneten ſie die Tutel, ſo weit ſie ſich auf Unmündige

bezieht, zu dem jus gentium (d); eben ſo auch die Skla-

verey, die ja bey allen anderen Völkern eben ſowohl vor-

kam, als bey den Römern (e). In Beziehung auf dieſe

letzte iſt ſehr merkwürdig die Entwicklung der Rechtsan-

ſicht, welche in Folge des Chriſtenthums eingetreten iſt.

Kein Philoſoph des Alterthums hielt das Daſeyn eines

Staates ohne Sklaven für möglich. In allen chriſtlich-

europäiſchen Staaten dagegen gilt die Sklaverey für un-

möglich; und in den chriſtlichen Staaten außer Europa

gehört der Kampf um die Fortdauer oder Vernichtung der-

ſelben unter die wichtigſten Aufgaben, welche dem künfti-

gen Zeitalter vorbehalten ſind.

Mit den bisher dargeſtellten Familienverhältniſſen ſte-

hen noch zwey andere Rechtslehren in enger Verbindung:

die Repräſentation im Erwerb des Vermögens, und die

Rechtsfähigkeit in verſchiedenen Abſtufungen.

 

Die Repräſentation im Vermögens-Erwerb (§ 113)

iſt geknüpft an potestas, manus, mancipium, alſo an Drey,

oder eigentlich Vier, unter den oben dargeſtellten Fami-

lienverhältniſſen. Allein nicht alle Familienverhältniſſe ha-

 

(d) Gajus I. § 189.

(e) L. 1 § 1 de his qui sui (1. 6.), § 1 J. eod. (1. 8.).

|0421 : 365|

§. 55. Familienrecht. Fortſetzung.

ben dieſen wichtigen Einfluß: namentlich findet er ſich nicht

bey der Ehe als ſolcher, der Verwandtſchaft, dem Pa-

tronat, und der Vormundſchaft. Das Familienrecht geht

alſo viel weiter als dieſe Lehre, und darf mit ihr nicht

für identiſch gehalten werden.

Die Rechtsfähigkeit (welche in den §§ 64 fg. ausführ-

lich dargeſtellt werden wird) beruht auf drey Klaſſifica-

tionen der Menſchen, womit drey Stufen der capitis de-

minutio zuſammenhängen. Die Unterſchiede der liberi und

servi, der sui juris und alieni juris, ſind voͤllig in eini-

gen der oben angegebenen Familienverhältniſſe begründet;

dagegen liegt der dritte Unterſchied (cives, latini, pere-

grini) ganz außer den Gränzen des Familienrechts, ja des

Privatrechts überhaupt; auf der andern Seite aber haben

mehrere Familienverhältniſſe — Ehe als ſolche, Verwandt-

ſchaft, Patronat, Vormundſchaft — gar keinen Einfluß

auf die Rechtsfähigkeit. Alſo iſt auch die Lehre von der

Rechtsfähigkeit durchaus nicht identiſch mit dem Familien-

recht, vielmehr haben beide ganz verſchiedene Gränzen.

 

Zuletzt iſt noch die hiſtoriſche Entwicklung der zum Fa-

milienrecht gehörenden Inſtitute zu erwähnen. Schon zu

Juſtinians Zeit waren gänzlich verſchwunden die manus

und die mancipii causa. Bey dem Übergang des Römi-

ſchen Rechts nach dem neueren Europa ſind ferner ver-

ſchwunden die Sklaverey und das Patronat. Eben ſo

konnte das Römiſche Colonat im neueren Europa nicht

bleibende Anerkennung finden, weil die ihm ſehr ähnliche

 

|0422 : 366|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

Germaniſche Leibeigenſchaft die Stelle deſſelben völlig ein-

nahm. So iſt es durch dieſe in Italien und Frankreich

verdrängt, im größeren Theil von Deutſchland aber nie-

mals mit dem Römiſchen Recht aufgenommen worden.

Demnach ſind von allen jenen Inſtituten im heutigen Recht

nur noch folgende übrig geblieben: Ehe, väterliche Gewalt,

Verwandtſchaft, Vormundſchaft.

Dagegen ſind vom Mittelalter her gar manche Rechts-

inſtitute auf dem Boden des Germaniſchen Rechts neu ent-

ſtanden, in welchen, eben ſo wie in den ſchon bey den Römern

vorhandenen Familienverhältniſſen, ein ſittliches Element

als vorzugsweiſe einflußreich anerkannt werden muß, und

die theils in das Familienrecht, theils in das Staatsrecht,

wenigſtens theilweiſe aufzunehmen ſind, wenn ihre Natur

richtig aufgefaßt werden ſoll. Dahin gehört das ganze

Lehenverhältniß, die höchſt mannichfaltigen gutsherrlich-

bäuerlichen Verhältniſſe, und insbeſondere die ſchon er-

wähnte Germaniſche Leibeigenſchaft. Wir müſſen alſo ver-

meiden, die Gränzen des Familienrechts für alle Zeiten

und Völker feſtſtellen zu wollen, und vielmehr die Mög-

lichkeit freyer Entwicklung für jedes poſitive Recht aner-

kennen. — Auf beſonders merkwürdige Weiſe zeigt ſich

dieſe fortgehende Rechtsentwicklung in einem der verbrei-

tetſten Verhältniſſe unſers heutigen Zuſtandes, dem Dienſt-

botenrecht. Vom Standpunkt des Römiſchen Rechts aus

läßt ſich daſſelbe nur als ein Contract (operae locatae)

auffaſſen, und für die Römer war dieſe beſchränkte Be-

 

|0423 : 367|

§. 56. Vermögensrecht.

handlung hinreichend, da wegen des äußerſt zahlreichen

Sklavenſtandes das Bedürfniß freyer Dienſtboten faſt gar

nicht wahrgenommen wurde. Anders bey uns, die wir

keine Sklaven haben, weshalb jenes Verhältniß zu einem

höchſt wichtigen und verbreiteten Bedürfniß geworden iſt.

Nun reichen wir mit der beſchränkten Behandlung gleich

jedem anderen Arbeitsvertrag nicht aus, und ſo iſt im

Preußiſchen Landrecht auf ganz richtige Weiſe das Dienſt-

botenrecht nicht unter die Contracte, ſondern in das Per-

ſonenrecht aufgenommen worden (f).

§. 56.

Vermögensrecht.

Für das Vermögensrecht wurden oben (§ 53) zwey

Gegenſtände angegeben, Sachen und Handlungen. Darauf

gründen ſich die beyden Haupttheile deſſelben: Sachen-

recht und Obligationenrecht. Das erſte hat zum

Stoff den Beſitz, oder die faktiſche Herrſchaft über Sa-

chen. Als Recht erſcheint es einfach und vollſtändig in

der Geſtalt des Eigenthums, oder der unbeſchränkten

und ausſchließenden Herrſchaft einer Perſon über eine

Sache. Um uns aber das Weſen des Eigenthums klar

zu machen, müſſen wir von folgender allgemeinen Be-

trachtung ausgehen. Jeder Menſch hat den Beruf zur

Herrſchaft über die unfreye Natur; denſelben Beruf

aber muß er eben ſo in jedem andern Menſchen anerken-

 

(f) A. L. R. II. 5.

|0424 : 368|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I Weſen und Arten.

nen, und aus dieſer gegenſeitigen Anerkennung entſteht,

bey räumlicher Berührung der Individuen, ein Bedürfniß

der Ausgleichung, welches zunächſt als ein unbeſtimmtes

erſcheint, und nur in beſtimmter Begränzung ſeine Befrie-

digung finden kann. Dieſe Befriedigung nun erfolgt, ver-

mittelſt der Gemeinſchaft im Staate, durch poſitives Recht.

Wenn wir hier dem Staat die Geſammtherrſchaft über

die unfreye Natur innerhalb ſeiner Gränzen beylegen, ſo

erſcheinen die Einzelnen als Theilhaber dieſer gemeinſa-

men Macht, und die Aufgabe beſteht darin, eine beſtimmte

Regel zu finden, nach welcher die Vertheilung unter die

Einzelnen ausgeführt werde. Für eine ſolche Vertheilung

giebt es drey Wege, die nur nicht in einem ausſchließen-

den Verhältniß zu einander gedacht werden müſſen, ſon-

dern vielmehr in gewiſſem Maaße gleichzeitig zur Anwen-

dung kommen können. Wir können dieſe drey Wege fol-

gendergeſtalt bezeichnen:

1) Gemeingut und Gemeingenuß. Dieſes Verhältniß

findet ſich bey dem ganzen Staatsvermögen, mag nun

dieſes im Ertrag von Steuern, Regalien, oder Domänen

beſtehen, indem die aus dieſem Ertrag erhaltenen öffentli-

chen Anſtalten in der That von jedem Einzelnen (wenn-

gleich oft in verſchiedenen Graden) benutzt und genoſ-

ſen werden.

 

2) Gemeingut und Privatgenuß. Dieſe Art der Ver-

theilung (die ſeltenſte) findet ſich bey dem Römiſchen ager

 

|0425 : 369|

§. 56. Vermögensrecht.

publicus der älteſten Zeit; eben ſo, in heutigen Corpora-

tionen, bey dem was wir Bürgervermögen nennen.

3) Privatgut und Privatgenuß, abhängig von den im

poſitiven Recht anerkannten freyen Handlungen oder Na-

turereigniſſen. Dieſe, überall vorherrſchende, Form iſt die

einzige, mit welcher wir im Privatrecht zu thun haben.

Hierin liegt der Begriff des Eigenthums, deſſen vollſtän-

dige Anerkennung auf die Möglichkeit des Reichthums und

der Armuth, beides ohne alle Einſchränkung, führt.

 

Eine noch außer dem Eigenthum liegende Herrſchaft

des einzelnen Menſchen über die unfreye Natur iſt nicht

denkbar; wohl aber läßt ſich eine mannichfaltig begränzte

Herrſchaft innerhalb des Eigenthums denken, woraus dann,

je nach den Beſtimmungen jedes poſitiven Rechts, meh-

rere einzelne jura in re, als beſondere Rechtsinſtitute, ge-

bildet werden können. Alle mögliche Rechte an Sachen —

Eigenthum und jura in re — faſſen wir unter dem gemein-

ſamen Namen der dinglichen Rechte zuſammen (a).

 

Das Obligationenrecht hat zum Stoff die partielle

Herrſchaft über fremde Handlungen, wodurch dasje-

nige bedingt iſt und gebildet wird, was wir, im Gan-

zen zuſammen faſſend, als den Verkehr bezeichnen. Je-

doch eignen ſich nicht alle Handlungen zu Gegenſtänden

von Obligationen, ſondern nur diejenigen, welche durch

 

(a) Dieſe Terminologie iſt hier

nur im allgemeinen, um Misver-

ſtändniſſen vorzubeugen, angege-

ben worden. Die genauere Feſt-

ſtellung derſelben, eben ſo wie die

Angabe der einzelnen jura in re,

bleibt der beſonderen Lehre des

Sachenrechts vorbehalten.

24

|0426 : 370|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

ihre materielle Natur als aus der Perſon heraustretend

und den Sachen ähnlich betrachtet werden können.

Faſſen wir dieſes zuſammen, ſo zeigt ſich hier ein durch-

gehender Gegenſatz gegen das Familienrecht. In beiden

Theilen des Vermögensrechts beſteht der Stoff nicht ſo,

wie bey der Familie, in einem natürlich-ſittlichen Ver-

hältniß; ſie haben alſo keine gemiſchte Natur, ſondern

ſind vielmehr reine, bloße Rechtsverhältniſſe; ſie gehören

nicht dem jus naturale an, und die Anerkennung ihres

Daſeyns erſcheint minder nothwendig, mehr willkührlich

und poſitiv, als bey den Inſtituten des Familienrechts.

Auf der anderen Seite kann hier der Zweifel gar nicht

vorkommen, worin ihr wahrer rechtlicher Gehalt beſtehe.

Denn da in ihnen eine Erweiterung der individuellen Frey-

heit enthalten ſeyn ſoll (§ 53), ſo iſt eben dieſe Macht,

dieſe Herrſchaft die ſie uns gewähren, das was ihnen als

Rechtsinſtituten ihren Inhalt giebt.

 

Gegen die hier aufgeſtellte Behauptung, daß das Ver-

mögensrecht nicht, ſo wie das Familienrecht, ein ſittliches

Element in ſich ſchließe, könnte man einwenden, daß das

ſittliche Geſetz jede Art des menſchlichen Handelns zu be-

herrſchen habe, und daß alſo auch die Vermögensverhält-

niſſe eine ſittliche Grundlage haben müßten. Allerdings

haben ſie eine ſolche, indem der Reiche ſeinen Reichthum

nur als ein ſeiner Verwaltung anvertrautes Gut betrach-

ten ſoll, nur bleibt der Rechtsordnung dieſe Anſicht völlig

fremd. Der Unterſchied liegt alſo darin, daß das Fami-

 

|0427 : 371|

§. 56. Vermögensrecht.

lienverhältniß von Rechtsgeſetzen nur unvollſtändig be-

herrſcht wird, ſo daß ein großer Theil deſſelben den ſitt-

lichen Einflüſſen ausſchließend überlaſſen bleibt. Dagegen

wird in den Vermögensverhältniſſen die Herrſchaft des

Rechtsgeſetzes vollſtändig durchgeführt, und zwar ohne Rück-

ſicht auf die ſittliche oder unſittliche Ausübung eines Rechts.

Daher kann der Reiche den Armen untergehen laſſen durch

verſagte Unterſtützung oder harte Ausübung des Schuld-

rechts, und die Hülfe, die dagegen Statt findet, entſpringt

nicht auf dem Boden des Privatrechts, ſondern auf dem

des öffentlichen Rechts; ſie liegt in den Armenanſtalten,

wozu allerdings der Reiche beyzutragen gezwungen wer-

den kann, wenngleich ſein Beytrag vielleicht nicht unmit-

telbar merklich iſt. Es bleibt alſo dennoch wahr, daß dem

Vermögensrecht als einem privatrechtlichen Inſtitut kein

ſittlicher Beſtandtheil zuzuſchreiben iſt, und es wird durch

dieſe Behauptung weder die unbedingte Herrſchaft ſittli-

cher Geſetze verkannt, noch die Natur des Privatrechts in

ein zweydeutiges Licht geſetzt (vgl. § 52).

Auf den erſten Blick ſcheint das Verhältniß der ange-

gebenen beiden Theile des Vermögensrechts zu einander

ſchon durch ihren bloßen Gegenſtand ſo unabänderlich be-

ſtimmt, daß es überall in derſelben Weiſe gefunden wer-

den müßte. Bey genauerer Betrachtung aber zeigt ſich

hierin vielmehr ein ſehr freyer Spielraum für mannichfal-

tige Beſtimmungen des poſitiven Rechts verſchiedener Völ-

ker. Und zwar finden wir dieſe Verſchiedenheit theils in

 

24*

|0428 : 372|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

der Gränzſcheidung zwiſchen Sachenrecht und Obligatio-

nen, theils in der Beziehung worin beide Rechtstheile zu

einander gedacht werden. — Was die Gränzſcheidung be-

trifft, ſo giebt es allerdings einige äußerſte Punkte, bey

welchen die beſondere Natur des einen oder des andern

Rechtstheils ganz unverkennbar iſt: ſo auf der einen Seite

das ſtrenge Eigenthum mit unbeſchränkter Vindication, auf

der anderen Seite der Dienſtbotenvertrag und das Man-

dat. Allein zwiſchen dieſen liegt eine natürliche Annähe-

rung, ja ein allmäliger Übergang, darin, daß die meiſten

und wichtigſten Obligationen darauf abzwecken, durch

fremde Handlungen ein dingliches Recht, oder wenigſtens

die Ausübung und den Genuß eines ſolchen, zu erlan-

gen (b). In dieſer Beziehung nun iſt im Römiſchen Recht

characteriſtiſch ein ſcharfes Hervortreten des Eigenthums,

welches ſich theils in der unbeſchränkten Wirkung der Vin-

dication äußert (c), theils in der ſehr beſchränkten Möglich-

keit einer Verminderung des Eigenthums durch jura in re (d).

(b) Nämlich alle dandi obli-

gationes. — Darauf gründet ſich

der Sprachgebrauch mancher neue-

ren Schriftſteller, nach welchem

die Obligationen (jura persona-

lia) eingetheilt werden in jura

pers. in specie, und jura ad

rem. Daries Inst. jurispr. priv.

§ 31. — Eben ſo nimmt das Preu-

ßiſche A. L. R. Th. 1. Tit. 2 § 123.

124 als Gattung das perſönliche

Recht, als einzelne Art das Recht

zur Sache an.

(c) Im Gegenſatz derſelben

nimmt das Franzöſiſche Recht in

der Regel keine Vindication be-

weglicher Sachen an, ſondern nur

ausnahmsweiſe bey beſonderen Ar-

ten des Beſitzverluſtes. Eben ſo

giebt das Preußiſche Recht dem

redlichen Käufer bey Sachen aller

Art das Recht, vom Eigenthü-

mer Erſatz des Kaufpreiſes zu

verlangen.

(d) Das R. R. läßt jura in re

nur in beſtimmten einzelnen Fäl-

|0429 : 373|

§. 56. Vermögensrecht.

Alles hängt nun davon ab, ob die Sache an ſich, un-

abhängig von einer fremden Handlung, ſchon Gegenſtand

unſres Rechtes iſt, oder ob unſer Recht unmittelbar nur

auf eine fremde Handlung, als unſrer Herrſchaft unter-

worfnen Gegenſtand, gerichtet iſt, mag auch dieſe Hand-

lung zum Ziel haben, uns das Recht an einer Sache,

oder den Genuß derſelben, zu verſchaffen. Als ſicheres

Kennzeichen dieſer Gränze dient das Daſeyn einer in rem

oder in personam actio (e), welcher Unterſchied zwar mei-

ſtens, aber keinesweges allgemein, mit dem Unterſchied

eines unbeſtimmten oder beſtimmten Gegners zuſammen

fällt (f). — Auch die Beziehung beider Vermögenstheile

len als möglich zu. Das Preu-

ßiſche Recht dagegen erklärt je-

des Nutzungsrecht an fremden

Sachen für dinglich, ſobald Be-

ſitz hinzutritt, ohne Unterſchied der

Veranlaſſung und des Zweckes.

(e) Das ſoll nicht heißen, die

Gränze dieſer beiden Klagearten

fiele überhaupt zuſammen mit

den Gränzen des Sachenrechts

und Obligationenrechts, denn es

giebt ſehr wichtige in rem actio-

nes, die nicht in das Sachenrecht

gehören. Wohl aber ſind alle

Klagen aus dinglichen Rechten in

rem, alle Klagen aus Obligatio-

nen in personam. Die genauere

Feſtſtellung dieſes Punktes gehört

zu einem ſpäter folgenden Ab-

ſchnitt.

(f) Häufig ſagt man, das We-

ſen der in rem actio, im Ge-

genſatz der in personam, beſtehe

darin, daß jene gegen jeden Drit-

ten, gegen jeden Beſitzer, gehe,

dieſe aber nicht. Allein die a. quod

metus causa geht als in rem

scripta gegen jeden Dritten, und

iſt darum nicht minder in per-

sonam. — Indeſſen ſind doch die-

ſes immer nur ſeltene Ausnah-

men, und wenn wir den Gegen-

ſtand im Großen auffaſſen, ſind

wir wohl berechtigt zu ſagen, die

dinglichen Rechte unterſcheiden ſich

von den Obligationen gerade durch

ihre allgemeine Wirkſamkeit ge-

gen Alle, nicht blos gegen be-

ſtimmte Individuen. Eine Folge

dieſes im Großen richtigen Un-

terſchieds iſt denn auch die, daß

die dinglichen Rechte, da ſie auf

unbeſtimmte Gegner, alſo in der

größten Ausdehnung wirken ſol-

len, auch eine feſter beſtimmte Na-

tur haben als die Obligationen,

|0430 : 374|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

auf einander kann durch jene ſchwankende Gränze leicht

verdunkelt werden. Das Römiſche Recht hält beide ſtreng

aus einander, und behandelt jeden Theil für ſich als ganz

unabhängig innerhalb ſeiner Gränzen. So das Eigenthum

als ſelbſtändige Herrſchaft über eine Sache, ohne Rück-

ſicht auf die Obligation die etwa als Vermittlung und

Vorbereitung dazu diente: die Obligation als ſelbſtändige

Herrſchaft über eine fremde Handlung, ohne Rückſicht auf

das dingliche Recht worauf dieſe Handlung vielleicht ab-

zweckt. Von dieſer, der Natur jener Rechte völlig ange-

meſſenen Behandlung iſt nun eine zwiefache Abirrung mög-

lich: entweder indem die Obligationen allein in’s Auge

gefaßt werden, ſo daß die dinglichen Rechte nur als Fol-

gen oder Entwicklungen derſelben erſcheinen (g): oder in-

dem umgekehrt die dinglichen Rechte allein als wahrer

Gegenſtand der Rechtsbeſtimmungen erſcheinen, da dann

die Obligationen nur als Erwerbungsmittel der dinglichen

Rechte in Betracht kommen (h). Jede dieſer Behandlungs-

d. h. daß ſie mehr abſolutes Recht

oder jus publicum (§ 16) ent-

halten.

(g) So geſchieht es bey Domat,

lois civiles. Er theilt das ganze

Recht in Engagemens (Recht un-

ter Lebenden) und Successions

(Erbrecht). Die Engagemens ſind

Obligationen, neben welchen nur

gelegentlich auch dingliche Rechte

als Folgen oder Verſtärkungen

vorkommen.

(h) So im Franzöſiſchen Code

civil, welcher drey Bücher hat:

1) Perſonen, 2) Sachen und Modi-

ficationen des Eigenthums, 3) Er-

werbungsarten des Eigenthums;

dieſe ſind dreyfach: a) Succes-

sions, d. h. Inteſtaterbfolge, b) do-

natio inter vivos und Teſtament,

c) Wirkung ber Obligationen.

(Art. 711.). — Allein dieſes Über-

gewicht des Eigenthums iſt hier

doch nur ſcheinbar, da das zweyte

Buch ſehr mager iſt, das dritte

dagegen den größten Theil des

ganzen Privatrechts enthält, wo-

bey die vorherrſchende Rückſicht

|0431 : 375|

§. 56. Vermögensrecht.

weiſen iſt ſchon an ſich, als gezwungen und einſeitig, der

Einſicht in die wahre Natur der Rechtsverhältniſſe hin-

derlich: nicht zu gedenken, daß ſie auf manche Rechtsver-

hältniſſe ganz und gar nicht paſſen, ſo daß dieſe bey con-

ſequenter Durchführung des Grundgedankens eigentlich ganz

wegfallen müßten (i).

Wir verſtehen nun in der einzelnen Anwendung unter

Vermögen die Totalität aller hier beſchriebenen Ver-

hältniſſe, inſoferne ſie ſich auf eine beſtimmte Perſon als

deren Träger beziehen. Dieſer wichtige Rechtsbegriff wird

noch durch folgende nähere Beſtimmungen ausgebildet.

Erſtlich iſt die Beziehung dieſer Rechte auf eine beſtimmte

Perſon zufällig und wandelbar, ſo daß alſo jedes Ver-

mögen einen beſtimmten Umfang hat nur unter Voraus-

ſetzung eines gegebenen Zeitpunktes, und daß es in jedem

anderen Zeitpunkt einen ganz verſchiedenen Inhalt haben

kann. Zweytens können wir in der allgemeinen Betrach-

tung des individuellen Vermögens abſtrahiren von der Be-

ſchaffenheit der einzelnen Rechte, woraus es gerade be-

ſteht, und durch dieſe Abſtraction verwandelt es ſich für

unſre Betrachtung in eine reine Quantität von gleicharti-

 

auf das Eigenthum nur in der

Überſchrift figurirt. — Eben ſo

betrachtet das Preußiſche Land-

recht die obligatoriſchen Verträge

und die Teſtamente nur als Titel

zum Erwerb des Eigenthums

(Th. I. Tit. 11. 12. 13.).

(i) So z. B. findet ſich conſe-

quenterweiſe bey Domat für die

Occupation und die ſogenannte

Specification kein Platz. Das

Preuß. Landrecht und der Code

civil behandeln das Mandat als

ein Mittel zum Erwerb des Ei-

genthums, obgleich daſſelbe nach

ſeiner allgemeinen Natur eben ſo-

wohl auf andere Zwecke gerich-

tet ſeyn kann.

|0432 : 376|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

gem Gehalt. Die abſtracte Behandlung des Vermögens

aber macht es ferner möglich und nöthig, in daſſelbe auch

die paſſive Seite der Obligationen mit hinein zu ziehen,

das Verhältniß des Schuldners, welches nicht ſo, wie

das bisher betrachtete Vermögen, eine erweiterte Freyheit

begründet, ſondern eine verminderte. Indem wir auf dieſe

Weiſe auch die Schulden als Beſtandtheile des Vermö-

gens anſehen, müſſen wir annehmen, daß die Totalität

eines jeden Vermögens bald ein Plus, bald ein Minus,

bald auch eine völlige Indifferenz oder eine Null, darſtel-

len kann.

Dieſe rein quantitative Behandlung des Vermögens,

ohne welche eine Handhabung des Rechts nur in ſehr un-

vollkommener Weiſe möglich ſeyn würde, wird vermittelt

durch den Begriff des Werthes, oder der Gleichſtellung

verſchiedenartiger Vermögensrechte durch Reduction auf

ein gemeinſchaftliches Drittes. Und dieſer Begriff wie-

derum wird äußerlich dargeſtellt und in das wirkliche Le-

ben eingeführt durch das Geld, ſo daß alſo für den ju-

riſtiſchen Gebrauch Werth und Geldwerth gleichbedeutende

Ausdrücke ſind, und auch in der That abwechſelnd ange-

wendet zu werden pflegen (k). Das individuelle Vermö-

 

(k) Im älteren Römiſchen Pro-

zeß trat dieſe praktiſche Zurück-

führung aller, auch der verſchie-

denartigſten, Rechte auf Geld-

werth beſonders ſichtbar hervor.

Gajus IV. § 48. — Hegel Na-

turrecht § 63 beſtimmt die Be-

griffe von Werth und Geld im

Ganzen richtig, und iſt nur darin

einſeitig, daß er lediglich einen

Eigenthums- oder Verkaufswerth

anerkennt, alſo weder einen Ge-

brauchswerth annimmt, noch ei-

nen Sachwerth unter Voraus-

|0433 : 377|

§. 56. Vermögensrecht.

gen wird alſo dadurch in eine reine Quantität verwan-

delt, daß alle Beſtandtheile deſſelben in das Eigenthum

von Geldſummen aufgelöſt werden: ſo das Eigenthum je-

der anderen Sache — alle jura in re — der bloße Ge-

brauch einer Sache, natürlich mit beſonderer Rückſicht auf

deſſen Dauer — endlich auch Obligationen, alſo Forde-

rungen und Schulden, mögen ſie nun auf das Verſchaffen

dinglicher Rechte und ihres bloßen Genuſſes gerichtet ſeyn

oder nicht (dare, facere). Dadurch wird es möglich, auch

die reine faciendi obligatio auf wahres Eigenthum zurück-

zuführen (l), ſo daß ſich nun das individuelle Vermögen

ſtets als Eigenthum einer Geldſumme, oder als unbezahl-

bare Geldſchuld, oder als völliges Nichts auffaſſen läßt.

Zugleich aber erhält nunmehr einen beſtimmteren Sinn

die im Anfang dieſes §. gemachte Bemerkung, daß nicht

alle Handlungen zu Gegenſtänden von Obligationen gleich-

mäßig geeignet ſind: es eignen ſich nämlich dazu nicht

diejenigen Handlungen, für welche die Verwandlung in

Geldſummen völlig undenkbar ſeyn würde; wenigſtens kön-

ſetzung eines unveräußerlichen Ei-

genthums; gewiß alſo noch weit

weniger einen Werth der Hand-

lungen, insbeſondere der Arbeit,

die er in jener Stelle nur nicht

erwähnt. Allein durch dieſe unnö-

thige Beſchränkung verliert jener

Begriff den größten Theil ſeiner

Brauchbarkeit.

(l) Welche praktiſche Folgen an

dieſe bloße Möglichkeit zu

knüpfen ſind, bleibt hier noch

ganz unentſchieden. Erſt im Obli-

gationenrecht kann unterſucht wer-

den, ob eine ſolche Verwandlung

ſtets in der Wahl des Schuldners

ſteht, oder ob ſie nur als Aus-

hülfe gelten darf da wo der ur-

ſprüngliche Gegenſtand der Obli-

gation nicht mehr möglich iſt.

|0434 : 378|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

nen dieſe nur uneigentlich und in unvollkommner Weiſe

als Obligationen angeſehen werden.

In dem Begriff des individuellen Vermögens iſt die

Einheit, die wir ihm zuſchreiben, gegründet in der Perſon

des Inhabers. Für beſtimmte Zwecke aber läßt ſich die-

ſer einmal für ſich ausgebildete Begriff auch auf irgend

eine andere, künſtlich angenommene Begränzung übertra-

gen, wobey denn die Einheit eine willkührlich angenom-

mene iſt. Dieſes kommt vor bey dem Peculium und der

Dos, die allerdings für gewiſſe Zwecke als eigen begränz-

tes Vermögen angeſehen werden (m). Man bezeichnet häufig

jeden Fall dieſer Art als Universitas juris. Der Name

Universitas paßt darauf unſtreitig, denn dieſer bezeichnet

überall ein jedes Ganze im Gegenſatz ſeiner Beſtandtheile

gedacht (n). Die Zuſammenſetzung beider Ausdrücke kommt

in der Römiſchen Sprache nicht vor. Aber wichtiger und

tadelnswerther iſt es, daß man ſich durch dieſen neu er-

fundenen Kunſtausdruck hat verleiten laſſen, jenen Fällen

eine gemeinſchaftliche Natur zuzuſchreiben, und darauf ei-

 

(m) Zu dieſen zwey Fällen

kommt noch ein viel wichtigerer

hinzu, die Erbſchaft; davon aber

kann erſt im folgenden §. gere-

det werden.

(n) Dieſe Benennung wird an-

gewendet ohne Unterſchied, ob es

ein Ganzes von Perſonen iſt (z. B.

eine Bürgergemeine), oder von

Sachen (Heerde, Bibliothek), oder

von Rechten (Peculium, Dos);

ferner bey der Universitas von

Sachen, ohne Unterſchied ob die

Theile körperlich zuſammenhän-

gen (Haus im Gegenſatz der Bal-

ken und Steine) oder nicht (Heer-

de): ohne Unterſchied ob der kör-

perliche Zuſammenhang durch die

Natur hervorgebracht iſt (Thier

und Pflanze im Gegenſatz der ein-

zelnen Theile) oder durch menſch-

liche Willkühr (Haus).

|0435 : 379|

§. 57. Vermögensrecht. Fortſetzung.

nige willkührlich angenommene Rechtsregeln anzuwenden.

Es hat aber vielmehr jeder dieſer Fälle ſeine ganz eigene

Natur, und es iſt für jeden derſelben dieſe Natur und

die dafür geltende Rechtsregel beſonders feſtzuſtellen (o).

§. 57.

Vermögensrecht. Fortſetzung.

Es iſt oben (§ 53) bemerkt worden, daß in der Wirk-

lichkeit die Verhältniſſe der Familie und des Vermögens

einander vielfach berühren, und daß dieſe Berührung in

jeder dieſer beiden Klaſſen eigenthümliche Entwicklungen

erzeugt. So war im Familienrecht die Sklaverey lediglich

entſtanden aus der Aufnahme eines Falles des gewöhnli-

chen Eigenthums in die Familiengeſellſchaft: die potestas

war alſo Folge des dominium, und theilte alle Schickſale

deſſelben, wie ſich dieſes namentlich in der unbedingt mög-

lichen Veräußerung und Vererbung der Sklaven zeigt. Pa-

tronat und Mancipium hatten ſich wieder aus der Skla-

verey herausgebildet: die Vormundſchaft hat ihren Zweck

und ihre Bedeutung lediglich in dem Vermögen. Das

Colonat ſchließt ſich ganz an ein obligatoriſches Verhält-

niß an, welches den Inhalt deſſelben ausmacht, und deſ-

ſen Schickſale es theilt, z. B. in dem Übergang auf die

Erben des Herrn.

 

(o) Dieſer Gegenſtand iſt auf

gründliche und überzeugende Weiſe

behandelt von Haſſe über Uni-

versitas juris und rerum, Archiv

B. 5. N. 1.

|0436 : 380|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

Eben ſo finden ſich nun auch ähnliche Rückwirkungen

der Familie auf das Vermögen. Die erſte und unmittel-

barſte beſteht darin, daß eigenthümliche Vermögensinſti-

tute an die einzelnen Familienverhältniſſe ſelbſt ſich anſetzen:

dingliche Rechte nämlich und Obligationen, die in dieſer

Geſtalt und mit dieſem Verlauf nur unter der Voraus-

ſetzung beſtimmter Familienverhältniſſe möglich ſind. Wir

nennen die Geſammtheit derſelben das angewandte Fa-

milienrecht, und dieſes iſt gerade dasjenige, was der

Familie vorzugsweiſe ihren eigentlich juriſtiſchen Character

giebt (§ 54).

 

Außerdem iſt aber auch das Vermögensrecht in ſeinen

eigenen Gränzen derjenigen weiteren Entwicklung empfäng-

lich und bedürftig, die wir mit dem Namen des Erb-

rechts bezeichnen; deſſen Bedeutung ſoll nunmehr darge-

legt werden.

 

Urſprünglich betrachteten wir das Vermögen als eine

Machterweiterung des einzelnen Menſchen, folglich als ein

Attribut deſſelben in ſeiner abgeſchloſſenen Perſönlichkeit.

Da nun dieſe von vergänglicher Natur iſt, ſo muß das

Vermögen jedes Menſchen mit deſſen Tod ſeine rechtliche

Bedeutung verlieren, das heißt in das Nichts zurück fal-

len. Allein alles Recht überhaupt erhält ſeine Realität

und Vollendung erſt im Staate, als poſitives Recht die-

ſes Staates, und ſo konnte auch das Eigenthum zu einem

wirklichen Daſeyn nur dadurch gelangen, das es zunächſt

auf den Staat und vermittelſt der im poſitiven Recht des

 

|0437 : 381|

§. 57. Vermögensrecht. Fortſetzung.

Staats ausgebildeten Regeln auf die einzelnen Rechtsge-

noſſen im Staate, als Eigenthümer, bezogen wurde (§ 56).

Wenden wir dieſe Auffaſſung auf den erwähnten Fall an,

da ein Vermögen durch den Tod ſeines Inhabers auf-

hört, als ein Attribut deſſelben zu beſtehen, ſo wird es

nun nicht mehr in das Nichts zurückfallen, indem ſeine

Beziehung auf jene entferntere Grundlage, wegen der un-

vergänglichen Natur des Staates ſtets fortdauert. Wie

nun oben für die rechtliche Ausbildung der Herrſchaft des

Menſchen über die unfreye Natur verſchiedene mögliche

Wege dargeſtellt wurden, ſo kann auch ein ſolches, durch

den Tod zunächſt herrenlos gewordenes, Vermögen auf

verſchiedene Weiſe behandelt werden, um dem geſammten

Rechtsorganismus als Beſtandtheil ununterbrochen erhal-

ten zu bleiben.

Die erſte mögliche Behandlung zu dieſem Zweck liegt

darin, daß das Vermögen als Privatvermögen fortdauert,

indem durch eine Art von Fiction der Verſtorbene als

über ſeinen Tod hinaus fortwirkend angeſehen wird. Auch

dieſes wieder kann auf zweyerley Art geſchehen: theils in-

dem der im Leben ausgeſprochene Wille noch nach dem

Tode das Schickſal des Vermögens beſtimmt (Teſtamente

und Erbverträge); theils indem Diejenigen die Herrſchaft

über das Vermögen fortſetzen, welche dem Verſtorbenen

während ſeines Lebens in irgend einer Weiſe nahe ſtan-

den (Inteſtaterbfolge): wobey denn vorzugsweiſe der Ge-

 

|0438 : 382|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

danke an die durch die Blutsverwandtſchaft begründete

Fortſetzung der Individualität (§ 53) von Einfluß iſt.

Nach einer zweyten möglichen Behandlung wird das,

was bisher Privatvermögen war, bey dem Tod des In-

habers in Staatsvermögen verwandelt. Dieſes findet ſich

nicht ſelten in den Staaten des Orients. Aber auch im

chriſtlichen Europa tritt häufig dieſes Verfahren ein, wie-

wohl auf weit beſchränktere Weiſe; nämlich überall wo

Erbſchaftsſteuern eingeführt ſind, deren eigentliches We-

ſen in einer Theilung der Erbſchaft zwiſchen dem Staat

und anderen Erben beſteht.

 

Uns geht hier nur die erſte mögliche Löſung der Auf-

gabe an, nicht blos weil ſie im Römiſchen Recht aner-

kannt iſt, ſondern auch weil ſie allein dem Privatrecht

angehört, mit welchem wir uns ausſchließend zu beſchäf-

tigen haben. Bey dieſer nun entſteht vor allem die wich-

tige Frage, in welcher juriſtiſchen Form jener Übergang

des erledigten Vermögens auf neue Privat-Inhaber be-

wirkt werden ſoll. Die Verſchiedenheiten, welche in die-

ſer Hinſicht wahrgenommen werden, hängen nicht etwa

von verſchiedenen Principien ab, zwiſchen welchen zu wäh-

len wäre, ſondern vielmehr von der mehr oder weniger

gründlichen Auffaſſung und Löſung der Aufgabe ſelbſt. Es

wäre denkbar, daß eine Geſetzgebung ſich auf Beſtimmun-

gen beſchränkte, wodurch die einzelnen Beſtandtheile des

Vermögens, inſoferne ſie Etwas werth ſind, auch wirklich

an die Perſonen gebracht würden, welchen das erledigte

 

|0439 : 383|

§. 57. Vermögensrecht. Fortſetzung.

Vermögen zufallen ſoll; dadurch wäre für den unmittel-

bar praktiſchen Zweck nothdürftig geſorgt. Betrachtet man

aber das eigentliche Weſen und Bedürfniß des hier vor-

liegenden Rechtsverhältniſſes, ſo muß das Vermögen als

Einheit behandelt werden, deren Grund in der gemein-

ſamen Beziehung auf den verſtorbenen Inhaber zu ſuchen

iſt; dieſe Behandlung aber führt nothwendig weiter zur

Durchführung der Anſicht des Vermögens als einer rei-

nen Quantität, mit Abſtraction von der verſchiedenen Be-

ſchaffenheit ſeiner einzelnen Beſtandtheile (§ 56). In der

Kunſtſprache wird dieſes ſo ausgedrückt: alle Erbfolge iſt

zu behandeln als eine Successio per universitatem, neben

welcher nur auf untergeordnete Weiſe, und als beſchrän-

kende Ausnahme, eine beſondere Succeſſion in einzelne

Vermögenstheile vorkommen kann (a). Es gehört zu den

merkwürdigſten Erſcheinungen in der Geſchichte des Rö-

miſchen Nechts, daß in demſelben dieſe Anſicht auf ſo

klare und beſtimmte Weiſe anerkannt und durchgeführt

worden iſt, und zwar lediglich durch ächt praktiſchen Takt,

lange zuvor ehe an eine wiſſenſchaftliche Ausbildung die-

ſes Rechtsinſtituts gedacht werden konnte (b).

(a) Ich gebrauche dieſe Aus-

drücke hier nur vorläufig; die ge-

nauere Feſtſtellung derſelben, ſo

wie die der Succeſſion im Allge-

meinen, wird in einem nachfol-

genden Abſchnitt vorkommen.

(b) Ich bin weit entfernt zu

behaupten, daß die Römer die-

ſes Verhältniß ſchon frühe auf

eine abſtracte Weiſe aufgefaßt und

beſtimmt hätten. Es giebt aber

eine rein praktiſche Veranlaſſung,

auf dieſe Frage einzugehen, wo-

bey es ſich dann zeigen muß, ob

man ihren wahren Sinn erkannt

hat oder nicht: dieſes ſind die

Forderungen und Schulden in der

Erbſchaft. Was nun darüber

|0440 : 384|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

Es geht hieraus eine zwiefache Betrachtung des ganzen

Erbrechts hervor, deren jede gleich wahr und wichtig iſt. Es

erſcheint daſſelbe nehmlich erſtlich als eine Erwerbungsart

aller einzelnen zum Vermögen gehörenden Rechte, als ad-

quisitio per universitatem (c). Zweytens erſcheint der

Gegenſtand deſſelben als ein eigenthümliches, für ſich be-

ſtehendes Recht, als eine universitas (d), und hierauf be-

zieht ſich insbeſondere die eigenthümliche Art der Rechtsver-

folgung, die dabey eintritt. Beide Auffaſſungen vereinigen

ſich in der Anſicht, nach welcher die Erben mit dem Ver-

ſtorbenen Eine Perſon ausmachen, alſo denſelben fort-

ſetzen oder repräſentiren. Durch dieſe Anſicht wird alſo

das urſprüngliche Verhältniß völlig umgekehrt. Denn an-

ſtatt daß urſprünglich der Menſch als die Subſtanz ge-

dacht werden muß, das Vermögen als Accidens, indem

es die Freyheit des Menſchen nur modificirt durch Erwei-

 

ſchon die zwölf Tafeln beſtimmt

haben, war ſo durchgreifend und

befriedigend, daß die Rechtswiſ-

ſenſchaft zur Zeit ihrer höchſten

Ausbildung Nichts daran zu beſ-

ſern vorfand. Die ganze Suc-

cessio per universitatem war

alſo ſchon damals in voller Be-

ſtimmtheit gedacht. Vergl. L. 6

C. fam. herc. (3. 36.). L. 25

§ 9. 13 eod. (10. 2.). L. 7 C.

de her. act. (4. 16.). L. 26 C.

de pactis (2. 3.).

(c) Bey Gajus, und daher auch

in Juſtinians Inſtitutionen, iſt

das ganze Erbrecht nur von die-

ſem Geſichtspunkt aus in das

Syſtem der Rechtsinſtitute einge-

fügt worden. Die Einſeitigkeit

dieſer Auffaſſung zeigt ſich nun

unter andern auch darin, daß es

als Erwerbungsgrund des Ei-

genthums dargeſtellt iſt, da es

doch in dieſer Hinſicht dem Ei-

genthum nicht mehr und nicht

weniger angehört, als den Obli-

gationen.

(d) Die Erbſchaft wird daher

von den Neueren eine universi-

tas juris genannt, an welchen

unächten Ausdruck ſich dann wei-

ter manche die Sache betreffende

nicht unwichtige Irrthümer an-

ſchließen (§ 56).

|0441 : 385|

§. 57. Vermögensrecht. Fortſetzung.

terung, ſo erſcheint uns nunmehr das Vermögen als das

Bleibende und Weſentliche, zu welchem ſich die einzelnen

Inhaber nur als vorübergehende, wechslende Beherrſcher

verhalten.

Als Gegenſtand des Erbrechts wurde hier ſtets das

Vermögen ausſchließend behandelt, worin die Behaup-

tung liegt, daß die Familienverhältniſſe nicht zu den Ge-

genſtänden deſſelben gehören. Eigenthum und Obligatio-

nen alſo werden vererbt, Ehe, väterliche Gewalt und

Verwandtſchaft werden nicht vererbt. Allein diejenigen

künſtlichen Inſtitute des Familienrechts, die ſich ganz an

ein zum Vermögen gehörendes Recht anſchließen, müſſen

auch die Schickſale deſſelben theilen (§ 55). So wer-

den die Sklaven, wie jedes andere Eigenthumsſtück, ver-

erbt: eben ſo die Colonen mit dem Bauergute, mit wel-

chem ſie unzertrennlich verbunden ſind.

 

In der Aufſtellung des Erbrechts liegt die Vollendung

des Rechtsorganismus, welcher dadurch über die Lebens-

gränze der Individuen hinaus erſtreckt wird. Vergleichen

wir das Erbrecht mit demjenigen, was wir früher als

Vermögensrecht kennen gelernt haben, ſo erſcheint es dem-

ſelben nicht untergeordnet, ſondern coordinirt. Von dem

nun gewonnenen höheren Standpunkt aus müſſen wir in

dem geſammten Vermögensrecht zwey Haupttheile anneh-

men: das gleichzeitige und das ſucceſſive Vermögensrecht.

Das erſte enthält die Bedingungen, unter welchen jedes

Individuum für irgend einen gegebenen Zeitpunkt Vermö-

 

25

|0442 : 386|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

gen für ſich begründen kann (Sachenrecht und Obligatio-

nenrecht). Zwar kann auch hierin ein Wechſel durch Än-

derungen in der Zeit eintreten, aber er iſt zufällig, und

dem Weſen des Vermögens fremd. Bey dem zweyten

dagegen erſcheint dieſer Wechſel als nothwendig herbeyge-

führt durch das jedem Individuum vorbeſtimmte Lebens-

ziel, ja er ſelbſt iſt die Grundlage und der eigentliche

Inhalt des ganzen Rechtsverhältniſſes.

§. 58.

Überſicht der Rechtsinſtitute.

Die hier verſuchte Zuſammenſtellung der Rechtsinſti-

tute iſt gegründet auf das innerſte Weſen derſelben, näm-

lich auf ihren organiſchen Zuſammenhang mit dem We-

ſen des Menſchen ſelbſt, welchem ſie inhäriren. Alle an-

dere Eigenſchaften derſelben müſſen dagegen vergleichungs-

weiſe als untergeordnet, und zur Grundlage des ganzen

Rechtsſyſtems nicht geeignet erſcheinen. Dahin gehören

insbeſondere folgende Beziehungen. Erſtlich das Object

der Rechtsverhältniſſe, oder dasjenige was durch ſie un-

ſrem Willen eigentlich unterworfen wird (a). Dieſe Be-

ziehung hat nur Realität unter Vorausſetzung der Herr-

ſchaft als Grundcharacters der Rechtsverhältniſſe, wobey

man allerdings zunächſt zu fragen hat, was von uns

beherrſcht werden ſoll. Sie eignet ſich alſo zu einer Un-

 

(a) So wird der Begriff des

Rechtsobjects richtig beſtimmt von

Puchta, Rhein. Muſeum B. 3

S. 298.

|0443 : 387|

§. 58. Überſicht der Rechtsinſtitute.

terabtheilung des Vermögensrechts (§ 56), aber nicht zu

einer höchſten Eintheilung überhaupt, da ſie auf die Fa-

milie nicht paßt (§ 54). — Zweytens gehört dahin die

Beſchaffenheit der dem Berechtigten gegenüber ſtehenden

Perſon, je nachdem nämlich unſer Recht gegen alle Men-

ſchen überhaupt gerichtet iſt, oder nur gegen beſtimmte

Individuen. Von dieſem Standpunkt aus würden die

Rechtsinſtitute ſcheinbar alſo anzuordnen ſeyn:

1) Gegen Alle: die dinglichen Rechte und das Erb-

recht.

 

2) Gegen beſtimmte Individuen: die Familienverhält-

niſſe und die Obligationen.

 

Hieraus entſteht eine ſcheinbare Verwandtſchaft der

Familie mit den Obligationen, wodurch ſich Manche ha-

ben täuſchen laſſen. Die Unwahrheit derſelben beruht

darauf, daß dasjenige, was zwiſchen den beiden Indivi-

duen vorgeht, in beiden Fällen etwas völlig Ungleicharti-

ges iſt. Denn bey den Obligationen iſt es partielle Un-

terwerfung des Einen unter des Andern Willen: bey der

Familie iſt es ein natürlich-ſittliches, daneben auch recht-

liches, Lebensverhältniß, welches durch Beider Verbindung

fortwährend hervorgebracht werden ſoll, und wobey eine

ſolche Unterwerfung gar nicht Inhalt des Rechtsver-

hältniſſes iſt, welches vielmehr nur in dem allgemei-

nen, gegen Alle gerichteten Anſpruch auf Anerkennung des

Daſeyns dieſes Familienbandes beſteht (§ 54). Es iſt

alſo eine blos äußerliche und zufällige Verwandtſchaft,

 

25*

|0444 : 388|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

wodurch man ſich in dieſem Fall täuſchen läßt, nicht wahre

Gleichartigkeit (b).

Die einzelnen Rechtsinſtitute ſelbſt ſind bis hierher in

folgender Ordnung aufgezählt worden, wobey nur gegen-

wärtig diejenigen weggelaſſen werden ſollen, welche für

das heutige Römiſche Recht keine Bedeutung mehr haben:

 

Ehe.

Väterliche Gewalt.

Verwandtſchaft.

Vormundſchaft.

 Reines Familienrecht.

Schenrecht, oder Eigenthum und Jura in re.

Obligationen.

Angewandtes Familienrecht.

Erbrecht.

Es fragt ſich aber, ob es möglich und zweckmäßig iſt,

dieſelben auch in dieſer Ordnung darzuſtellen, ob alſo die

natürliche Reihe, worin uns die Begriffe dieſer Inſtitute

vor Augen treten, zugleich auch als die zweckmaͤßige Lehr-

folge anzuſehen iſt. Dagegen ſcheint beſonders folgende

Einwendung erheblich. Es iſt zwar an ſich möglich, das

 

(b) Nur durch Misverſtändniß

könnte dieſes ſo gedeutet werden,

als würde hier der Familie ein

ſchwächeres Band zwiſchen Indi-

viduen zugeſchrieben in Verglei-

chung mit den Obligationen. Ge-

rade umgekehrt afficirt die Fa-

milie den ganzen Menſchen in

ſeinem innerſten Weſen: die Obli-

gation geht nur auf des Schuld-

ners äußere, als von ihm ablös-

bar zu denkende Handlung (§ 56).

Das Band iſt alſo bey der Fa-

milie gewiß kein ſchwächeres, wohl

aber ein anderes: die Herrſchaft

und Unfreyheit, worin das We-

ſen der Obligation beſteht, iſt für

das Gebiet, worin die Familie ihr

wahres Weſen hat, viel zu ma-

teriell.

|0445 : 389|

§. 58. Überſicht der Rechtsinſtitute.

angewandte Familienrecht von dem reinen zu trennen, und

als einen eigenen Abſchnitt des ganzen Vermögensrechts

abzuhandeln: allein die lebendige Anſchauung der Familien-

verhältniſſe muß nothwendig dabey gewinnen, wenn mit

der Familie an ſich, auch die Einflüſſe derſelben auf das

Vermögen in unmittelbare Verbindung gebracht werden.

Soll nun dieſes geſchehen, ſo iſt es durchaus nöthig, das

ganze Familienrecht hinter das Vermögensrecht zu ſtellen,

weil der Einfluß der Familie auf das Vermögen nicht ver-

ſtanden werden kann, wenn nicht eine zuſammenhängende

Darſtellung des Sachenrechts und der Obligationen vor-

hergegangen iſt. Das Erbrecht endlich würde völlig un-

verſtändlich bleiben müſſen, wenn nicht eine vorangehende

genaue Darſtellung der Familie den Grund dazu gelegt

hätte. Aus dieſen Betrachtungen ergiebt ſich folgende An-

ordnung der Rechtsinſtitute, die ich als die einfachſte und

zweckmäßigſte meiner Darſtellung zum Grund legen werde:

Sachenrecht.

Obligationen.

Familienrecht (reines und angewandtes).

Erbrecht.

Nach dieſer Darlegung des Inhalts unſers Rechtsſy-

ſtems könnte man erwarten, daß nun ſogleich die Dar-

ſtellung des Sachenrechts beginnen werde. Wir befinden

uns dagegen jetzt noch inmitten eines allgemeinen Theils

von nicht unbeträchtlichem Umfang. Ein ſolcher iſt nun auch

ſchon von anderen Schriftſtellern aufgeſtellt worden, und

 

|0446 : 390|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

hat nicht ſelten dazu dienen müſſen, Rechtsinſtitute unter-

zubringen, wofür in dem Syſtem ſelbſt kein bequemer

Platz aufzufinden ſchien; dieſe Behandlung deſſelben als

einer bloßen Nothhülfe iſt denn von anderen Seiten wie-

der vielfältig getadelt worden. Es fragt ſich aber, ob

nicht ein Grund innerer Nothwendigkeit für ein ſolches

Verfahren aufzufinden iſt, woraus ſich dann zugleich die

rechten Gränzen deſſelben ergeben würden.

Wenn wir es verſuchen, die einzelnen Rechtsinſtitute

in dem lebendigen Zuſammenhang ihrer Theile, alſo voll-

ſtändig darzuſtellen, ſo kommen wir dabey nothwendig auf

manche Seiten ihres Weſens, die bey jedem anderen In-

ſtitut gleichfalls erſcheinen, wenngleich vielleicht mit eini-

gen Modificationen. Dahin gehört hauptſächlich die Na-

tur der Rechtsſubjecte, und insbeſondere ihrer Rechtsfä-

higkeit: ferner die Entſtehung und der Untergang der Rechts-

verhältniſſe: endlich der Schutz der Rechte gegen Verletzung,

und die daraus hervorgehenden Modificationen der Rechte

ſelbſt. Es giebt in der That kein Rechtsinſtitut, in welchem

nicht die Erörterung dieſer Fragen nöthig und wichtig wäre.

Wir könnten nun ſolche Stücke bey jedem Inſtitut wieder

ganz und von Neuem abhandeln, aber eine Wiederholung

dieſer Art würde weder für den Schriftſteller noch für

den Leſer erträglich ſeyn. Wir könnten ſie ganz und voll-

ſtändig bey dem erſten vorkommenden Rechtsinſtitut (alſo

nach unſrer Anordnung bey dem Eigenthum) abhandeln,

und bey den nachfolgenden darauf verweiſen: allein auch

 

|0447 : 391|

§. 58. Überſicht der Rechtsinſtitute.

dieſes Verfahren würde ſogleich als willkührlich und un-

verhältnißmäßig ſich darſtellen. Dazu kommt aber noch

die wichtigere Rückſicht, daß das wahrhaft Gemeinſame

in ſolchen Theilen der Rechtsinſtitute gerade durch die Zu-

ſammenſtellung gründlicher erkannt werden kann. Und ſo

erſcheint es denn von allen Seiten gerathen, dieſes wirk-

lich Gemeinſame auszuziehen und dem Syſtem der beſon-

deren Rechtsinſtitute voran zu ſtellen, um dann bey je-

dem einzelnen die Modificationen, die für daſſelbe gelten,

an jene gemeinſame Grundlage anknüpfen zu können.

Allerdings kann die Aufſtellung eines ſolchen allgemei-

nen Theils dadurch der richtigen Einſicht nachtheilig wer-

den, daß auf dieſe Weiſe leicht als allgemein dargeſtellt

wird, was in der That nur in einer concreten Beziehung

Anwendung findet. So z. B. wenn in den allgemeinen

Theil die Lehre von den Zinſen oder von der Correal-

ſchuld aufgenommen wird, welche beide doch nur für die

Obligationen gelten können. Noch häufiger, als eine ſolche

unrichtige Stellung ganzer Rechtsinſtitute, wird die unge-

hörig allgemeine Behandlung mancher beſonderen Begriffe

oder Rechtsſätze vorkommen, und dieſe wird, weil ſie un-

ſcheinbarer iſt, ſogar noch leichter zu irrigen Anſichten ver-

leiten können. Hierin iſt alſo große Sorgfalt anzuwen-

den, damit nicht das Beſondere ſchon durch die falſche

Stellung einen täuſchenden Schein von Allgemeinheit er-

halte, wodurch die richtige Gränze zwiſchen dem wahr-

haft Allgemeinen und dem Beſonderen überſchritten wer-

 

|0448 : 392|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

den würde. Ohnehin war für unſre Wiſſenſchaft von

jeher eine der ergiebigſten Quellen falſcher Anſichten in

einem grundloſen Beſtreben nach Abſtractionen zu finden:

dieſes Beſtreben aber kann durch die willkührliche und un-

kritiſche Aufſtellung eines allgemeinen Theiles ganz beſon-

ders befördert werden. So wenig aber dieſe Gefahr ver-

kannt, und die Warnung gegen eine übertriebene Ausdeh-

nung des allgemeinen Theils verſäumt werden ſoll, ſo

kann doch auch umgekehrt die Wahrheit dadurch gefähr-

det werden, daß ein Begriff oder ein Rechtsſatz nicht in

der ihm wirklich zukommenden Allgemeinheit aufgefaßt

wird. Und ſo iſt alſo hier, wie überall, der Takt, wel-

cher das rechte Maaß zu halten weiß, der einzige Schutz

wider entgegengeſetzte Verirrungen.

Vielleicht wäre über dieſen Punkt von jeher weniger

Zweifel und Streit entſtanden, wenn man ſtets die ver-

ſchiedenen Zwecke und Formen der Mittheilung nach ihrer

Eigenthümlichkeit in’s Auge gefaßt hätte. In einer Vor-

leſung über Inſtitutionen iſt es gewiß räthlich, ſo ſchnell

als möglich auf das Beſondere einzugehen, damit vor

Allem der Zuhörer in den Beſitz concreter Anſchauungen

von Rechtsinſtituten geſetzt werde. In den Vorleſungen

über Pandekten läßt ſich ſchon mehr Allgemeines mitthei-

len, ohne Gefahr, daß dieſes für den Zuhörer geſtaltlos

und ohne Anſchaulichkeit bleibe. Aber noch weiter darf

der Schriftſteller gehen, da dieſer gewiß auf eine große

Mehrzahl von Leſern rechnen kann, die in der Mitthei-

 

|0449 : 393|

§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.

lung nur eine neue Zuſammenſtellung und Verarbeitung,

oder aber eine kritiſche Prüfung und Berichtigung, der

in ihnen bereits vorhandenen concreten Kenntniſſe finden

werden.

§. 59.

Abweichende Meynungen über die Klaſſification.

Es iſt nicht meine Abſicht, die vielfachen Arten, wie

Andere den inneren Zuſammenhang der Rechtsinſtitute ge-

dacht, und darnach auch ihre Darſtellung derſelben ange-

ordnet haben, einzeln durchzugehen. Manches, das zu

ihrer Beurtheilung dienen kann, iſt ſchon in der Darle-

gung meines eigenen Planes enthalten. Ein Misverſtänd-

niß von allgemeinerer Natur muß jedoch hier noch erwähnt

werden. Soll uns eine vollſtändige Einſicht in das We-

ſen der Rechtsverhältniſſe entſtehen, wie ſie in das wirk-

liche Leben eingreifen, ſo iſt es nicht genug, ihren Inhalt

zu kennen, alſo die Wirkſamkeit, die ihnen in der gegen-

wärtigen Zeit zuzuſchreiben iſt, ſondern es muß uns zu-

gleich ihr eigener Lebensprozeß klar werden, alſo neben

der ſtabilen Seite ihrer Natur auch die bewegliche Seite

derſelben. Dazu gehört ihre Entſtehung und Auflöſung,

ihre Entwicklung und ihr möglicher Übergang in neue Ge-

ſtalten (Metamorphoſe), vorzüglich auch ihre Verfolgung

wenn ſie verletzt werden. Man hat nun zuweilen dieſe

einzelnen Momente in dem organiſchen Leben der Rechts-

 

|0450 : 394|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

verhältniſſe als eigene, neue Rechte aufgefaßt, ſie mit den

urſprünglichen Rechtsverhältniſſen auf Eine Linie geſtellt,

und nun die Stelle aufgeſucht, die ihnen im Syſtem aller

Rechte anzuweiſen wäre (a). Ein ſolches Verfahren konnte

nur zur Verwirrung der Begriffe führen.

Wenngleich nun die Prüfung der einzelnen Verſuche

zur ſyſtematiſchen Anordnung der Rechtsverhältniſſe hier

im Allgemeinen abgelehnt wird, ſo muß dieſes doch eine

Ausnahme leiden bey derjenigen Anordnung, die wir in

Juſtinians Inſtitutionen finden. Denn dieſe iſt ſeit Jahr-

hunderten von ſo vielen Lehrern und Schriftſtellern (we-

nigſtens der Abſicht und dem Namen nach) befolgt wor-

den, daß ſie das hiſtoriſche Gewicht einer großen Autori-

tät mit ſich führt, und daß es nöthig iſt, die Verſchieden-

heit der von mir vorgezogenen Anordnung zu rechtferti-

gen, wenigſtens zu erklären (b). Was wir bis auf die

neueſte Zeit als die Juſtinianiſche Anordnung kannten, das

kennen wir jetzt genauer als die des Gajus, welche Ju-

ſtinian durchaus beybehalten hat, ſoweit nicht eine Abän-

derung durch die in dem Rechte ſelbſt eingetretenen Ände-

 

(a) So war die Rede von dem

Recht des Menſchen, ſeinen Wil-

len zu erklären, eine Ehe oder

einen obligatoriſchen Vertrag zu

ſchließen, Eigenthum zu erwer-

ben, eine Klage anzuſtellen, Re-

ſtitution zu begehren u. ſ. w.

(b) Mit beſonderer Vorliebe

und Gründlichkeit hat dieſen Ge-

genſtand Hugo in folgenden

Schriften behandelt: Civ. Maga-

zin B. 4. Num. I. und IX. (1812).

B. 5. Num. XV. (1825). B. 6.

Num. XV. (1832). Encyclopädie

8te Ausg. S. 60—65 (1835). —

Außer ihm iſt von neueren Schrift-

ſtellern beſonders zu bemerken

Düroi Archiv für cipiliſt. Praxis

B. 6. S. 432—440.

|0451 : 395|

§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.

rungen augenſcheinlich herbeygeführt werden mußte. Dieſe

Ordnung des Gajus nun haben wir nach zwey Geſichts-

punkten zu prüfen: nach ihrer Entſtehung und Verbrei-

tung, und nach dem innern Werthe.

Was den erſten Geſichtspunkt (den hiſtoriſchen) betrifft,

ſo hat man nicht ſelten angenommen oder ſtillſchweigend

vorausgeſetzt, die Eintheilung in persona, res, actio, als

die drey Gegenſtände der Rechtsregeln (c), ſey eine uralte

und allgemein Roͤmiſche, indem ſie in allen oder den mei-

ſten Syſtemen Roͤmiſcher Juriſten wirklich befolgt worden

ſey (d). In der That kommen ſolche typiſche Gegenſätze

im Roͤmiſchen Recht vor, deren altes und feſt begründe-

tes Daſeyn aus dem überall wiederkehrenden, ſtets gleich-

foͤrmigen Sprachgebrauch unzweifelhaft wird. Dahin ge-

hoͤrt das vi, clam, precario, die drey Arten der Abhän-

gigkeit nach potestas, manus, mancipium, die drey capitis

deminutiones, die drey Stände der cives, latini, peregrini.

Daß ſolche Gegenſätze eine tiefe Wurzel in den Rechtsan-

ſichten ſelbſt hatten, und daß ſie wiederum auf die Be-

 

(c) So iſt dieſe Eintheilung zu

verſtehen, indem Gajus I. § 8

ſagt: „Omne jus quo utimur

vel ad personas pertinet, vel

ad res, vel ad actiones,” gerade

ſo wie er § 1 geſagt hatte: „Popu-

lus itaque Romanus partim suo

proprio, partim communi om-

nium hominum jure utitur.”

Persona, res, actio ſind ihm alſo

Gegenſtände der Rechtsregeln,

nicht der Befugniſſe, oder (nach

einem bekannten Sprachgebrauch)

es iſt ihm eine Eintheilung des

objectiven Rechts, nicht des ſub-

jectiven.

(d) Hugo nahm früher eine

ſolche Allgemeinheit für die den

Namen Institutiones führenden

Werke Römiſcher Juriſten an, ſpä-

ter erklärte er ſie für zweifelhaft.

Civ. Magazin B. 5 S. 403. 404,

B. 6 S. 286. 287. 337.

|0452 : 396|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

handlung der Theorie einwirkten, iſt nicht zu bezweifeln.

Ein ähnlich altes und verbreitetes Daſeyn ließe ſich aller-

dings auch bey der Eintheilung nach persona, res, actio

denken, und dann wäre ihre Wichtigkeit im Zuſammen-

hang mit dem Inhalt des Roͤmiſchen Rechts nicht zu be-

zweifeln; es fragt ſich nur, ob dieſes denkbare auch wahr

iſt. Zu dieſer Annahme aber haben wir nicht den gering-

ſten hiſtoriſchen Grund, ja ſie wird vielmehr dadurch ſehr

unwahrſcheinlich, daß derſelbe Gajus ein verwandtes Werk

(die res quotidianae) nach einem andern Plane geſchrie-

ben hat, und daß die Inſtitutionen des Florentinus, in

welchen man nach dem gleichen Titel dieſelbe Ordnung

mit den Inſtitutionen des Gajus erwarten möchte, den-

noch eine andere Ordnung befolgen (e). Wir haben alſo

keinen Grund, jener Eintheilung irgend eine allgemeine

Verbreitung zuzuſchreiben, vielmehr iſt es eben ſo möglich,

daß ſie blos auf einer individuellen, zufälligen Anſicht des

Gajus beruhte, der eben damals gerade ſo anzuordnen

für gut fand, und damit verſchwindet voͤllig das hiſtori-

ſche Gewicht, welches man darauf zu legen verſucht hat (f).

(e) Göſchen in der Zeitſchrift

für geſchichtliche Rechtswiſſenſchaft

B. 1. S. 74 — 76.

(f) Hugo civil. Magaz. B. 5

S. 417. B. 6 S. 284 hat noch ei-

nen andern Weg eingeſchlagen,

jener Eintheilung einen tiefen hi-

ſtoriſchen Grund zu vindiciren.

Sie ſoll nämlich gar nicht in der

Rechtswiſſenſchaft entſtanden ſeyn,

ſondern auf einer allgemeinen Le-

bensanſicht beruhen, die ſich die

alten Juriſten nur aneigneten,

nachdem ſie dieſelbe bey irgend

einem nichtjuriſtiſchen Schrift-

ſteller gefunden hatten. Wäre

dieſe Annahme auch mehr als

bloße Hypotheſe, ſo würde ſie

doch eher gegen als für den all-

gemeinen Gebrauch bey den Rö-

|0453 : 397|

§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.

Es bleibt nun noch übrig, jene Eintheilung nach dem

zweyten Geſichtspunkt, alſo nach ihrem innern Werthe,

zu prüfen. Dazu aber iſt vor Allem eine genaue Feſt-

ſtellung ihrer wahren Bedeutung noͤthig, worüber die neue-

ren Schriftſteller, mehr als man glauben ſollte, ſehr ver-

ſchiedene Meynungen haben.

 

Was iſt zuvörderſt der Inhalt des erſten Theils de

personis? Viele haben dieſen Theil von jeher ſo aufge-

faßt, als enthalte er die Lehre vom status, d. h. (wie ſie

dieſen Ausdruck verſtanden) von den wichtigſten Zuſtän-

den oder Eigenſchaften der Perſonen als Rechtsſubjecte,

alſo überhaupt die Lehre von den Rechtsſubjecten. Man

unterſchied nun weiter natürliche und civile Zuſtände, und

zählte unter jene das Alter, die Geſundheit u. ſ. w., un-

ter dieſe hauptſächlich die Bedingungen der Rechtsfähig-

keit, Freyheit, Civität, Unabhängigkeit, die auch wohl als

status principales beſonders ausgezeichnet wurden. Daß

nun die status in dieſem Sinn im erſten Buch der Inſti-

tutionen von Juſtinian und Gajus großentheils nicht vor-

kommen, ergiebt der Augenſchein, man mußte ſich daher

mit der Vorausſetzung beruhigen, daß man hierin Juſti-

nians unvollſtändige Darſtellung verbeſſert habe, wodurch

aber die ganze Annahme dieſes Geſichtspunktes für jenes

 

miſchen Juriſten beweiſen. Denn

der Gebrauch einer Form von ſo

zufälliger, dem Recht fremdarti-

ger Entſtehung ließe ſich etwa als

Einfall eines einzelnen Schrift-

ſtellers denken, aber es iſt nicht

glaublich, daß dieſer Einfall hätte

zu allgemeiner Anerkennung kom-

men ſollen.

|0454 : 398|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

erſte Buch ſehr zweifelhaft wird. Mehr Conſequenz und

ein ſchärfer beſtimmter Begriff findet ſich in Hugo’s Be-

hauptung, der erſte Theil (de personis) ſey nichts An-

deres, als die Lehre von der Rechtsfähigkeit, oder

von den drey Eigenſchaften, die der dreyfachen Capitis

deminutio entſprechen (g). Es widerſpricht aber dieſer An-

nahme der wirkliche Inhalt des erſten Buchs von Gajus

und Juſtinian. Denn die in der dritten divisio enthal-

tene Lehre von der Vormundſchaft hat mit der Rechtsfä-

higkeit gar Nichts zu ſchaffen, da ſie weder auf einen

Mangel derſelben, noch auf einen Erſatz für dieſen Man-

gel ſich bezieht (h). Dagegen fehlt auf der anderen Seite

einer der drey Hauptunterſchiede für die Rechtsfähigkeit,

der Unterſchied der Cives, latini, peregrini (i). Da nun

(g) Civil. Magazin B. 4 S. 20.

21. 235 — 237. — Andere ſuchen

zu vermitteln, indem ſie ſagen,

das Perſonenrecht ſey die Lehre

von dem Status und den Fami-

lienverhältniſſen; ſie nehmen alſo

einen zweyfachen, durch keinen ge-

meinſamen Begriff verbundenen

Inhalt an, welche Annahme ſchon

an ſich ſehr bedenklich iſt. So

Mühlenbruch I. § 78. — Düroi

Archiv B. 6 S. 437 ſagt, status

oder conditio bezeichne gewiſſe

wichtige Unterſchiede ohne gemein-

ſchaftliche innere Merkmale; mit

der Annahme einer ſo gedanken-

loſen Willkührlichkeit wird den

Römiſchen Juriſten ſchlechte Ehre

erwieſen. Daneben behauptet er,

es gehöre dahin der Unterſchied

der cives, latini, peregrini, der

doch als ſolcher im erſten Buch

des Gajus und der Inſtitutionen

gar nicht vorkommt.

(h) Die Vormundſchaft iſt le-

diglich ein Erſatz für die fehlende

Handlungsfähigkeit. Das giebt

auch Hugo ſelbſt zu, Rechtsge-

ſchichte S. 120 der 11ten Ausg.

(i) Über dieſen wichtigen Punkt

täuſcht man ſich gewöhnlich durch

den Umſtand, daß Gajus gele-

gentlich, aus Veranlaſſung an-

derer Rechtsinſtitute, dieſe Ein-

theilung der Perſonen erwähnt:

namentlich bey dem connubium

(1 § 56), der causae probatio

(1 § 66 fg.), dem Soldatenteſta-

ment (2 § 110), und am ausführ-

lichſten bey den drey Klaſſen der

|0455 : 399|

§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.

alſo das erſte Buch der Inſtitutionen weſentlich Mehr und

weſentlich Weniger enthält, als es nach dem von Hugo

angenommenen Inhalt deſſelben enthalten müßte, ſo ſcheint

mir dadurch dieſe Annahme ſelbſt voͤllig widerlegt. — Be-

trachten wir aber genauer dasjenige, was in der That im

erſten Buch der Inſtitutionen vorgefunden wird, ſo iſt es

faſt ganz daſſelbe, was ich oben als Familienrecht bezeichnet

habe. Es handelt nämlich in der That von Ehe, väter-

licher Gewalt, Manus, Sklaverey, Patronat (nämlich

von den Freygelaſſenen nach ihren verſchiedenen Klaſſen),

Mancipium, Vormundſchaft (k). Dagegen kommen nicht

vor die Cives, latini, peregrini, ſo wichtig dieſe auch für

die Rechtsfähigkeit ſind: denn dieſe gehoͤren an ſich in das

oͤffentliche Recht, obgleich eine Einwirkung derſelben auf

das Privatrecht (durch die Rechtsfähigkeit) unverkennbar

iſt. Nur die Verwandtſchaft, die ich als Zweig der Fa-

Freygelaſſenen, alſo bey dem Pa-

tronat, womit bey jeder dieſer

drey Klaſſen verſchiedene Rechte

verbunden ſind (1 § 12 fg.). Die-

ſes letzte kann leicht für eine ab-

ſichtliche Darſtellung der erwähn-

ten Eintheilung angeſehen wer-

den, allein es iſt doch auf jeden

Fall nur eine ganz einzelne An-

wendung jenes ſo allgemeinen Un-

terſchieds. Wollte man ſagen, es

ſey zur Zeit des Gajus die wich-

tigſte Anwendung geweſen, ſo

wäre das offenbar falſch. Denn

die vielen Millionen freygeborner

Peregrinen in den Provinzen wa-

ren doch gewiß wichtiger als die

dediticii, und auch an freyge-

bornen Latinen in ſehr großer

Anzahl konnte es nicht fehlen, da

die Latinität, welche Veſpaſtan

an ganz Spanien gab (Plinius

hist. nat. III. 4.), ſo viel wir

wiſſen, erſt in der allgemeinen

Civität von Caracalla unterge-

gangen iſt.

(k) Daß Juſtinian von dieſen

Rechtsinſtituten die außer Ge-

brauch gekommenen weggelaſſen

hat, iſt gewiß kein Gegengrund;

zugeſetzt hat er keine.

|0456 : 400|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

milie darſtellte, hat hier keine Stelle gefunden; allein dieſe

Differenz iſt wohl zu gering, als daß ſie die Identität

des Hauptgeſichtspunktes zweifelhaft machen koͤnnte: auch

muß es jedem Rigoriſten überlaſſen bleiben, die Verwandt-

ſchaft aus der Darſtellung des Roͤmiſchen Familienrechts

wegzulaſſen, wodurch dann die Übereinſtimmung zwiſchen

dem Inhalt des Familienrechts und dem des erſten Buchs

der Inſtitutionen vollſtändig werden würde (l). Daß Ga-

jus in der inneren Anordnung jener Rechtsinſtitute ab-

weicht, und daß er den Begriff des Familienrechts nicht

mit Namen nennt, wozu ihm ohnehin kein Kunſtausdruck

zu Gebote ſtand, wird wohl Niemand als Widerlegung

meiner Behauptung anſehen. Einige Hindeutung finde ich

jedoch in den hier vorkommenden Ausdrücken. Status und

conditio hominum hat nämlich nicht die ganz unbeſtimmte

Bedeutung eines Zuſtandes oder einer Eigenſchaft über-

haupt, ſondern es bezeichnet ganz beſonders die Stellung,

die der einzelne Menſch in den verſchiedenen Familien-

verhaͤltniſſen, als Ehegatte, Vater, Vormund u. ſ. w.,

einnimmt (§ 54 Note e). Auch jus personarum hat, wie

ich glaube, voͤllig dieſelbe Bedeutung, da es mit jenen

Ausdrücken abwechslend gebraucht wird. Es bezeichnet

alſo nicht einen Theil der Rechtstheorie, wie jus publicum

(l) Wenn übrigens die neue-

ren Schriftſteller, nach dem un-

läugbaren Vorgang von Gajus

und Juſtinian, der Verwandt-

ſchaft keine eigene Stelle unter

den Inſtituten der Familie an-

weiſen, ſo iſt dieſes ganz incon-

ſequent, da ſie doch der Agnaten-

familie in der Lehre von der ca-

pitis deminutio eine ganz beſon-

dere Wichtigkeit beylegen, wovon

weiter unten die Rede ſeyn wird.

|0457 : 401|

§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.

und privatum, ſondern vielmehr die Stellung des Einzel-

nen in den zur Familie gehörenden Rechtsverhältniſſen;

oder, nach dem Sprachgebrauch mancher Neueren, es be-

zieht ſich nicht auf das objective, ſondern auf das ſub-

jective Recht (vgl. Beylage VI.).

Noch weit beſtrittener aber iſt der Inhalt des zweyten

und dritten Theils, de rebus und de actionibus (m).

Hier liegt der Grund des Zweifels darin, daß der Ab-

ſchnitt von den Obligationen nach Einigen den Anfang

des dritten Theils bildet, als Einleitung zu den Actionen,

weil dieſe aus den Obligationen entſpringen: nach Ande-

ren das Ende des zweyten Theils, weil die Obligationen

unter die res gehören, als res incorporales (n). — Für

die erſte dieſer Meynungen hat man beſonders das Zeug-

niß des Theophilus geltend gemacht (o), der in der That

 

(m) Die Neueren bezeichnen

dieſe zwey Theile größtentheils

als Jus rerum und Jus actio-

num, nach der Analogie von Jus

personarum. Daß nun jene zwey

Zuſammenſetzungen bey den al-

ten Juriſten nicht gefunden wer-

den, könnte an ſich als zufällig

und gleichgültig angeſehen wer-

den. Allein es entſcheidet gegen

jenen Sprachgebrauch der Um-

ſtand, daß die erwähnte Analo-

gie nur einen täuſchenden Schein

hat, indem der Ausdruck Jus

personarum nicht einen Theil des

Syſtems, ſondern ein beſonderes

Rechtsverhältniß der Perſonen be-

zeichnet, von einem ähnlichen Ver-

hältniß aber unter mehreren res

oder mehreren actiones gewiß

nicht die Rede ſeyn kann.

(n) Wenigſtens iſt dieſe Geſtalt

der zweyten Meynung gewiß dem

Sinn des Römiſchen Rechts an-

gemeſſener, als wenn man (ſo

wie der Code civil) die Obliga-

tionen dem Eigenthum deswegen

zuordnet, weil ſie oft zur Erwer-

bung des Eigenthums Veranlaſ-

ſung geben.

(o) Hugo civ. Magazin B. 4

S. 17. B. 5 S. 399, welcher über-

26

|0458 : 402|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

dieſen Zuſammenhang angiebt. Allein dieſes Zeugniß

würde zwar ſehr wichtig ſeyn, als von einem Mitarbei-

ter an Juſtinians Inſtitutionen herrührend, wenn die Ein-

theilung in dieſen Inſtitutionen zuerſt entſtanden wäre: da

ſie aber, wie wir jetzt wiſſen, ſchon von Gajus ange-

wendet, und von Juſtinian nur beybehalten worden iſt,

ſo hat jenes Zeugniß wenig hiſtoriſches Gewicht, ſo lange

man nicht ohne den geringſten Beweis annehmen will,

Theophilus habe über die Abſicht des Gajus, die Obli-

gationen zum dritten Theil (de actionibus) zu rechnen,

bey einem älteren Schriftſteller eine Nachricht gefunden (p).

Giebt man aber das Zeugniß des Theophilus als nicht

entſcheidend auf, und ſucht die Streitfrage lediglich aus

inneren Gründen zu entſcheiden, ſo ſteht die Sache ſo.

Die Vertheidiger der erſten Meynung ſind dann genöthigt,

die Gegenſtände der drey Theile alſo anzugeben: Perſo-

nen, Sachen und Handlungen oder Forderungen (q). Dann

wäre der eigentliche Inhalt des dritten Theils das Obli-

haupt dieſe ganze Frage in den

oben (Note b) angeführten Stel-

len mit ungemeiner Vollſtändig-

keit behandelt, auch ſehr ſchätz-

bare literariſche Nachweiſungen

dazu gegeben hat.

(p) Hugo civ. Magazin B. 5

S. 404. B. 6 S. 337. Er giebt

jedoch zu, Theophilus könne wohl

die ältere Nachricht, wenigſtens

was den Grund der Verbin-

dung der Obligationen mit dem

dritten Theil betreffe, misverſtan-

den und entſtellt haben, auch ſey

man wohl bey der Abfaſſung der Ju-

ſtinianiſchen Inſtitutionen ſchwan-

kend über die Sache geweſen. (En-

cyclopädie S. 63).

(q) Hugo civil. Magaz. B. 4

S. 49. B. 5 S. 417. Encyclopä-

die S. 60. 61.

|0459 : 403|

§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.

gationenrecht, zu welchem ſich die actiones blos als An-

hang oder Zugabe verhielten: dieſes aber paßt weder zu

dem Inhalt und Umfang des mit den actiones anfangen-

den großen Abſchnitts, noch zu der urſprünglichen An-

gabe des Gajus ſelbſt, worin die actiones, nicht die obli-

gationes, als Gegenſtand des dritten Theils angegeben

werden, wie es in der That auch Theophilus verſteht,

der den Obligationen nur die Stellung einer Vorbereitung

zu den Actionen anweiſt. Ich halte daher für wahrſchein-

licher die zweyte Meynung, nach welcher der zweyte Theil

(de rebus) genau dasjenige enthält, was ich oben als

Vermögensrecht bezeichnet habe (Sachenrecht und Obliga-

tionenrecht), der dritte Theil aber die gemeinſchaftliche

Lehre von der Verfolgung der Rechte. Dieſen drey Thei-

len des Syſtems hätten bey Gajus auch drey Bücher des

Werks entſprechen können: da aber der zweyte Theil un-

gefähr ſo viel Umfang hatte, als die zwey anderen Theile

zuſammen, ſo zog er es vor, dem Werk vier Bücher zu

geben, und zwey derſelben dem zweyten Theile anzuwei-

ſen. — Übrigens iſt der hier erwähnte Streit über die

wahre Stellung der Obligationen, für die Anordnung des

Rechtsſyſtems im Ganzen von geringerer Erheblichkeit, als

man gewöhnlich annimmt. Denn daß Gajus das ganze

Vermögensrecht in Einer ununterbrochenen Folge abhan-

delt, iſt unbeſtritten: eben ſo, daß der dritte Theil die

Rechtsverfolgung und Vieles aus dem Prozeßrecht enthält.

26*

|0460 : 404|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

Der Streit beſchränkt ſich auf die Frage, ob der zweyte

Theil (de rebus) das ganze Vermögensrecht umfaßt, ſo

daß die Obligationen das letzte Kapitel deſſelben ausma-

chen, oder ob dieſe als ein einleitendes Kapitel dem drit-

ten Theil (de actionibus) voran geſtellt ſind.

Prüfen wir nun den inneren Werth der ſo beſtimm-

ten Eintheilung, ſo müſſen wir ſie, ihrem Hauptplane

nach, dem Gegenſtand angemeſſen, in der genaueren Aus-

führung aber unbefriedigend finden. Sie giebt mehreren

der wichtigſten Rechtsinſtitute eine viel zu untergeordnete

Stellung; ſo der Ehe, welche nur als Entſtehungsgrund

der väterlichen Gewalt vorkommt, als ob ſie nicht auch

für ſich ſelbſt den gerechteſten Anſpruch auf Anerkennung

hätte: ſo das Erbrecht, welches wörtlich nur als Erwer-

bungsgrund des Eigenthums erwähnt wird, da es doch

völlig auf dieſelbe Weiſe zur Anwendung kommt, es mag

in einem Vermögen Eigenthum vorgefunden werden oder

nicht. Dieſe unnatürliche Stellung iſt großentheils da-

durch herbeygeführt worden, daß in dem ganzen Werk

ein übertriebener Gebrauch von der logiſchen Form der

divisiones gemacht wird, welche Einſeitigkeit der Behand-

lung auch manche andere ſehr gezwungene Übergänge ver-

anlaßt hat (r). Allein dieſe formellen Unvollkommenheiten

 

(r) So z. B. beſteht ſein erſter

Theil aus drey divisiones, deren

dritte alſo lautet: Alle Menſchen

ſtehen entweder unter Vormund-

ſchaft oder nicht, demnach wollen

wir jetzt von der Vormundſchaft

handeln. Auf ähnliche Weiſe könnte

man die Darſtellung des Kauf-

|0461 : 405|

§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.

ſind weder der Reichhaltigkeit, noch der Klarheit des Werks

hinderlich geweſen, deſſen unvergleichlichen Werth gewiß

kein Freund unſrer Wiſſenſchaft verkennen wird. Nur zu

einer unbedingten Nachahmung ſeiner formellen Einrich-

tung, auch wo wir dieſe für unvollkommen erkennen, iſt

kein Grund vorhanden, und es darf nicht als Dünkel und

Anmaaßung getadelt werden, wenn wir es verſuchen, den

hiſtoriſch überlieferten Stoff des Römiſchen Rechts, nach

ſeinem eigenthümlichen Bedürfniß, aber in anderer Weiſe,

als es von Gajus geſchehen iſt, darzuſtellen. Ohnehin

finden ſich die zwey Haupttheile des Syſtems von Gajus,

Familienrecht und Vermögensrecht, auch in unſrer Dar-

ſtellung als Haupttheile wieder, ſo daß die Abweichung

doch nur die genauere Gliederung im Einzelnen betrifft (s).

contracts ſo einleiten: Alle Men-

ſchen haben entweder Kaufcon-

tracte geſchloſſen oder nicht (oder

auch: alle Rechtsgeſchäfte ſind ent-

weder Kaufcontracte oder nicht),

demnach wollen wir jetzt von den

Kaufcontracten handeln. — Eben

daraus erklärt ſich auch die Son-

derbarkeit, daß die Sklaven zwey-

mal vorkommen, in der erſten

und in der zweyten divisio, ohne

daß eine verſchiedene juriſtiſche

Beziehung dieſes Verfahren recht-

fertigte. Die erſte Erwähnung

iſt nämlich nur ſcheinbar, und

dient nur als Übergang zu den

verſchiedenen Klaſſen der Freyge-

laſſenen (d. h. alſo der Patronats-

verhältniſſe), oder mit andern Wor-

ten: die divisio der liberi und

servi ſteht nur da als Vorwand

für die subdivisio der Ingenui

und Libertini, auf die es an die-

ſer Stelle allein abgeſehen iſt.

Es iſt alſo nicht richtig, wenn

Manche dieſe doppelte Erwähnung

der Sklaven dadurch rechtfertigen

wollen, daß Gajus an der einen

Stelle von der potestas, an der

anderen von dem dominium in

servos handele. Denn gerade

dieſes iſt augenſcheinlich nicht der

Fall; er handelt bey der erſten

Erwähnung von dem, was die

Sklaven ſelbſt angeht gar nicht.

(s) Hugo ſelbſt, bey aller Be-

|0462 : 406|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

Insbeſondere aber muß ich mich noch gegen den über-

triebenen Werth erklären, welcher oft auf dieſe die Form

unſrer wiſſenſchaftlichen Darſtellungen betreffenden Fragen

gelegt wird. Nicht als ob dieſer Gegenſtand eben gleich-

gültig wäre: nur müſſen wir uns nicht darüber täuſchen,

was eigentlich das Weſentliche dabey iſt. Wenn eine

dogmatiſche Darſtellung des Rechts ſo beſchaffen iſt, daß

die innere Einheit der Rechtsinſtitute zerſtört, das weſent-

lich Verſchiedene verbunden, daß das wahre Verhältniß

der Wichtigkeit verſchiedener Inſtitute gegen einander ent-

ſtellt und verkehrt wird, dann ſind ſolche formelle Män-

gel weſentlich, weil ſie den Stoff ſelbſt verdunkeln, und

der wahren Einſicht hinderlich werden. Wo aber jener

Fall nicht eintritt, da koͤnnen wir uns die Anordnung ei-

nes Werks gefallen laſſen, auch wenn wir manche Män-

gel derſelben wahrzunehmen glauben. Nach dieſem Princip

einer in gewiſſen Gränzen zuläſſigen Duldſamkeit iſt oben

 

wunderung jenes Römiſchen Sy-

ſtems, welchem er eine größere

Verbreitung zuſchreibt, als ich an-

zunehmen hiſtoriſchen Grund finde,

räumt doch ein, daß nach allge-

meinen Rechtsanſichten, und be-

ſonders für das Bedürfniß un-

ſres heutigen Rechts, manche an-

dere Anordnung zweckmäßiger ſeyn

möchte, als die der Inſtitutionen,

und er kommt dabey im Ganzen

auf die von mir angenommenen

Geſichtspunkte. Civ. Mag. B. 5

S. 397. B. 6 S. 284—287. Über-

haupt halte ich die Meynungsver-

ſchiedenheit, die hierin unter uns

beſteht, für weit unweſentlicher,

als ſie auf den erſten Blick er-

ſcheint, und es macht mir beſon-

dere Freude hinzuſetzen zu kön-

nen, daß mir die hier dargelegte

Anordnung zuerſt durch Hugo’s

Inſtitutionen Berlin 1789 zuge-

kommen iſt, obgleich ich ſie ſeit-

dem auf meine Weiſe zu ent-

wickeln und zu begründen ver-

ſucht habe.

|0463 : 407|

§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.

erklärt worden, daß der Werth des Gajus durch das,

was wir an ihm auszuſetzen finden, gar nicht vermindert

werde: und nach demſelben Princip können auch in un-

ſern Tagen verſchiedene Rechtsſyſteme friedlich neben ein-

ander beſtehen, ſo abweichend ihre Einrichtung dem erſten

Blick auch erſcheinen mag. Die Duldſamkeit alſo, die

hier in Anſpruch genommen wird, darf nicht verſtanden

werden als Gleichgültigkeit gegen das Unvollkommene ir-

gend einer Art, ſondern als ehrende Anerkennung des freyen

Spielraums individueller Auffaſſung, worauf das wahre

Leben aller Wiſſenſchaft beruht.

Noch iſt hier eine in unſern Rechtsquellen vorkom-

mende allgemeine Anſicht zu erwähnen, die auf den erſten

Blick gleichfalls als Grundlage einer Klaſſification ange-

ſehen werden könnte, die ich jedoch nur anhangsweiſe be-

handle, weil ſie in der That zu jenem Zweck von neueren

Schriftſtellern nicht angewendet worden iſt. Ich meyne

die drey Juris praecepta, welche Ulpian in folgenden

Worten aufſtellt: Juris praecepta sunt haec; honeste vi-

vere, neminem laedere, suum cuique tribuere (t). Ho-

neste vivere iſt die Erhaltung der ſittlichen Würde in der

eigenen Perſon, ſo weit dieſe Würde äußerlich ſichtbar

wird. Neminem laedere iſt die Achtung der fremden Per-

 

(t) L. 10 § 1 de just. et jure (1. 1.), § 3 J. eod. (1. 1.).

|0464 : 408|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

ſönlichkeit als ſolcher, alſo die praktiſche Anerkennung der

ſogenannten Urrechte. Suum cuique tribuere endlich iſt

die Anerkennung der geſammten erworbenen Rechte ande-

rer Menſchen (u). Sind nun dieſes in der That Rechts-

regeln, wie man nach Ulpians Ausdruck glauben möchte?

Das zweyte und dritte praeceptum ſcheinen ſolche Regeln

zu ſeyn, das erſte nicht; in der That aber ſind in allen

keine Rechtsregeln zu ſuchen, ſondern vielmehr ſittliche

Vorſchriften, worin Rechtsregeln ihre Grundlage haben.

Von dem dritten praeceptum iſt dieſes ſogleich einleuch-

tend, es iſt das ſittliche Gebot der Gerechtigkeit, welches

hier mit dem Syſtem der erworbenen Rechte gleichen In-

halt und Umfang hat (v). Auch bey dem zweyten iſt es

unverkennbar, daß darin viele der wichtigſten Rechtsre-

geln ihren Urſprung haben. Aber ſelbſt das erſte prae-

ceptum, bey welchem dieſe Beziehung am meiſten zweifel-

(u) Manche haben geſagt, das

zweyte praeceptum betreffe die

Perſon, das dritte das Vermö-

gen; darin liegt aber nicht die

wahre Gränze. Daß Einer die

Ehe oder väterliche Gewalt eines

Andern nicht verletze, gehört zum

dritten praeceptum (obgleich es

nicht das Vermögen betrifft), die

Vermeidung des Todtſchlags zum

zweyten. — Burchardi Grund-

züge des Rechtsſyſtems § 42 fg.

deutet die drey praecepta in ſei-

ner Weiſe: das erſte als jus pu-

blicum, das zweyte als jus pri-

vatum, das dritte als das ge-

miſchte Actionenrecht. Vgl. oben

§ 16. o.

(v) Daraus erklärt ſich, warum

die justitia ausſchließend als vo-

luntas jus suum cuique tribu-

endi erklärt zu werden pflegt,

ohne Erwähnung der beiden er-

ſten praecepta. L. 10 pr. de J.

et J. (1. 1.), L. 31 § 1 depos.

(16. 3.), Cicero de invent. II.

53, de finibus V. 23, Auct. ad

Herenn. III. 2.

|0465 : 409|

§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.

haft erſcheint, iſt dennoch der Entſtehungsgrund von Rechts-

regeln, und kann deswegen im Sinn Ulpians ein Juris

praeceptum genannt werden. Aus ihm entſpringt jede

Rechtsanſtalt gegen Verletzung der boni mores, gegen das

turpe (w). Aber zu ihm gehört zugleich die wichtige, ſo

Vieles umfaſſende, Summe von Rechtsregeln, die ſich auf

die Forderung der Wahrheit und Redlichkeit gründen,

alſo der höchſt mannichfaltige Einfluß des Dolus auf alle

Theile des Privatrechts. Von dieſen Rechtsregeln kann

man ſagen, daß ſie dem erſten und zweyten praeceptum

zugleich angehören, indem ſie in jedem derſelben ihre eigene,

von dem andern praeceptum unabhängige, Rechtfertigung

finden. Die drey praecepta ſind alſo keine Rechtsregeln,

aber ſie begründen eine Klaſſification der Rechtsregeln

nach ihren Entſtehungsgründen: nur daß freylich Niemand

daran denken wird, das Syſtem der Rechte nach dieſer

Ordnung abzuhandeln. Sucht man die Rangordnung der

drey praecepta nach ihrem inneren Weſen zu beſtimmen,

ſo ſteht das erſte am hoͤchſten, weil es das innerlichſte iſt,

und eben deshalb auch den Keim der anderen mit in ſich

trägt; das zweyte hat ſchon einen mehr äußerlichen Cha-

racter, das dritte noch mehr. Daher koͤnnen auch dieſe

beide vollſtändig beobachtet werden, unabhängig von der

ſittlichen Geſinnung des rechtlich handelnden Menſchen.

(w) Dahin gehört die Ungül-

tigkeit der Verträge, welche et-

was Unſittliches mittelbar oder un-

mittelbar befördern: eben ſo die

condictio ob turpem causam.

|0466 : 410|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.

Sieht man dagegen auf die Wichtigkeit und Fruchtbarkeit

der drey praecepta für das Recht, ſo iſt das Verhältniß

gerade umgekehrt. Das dritte iſt die ergiebigſte Quelle von

Rechtsregeln, das zweyte und erſte ſind ſtufenweiſe weniger

ergiebig: ſehr natürlich, weil das Recht, ſeinem Weſen nach,

dem Gebiet des äußeren Zuſammenlebens angehoͤrt (x).

(x) Im Weſentlichen dieſelbe

Anſicht von den drey praeceptis,

daß ſie nämlich nicht ſelbſt Rechts-

regeln, ſondern Entſtehungsgrün-

de der Rechtsregeln ſind, hat ſchon

Weber, natürliche Verbindlich-

keit § 98, nur führt er dieſelbe

nicht durch die einzelnen prae-

cepta durch.

|0467 : [411]|

Beylagen.

I. II.

|0468 : [412]|

|0469 : [413]|

Beylage II.

Jus naturale, gentium, civile.

(Zu § 22 Note s).

Bey den Roͤmiſchen Juriſten finden ſich zwey Einthei-

lungen des Rechts in Beziehung auf ſeine allgemeine Ent-

ſtehung. Die eine iſt zweygliedrig: Recht das nur bey den

Römern gilt (civile), oder aber bey allen Völkern (gen-

tium oder naturale). Die andere iſt dreygliedrig: Recht

das nur bey den Römern gilt (civile), oder bey allen

Völkern (gentium), oder bey Menſchen und Thieren zu-

gleich (naturale).

 

Die erſte dieſer Eintheilungen halte ich nicht blos für

allein richtig, ſondern ich behaupte auch, daß ſie bey den

Römern ſelbſt als herrſchende Anſicht zu betrachten iſt,

während die andere nur als Verſuch einer weiteren Aus-

bildung gelten kann, der weder allgemeine Anerkennung,

noch Einfluß auf einzelne Rechtslehren erhalten hat.

 

Die zweygliedrige Eintheilung findet ſich am vollſtän-

digſten durchgeführt in vielen Stellen des Gajus. Im

Eingang ſeines Werks ſtellt er dieſelbe ausdrücklich auf,

ohne Spur eines möglichen drittes Gliedes (a). Das Jus

 

(a) Gajus I. § 1 (L. 9 de J. et J. 1. 1.).

|0470 : 414|

Beylage I.

gentium iſt ihm das ältere, ſo alt als das Menſchengeſchlecht

ſelbſt (b). Es entſpringt aus der allen Menſchen inwoh-

nenden naturalis ratio (c). Daher nennt er es anderwärts

auch jus naturale, wie er denn die natürlichen Erwerbun-

gen des Eigenthums mit willkührlicher Abwechslung bald

auf das jus naturale zurückführt (d), bald auf die natura-

lis ratio (e). Den Satz, daß dem Eigenthümer des Bo-

dens ſtets auch das Haus gehört, gruͤndet er auf Jus ci-

vile und naturale zugleich (f). Die Agnationen und Co-

gnationen nennt er civilia und naturalia jura (g). Offen-

bar alſo nimmt er nur zwey Arten an, und Jus naturale

iſt ihm mit Jus gentium völlig gleichbedeutend.

Eben ſo kennt Modeſtin nur zweyerley Recht, civile

und naturale (h). Daſſelbe findet ſich bey Paulus, der

auch die Wirkung der servilis cognatio als eines Ehehin-

derniſſes dem naturale jus zuſchreibt (i). Desgleichen wird

naturale jus von Marcian, Florentinus und Lici-

nius Rufinus in Fällen gebraucht, in welchen ſie un-

zweifelhaft das Jus gentium meynen, ja ſelbſt mit dieſem

Ausdruck abwechſeln (k).

 

(b) L. 1 pr. de adqu. rer. dom.

(41. 1.).

(c) Gajus I. § 1. 189. L. 1

pr. de adqu. rer. dom. (41. 1.).

(d) Gajus II. § 65. 73.

(e) Gajus II. § 66. 69. 79.

(f) L. 2 de superfic. (43. 18.).

(g) Gajus I. § 158.

(h) L. 4 § 2 de grad. (38. 10.).

(i) L. 11 de J. et J. (1. 1.).

L. 14 § 2 de ritu nupt. (23. 2.).

(k) L. 2. 3. 4. de div. rer. (1.

8.). L. 59 de obl. et act. (44. 7.).

L. 32 de R. J. (50. 17.). Auch

Cicero ſtellt überall nur natura

und lex einander gegenüber, und

nimmt natura und Jus gentium

als gleichbedeutend an. Cicero

de off. III. 15.

|0471 : 415|

Jus naturale, gentium, civile.

Die dreygliedrige Eintheilung hat am vollſtändigſten

Ulpian (l): neben ihm Tryphonin (m) und Hermo-

genian (n). Sie beruht auf folgender Anſicht. Es gab

eine Zeit, worin die Menſchen nur diejenigen Verhält-

niſſe unter ſich anerkannten, welche ihnen mit den Thieren

gemein ſind: das der Geſchlechter, und das der Fortpflan-

zung und Erziehung. Darauf folgte ein zweytes Zeital-

ter, welches Staaten gründete, Sklaverey, Privateigen-

thum, Obligationen einführte, und zwar unter allen Men-

ſchen auf gleiche Weiſe. Zuletzt bildete ſich in jedem ein-

zelnen Staate das Recht auf eigenthümliche Weiſe aus,

theils durch abweichende Beſtimmung jener allgemeinen In-

ſtitute, theils durch neu hinzugefügte Inſtitute.

 

Das erſte, was an dieſer Eintheilung auffällt, und

weshalb man ſie oft hart getadelt hat, iſt das den Thie-

ren zugeſchriebene Recht und Rechtsbewußtſeyn (o). Allein

 

(l) L. 1 § 2. 3. 4. L. 4. L. 6

pr. de J. et J. (1. 1.).

(m) L. 64 de cond. indeb.

(12. 6.), über die Entſtehung

der Sklaverey, ganz mit Ulpian

übereinſtimmend. Weniger be-

ſtimmt iſt L. 31 pr. depos. (16. 3.).

„Si tantum naturale et gentium

jus intuemur,” wo das naturale

et gentium auch ſo verſtanden

werden kann: naturale id est

gentium, ja wo ein Unterſchied

beider Rechte ſelbſt nach dieſer

Anſicht nicht paſſen würde.

(n) L. 5 de J. et J. (1. 1.). Zwar

nennt die hier excerpirte Stelle

nur das Jus gentium, aber mit

ſo ſichtbarer Rückſicht auf das

früher vorhandene Jus naturale

(was er ohne Zweifel unmittel-

bar vorher genannt hatte), daß

wir unbedenklich eine völlige Über-

einſtimmung mit Ulpian anneh-

men können. Auch habe ich die

im Text gegebene Darſtellung der

ganzen Anſicht großentheils aus

dieſer Stelle geſchöpft.

(o) L. 1 § 3 de J. et J. (1. 1.)

„jus istud … omnium anima-

lium .. commune est.” Und nach-

her: „videmus etenim cetera

quoque animalia, feras etiam,

istius juris peritia censeri.”

|0472 : 416|

Beylage I.

wenn man nur den allerdings übel gewählten Ausdruck

preisgiebt, ſo läßt ſich die Anſicht ſelbſt, von dieſer Seite

wohl vertheidigen. Jedes Rechtsverhältniß hat zur Grund-

lage irgend einen Stoff, auf welchen die Rechtsform an-

gewendet wird, und der alſo auch abſtrahirt von dieſer

Form gedacht werden kann. Dieſe Materie iſt in den

meiſten Rechtsverhältniſſen inſoferne von willkührlicher Art,

daß ein dauerndes Beſtehen des Menſchengeſchlechts auch

ohne ſie gedacht werden kann; ſo bey dem Eigenthum und

den Obligationen. Nicht ſo bey den zwey oben genann-

ten Verhältniſſen, die vielmehr allgemeine Naturverhält-

niſſe ſind, den Menſchen mit den Thieren gemein, und

ohne welche das Menſchengeſchlecht gar kein dauerndes

Daſeyn haben könnte. In der That alſo wird nicht das

Recht, ſondern die Materie des Rechts, das demſelben

zum Grunde liegende Naturverhältniß, den Thieren zuge-

ſchrieben (p). Dieſe Anſicht nun iſt nicht nur wahr, ſon-

dern auch wichtig und der Beachtung werth; nur eignet

ſie ſich nicht zu einer Eintheilung des Rechts, namentlich

für das praktiſche Bedürfniß der Römer. Veranlaſſung

dazu gab ohne Zweifel die Wahrnehmung, daß die Rechts-

inſtitute, auch wenn ſie ſich bey allen fremden Völkern

fänden, dennoch in verſchiedenem Grade als natürlich an-

geſehen werden müßten. So z. B. konnte man nicht ver-

(p) Nicht weſentlich verſchieden

iſt die Vertheidigung des Ulpian

bey Donellus I. 6: Ulpian ſchreibe

nicht das wirkliche Rechtsverhält-

niß den Thieren zu, ſondern nur

etwas ihm Ähnliches. Jedoch iſt

damit die Eintheilung als ſolche

noch nicht gerechtfertigt.

|0473 : 417|

Jus naturale, gentium, civile.

kennen, daß die erſte Entſtehung der Sklaverey aus Ge-

walt, alſo aus Zufall und Willkühr, abzuleiten ſey: ja

es iſt möglich, daß die Natur dieſes Verhältniſſes zu der

ganzen Anſicht den Anſtoß gegeben hat. Allein die ganze

hierauf gegründete Eintheilung iſt zu verwerfen. Erſtlich

weil an ſich die Unterſcheidung des mehr oder weniger

Natürlichen eine willkührliche und ſchwankende iſt: zwey-

tens weil die Eintheilung, ſo gefaßt, lediglich das allge-

meine, unbeſtimmte Daſeyn der Rechtsinſtitute betraf, und

daher unfruchtbar bleiben mußte: die weit wichtigere Aus-

führung in einzelnen Rechtsregeln lag ganz außer ihrem

Gebiet. Nicht ſo bey der zweygliedrigen Eintheilung, in

welcher auch der Gegenſatz der Rechtsregeln ſichtbar wird,

und die deswegen für die Anwendung auf das Rechtsſy-

ſtem allein Brauchbarkeit hat.

Es läßt ſich aber auch zeigen, daß die zweygliedrige

Eintheilung im Römiſchen Recht ſtets die Herrſchaft be-

hauptet hat. Dafür könnte man ſchon die groͤßere Zahl

der dafür angeführten Zeugniſſe geltend machen. Doch

lege ich darauf weniger Gewicht, da die Auswahl der

Stellen, die wir darüber beſitzen, ſehr zufällig gemacht

ſeyn kann. Dagegen halte ich für ganz entſcheidend den

großen Einfluß derſelben, der ſich durch das ganze Rechts-

ſyſtem nachweiſen läßt, anſtatt daß die dreygliedrige in

keiner einzelnen Anwendung erſcheint. Überall nämlich

finden wir in den Rechtsinſtituten und in einzelnen Rechts-

ſätzen einen aus zwey, nicht aus drey Gliedern beſtehen-

 

27

|0474 : 418|

Beylage I.

den Gegenſatz; das zweyte Glied bezieht ſich ſtets auf das

Jus gentium, und wird dennoch (was keinen Zweifel übrig

läßt) regelmäßig durch den Ausdruck naturalis bezeichnet.

Zwar könnte man auch dieſes nur als eine Vermehrung

der Zeugniſſe für die zweygliedrige Eintheilung anſehen,

ſo daß auch in ihnen nur der fortdauernde Streit der

Meynungen, nicht der reelle Sieg der einen Meynung,

ſichtbar wäre. Allein Ulpian ſelbſt hat in ſehr vielen

Stellen dieſe Auffaſſung und Bezeichnung, und es iſt alſo

klar, daß auch er die dreygliedrige Eintheilung nur als

eine unſchuldige Speculation im Allgemeinen aufſtellte, in

allen wichtigen Anwendungen aber durch das ganze Rechts-

ſyſtem davon keinen Gebrauch zu machen verſuchte. — Die-

ſer zweygliedrige Gegenſatz, bezeichnet durch civile und na-

turale, kommt namentlich in folgenden Anwendungen vor:

1) Die Bedingungen der Ehe beruhen auf civilis oder

naturalis ratio (q).

2) Es giebt zweyerley Verwandtſchaft, civilis und na-

turalis cognatio, auch nach Ulpian (r).

3) Eigenthum und Obligationen koͤnnen bald civiliter,

bald naturaliter erworben werden, und darnach richtet ſich

die Zuläſſigkeit einer freyen Stellvertretung (s).

4) Das Recht des Eigenthümers des Bodens auf das

Haus nennt Ulpian naturale jus (t).

(q) pr. J. de nupt. (1. 10.).

(r) L. 4 § 2 de grad. (38. 10.)

(Modeſtin), § 1 J. de leg.

agn. tut. (1. 15.). L. 17 § 1

de adopt. (1. 7.) (Ulpian).

(s) L. 53 de adqu. rer. dom.

(41. 1.) (Modeſtin).

(t) L. 50 ad L. Aquil. (9. 2.).

|0475 : 419|

Jus naturale, gentium, civile.

5) Die possessio iſt entweder civilis oder naturalis,

auch bey Ulpian (u).

6) Beſonders wichtig iſt der Gegenſatz von civilis und

naturalis obligatio, den auch Ulpian mit dieſer Bezeich-

nung anerkennt (v). Die Bedeutung der naturalis obliga-

tio als einer durch das Jus gentium begründeten iſt nicht

nur für ſich klar, ſondern wird auch noch in mehreren

Stellen ausdrücklich bezeugt (w).

Völlig gedankenlos iſt in dieſer Sache das Verhalten

der Juſtinianiſchen Inſtitutionen. Zuerſt nehmen ſie die

Stelle des Ulpian über die dreygliedrige Eintheilung auf,

und wenden ſie auf den Fall der Sklaverey an (x). Dann

nehmen ſie auch die Stellen des Gajus, des Marcian,

und des Florentinus auf, worin die zweygliedrige Ein-

theilung theils vorgetragen, theils ganz beſtimmt voraus

geſetzt wird (y). Beſonders merkwürdig aber iſt eine Stelle,

worin ſie die Worte des Gajus aufnehmen, aber mit ei-

nem Zuſatz, welcher ausdrücklich ſagt, Jus naturale heiße

ſo viel als Jus gentium, und es ſey dieſes ſchon vorher

ſo vorgetragen worden (z).

 

(u) L. 3 § 15 ad exhib. (10.

4.). L. 1 § 9. 10 de vi (43. 16.),

beide von Ulpian.

(v) L. 6 § 2. L. 8 § 3 de fidej.

(46. 1.). L. 14 de Obl. et Act.

(44. 7.). L. 6 de compens. (16.

2.). L. 10 de V. S. (50. 16.).

L. 1 § 7 de pec. const. (13. 5.),

alle von Ulpian.

(w) L. 84 § 1 de R. J. (50.

17.) (Paulus). L. 47 de cond.

indeb. (12. 6.) (Celſus).

(x) § 4 J. de J. et J. (1. 1.)

pr. J. de j. nat. (1. 2.) pr. J.

de Lib. (1. 5.).

(y) § 1. 11 J. de j. nat. (1. 2.)

pr. § 1. 18 J. de div. rer. (2. 1.).

(z) § 11 J. de div. rer. (2. 1.).

„quarundam enim rerum do-

27*

|0476 : 420|

Beylage II.

Nach dieſer Erörterung iſt es am gerathenſten, die

Vorſtellungsweiſe des Ulpian als eine Curioſität auf ſich

beruhen zu laſſen, und dagegen die des Gajus als die

im Roͤmiſchen Recht herrſchende zu behandeln.

 

Beylage II.

L. 2 C. quae sit longa consuetudo (8. 53.).

(Zu § 25 Note y).

Dieſes Reſcript Conſtantins vom J. 319 lautet alſo:

Consuetudinis ususque longaevi non vilis auctoritas est:

verum non usque adeo sui valitura momento, ut aut ra-

tionem vincat aut legem.

 

Es iſt unglaublich, wie vielen Anſtoß dieſe Stelle von

jeher erregt hat, und wie viele Verſuche gemacht worden

ſind, den Anſtoß zu beſeitigen. Der Sinn, der zunächſt

daraus hervorzugehen ſcheint, iſt der, daß Gewohnheiten

nur gelten ſollen zur Ergänzung der Geſetze, aber nicht

zur Abänderung oder Aufhebung derſelben. Gerade dieſer

Sinn aber iſt nach vielen Zeugniſſen aus allen Zeitaltern

ſo verwerflich (§ 25), daß wir nothwendig einen anderen

aufſuchen müſſen.

 

Zuerſt nun können wir unbedenklich annehmen, daß

hier nur von partikulären Gewohnheiten die Rede iſt, und

 

minium nanciscimur jure na-

turali, quod, sicut diximus,

appellatur jus gentium; qua-

rundam jure civili.”

|0477 : 421|

L. 2 C. quae sit longa consuetudo.

daß es z. B. dem Kaiſer nicht in den Sinn kam, ſolche

allgemeine Gewohnheiten, wie z. B. die, wodurch das

zweyte Kapitel der L. Aquilia antiquirt wurde (a), zu ent-

kräften. Dieſes folgt erſtlich ſchon daraus, daß hier ge-

wiß nur über ſolche Gewohnheitsrechte verfügt werden

ſollte, welche künftig neu entſtehen oder doch zu Tage

kommen würden. Das war aber zu Conſtantins Zeit faſt

nur noch von partikulären Gewohnheiten zu erwarten.

Zweytens wäre der etwas geringſchätzige Ausdruck non

vilis auctoritas für eine allgemeine Nationalſitte ganz un-

paſſend geweſen, von dem Gewohnheitsrecht einzelner Orte

konnte er wohl gebraucht werden. — Ferner iſt unter der

lex, die hier erwähnt wird, in dieſer Zeit entſchieden nichts

Anderes als ein Kaiſergeſetz zu verſtehen. Und ſo entſteht

alſo hier die allgemeine Frage: wie verhält ſich ein partiku-

läres Gewohnheitsrecht zu einem kaiſerlichen Landesgeſetz?

Dieſes kann nun ſelbſt wieder entweder eine abſolute oder

eine vermittelnde Natur haben (§ 16). Iſt es ein abſolu-

tes Geſetz, ſo entſteht durch das allgemeine Staatsverhält-

niß eine ſehr natürliche Beſchränkung für das partikuläre

Gewohnheitsrecht (§ 9). Selbſt ohne Geſetz iſt ein ſol-

ches Gewohnheitsrecht unmöglich, wenn dadurch ein all-

gemeines Staatsintereſſe verletzt wird (b). Dieſes wird

(a) L. 27 § 4 ad L. Aquil.

(9. 2.).

(b) L. 1 C. Th. de longa

consu. (5. 12.): „Cum nihil per

causam publicam intervenit,

quae diu servata sunt perma-

nebunt.” Eben ſo in einem ein-

zelnen Fall, aber mit großer Be-

ſtimmtheit, Nov. 134 C. 1.

|0478 : 422|

Beylage II.

alſo nicht weniger gelten, wenn daſſelbe Staatsintereſſe

einem abſoluten Geſetz die Entſtehung gegeben hat. Ge-

gen ein ſolches Geſetz alſo kann die ſpätere Gewohnheit

einer Stadt oder Gegend nicht aufkommen. Eben ſo we-

nig aber auch deren früheres Gewohnheitsrecht, das man

ſonſt wohl eben als ein partikuläres, von dem allgemei-

nen Geſetz nicht ausdrücklich aufgehobenes, zu ſchützen ver-

ſuchen könnte. So ſollen z. B. gegen Wuchergeſetze we-

der frühere, noch ſpätere partikuläre Gewohnheiten gel-

ten (c). Ein ganz ähnliches Verhältniß tritt auch bey Ge-

ſetzen für einzelne Orte ein. So z. B. war durch ſolche

Geſetze in manchen Städten erlaubt, in der Stadt zu be-

graben; als nun ſpäterhin dieſe Art der Beerdigung aus

polizeylichen Gründen allgemein verboten wurde, ſo wa-

ren damit jene Geſetze, auch ohne beſonders erwähnt zu

ſeyn, dennoch aufgehoben (d). — Anders verhält es ſich

bey vermittelnden Geſetzen. So führt Azo das Beyſpiel

der Gewohnheiten von Modena und Ravenna an, nach

welchen die kirchlichen Emphyteuſen nicht verfallen,

wenngleich binnen zwey Jahren kein Canon gezahlt iſt:

dieſe Gewohnheiten ſind gültig, weil ja auch durch

Verträge jede Abweichung hierüber beſtimmt werden

(c) L. 26 § 1 C. eod. (4. 32.).

L. 1 pr. de usuris (22. 1.) ſpricht

gar nicht von Gewohnheitsrecht,

ſondern von dem üblichen Zins-

fuß, der vielleicht das geſetzli[ – 2 Zeichen fehlen]

Maaß überſchreiten könnte; ob

er nun in dieſem Fall, und un-

ter welchen Bedingungen, das Ge-

ſetz abändert, ſagt wenigſtens

dieſe Stelle nicht. Vgl. Puchta II.

S. 77.

(d) L. 3 § 5 de sepulchro

viol. (47. 12.).

|0479 : 423|

L. 2 C. quae sit longa consuetudo.

könnte (e). — Dieſer Gegenſatz allein aber iſt es, wel-

cher über die Kraft des partikulären Gewohnheitsrechts

im Verhältniß zu einem allgemeinen Landesgeſetz entſchei-

det: nicht der Gegenſatz des öffentlichen und Privatrechts.

Denn auch im öffentlichen Recht giebt es Regeln, die

zwar zur gewöhnlichen Ordnung gehören, aber im Ein-

zelnen ohne Gefahr Ausnahmen erleiden können: bey ſol-

chen iſt auch ein partikuläres Gewohnheitsrecht zuläſſig.

So z. B. war es Regel, daß die Municipalmagiſtrate

keine legis actio, namentlich bey Emancipationen, hätten,

Einzelnen war ſie ausnahmsweiſe gegeben: hier nun läßt

noch Juſtinian unbedenklich eine Begründung dieſes Vor-

rechts durch Gewohnheit zu (f). Dagegen hatte in Bithy-

nien die Lex Pompeja verordnet, in die Stadtſenate ſoll-

ten nur Bürger derſelben Stadt, nicht aus anderen Bi-

thyniſchen Städten, aufgenommen werden: man hatte dieſe

Vorſchrift häufig nicht beachtet, und es entſtand die Frage,

ob jenes Geſetz durch die Gewohnheit einzelner Städte

aufgehoben ſey. Trajan ließ zwar aus Schonung die

jetzt vorhandenen fremden Senatoren gelten, erklärte aber

für die Zukunft, daß das Geſetz ungeachtet der Gewohn-

heit beobachtet werden müſſe: ohne Zweifel weil das Ge-

ſetz einen politiſchen Zweck hatte (g).

Bisher iſt der Theil der Stelle erklärt worden, wel-

 

(e) Azo Comm. in Cod., in

L. 2 cit.

(f) L. 4 de adopt. (1. 7.).

C. de emanc. (8. 49.)

(g) Plinius epist. X. 115, 116.

|0480 : 424|

Beylage II.

cher ſagt: consuetudo non vincit legem. Nun ſagt ſie

aber auch noch: consuetudo non vincit rationem, und es

fragt ſich, was das hoͤchſt vieldeutige Wort ratio eben

hier bedeute. In anderen Stellen über das Gewohnheits-

recht heißt ratio die gemeinſame Überzeugung von der

Wahrheit und Nothwendigkeit einer Regel, alſo der eigent-

liche Entſtehungsgrund dieſes Rechts, zu welchem ſich die

Gewohnheit ſelbſt nur als Folge und Kennzeichen ver-

hält (h). Das kann es hier nicht heißen, denn wie könnte

von einem Conflict der Überzeugung mit der Gewohnheit,

in welchem dieſe letzte weichen müßte, die Rede ſeyn?

Allein in anderen Stellen kommt neben einer ratio juris

auch eine ratio utilitatis vor (i), und da unter der lex

ein im Staatsintereſſe erlaſſenes Landesgeſetz zu verſtehen

iſt, ſo bezeichnet die ratio das gerade nicht durch ein Ge-

ſetz geſchützte Staatsintereſſe, die ratio publicae utilitatis.

Durch dieſe Erklärung erhält der Ausdruck einen beſtimm-

teren und mehr praktiſchen Sinn, als wenn man darun-

ter die Vernünftigkeit der Gewohnheit überhaupt verſte-

hen wollte.

Der ganze Inhalt der Stelle wäre ſonach dieſer: Ört-

liche Gewohnheiten ſollen nicht gelten, wenn ſie mit dem

Staatsintereſſe im Widerſpruch ſtehen, mag nun dieſes

durch ein (früheres oder ſpäteres) Landesgeſetz anerkannt

 

(h) L. 39 de leg (1. 3.). L. 1.

C. quae sit l. c. (8. 53.) S. das

Syſtem § 25 Note d.

(i) L. 1 C. de aquir. et retin.

poss. (7. 32.). „.. tam ratione

utilitatis quam juris pridem

receptum est.” Savigny Be-

ſitz S. 363 der 6ten Ausg.

|0481 : 425|

L. 2 C. quae sit longa consuetudo.

ſeyn, oder nicht. Und mit dieſer Vorſchrift iſt zwar etwas

nicht Unwichtiges über die örtlichen Gewohnheiten be-

ſtimmt, aber etwas das in ihrem natürlichen Verhältniß

zum Staatsverband gegründet iſt, nicht etwa eine will-

kührliche, poſitive Einſchränkung ihrer Wirkſamkeit. Das

Poſitive, was man etwa darin ſuchen koͤnnte, wäre der

ganz allgemeine Ausdruck lex, den man ſo verſtehen koͤnnte,

daß dieſe Vorſchrift für alle Geſetze, nicht blos für die

abſoluten, gelten ſollte. Allein nach der Verbindung in

welcher der Ausdruck mit ratio ſteht, noch weit mehr aber

nach der Verbindung, worin ſich die Stelle mit den übri-

gen Ausſprüchen der Juſtinianiſchen Rechtsbücher findet,

ſcheint es mir richtiger, den Ausdruck nur auf abſolute

Geſetze zu beziehen, zu welchen ohnehin der groͤßere Theil

der Kaiſergeſetze, und beſonders der ſehr eingreifenden

Geſetze von Conſtantin, gehörte.

Das Weſentliche dieſer Erklärung, nämlich das Ver-

hältniß des örtlichen Gewohnheitsrechts zu allgemeinen

Geſetzen, findet ſich ſchon bey Johannes und Azo, ob-

gleich ſchwankend und mit Irrigem vermiſcht: beſtimmter

und deutlicher bey Donellus (k). Schon Placentin führt

auf den falſchen, ſpäter ſehr oft betretenen Weg, zwiſchen

Republiken und Monarchieen zu unterſcheiden: in jenen ſoll

das Gewohnheitsrecht gegen ein Geſetz gelten, in dieſen

nicht (l). Die Neueren haben oft ſehr willkührliche Wege

 

(k) Azo comm. in Cod. in

h. L. Accursius ibid. Donel-

lus Lib. 1. C. 10.

(l) Placentinus in Summa

Cod, tit. quae sit longa consu.

|0482 : 426|

Beylage II.

eingeſchlagen, beſonders indem ſie die Vorſchrift auf ir-

gend eine einzelne Anwendung der Gewohnheiten zu be-

ſchränken verſuchten; dadurch wurde der Widerſtreit mit

anderen Stellen höchſtens quantitativ vermindert, nicht

aufgehoben (m). Einige legen alles Gewicht auf das sui

momento: die Gewohnheit an ſich ſey nicht beſſer als ein

Geſetz, es komme alſo ſtets nur darauf an, welches von

beiden das neuere ſey. Dann wäre der praktiſche Sinn

nur der, daß jede Gewohnheit durch ein ſpäteres Geſetz

ganz gewiß aufgehoben werde, und nicht etwa dagegen

durch ihre höhere Natur geſchützt ſey. Etwas ſo Über-

flüſſiges hat aber gewiß Conſtantin nicht ausſprechen wol-

len (n). Endlich deutet Hofacker die Erklärung an, nach

welcher die consuetudo hier nicht ein Gewohnheitsrecht,

ſondern nur eine factiſche, materielle Gewohnheit (wie

z. B. häufige Diebſtähle) bezeichne: dieſe ſolle ein Geſetz

nicht aufheben (o). Allein dafür würde ſelbſt der beſchei-

(m) So z. B. Schweitzer de

desuetudine Lips. 1801. 8. p. 47

— 57. (Hübner) Berichtigun-

gen und Zuſätze zu Höpfner

S. 167. — Schweitzer beſchränkt

die Stelle ganz willkührlich auf

die bloße desuetudo im Gegen-

ſatz der ſtets zuläſſigen obrogatio

durch Gewohnheit: die desuetudo

ſey in der Republik gültig gewe-

ſen (darauf gehe L. 32 de leg.),

in der Monarchie nicht (L. 2 C.

quae sit l. c.). — Hübner ſieht

in der Stelle blos das Verbot

einer irrigen Uſualinterpretation:

aber durch dieſe würde ja nicht

die lex überwunden, ſondern nur

die abweichende Meynung Desje-

nigen, der dieſe Auslegung für

irrig hält.

(n) Hilliger ad Donellum I.

10, und ausführlicher Avera-

nius Interpret. Lib. 2. C. 1.

(o) Hofacker I. § 122: „.. con-

suetudinem h. l. accipi pro con-

suetudine agendi civium, quae

.. legi prohibitivae obstet.” —

Puchta I. 120. II. 58. 211 — 215

ſchlägt einen ähnlichen Weg ein,

indem er die hier erwähnte con-

|0483 : 427|

L. 2 C. quae sit longa consuetudo.

dene Ausdruck non vilis auctoritas noch viel zu gut ſeyn,

da eine Gewohnheit in dieſem Sinn auch nicht die ge-

ringſte auctoritas haben kann.

Sehr merkwürdig endlich iſt noch die Art, wie das

canoniſche Recht dieſe Schwierigkeiten behandelt hat. Un-

ſere Stelle findet ſich in dem Decret wörtlich eingerückt (p).

Allein die Schwierigkeiten in der Erklärung derſelben wa-

ren den Canoniſten nicht unbekannt geblieben, und Gre-

gor IX. ſuchte dieſe in einer eigenen Decretale durch fol-

gende Paraphraſe zu löſen (q). „Das naturale jus (d. h.

das von Gott dem Menſchen eingepflanzte) kann durch

keine Gewohnheit abgeändert werden: auch das poſitive

Recht (das Staatsgeſetz) kann es nicht, außer wenn die

Gewohnheit vernunftgemäß, und durch hinreichende Dauer

 

suetudo nur von der factiſchen

Übung verſteht, welche nicht als

Kenntniß der gemeinſamen Über-

zeugung (alſo des Gewohnheits-

rechts) ſoll gelten können, wo de-

ren Exiſtenz juriſtiſch oder geſetz-

lich unmöglich ſey. — Nun ent-

ſteht aber die weitere Frage,

woran wir es erkennen ſollen,

daß manche Fälle der Übung un-

tauglich ſind, das Daſeyn eines

Volksrechts zu conſtatiren? durch

die Antwort, die er hierauf giebt,

(II. S. 214) kommt ſeine Erklä-

rung mit der hier gegebenen im

letzten Reſultat überein. Nach

beiden Meynungen fehlt es an

den Bedingungen, unter welchen

die factiſche Gewohnheit zu einem

wahren Gewohnheitsrecht wer-

den, alſo Wirkſamkeit erlangen

kann.

(p) c. 4 D. XI.

(q) C. 11 X. de consuet. (1. 4.).

„.. Licet etiam longaevae con-

suetudinis non sit vilis aucto-

ritas: non tamen est usque adeo

valitura, ut vel juri positivo

debeat praejudicium generare,

nisi fuerit rationabilis, et le-

gitime sit praescripta.” Der

Schluß iſt eigentlich nur eine

Wiederholung oder beſtimmtere

Einſchärfung des im Anfang ſte-

henden longaevae, und es würde

dieſes wahrſcheinlich weggelaſſen

worden ſeyn, wenn man nicht

räthlich gefunden hätte, die Worte

der Codexſtelle ſo viel möglich

beyzubehalten.

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Beylage II.

befeſtigt iſt.“ Hier iſt alſo dem Richter die Beurtheilung

eines vernunftmäßigen Inhalts der Gewohnheit überlaſſen,

jedoch nicht für alle Fälle überhaupt, ſondern nur wenn

die Gewohnheit ein Geſetz abändern ſoll. Dieſe vom Rö-

miſchen Recht abweichende, auch an ſich bedenkliche Be-

ſtimmung iſt offenbar aus dem Beſtreben hervorgegangen,

die verſchiedenen Meynungen die ſich aus Veranlaſſung

unſrer Stelle unter den Juriſten gebildet hatten, durch

eine Art von mittlerem Durchſchnitt zu vereinigen. —

Hier war die Rede von dem Verhältniß der neuen Ge-

wohnheit zu einem älteren Geſetz: ähnlich iſt folgende

Vorſchrift über das umgekehrte Verhältniß (r). Wenn der

Pabſt ein allgemeines Geſetz giebt, ſo ſollen dadurch frü-

here örtliche Gewohnheiten oder Statute nicht aufgehoben

ſeyn, vorausgeſetzt, daß ſie vernunftmäßig befunden wer-

den, und daß ihre Aufhebung in jenem Geſetz nicht beſon-

ders ausgeſprochen iſt.

Eben ſo merkwürdig iſt die förmliche Parodie unſrer

Stelle, die ſich im Lombardiſchen Lehenrecht findet. Es

mag oft geſchehen ſeyn, daß ein Romaniſt irgend eine

Stelle des Corpus Juris für ſich anführte, die mit den

Lehensgewohnheiten im Widerſpruch ſtand, und dann die

Gewohnheit durch Anführung der L. 2 C. quae sit l. c.

zu entkräften ſuchte. Dieſem Verfahren widerſpricht nun

 

(r) C. 1 de constitut. in VI.

(1. 2.): „.. ipsis, dum tamen

sint rationabilia, per consti-

tutionem a se noviter editam,

nisi expresse caveatur in ipsa,

non intelligitur in aliquo de-

rogare.”

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L. 2 C. quae sit longa consuetudo.

Obertus im Allgemeinen durch folgenden aus unſrer Stelle

parodirten Satz: Legum autem Romanarum non est

vilis autoritas, sed non adeo vim suam extendunt, ut

usum vincant aut mores (s).

Gedruckt bei den Gebr. Unger.

 

(s) 2 Feud. 1.

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Druckfehler.

S. 108 Z. 16 ſt. Togik l. Topik.

‒ 268 Note a Z. 4 ſt. aus l. ans.

‒ 295 Note c Z. 3 ſt. qnae l. quae.

‒ 301 ‒ h ‒ 4 ‒ Imperiali l. Imperatoria.

‒ 320 Z. 15 ſt. Überigen l. Übrigen.

‒ 320 ‒ 21 ‒ eben l. oben.

‒ 322 Note f Z. 4 ſt. Abſicht l. Anſicht.

‒ 351 ‒ g ‒ 11 ſt. conspicabatur l. conspirabatur.

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