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|0007 : [I]|
Syſtem
des
heutigen Römiſchen Rechts
von
Friedrich Carl von Savigny.
Erſter Band.
Mit K. Bairiſchen und K. Würtembergiſchen Privilegien.
Berlin.
Bei Veit und Comp.
1840.
|0008 : [II]|
|0009 : [III]|
Vorläufige Überſicht des ganzen Werks.
Erſtes Buch. Rechtsquellen.
Kap. I. Aufgabe dieſes Werks.
Kap. II. Allgemeine Natur der Rechtsquellen.
Kap. III. Quellen des heutigen Römiſchen Rechts.
Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
Zweytes Buch. Rechtsverhältniſſe.
Kap. I. Weſen und Arten der Rechtsverhältniſſe.
Kap. II. Die Perſonen als Träger der Rechtsverhältniſſe.
Kap. III. Entſtehung und Untergang der Rechtsverhältniſſe.
Kap. IV. Verletzung der Rechtsverhältniſſe.
Drittes Buch. Anwendung der Rechtsregeln auf die
Rechtsverhältniſſe.
Viertes Buch. Sachenrecht.
Fünftes Buch. Obligationenrecht.
Sechstes Buch. Familienrecht.
Siebentes Buch. Erbrecht.
a*
|0010 : [IV]|
|0011 : [V]|
Inhalt des erſten Bandes.
Erſtes Buch. Quellen des heutigen Römiſchen Rechts.
Erſtes Kapitel. Aufgabe dieſes Werks.
Seite.
§. 1. Heutiges Römiſches Recht 1
§. 2. Gemeines Recht in Deutſchland 4
§. 3. Gränzen der Aufgabe 5
Zweytes Kapitel. Allgemeine Natur der Rechtsquellen.
§. 4. Rechtsverhältniß 6
§. 5. Rechtsinſtitut 9
§. 6. Begriff der Rechtsquellen 11
§. 7. Allgemeine Entſtehung des Rechts 13
§. 8. Volk 18
§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, öffentliches Recht 21
§. 10. Abweichende Meynungen über den Staat 28
§. 11. Völkerrecht 32
|0012 : VI|
Inhalt des erſten Bandes.
Seite.
§. 12. Gewohnheitsrecht 34
§. 13. Geſetzgebung 38
§. 14. Wiſſenſchaftliches Recht 45
§. 15. Die Rechtsquellen in ihrem Zuſammenhang 50
§. 16. Abſolutes und vermittelndes, regelmäßiges und
anomaliſches Recht 57
Drittes Kapitel. Quellen des heutigen Römiſchen Rechts.
§. 17. A. Geſetze 66
§. 18. B. Gewohnheitsrecht 76
§. 19. C. Wiſſenſchaftliches Recht 83
§. 20. Fortſetzung 90
§. 21. Concurrirende Rechtsquellen 100
§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im
Allgemeinen 105
§. 23. Ausſprüche der Römer über die Geſetze 121
§. 24. Fortſetzung 128
§. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht 144
§. 26. » » » über das wiſſenſchaftliche
Recht 155
§. 27. Praktiſcher Werth der Römiſchen Beſtimmungen
über die Rechtsquellen 162
§. 28. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen 166
§. 29. Fortſetzung 171
§. 30. Fortſetzung 181
§. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechts-
quellen 197
|0013 : VII|
Inhalt des erſten Bandes.
Seite.
Viertes Kapitel. Auslegung der Geſetze.
§. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle 206
§. 33. A. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln 212
§. 34. Grund des Geſetzes 216
§. 35. Auslegung mangelhafter Geſetze 222
§. 36. Fortſetzung 225
§. 37. Fortſetzung 230
§. 38. Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. Kritik 240
§. 39. Fortſetzung 246
§. 40. Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. Einzelne
Stellen 252
§. 41. Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. Compilation 255
§. 42. B. Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen. Wi-
derſpruch 262
§. 43. Fortſetzung 268
§. 44. Fortſetzung 273
§. 45. Fortſetzung 283
§. 46. Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen. Lücken 290
§. 47. Ausſprüche des R. R. über die Auslegung 296
§. 48. Fortſetzung 304
§. 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Beſtimmungen 311
§. 50. Anſichten der Neueren von der Auslegung 318
§. 51. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Aus-
legung 326
|0014 : VIII|
Inhalt des erſten Bandes.
Seite.
Zweytes Buch. Die Rechtsverhältniſſe.
Erſtes Kapitel. Weſen und Arten der Rechtsverhältniſſe.
§. 52. Weſen der Rechtsverhältniſſe 331
§. 53. Arten der Rechtsverhältniſſe 334
§. 54. Familienrecht 345
§. 55. Fortſetzung 356
§. 56. Vermögensrecht 367
§. 57. Fortſetzung 379
§. 58. Überſicht der Rechtsinſtitute 386
§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſifikation 393
Beylage I. Jus naturale, gentium, civile 413
Beylage II. L. 2 C. quae sit longa consuetudo 420
|0015 : [IX]|
Vorrede.
Wenn ein wiſſenſchaftliches Gebiet, ſo wie das un-
ſrige, durch die ununterbrochene Anſtrengung vieler
Zeitalter angebaut worden iſt, ſo wird uns, die wir der
Gegenwart angehören, der Genuß einer reichen Erb-
ſchaft dargeboten. Es iſt nicht blos die Maſſe der ge-
wonnenen Wahrheit, die uns zufällt; auch jede ver-
ſuchte Richtung der geiſtigen Kräfte, alle Beſtrebungen
der Vorzeit, mögen ſie fruchtbar oder verfehlt ſeyn,
kommen uns zu gut als Muſter oder Warnung, und ſo
ſteht es in gewiſſem Sinn bey uns, mit der vereinig-
ten Kraft vergangener Jahrhunderte zu arbeiten. Woll-
ten wir nun dieſen natürlichen Vortheil unſrer Lage aus
Trägheit oder Eigendünkel verſäumen, wollten wir es
auch nur, in oberflächlichem Verfahren, dem Zufall
überlaſſen, wie Viel aus jener reichen Erbſchaft bildend
|0016 : X|
Vorrede.
auf uns einwirken ſoll, dann würden wir die unſchätz-
barſten Güter entbehren, die von dem Weſen wahrer
Wiſſenſchaft unzertrennlich ſind: die Gemeinſchaftlich-
keit wiſſenſchaftlicher Überzeugungen, und daneben den
ſteten, lebendigen Fortſchritt, ohne welchen jene Ge-
meinſchaft in einen todten Buchſtaben übergehen könnte.
Damit dieſes nicht geſchehe, müſſen wir wünſchen, daß
von Zeit zu Zeit das, was im Einzelnen geſucht und
gewonnen worden iſt, in vereinigendem Bewußtſeyn zu-
ſammen gefaßt werde. Denn ſchon die gleichzeitig le-
benden Träger der Wiſſenſchaft gehen oft in ſcharfen
Gegenſätzen aus einander; noch ſtärker aber treten dieſe
Gegenſätze hervor, wenn wir ganze Zeitalter verglei-
chend betrachten. Hier gilt es nun nicht, das Eine zu
wählen, das Andere zu verwerfen; vielmehr geht die
Aufgabe dahin, die wahrgenommenen Gegenſätze in
höherer Einheit aufzulöſen, welches der einzige Weg zu
ſicherem Fortſchritt in der Wiſſenſchaft iſt. Die ange-
meſſene Stimmung für eine ſolche zuſammen faſſende
Arbeit iſt die der Ehrerbietung gegen das Große, wel-
ches uns in den Leiſtungen unſrer Vorgänger erſcheint.
Damit aber dieſe Ehrerbietung nicht in beſchränkende
Einſeitigkeit ausarte, und ſo die Freyheit des Denkens
gefährde, iſt es nöthig, den Blick unverwandt auf das
|0017 : XI|
Vorrede.
letzte Ziel der Wiſſenſchaft zu richten, in Vergleichung
mit welchem auch das Größte, das der Einzelne zu lei-
ſten vermag, als unvollkommen erſcheinen muß.
Wenn uns aber die durch viele Geſchlechter fortge-
ſetzte Ausbildung unſrer Wiſſenſchaft einen reichen Ge-
winn darbietet, ſo entſpringen uns ebendaher auch ei-
genthümliche große Gefahren. In der Maſſe von Be-
griffen, Regeln und Kunſtausdrücken, die wir von un-
ſren Vorgängern empfangen, wird unfehlbar der ge-
wonnenen Wahrheit ein ſtarker Zuſatz von Irrthum
beygemiſcht ſeyn, der mit der traditionellen Macht ei-
nes alten Beſitzſtandes auf uns einwirkt und leicht die
Herrſchaft über uns gewinnen kann. Um dieſer Ge-
fahr zu begegnen, müſſen wir wünſchen, daß von Zeit
zu Zeit die ganze Maſſe des Überlieferten neu geprüft,
in Zweifel gezogen, um ſeine Herkunft befragt werde.
Dieſes geſchieht, indem wir uns künſtlich in die Lage
verſetzen, als hätten wir das überlieferte Material ei-
nem Unkundigen, Zweifelnden, Widerſtrebenden mitzu-
theilen. Die angemeſſene Stimmung für eine ſolche
prüfende Arbeit iſt die der geiſtigen Freyheit, der Unab-
hängigkeit von aller Autorität; damit aber dieſes Frey-
heitsgefühl nicht in Übermuth ausarte, muß das heil-
ſame Gefühl der Demuth hinzutreten, die natürliche
|0018 : XII|
Vorrede.
Frucht unbefangener Erwägung der Beſchränktheit un-
ſrer perſönlichen Kräfte, welche allein jene Freiheit des
Blicks zu eigenen Leiſtungen befruchten können.
So werden wir, von ganz entgegengeſetzten Stand-
punkten aus, auf ein und daſſelbe Bedürfniß in unſrer
Wiſſenſchaft hingewieſen. Es läßt ſich bezeichnen als
eine periodiſch wiederkehrende Betrachtung der von un-
ſren Vorgängern geleiſteten Arbeit, um aus dieſer das
Unächte auszuſcheiden, das Wahre aber als bleibenden
Beſitz uns anzueignen, der uns in den Stand ſetze,
nach dem Maas unſrer Kräfte in der Löſung der ge-
meinſamen Aufgabe dem Ziele näher zu kommen. Eine
ſolche Betrachtung anzuſtellen für den Zeitpunkt, worin
wir uns gegenwärtig befinden, iſt die Beſtimmung des
vorliegenden Werkes.
Es darf jedoch gleich im Eingang nicht verſchwie-
gen werden, wie ſehr die unbefangene Aufnahme dieſes
Werks durch das, was ſich in neueſter Zeit in unſrer
Wiſſenſchaft zugetragen hat, gefährdet werden kann.
Manche werden durch den Namen des Verfaſſers be-
wogen werden, die eben ausgeſprochene allgemeine Be-
ſtimmung dieſer Arbeit in Zweifel zu ziehen; ſie werden
glauben, es ſey hier weniger auf den freyen Dienſt der
Wiſſenſchaft abgeſehen, als auf die einſeitige Vertre-
|0019 : XIII|
Vorrede.
tung der hiſtoriſchen Schule: das Werk trage alſo den
Character einer Parteyſchrift an ſich, vor welcher ſich
Jeder, der nicht jener Schule angehöre, zu hüten habe.
Alles Gelingen in unſrer Wiſſenſchaft beruht auf
dem Zuſammenwirken verſchiedener Geiſtesthätigkeiten.
Um Eine derſelben, und die aus ihr vorzugsweiſe ent-
ſpringende wiſſenſchaftliche Richtung, in ihrer Eigen-
thümlichkeit zu bezeichnen, war früher von mir und An-
deren arglos der Ausdruck der hiſtoriſchen Schule ge-
braucht worden. Es wurde damals dieſe Seite der
Wiſſenſchaft beſonders hervorgehoben, nicht um den
Werth anderer Thätigkeiten und Richtungen zu vernei-
nen oder auch nur zu vermindern, ſondern weil jene
Thätigkeit lange Zeit hindurch vor anderen verſäumt
worden war, alſo vorübergehend mehr als andere einer
eifrigen Vertretung bedurfte, um in ihr natürliches Recht
wieder einzutreten. An jene Benennung nun hat ſich
eine lange anhaltende, lebhafte Anfechtung geknüpft, und
noch in der neueſten Zeit ſind darüber harte Worte ge-
redet worden. Eine Vertheidigung gegen ſolche An-
griffe würde unnütz, gewiſſermaßen unmöglich ſeyn;
denn wie die Verſtimmung mehr von perſönlichen Ge-
fühlen, als von wiſſenſchaftlichen Gegenſätzen, ausge-
gangen iſt, ſo pflegen auch die Widerſacher der hiſtori-
|0020 : XIV|
Vorrede.
ſchen Schule Alles, was ihnen gerade unbequem oder
misfällig in literariſchen Erſcheinungen iſt, unter jenem
Namen zuſammen zu faſſen und zu tadeln; wer möchte
da eine Widerlegung verſuchen? Ein Vorwurf jedoch
muß, wegen ſeiner allgemeineren Natur, davon ausge-
nommen werden. Es iſt oft von Gegnern behauptet
worden, die Mitglieder der hiſtoriſchen Schule wollten
die Gegenwart, ihre Selbſtſtändigkeit verkennend, unter
die Herrſchaft der Vergangenheit beugen; insbeſondere
wollten ſie die Herrſchaft des Römiſchen Rechts unge-
bührlich ausdehnen: im Gegenſatz theils des deutſchen
Rechts, theils der neuen Rechtsbildung, die durch Wiſ-
ſenſchaft und Praxis an die Stelle des reinen Römi-
ſchen Rechts getreten ſey. Dieſer Vorwurf hat einen
allgemeinen, wiſſenſchaftlichen Character, und er darf
nicht mit Stillſchweigen übergangen werden.
Die geſchichtliche Anſicht der Rechtswiſſenſchaft wird
völlig verkannt und entſtellt, wenn ſie häufig ſo aufge-
faßt wird, als werde in ihr die aus der Vergangenheit
hervorgegangene Rechtsbildung als ein Höchſtes aufge-
ſtellt, welchem die unveränderte Herrſchaft über Gegen-
wart und Zukunft erhalten werden müſſe. Vielmehr
beſteht das Weſen derſelben in der gleichmäßigen Aner-
kennung des Werthes und der Selbſtſtändigkeit jedes
|0021 : XV|
Vorrede.
Zeitalters, und ſie legt nur darauf das höchſte Gewicht,
daß der lebendige Zuſammenhang erkannt werde, wel-
cher die Gegenwart an die Vergangenheit knüpft, und
ohne deſſen Kenntniß wir von dem Rechtszuſtand der
Gegenwart nur die äußere Erſcheinung wahrnehmen,
nicht das innere Weſen begreifen. In beſonderer An-
wendung auf das Römiſche Recht geht die geſchichtliche
Anſicht nicht, wie von Vielen behauptet wird, darauf
aus, demſelben eine ungebührliche Herrſchaft über uns
zuzuwenden; vielmehr will ſie zunächſt in der ganzen
Maſſe unſres Rechtszuſtandes dasjenige auffinden und
feſtſtellen, was in der That Römiſchen Urſprungs iſt,
damit wir nicht bewußtlos davon beherrſcht werden:
dann aber ſtrebt ſie, in dem Umkreis dieſer Römiſchen
Elemente unſres Rechtsbewußtſeyns dasjenige auszu-
ſcheiden, was davon in der That abgeſtorben iſt, und
nur durch unſer Misverſtändniß ein ſtörendes Schein-
leben fortführt, damit für die Entwicklung und heilſame
Einwirkung der noch lebendigen Theile jener Römiſchen
Elemente um ſo freyerer Raum gewonnen werde. Das
vorliegende Werk insbeſondere geht ſo wenig darauf
aus, dem Römiſchen Recht eine übermäßige Herrſchaft
zuzuwenden, daß es vielmehr die Anwendbarkeit deſſel-
ben in nicht wenigen Rechtslehren beſtreitet, worin ſie
|0022 : XVI|
Vorrede.
bisher allgemein angenommen wurde, ſelbſt von Sol-
chen, die ſich ſtets für Gegner der hiſtoriſchen Schule
erklärt haben. Eine Sinnesänderung des Verfaſſers
kann hierin nicht gefunden werden, da derſelbe dieſe An-
ſichten großentheils ſchon ſeit Dreyßig bis Vierzig Jah-
ren öffentlich vorgetragen hat; es liegt alſo in dieſer
Erſcheinung vielmehr der Beweis, daß der angegebene
Vorwurf, den man der hiſtoriſchen Schule überhaupt,
und mir insbeſondere, zu machen pflegte, ganz ohne
Grund iſt. Vielleicht kann bey Unbefangenen dieſe
Wahrnehmung dazu dienen, den ganzen Parteyſtreit
und die darauf bezüglichen Parteynamen allmälig zu
beſeitigen; zumal da die Gründe, die den erſten Ge-
brauch des Namens einer hiſtoriſchen Schule veranlaß-
ten, zugleich mit den vorherrſchenden Mängeln, de-
ren Bekämpfung damals nöthig war, ſo gut als ver-
ſchwunden ſind. Zwar mag ein fortgeführter Streit
ſolcher Art zur ſchärferen Ausbildung mancher Gegen-
ſätze dienen, aber dieſer Vortheil wird gewiß weit über[-]
wogen durch die Störung des unbefangenen Urtheils
über fremde Leiſtungen, ſo wie dadurch, daß in dem
Streit der Parteyen Kräfte verſchwendet werden, die
zu den gemeinſamen Zwecken der Wiſſenſchaft heilſamer
verwendet werden könnten. Ich bin weit entfernt, den
|0023 : XVII|
Vorrede.
großen Vortheil des wiſſenſchaftlichen Streites über-
haupt zu verkennen, der ſogar eine Lebensbedingung
der Wiſſenſchaft iſt; auch in der Art und Richtung gei-
ſtiger Kräfte der Einzelnen wird ſtets große Verſchie-
denheit wahrgenommen werden. Gerade aus dem Zu-
ſammenwirken ſo entgegengeſetzter Elemente ſoll aber
das wahre Leben der Wiſſenſchaft hervorgehen, und die
Träger der verſchiedenen Kräfte ſollen nie aufhören, ſich
als Arbeiter an demſelben großen Bau anzuſehen. Laſ-
ſen wir ſie dagegen in feindliche Lager aus einander tre-
ten, und ſuchen wir durch fleißige Anwendung von Par-
teynamen den Gegenſatz recht perſönlich zu machen, ſo
wird bald unſre Auffaſſung von Grund aus unwahr,
und ihre Folgen können ſich nur als verderblich erwei-
ſen; das individuelle Leben und Wirken der Einzelnen
verſchwindet vor unſren Augen, indem wir ſie vorzugs-
weiſe als Anhänger einer Partey billigen oder anfein-
den, und ſo geht uns der natürliche Gewinn für unſre
eigene Bildung verloren, den wir aus der ungeſtörten
Einwirkung ihrer Arbeit auf uns ziehen konnten.
Iſt nun auf dieſe Weiſe das Beſtreben, dem Rö-
miſchen Recht durch das vorliegende Werk eine unge-
meſſene Herrſchaft über uns zuzuwenden, beſtimmt ab-
gelehnt worden, ſo ſoll doch auf der andern Seite nicht
b
|0024 : XVIII|
Vorrede.
weniger beſtimmt anerkannt werden, daß die gründliche
Kenntniß deſſelben auch für unſren gegenwärtigen
Rechtszuſtand den höchſten Werth hat, ja unentbehrlich
genannt werden muß; und ſelbſt wenn dieſe Überzeu-
gung hier nicht wörtlich ausgeſprochen wäre, ſo würde
ſie doch ſchon durch die Unternehmung eines ſo umfaſ-
ſenden Werks, wie das gegenwärtige, alſo durch die
That, an den Tag gelegt ſeyn. Es kommt nur darauf
an, ſich über den Grund und die Beſchaffenheit dieſes
hohen Werthes der Kenntniß jenes Rechts zu verſtän-
digen.
Nicht wenige haben davon folgende Vorſtellung. In
den Ländern, worin noch das Römiſche Recht als Ge-
ſetz gelte, dürfe kein gewiſſenhafter Juriſt das mühevolle
Studium deſſelben unterlaſſen; hingegen da, wo neue
Geſetzbücher eingeführt ſeyen, falle ein ſolches Bedürf-
niß hinweg, und der Rechtszuſtand ſey daſelbſt glückli-
cher zu nennen, weil der Juriſt ſeine Zeit und Kraft
auf lebendigere Gegenſtände verwenden könne. Wäre
dieſes die rechte Anſicht, ſo würde ſelbſt für jene Länder
das Römiſche Recht wenigſtens einen ſehr precären
Werth haben, da für die Geſetzgeber derſelben nichts
leichter ſeyn würde, als den erwähnten glücklicheren Zu-
ſtand durch Aneignung eines ſchon vorhandenen frem-
|0025 : XIX|
Vorrede.
den Geſetzbuchs herbeyzuführen, wenn ſie nicht etwa
ſelbſt ein eigenes neu hervorbringen möchten. — An-
dere haben die Behauptung eines beſonderen Werthes
des Römiſchen Rechts ſo aufgefaßt, als ſollte das ma-
terielle Ergebniß deſſelben, ſo wie es ſich in einzelnen
praktiſchen Regeln darſtellen laſſe, verglichen mit ähnli-
chen Regeln, wie ſie in Rechtsbildungen des Mittelal-
ters oder der neueren Zeit erſcheinen, für vorzüglicher
erklärt werden. Daß auf eine Apologie in dieſem Sinn
namentlich das vorliegende Werk nicht ausgeht, wird
die Ausführung deſſelben beweiſen. In der That liegt
die Sache (ſehr einzeln ſtehende Fälle ausgenommen)
tiefer, als daß ſie durch eine ſolche Wahl zwiſchen entge-
gengeſetzten praktiſchen Regeln abgethan werden könnte,
und ein Werk, welches dieſen comparativen Geſichts-
punkt im Einzelnen verfolgen wollte, würde an die kind-
liche Stimmung erinnern, die bey der Erzählung von
Kriegsgeſchichten ſtets zu fragen geneigt iſt, welches die
Guten, welches die Böſen waren.
Die geiſtige Thätigkeit der Einzelnen in Beziehung
auf das Recht kann ſich in zwey verſchiedenen Richtun-
gen äußern: durch Aufnahme und Entwicklung des
Rechtsbewußtſeyns im Allgemeinen, alſo durch Wiſſen,
Lehren, Darſtellen: oder durch die Anwendung auf die
b*
|0026 : XX|
Vorrede.
Ereigniſſe des wirklichen Lebens. Dieſes zweyfache Ele-
ment des Rechts, das theoretiſche und das praktiſche, ge-
hört demnach dem allgemeinen Weſen des Rechts ſelbſt
an. Es liegt aber in dem Entwicklungsgang der neue-
ren Jahrhunderte, daß dieſe zwey Richtungen zugleich
in verſchiedenen Ständen und Berufsarten aus einan-
der getreten ſind, daß alſo die Rechtskundigen, mit ſel-
tenen Ausnahmen, durch ihren ausſchließenden oder
überwiegenden Beruf entweder der Theorie oder der
Praxis allein angehören. Wie dieſes nicht durch menſch-
liche Willkühr ſo geworden iſt, ſo iſt daran auch im All-
gemeinen Nichts zu loben oder zu tadeln. Wohl aber
iſt es wichtig, mit Ernſt zu erwägen, was in dieſem Ge-
genſatz naturgemäß und heilſam iſt, wie er dagegen in
verderbliche Einſeitigkeit ausſchlagen kann. Es beruht
aber alles Heil darauf, daß in dieſen geſonderten Thä-
tigkeiten Jeder die urſprüngliche Einheit feſt im Auge
behalte, daß alſo in gewiſſem Grade jeder Theoretiker
den praktiſchen, jeder Praktiker den theoretiſchen Sinn
in ſich erhalte und entwickle. Wo dieſes nicht geſchieht,
wo die Trennung zwiſchen Theorie und Praxis eine ab-
ſolute wird, da entſteht unvermeidlich die Gefahr, daß
die Theorie zu einem leeren Spiel, die Praxis zu einem
bloßen Handwerk herabſinke.
|0027 : XXI|
Vorrede.
Wenn ich ſage, daß jeder Theoretiker ſtets zugleich
ein praktiſches Element in ſich tragen ſoll, ſo iſt dieſes
dem Sinn und Geiſt nach gemeynt, nicht der Beſchäf-
tigung nach: obgleich freylich einige praktiſche Beſchäfti-
gung, richtig angewendet, der ſicherſte Weg zur För-
derung des praktiſchen Sinnes iſt. Gewiß haben Viele,
die mit Ernſt und Liebe der Rechtswiſſenſchaft zugethan
ſind, die Erfahrung gemacht, daß irgend ein einzelner
Rechtsfall ihnen ein Rechtsinſtitut zu ſo lebendiger An-
ſchauung gebracht hat, wie es ihnen durch Bücherſtu-
dium und eigenes Nachdenken nie gelungen war. Was
uns nun ſo durch Zufall im Einzelnen an Ausbildung
zugeführt wird, läßt ſich auch als bewußtes Ziel unſres
Strebens, und durch das Ganze unſrer Wiſſenſchaft
durchgeführt, denken. Dann wäre der vollendete Theo-
retiker derjenige, deſſen Theorie durch die vollſtändige,
durchgeführte Anſchauung des geſammten Rechtsver-
kehrs belebt würde; alle ſittlich religiöſen, politiſchen,
ſtaatswirthſchaftlichen Beziehungen des wirklichen Le-
bens müßten ihm dabey vor Augen ſtehen. Es bedarf
kaum der Erwähnung, daß dieſe Forderung nicht auf-
geſtellt werden ſoll, um denjenigen zu tadeln, der ſie
nicht vollſtändig erfüllt, da ſich ja Jeder, der etwa einen
ſolchen Maasſtab an Andere anlegen möchte, ſagen muß,
|0028 : XXII|
Vorrede.
wie wenig er ſelbſt dieſes vermag. Dennoch iſt es gut,
ſich ein ſolches Ziel für die vereinten Beſtrebungen man-
nichfaltiger Kräfte vor Augen zu halten; zunächſt um
in der wahren Richtung zu bleiben, dann auch um ſich
gegen alle Anwandlungen des Eigendünkels zu ſchützen,
vor welchen keiner ganz ſicher iſt. — Betrachten wir nun
aber den wirklichen Zuſtand unſrer Rechtstheorie, wie
ſie jetzt iſt, in Vergleichung mit dem Zuſtand, wie er
vor Funfzig, und noch mehr wie er vor Hundert Jah-
ren war, ſo finden wir Vorzüge und Nachtheile ſehr ge-
miſcht. Zwar wird Niemand verkennen, daß jetzt Vie-
les möglich geworden und wirklich geleiſtet iſt, woran
früher nicht zu denken war, ja daß die Maſſe der her-
vorgearbeiteten Kenntniſſe in Vergleichung mit jenen
früheren Zeitpunkten ſehr hoch ſteht. Sehen wir aber
auf den oben geforderten praktiſchen Sinn, wodurch in
den einzelnen Trägern der Theorie ihr Wiſſen belebt
werden ſoll, ſo dürfte die Vergleichung minder vortheil-
haft für die Gegenwart ausfallen. Dieſer Mangel der
Gegenwart aber ſteht im Zuſammenhang mit der eigen-
thümlichen Richtung, die in den theoretiſchen Beſtrebun-
gen ſelbſt gegenwärtig wahrzunehmen iſt. Gewiß iſt
Nichts löblicher, als der Trieb die Wiſſenſchaft durch
neue Entdeckungen zu bereichern; dennoch hat auch die-
|0029 : XXIII|
Vorrede.
ſer Trieb in unſrer Zeit eine oft einſeitige und unheil-
ſame Wendung genommen. Man hat angefangen, ei-
nen übertriebenen Werth zu ſetzen auf die Erzeugung
neuer Anſichten, in Vergleichung mit der treuen, liebe-
vollen Ausbildung und befriedigenden Darſtellung des
ſchon Erforſchten, obgleich auch bey dieſer, wenn ſie mit
Ernſt geſchieht, das ſchon Vorhandene ſtets eine neue
Geſtalt annehmen, und ſo zum wirklichen, wenn auch
weniger bemerkbaren, Fortſchritt der Wiſſenſchaft führen
wird. Da nun den Meiſten eine im Großen wirkende
ſchöpferiſche Kraft nicht verliehen iſt, ſo hat jene einſei-
tige Werthſchätzung des Neuen Viele dahin geführt, ſich
vorzugsweiſe in einzelnen, abgeriſſenen Gedanken und
Meynungen zu ergehen, und über dieſer Zerſplitterung
den zuſammenhängenden Beſitz des Ganzen unſrer
Wiſſenſchaft zu verſäumen. Hierin eben waren uns
unſre Vorgänger überlegen, unter welchen ſich ver-
hältnißmäßig eine größere Zahl von Individuen fand,
die unſre Wiſſenſchaft im Ganzen auf eine würdige
Weiſe zu repräſentiren vermochten. Wer jedoch die
Sache von einem allgemeineren Standpunkt aus be-
trachten will, wird ſich leicht überzeugen, daß dieſe
Erſcheinungen keinesweges der Rechtswiſſenſchaft ei-
genthümlich ſind, ſondern vielmehr mit dem Ent-
|0030 : XXIV|
Vorrede.
wicklungsgang unſrer Literatur überhaupt in Zuſam-
menhang ſtehen.
Auf der anderen Seite wurde oben gefordert, daß
der Praktiker zugleich ein theoretiſches Element in ſich
trage. Auch dieſes wiederum iſt nicht ſo gemeynt, daß
er zugleich als Schriftſteller thätig ſeyn, oder auch nur
ein ſehr umfaſſendes Bücherſtudium ſtets fortführen
ſolle: Beides würde ſchon durch den Umfang der prak-
tiſchen Arbeiten meiſt unmöglich werden. Aber den
Sinn für die Wiſſenſchaft ſoll er in ſeinem praktiſchen
Geſchäft ſelbſt ſtets lebendig erhalten, er ſoll nie ver-
geſſen, daß die richtig aufgefaßte Rechtswiſſenſchaft nichts
Anderes iſt, als die Zuſammenfaſſung desjenigen, was
er im Einzelnen ſich zum Bewußtſeyn bringen und an-
wenden ſoll. Nichts iſt häufiger, als in der Würdi-
gung eines praktiſchen Juriſten auf die bloße Gewandt-
heit und Leichtigkeit ausſchließenden Werth zu legen,
obgleich dieſe an ſich ſehr brauchbare Eigenſchaften mit
der gewiſſenloſeſten Oberflächlichkeit gar wohl vereinbar
ſind. Daß unſrer juriſtiſchen Praxis der rechte Geiſt
nicht überall inwohnt, geht ſichtbar hervor aus dem Er-
folg, wie er ſich im Großen darſtellt. Wäre in ihr die-
ſer Geiſt wirkſam, ſo müßte auch von ihr ein ſicherer
Fortſchritt geſunder Rechtswiſſenſchaft ausgehen, ſie
|0031 : XXV|
Vorrede.
müßte die theoretiſchen Beſtrebungen unterſtützen und,
wo ſie abirren, auf die rechte Bahn zurück führen, be-
ſonders aber müßte ſie der Geſetzgebung ſo vorarbeiten,
daß beide, Geſetz und Rechtsanwendung, naturgemäß
in innerer Einheit vorwärts giengen. Und finden wir
nicht meiſtens von dieſem Allen gerade das Gegentheil?
Beſteht nun alſo das Hauptübel unſres Rechtszu-
ſtandes in einer ſtets wachſenden Scheidung zwiſchen
Theorie und Praxis, ſo kann auch die Abhülfe nur in
der Herſtellung ihrer natürlichen Einheit geſucht wer-
den. Gerade dazu aber kann das Römiſche Recht, wenn
wir es richtig benutzen wollen, die wichtigſten Dienſte
leiſten. Bey den Römiſchen Juriſten erſcheint jene na-
türliche Einheit noch ungeſtört, und in lebendigſter Wirk-
ſamkeit; es iſt nicht ihr Verdienſt, ſo wie der entgegen-
geſetzte heutige Zuſtand mehr durch den allgemeinen
Gang der Entwicklung, als durch die Schuld der Ein-
zelnen, herbeygeführt worden iſt. Indem wir uns nun
mit Ernſt und Unbefangenheit in ihr, von dem unſrigen
ſo verſchiedenes, Verfahren hinein denken, können auch
wir uns daſſelbe aneignen, und ſo für uns ſelbſt in die
rechte Bahn einlenken.
Da es aber ſehr verſchiedene Weiſen giebt, in wel-
chen die Kenntniß des Römiſchen Rechts geſucht werden
|0032 : XXVI|
Vorrede.
kann, ſo iſt es nöthig klar auszuſprechen, welcherley
Weiſe dieſer Kenntniß hier gefordert wird, wenn der
angegebene Zweck erreicht werden ſoll. Daß ein gründ-
liches wiſſenſchaftliches Verfahren gemeynt iſt, wird wohl
Jeder erwarten; Mancher aber möchte durch das Mis-
verſtändniß zurück geſchreckt werden, als werde Jedem,
der ſich eine ſolche Kenntniß des Römiſchen Rechts er-
werben wolle, auch die ganze Arbeit antiquariſcher Un-
terſuchung und kritiſcher Quellenforſchung angemuthet.
Obgleich nun auch dieſer Theil unſrer Studien wichtig iſt,
ſo ſoll doch hier keinesweges das heilſame Princip der
Theilung der Arbeit verkannt werden; die Meiſten alſo
werden ſich mit den Reſultaten jener von Einzelnen ange-
ſtellten ſpeciellen Forſchungen völlig genügen laſſen kön-
nen. Auf der andern Seite aber würde es ganz irrig
ſeyn zu glauben, als ob mit einer Kenntniß der allge-
meinſten Grundſätze des Römiſchen Rechts für den an-
gegebenen Zweck auch nur das Geringſte gewonnen wer-
den könnte: einer Kenntniß etwa, wie ſie in einem In-
ſtitutionencompendium niedergelegt iſt, oder wie ſie in
den Franzöſiſchen Rechtsſchulen mitgetheilt zu werden
pflegt. Eine ſolche Kenntniß iſt genügend, um das
wörtliche Andenken des Römiſchen Rechts auf eine beſ-
ſere Zukunft fortzupflanzen; dem, welcher ſich auf ſie
|0033 : XXVII|
Vorrede.
beſchränkt, lohnt ſie kaum die geringe Mühe, die er
darauf verwendet. Soll uns die Kenntniß des Römi-
ſchen Rechts zu dem hier angegebenen Ziel führen, ſo
giebt es nur Einen Weg dazu: wir müſſen uns in die
Schriften der alten Juriſten ſelbſtſtändig hinein leſen
und denken. Dann wird uns auch die ungeheure Maſſe
neuerer Literatur nicht mehr abſchrecken. Zweckmäßige
Anleitung mag uns das Wenige daraus bemerklich ma-
chen, wodurch unſer unabhängiges Studium wahrhaft
gefördert werden kann; die übrige Maſſe überlaſſen wir
den Juriſten von theoretiſchem Beruf, die freylich auch
dieſe mühevolle Beſchäftigung nicht von ſich abweiſen
dürfen.
Das vorliegende Werk iſt ganz beſonders dazu be-
ſtimmt, die hier dargelegten Zwecke ernſtlicher Beſchäf-
tigung mit dem Römiſchen Recht zu befördern: vorzüg-
lich alſo die Schwierigkeiten zu vermindern, die den Ju-
riſten von praktiſchem Beruf von einem eigenen, ſelbſt-
ſtändigen Quellenſtudium abzuhalten pflegen. Durch
dieſe Schwierigkeiten wird den Anſichten, die gerade in
den gangbarſten neueren Handbüchern niedergelegt ſind,
eine ungebührliche Herrſchaft über die Praxis zuge-
wendet; geht alſo die Abſicht des Verfaſſers bey die-
ſem Werke in Erfüllung, ſo wird dadurch zugleich auf
|0034 : XXVIII|
Vorrede.
die Emancipation der Praxis von einer unächten Theo-
rie hingewirkt werden.
Allerdings finden dieſe Gedanken ihre unmittelbarſte
Anwendung in den Ländern, worin noch jetzt das Rö-
miſche Recht die Grundlage der Rechtspraxis bildet;
dennoch ſind ſie auch anwendbar da wo neue Geſetzbü-
cher an die Stelle des Römiſchen Rechts getreten ſind.
Denn die Mängel des Rechtszuſtandes ſind hier und
dort weſentlich dieſelben, und eben ſo iſt das Bedürfniß
und die Art der Abhülfe weniger verſchieden, als man
glauben möchte. Auch in den Ländern alſo, die mit
einheimiſchen Geſetzbüchern verſehen ſind, wird durch die
hier dargeſtellte Benutzungsweiſe des Römiſchen Rechts
die Theorie theils neu belebt, theils vor ganz ſubjectiven
und willkührlichen Abirrungen bewahrt, beſonders aber
der Praxis wieder näher gebracht werden, worauf überall
das Meiſte ankommt. Schwerer freylich iſt hier eine
ſolche Umwandlung als in den Ländern des gemeinen
Rechts, aber unmöglich iſt ſie nicht. Das zeigt uns be-
ſonders das Beyſpiel der neueren Franzöſiſchen Juri-
ſten, die oft auf recht verſtändige Weiſe ihr Geſetzbuch
aus dem Römiſchen Recht erläutern und ergänzen.
Hierin verfahren ſie ganz im wahren Sinn dieſes Ge-
ſetzbuchs, und wo ſie fehl greifen, da geſchieht es weni-
|0035 : XXIX|
Vorrede.
ger aus einer ungehörigen Benutzungsweiſe des Römi-
ſchen Rechts, als aus mangelhafter Kenntniß deſſelben.
Hierin nun ſind wir ihnen unſtreitig überlegen; allein
in der Art der Benutzung neben den einheimiſchen Ge-
ſetzen würden wir wohl thun von ihnen zu lernen.
Schwieriger allerdings als bey ihnen iſt dieſe Benutzung
in unſrem Preußiſchen Vaterland, da in unſrem Land-
recht theils durch die eigenthümliche Darſtellungsweiſe,
theils durch die weit getriebene Ausführlichkeit, der wirk-
lich vorhandene innere Zuſammenhang mit dem frühe-
ren Recht oft verdeckt wird. Schwieriger alſo iſt ſie,
aber darum nicht unmöglich; und wenn ſie wiederher-
geſtellt wird, ſo wird damit zugleich einem weſentlichen
Übel abgeholfen, das aus der Einführung des Land-
rechts hervorgegangen iſt. Dieſes Übel beſteht in der
gänzlichen Abtrennung von der wiſſenſchaftlichen Bear-
beitung des gemeinen Rechts, wodurch unſrer Praxis
eines der wichtigſten Bildungsmittel bisher entzogen
wurde, die lebendige Berührung mit dem juriſtiſchen
Denken früherer Zeiten und anderer Länder. Es iſt
nicht zu verkennen, daß zu der Zeit, worm die Abfaſſung
des Preußiſchen Landrechts unternommen wurde, die
deutſche juriſtiſche Literatur großentheils geiſtlos und
unbehülflich geworden war, alſo auch die Fähigkeit eines
|0036 : XXX|
Vorrede.
wohlthätigen Einfluſſes auf die Praxis meiſt verloren
hatte; ja eben die Wahrnehmung dieſes mangelhaften
Rechtszuſtandes hat damals zu dem Verſuch geführt,
dem Übel durch ein einheimiſches Geſetzbuch abzuhelfen,
und ſo die Grundlage des praktiſchen Rechts gänzlich
umzuändern. Wenn es uns jetzt gelänge, die aufge-
löſte Verbindung mit der gemeinrechtlichen Literatur theil-
weiſe wieder anzuknüpfen, ſo könnte daraus nunmehr,
bey dem gänzlich veränderten Zuſtand der Rechtswiſſen-
ſchaft, nur ein wohlthätiger Einfluß auf die Praxis ent-
ſtehen, und die Nachtheile, die ſich in früherer Zeit ſo
fühlbar gemacht hatten, würden gewiß nicht wiederkehren.
Manche finden in der Anmuthung, das Römiſche
Recht fortwährend als Bildungsmittel für unſren Rechts-
zuſtand zu benutzen eine verletzende Zurückſetzung unſrer
Zeit und unſrer Nation. Sie faſſen die Sache ſo auf,
als könnten wir auf dieſem Wege, im günſtigſten Falle,
doch nur eine unvollkommene Nachahmung oder Wie-
derholung des von den Römern hervorgebrachten Rechts-
zuſtandes darſtellen, es ſey aber würdiger, durch unab-
hängiges Streben etwas Neues und Eigenthümliches
zu ſchaffen. Dieſem an ſich löblichen Selbſtgefühl liegt
aber folgendes Misverſtändniß zum Grunde. Bei dem
großen und mannichfaltigen Rechtsſtoff, den uns die
|0037 : XXXI|
Vorrede.
Jahrhunderte zugeführt haben, iſt unſre Aufgabe ohne
Vergleich ſchwieriger, als es die der Römer war, unſer
Ziel alſo ſteht höher, und wenn es uns gelingt dieſes
Ziel zu erreichen, ſo werden wir nicht etwa die Trefflich-
keit der Römiſchen Juriſten in bloßer Nachahmung wie-
derholt, ſondern weit Größeres als ſie geleiſtet haben.
Wenn wir gelernt haben werden, den gegebenen Rechts-
ſtoff mit derſelben Freyheit und Herrſchaft zu behan-
deln, die wir an den Römern bewundern, dann können
wir ſie als Vorbilder entbehren, und der Geſchichte zu
dankbarer Erinnerung übergeben. Bis dahin aber wol-
len wir uns eben ſo wenig durch falſchen Stolz, als
durch Bequemlichkeit, abhalten laſſen ein Bildungsmittel
zu benutzen, welches wir durch eigene Kraft zu erſetzen
ſchwerlich vermögen würden. Es wird alſo hierin ein
Verhältniß unſrer Zeit zum Alterthum behauptet, wie wir
es in ähnlicher Weiſe auch in anderen geiſtigen Gebieten
wahrnehmen. Niemand möge dieſe Worte ſo verſtehen,
als ſollte die Beſchäftigung mit dem Römiſchen Recht er-
hoben werden zum Nachtheil der eifrigen germaniſtiſchen
Beſtrebungen, die gerade in unſrer Zeit ſo erfreulichen
Hoffnungen Raum geben. Nichts iſt häufiger und na-
türlicher, als den lebendigen Eifer für das Gebiet un-
ſrer eigenen Forſchungen kund zu geben durch Herab-
|0038 : XXXII|
Vorrede.
ſetzung eines verwandten fremden Gebietes; aber ein
Irrthum iſt es dennoch, und dieſer Irrthum wird un-
fehlbar nur demjenigen Nachtheil bringen, der ihn hegt
und übt, nicht dem Gegner, welchem durch ſolche Herab-
ſetzung Abbruch gethan werden ſoll.
Aus dem oben dargelegten Plan dieſes Werks geht
hervor, daß es vorzugsweiſe einen kritiſchen Character
haben wird. Manche werden damit wenig zufrieden
ſeyn, indem ſie überall nur poſitive, zu unmittelbarer
Anwendung brauchbare, Wahrheit verlangen, unbeküm-
mert um die Art ihrer Erwerbung, und um die mögli-
chen Gegenſätze derſelben. Unſer geiſtiges Leben wäre
leicht und bequem, wenn wir lediglich die klare, einfache
Wahrheit ausſchließend auf uns einwirken laſſen und
ſo zu immer neuer Erkenntniß ungeſtört fortſchreiten
könnten. Allein uns umgiebt und hemmt von allen
Seiten der Schutt falſcher oder halbwahrer Begriffe
und Meynungen, durch die wir uns Bahn machen müſ-
ſen. Wollen wir mit dem Schickſal darum rechten, daß
es uns ſolche unnütze Mühe aufgebürdet hat? Schon
als in eine nothwendige Bedingung unſres geiſtigen Da-
ſeyns müßten wir uns darein fügen, allein es fehlt auch
nicht an reicher Frucht, die als Lohn unſrer Arbeit aus
dieſer Nothwendigkeit erwächſt. Unſere geiſtige Kraft
|0039 : XXXIII|
Vorrede.
findet darin ihre allgemeine Erziehung, und jede ein-
zelne Wahrheit, die wir durch dieſen Kampf mit dem
Irrthum gewinnen, wird in höherem Sinn unſer Ei-
genthum, und erweiſt ſich uns fruchtbarer, als wenn
wir ſie leidend und mühelos von Anderen empfangen.
Der erwähnte kritiſche Character des Werks wird
ſich nun vorzüglich in folgenden einzelnen Anwendungen
zeigen. Zunächſt, und recht ausſchließend, in den nicht
ſeltenen blos negativen Reſultaten einer angeſtellten Un-
terſuchung; mögen dieſe darin beſtehen, daß ein Römi-
ſches Rechtsinſtitut als erſtorben, und alſo unſrem Rechts-
zuſtand fremd, nachgewieſen wird, oder in der Darle-
gung der von neueren Juriſten in unſer Rechtsſyſtem
aus Misverſtand eingeſchobenen grundloſen Begriffe und
Lehrmeynungen. Gerade ſolche Unterſuchungen ſind es,
womit Viele am Wenigſten behelligt und aufgehalten
werden möchten. Wer aber Steine aus dem Wege
räumt, oder gegen Abwege warnt durch aufgeſtellte Weg-
weiſer, der verbeſſert doch weſentlich den Zuſtand ſeiner
Nachfolger; mag es auch, wenn ſolche erlangte Vor-
theile durch Gewohnheit befeſtigt ſind, bald vergeſſen
werden, daß es jemals eine Zeit gab, worin hier Schwie-
rigkeiten zu beſtehen waren.
c
|0040 : XXXIV|
Vorrede.
Allein nicht nur in blos negativen Reſultaten wird
ſich jener kritiſche Character des Werks zeigen, ſondern
auch da, wo für eine aufgeſtellte poſitive Wahrheit der
einfache, abſolute Gegenſatz des Wahren und Falſchen
nicht ausreicht. So kommt es in vielen Fällen vor-
zugsweiſe darauf an, den Grad unſrer Überzeugung
näher zu bezeichnen. Wenn wir nämlich fremden Mey-
nungen ſtreitend entgegen treten, kann dieſes auf ver-
ſchiedene Weiſe geſchehen. Nicht ſelten begleitet unſre
Überzeugung das Gefühl vollſtändiger Gewißheit, in-
dem wir einſehen, wie die Meynung des Gegners aus
logiſchen Fehlern, factiſcher Unkenntniß, oder durchaus
verwerflicher Methode entſprungen iſt; dann halten wir
dieſe Meynung für wiſſenſchaftlich unerlaubt, und in
unſrem Widerſpruch iſt dann ein entſchiedener Tadel
des Gegners nothwendig enthalten. Nicht ſo in ande-
ren Fällen, worin wir, nach ſorgfältiger Abwägung al-
ler Gründe, zwar Einer Meynung den Vorzug geben,
doch ohne den Anſpruch auf ſo entſchiedene Verurthei-
lung unſres Gegners. In dieſer Wahrſcheinlichkeit
nun, womit wir uns dann begnügen müſſen, laſſen ſich
Grade unterſcheiden, und die genaue Bezeichnung, die
gewiſſenhafte Anerkennung dieſer Grade gehört ebenſo-
wohl zum ſittlichen, als zum wiſſenſchaftlichen Werth
|0041 : XXXV|
Vorrede.
unſrer Arbeit (a). — In anderen Fällen ſtreitender
Meynungen iſt es von Wichtigkeit, die eigentliche Gränze
des Streitigen, ſo wie den Werth und Einfluß, den dieſe
Meynungsverſchiedenheit für die Wiſſenſchaft hat, ge-
nau zu beſtimmen. Die Lebhaftigkeit des Streites, ſo
wie das durch denſelben häufig erhöhte Selbſtgefühl,
verleitet uns leicht zu einer übertriebenen Werthſchätzung
deſſelben, und läßt uns dann auch Andere hierin irre
führen. — Endlich verdient noch, in den von uns ange-
fochtenen fremden Meynungen, große Aufmerkſamkeit
ein Verhältniß derſelben, das ſich als relative Wahr-
heit bezeichnen läßt. Nicht ſelten nämlich werden wir
in einer Meynung, die wir als entſchiedenen Irrthum
verwerfen müſſen, dennoch ein wahres Element erken-
nen, welches nur durch verkehrte Behandlung oder ein-
ſeitige Übertreibung in Irrthum umgewandelt worden
iſt; namentlich gilt dieſes von den vielen Fällen, worin
der Irrthum nur darin beſteht, daß das Concrete zu
(a) Lebensnachrichten über B.
G. Niebuhr B. 2 S. 208: „Vor
allen Dingen aber müſſen wir in
den Wiſſenſchaften unſre Wahr-
haftigkeit ſo rein erhalten, daß
wir abſolut allen falſchen Schein
fliehen, daß wir auch nicht das
allergeringſte als gewiß ſchreiben,
wovon wir nicht völlig überzeugt
ſind, daß wir, wo wir Vermu-
thung ausſprechen müſſen, alles
anſtrengen um den Grad unſers
Wahrhaltens anſchaulich zu ma-
chen.“ — Vieles in dem treffli-
chen Briefe, woraus dieſe Stelle
genommen iſt, gehört nicht der
Philologie allein an (worauf es
ſich zunächſt bezieht); ſondern al-
len Wiſſenſchaften überhaupt.
c*
|0042 : XXXVI|
Vorrede.
allgemein, oder das wahrhaft Allgemeine zu concret
aufgefaßt wird. Die Ausſcheidung und Anerkennung
eines ſolchen wahren Elements in der von uns als irrig
bekämpften Meynung kann für die Wiſſenſchaft von
großem Werth ſeyn; ſie iſt vorzugsweiſe geeignet, un-
ter unbefangenen, wahrheitsliebenden Gegnern eine Ver-
ſtändigung herbey zu führen, und ſo den Streit zur
reinſten, befriedigendſten Entſcheidung zu bringen, in-
dem die Gegenſätze in einer höheren Einheit aufge-
löſt werden.
Die Form, worin die hier dargelegten Zwecke ver-
folgt werden ſollen, iſt die ſyſtematiſche, und da das
Weſen derſelben nicht von Allen auf gleiche Weiſe auf-
gefaßt wird, ſo iſt es nöthig, eine allgemeine Erklärung
hierüber gleich an dieſer Stelle nieder zu legen. Ich
ſetze das Weſen der ſyſtematiſchen Methode in die Er-
kenntniß und Darſtellung des inneren Zuſammenhangs
oder der Verwandtſchaft, wodurch die einzelnen Rechts-
begriffe und Rechtsregeln zu einer großen Einheit ver-
bunden werden. Solche Verwandtſchaften nun ſind erſt-
lich oft verborgen, und ihre Entdeckung wird dann un-
ſre Einſicht bereichern. Sie ſind ferner ſehr mannich-
faltig, und je mehr es uns gelingt, bey einem Rechts-
inſtitut deſſen Verwandtſchaften nach verſchiedenen Sei-
|0043 : XXXVII|
Vorrede.
ten hin zu entdecken und zu verfolgen, deſto vollſtändi-
ger wird unſre Einſicht werden. Endlich giebt es auch
nicht ſelten einen täuſchenden Schein von Verwandt-
ſchaft, wo eine ſolche in der That nicht vorhanden iſt,
und dann beſteht unſre Aufgabe in der Vernichtung die-
ſes Scheins. — Natürlich wird auch die äußere Anord-
nung eines ſyſtematiſchen Werks durch jenen inneren
Zuſammenhang, der ſich in ihr abzuſpiegeln hat, be-
ſtimmt werden, und nicht ſelten iſt es dieſe allein, woran
man zu denken pflegt, wenn von ſyſtematiſcher Behand-
lung die Rede iſt. Dabey iſt jedoch gegen manche Mis-
verſtändniſſe zu warnen. In der reichen, lebendigen
Wirklichkeit bilden alle Rechtsverhältniſſe Ein organi-
ſches Ganze, wir aber ſind genöthigt, ihre Beſtandtheile
zu vereinzeln, um ſie ſucceſſiv in unſer Bewußtſeyn auf-
zunehmen und Anderen mitzutheilen. Die Ordnung,
in die wir ſie ſtellen, kann alſo nur durch diejenige Ver-
wandtſchaft beſtimmt werden, die wir gerade als die
überwiegende erkennen, und jede andere in der Wirk-
lichkeit vorhandene Verwandtſchaft kann nur in abge-
ſonderter Darſtellung daneben bemerklich gemacht wer-
den. Hierin nun iſt eine gewiſſe Duldſamkeit zu for-
dern, ja ſelbſt einiger Spielraum für den ſubjectiven
Bildungsgang des Schriftſtellers, der ihn vielleicht be-
|0044 : XXXVIII|
Vorrede.
ſtimmt, eine gewiſſe Betrachtungsweiſe beſonders her-
vorzuheben, die er dann aber auch vorzugsweiſe frucht-
bar zu machen im Stande ſeyn wird.
Viele fordern von einer ſyſtematiſchen Darſtellung,
daß in derſelben Nichts vorkomme, was nicht in dem
Vorhergehenden ſeine vollſtändige Begründung gefun-
den habe, daß alſo auf keine Weiſe in den Inhalt ſpä-
ter folgender Theile hinüber gegriffen werde. Dieſen
muß das vorliegende Werk den größten Anſtoß erre-
gen, da ich jene Forderung, für ein Werk wie dieſes,
nicht einmal als ein annäherungsweiſe zu befolgendes
Geſetz anerkennen kann. Bey jener Forderung liegt
zum Grunde die Vorausſetzung, daß dem Leſer der Stoff
fremd ſey und jetzt erſt bekannt werden ſolle, und darum
iſt ſie auch richtig, wenn ſie für die Einrichtung des er-
ſten Unterrichts aufgeſtellt wird. Allein nicht leicht wird
Jemand auf den Gedanken kommen, durch ein ausführ-
liches Werk, wie das gegenwärtige, die Rechtswiſſen-
ſchaft zuerſt erlernen zu wollen. Vielmehr werden es
Diejenigen, denen der Stoff aus Vorleſungen und ande-
ren Büchern bekannt iſt, dazu benutzen, die ſchon er-
worbene Kenntniß zu prüfen, zu reinigen, tiefer zu be-
gründen, zu erweitern. Dieſen aber kann wohl auf je-
dem Punkte der Darſtellung angemuthet werden, Das
|0045 : XXXIX|
Vorrede.
nas ſie ſchon wiſſen in ihr Bewußtſeyn zurück zu ru-
fen, auch wenn es in dieſem Werk erſt ſpäter für ſich
dargeſtellt wird. Will man dieſes Verfahren vermei-
den, ſo iſt man genöthigt, die Darſtellung der wich-
tigſten und fruchtbarſten Verwandtſchaften der Rechts-
inſtitute entweder ganz aufzugeben, oder doch an ſolche
Stellen zu verlegen, an welchen ſie weit weniger an-
ſchaulich und wirkſam werden muß. Wird daher nur
in der That der Vortheil lebendiger Anſchaulichkeit durch
die gewählte Anordnung erreicht, ſo bedarf dieſe Wahl
einer anderen Rechtfertigung nicht. — Diejenigen aber,
die ſich durch dieſe Gründe nicht beſtimmen laſſen möch-
ten, den erwähnten Tadel aufzugeben, ſind daran zu er-
innern, daß ſie ſich in ausführlichen Monographieen eine
Menge von Vorausſetzungen gefallen laſſen, die in dem-
ſelben Buch nicht ihre Begründung finden. Warum
ſollte nun der Verfaſſer eines umfaſſenden Syſtems
hierin geringeres Recht haben, als der Verfaſſer einer
Monographie?
Indem aber hier, zur Beſeitigung eines vorauszu-
ſehenden Einwurfs, der Monographieen gedacht worden
iſt, die um ſo wichtiger ſind, als in ihnen in neuerer
Zeit der wichtigſte Fortſchritt unſrer Wiſſenſchaft zu ſu-
chen iſt, muß zugleich einem Misverſtändniß begegnet
|0046 : XL|
Vorrede.
werden, welches über das Verhältniß dieſer Art von
Arbeiten zu einem umfaſſenden Rechtsſyſtem bey Man-
chen wahrgenommen wird. Dieſe denken ſich nämlich
jede Monographie ſo, als wäre ſie ein einzelner Ab-
ſchnitt, aus dem Ganzen eines Syſtems zufällig beſon-
ders bearbeitet und herausgegeben; nach dieſer Anſicht
bedürfte es nur einer hinreichenden Anzahl guter Mo-
nographieen, um durch Zuſammenfügen derſelben ein
befriedigendes Syſtem zu erbauen. Der weſentliche Un-
terſchied beſteht aber darin, daß in der Monographie
der Standpunkt eines einzelnen Rechtsinſtituts willkühr-
lich gewählt wird, um von dieſem aus die Beziehungen
zu dem Ganzen zu erkennen; hierdurch aber wird die
Auswahl und die Anordnung des Stoffs eine ganz an-
dere, als da wo daſſelbe Rechtsinſtitut im Zuſammen-
hang eines vollſtändigen Rechtsſyſtems darzuſtellen iſt.
Ich habe dieſe Bemerkung auch deswegen nöthig ge-
funden, um es voraus zu erklären und zu rechtfertigen,
wenn die Lehre vom Beſitz in dem vorliegenden Werk
eine ganz andere Geſtalt haben wird, als in dem Buch,
worin ich dieſelbe früher abgeſondert dargeſtellt habe.
Neben dem Syſtem ſelbſt finden ſich in dieſem Werk
abgeſonderte Unterſuchungen unter dem Namen von
Beylagen; dieſe Einrichtung habe ich aus verſchiedenen
|0047 : XLI|
Vorrede.
Gründen nöthig gefunden. Zuweilen fordert eine ein-
zelne Frage eine ſo ausgedehnte Unterſuchung, daß da-
durch im Laufe des Syſtems das richtige Maaß weit
überſchritten, alſo der natürliche Zuſammenhang geſtört
werden würde. In anderen Fällen greift ein Rechts-
begriff ſo gleichmäßig in ganz verſchiedene Theile des
Syſtems ein, daß nur eine abgeſonderte Darſtellung
zu einer erſchöpfenden Behandlung des Gegenſtandes
führen kann; dieſes gilt namentlich von einer ausführ-
lichen Beylage, worin die Lehre vom Irrthum abge-
handelt werden wird (Beylage VIII). Endlich liegen
zwar antiquariſche Unterſuchungen ganz außer dem Plane
des Werks; zuweilen aber ſind dieſelben mit Inſtituten
des neueſten Rechts ſo verwebt, daß dieſe nicht vollſtän-
dig zur Anſchauung gebracht werden könnten, wenn nicht
jenen ihre beſcheidene Stelle in einer Beylage einge-
räumt würde. — Eine ganz ſichere Gränze zu ziehen
zwiſchen dem Stoff, der dem Syſtem, und dem welcher
den Beylagen zugetheilt werden ſoll, iſt unmöglich, und
es wird vielleicht Mancher wünſchen, daß hier und dort
etwas Mehr oder Weniger, als geſchehen iſt, in die Bey-
lagen verwieſen ſeyn möchte. Allein auch bey dieſer
Frage mag der individuellen Freyheit ein etwas weiter
Spielraum ohne Gefahr zugeſtanden werden.
|0048 : XLII|
Vorrede.
In früheren Zeiten pflegte man wohl bey der Dar-
ſtellung der einzelnen Rechtsinſtitute eine ganz gleichför-
mige Weiſe anzuwenden, wozu vorzugsweiſe gehörte,
daß der Darſtellung des Begriffs eine vollſtändige
Angabe aller möglichen Eintheilungen deſſelben folgen
mußte. Manche neuere Schriftſteller haben dieſe Ein-
richtung als unbehülflich und unnütz verworfen, und ſich
darauf beſchränkt, Eintheilungen da bemerklich zu ma-
chen, wo ſie durch die Aufſtellung einzelner Rechtsregeln
herbeygeführt werden. Als allgemeine Maxime kann
ich weder das eine noch das andere Verfahren billigen,
indem ich hierin jede mechaniſche Gleichförmigkeit ver-
werflich finde, ſie mag in Thun oder Laſſen beſtehen.
Jede Form iſt gut und räthlich, deren Anwendung die
klare, gründliche Einſicht in ein Rechtsinſtitut fördert,
und man ſoll daher in jedem einzelnen Falle dasjenige
thun, was die eigenthümliche Natur deſſelben erfordert.
Wo alſo der Begriff eines Rechtsinſtituts Gegenſätze in
ſich ſchließt, die in das Weſen deſſelben tief eingreifen,
da kann es wohl zur freyen, vollſtändigen Handhabung
des Begriffs nöthig werden, der allgemeinen Angabe
deſſelben ſogleich die Eintheilungen beyzufügen, worin
jene Gegenſätze ihren Ausdruck finden.
Beſondere Sorgfalt wird in dem vorliegenden Werk
|0049 : XLIII|
Vorrede.
auf die genaue Feſtſtellung des quellenmäßigen Sprach-
gebrauchs verwendet werden, und es iſt nöthig dieſe zu
rechtfertigen, da Manche glauben, daß in neuerer Zeit
auf dieſen Gegenſtand ein übertriebenes Gewicht gelegt
werde. Die Wichtigkeit deſſelben beruht aber darauf,
daß zwiſchen dem unächten Sprachgebrauch, und der
irrigen Conſtruction oder Verbindung von Begriffen,
eine unverkennbare und gefährliche Wechſelwirkung be-
ſteht. Denn wenn auf der einen Seite der falſche
Sprachgebrauch Product und Kennzeichen des irrigen
Begriffs iſt, ſo wird hinwiederum dieſer durch jenen be-
feſtigt, erweitert, fortgepflanzt. Iſt nun aber durch Auf-
deckung der unächten Terminologie dieſe Quelle des
Irrthums zerſtört, dann dürfen wir uns auch nicht ab-
halten laſſen, neu gebildete Kunſtausdrücke zu gebrau-
chen, da wo der Sprachgebrauch der Quellen nicht aus-
reichend iſt, und in dieſer Hinſicht wird vielleicht von
Manchen der Purismus zu weit getrieben. Nur die-
jenigen unächten Ausdrücke wird es ſtets gerathen ſeyn
zu vermeiden, die ſich durch ihre Verbindung mit fal-
ſchen Begriffen in der That ſchon gefährlich erwie-
ſen haben.
Über die Art, wie die Quellen in dieſem Werk be-
nutzt werden, giebt zwar ein beſonderes Kapitel deſſel-
|0050 : XLIV|
Vorrede.
ben (§ 32 — 52) Aufſchluß; dennoch werden auch ſchon
hier einige allgemeine Erklärungen nicht am unrechten
Orte ſtehen. Oft ſind die Juriſten darüber verſpottet
worden, daß ſie ſich in ihren Quellencitaten eine große
Verſchwendung zu Schuld kommen laſſen, indem ſie mit
zahlreichen Stellen auch dasjenige zu beweiſen ſuchen,
was ihnen ohnehin Jeder glaubt. Nimmt man frey-
lich ſolche Citate als bloße Vertheidigungsanſtalten ge-
gen gar nicht vorhandene Zweifel und Widerſprüche,
ſo könnte dieſer Tadel einigen Grund haben. Allein
es giebt dafür noch eine andere, gewiſſermaßen umge-
kehrte, Anſicht. Hat nämlich die oben aufgeſtellte Be-
hauptung Grund, daß wir aus der rechten Betrachtung
der alten Juriſten für unſer eigenes juriſtiſches Denken
eine Belebung und Bereicherung gewinnen können, wie
ſie uns anderwärts nicht dargeboten wird, und iſt zu-
gleich dieſe rechte Betrachtung nicht ohne eigenthümliche
Schwierigkeiten, ſo muß uns eine planmäßige Anleitung
zu derſelben willkommen ſeyn. Zu einer ſolchen Anlei-
tung nun ſoll das vorliegende Werk dienen; von die-
ſem Geſichtspunkt aus erſcheinen die aus den Quellen
citirten Stellen nicht blos als Beweiſe der in dem Sy-
ſtem aufgeſtellten Sätze, ſondern dieſe Sätze werden zu-
gleich Einleitung und Commentar zu den citirten Stel-
|0051 : XLV|
Vorrede.
len, die in dieſer Auswahl, in dieſer Anordnung, in die-
ſer Verbindung mit der in dem Syſtem enthaltenen
Darſtellung, unſrer Denkweiſe näher gebracht, und da-
durch zugänglicher für uns werden ſollen. — Nicht ſel-
ten findet es ſich, daß Zwey gleich ſorgfältige Forſcher,
indem ſie ganz daſſelbe Material verarbeiten, dennoch
zu ſehr verſchiedenen Reſultaten geführt werden. Dieſe
Verſchiedenheit wird meiſt davon abhängen, welche Stel-
len gerade zum Mittelpunkt der ganzen Unterſuchung
erhoben, welche als untergeordnet mit jenen in Verbin-
dung gebracht werden; ein Fehlgriff in dieſer Sonde-
rung kann der ganzen Arbeit eine falſche Richtung ge-
ben. Hierin nun läßt ſich durch aufgeſtellte Regeln
wenig Sicherheit gewinnen; das Studium trefflicher
Muſter wird gute Dienſte leiſten, vorzüglich aber müſ-
ſen wir durch eigene Übung den Takt zu gewinnen ſu-
chen, der uns den rechten Weg finden lehrt.
Umgekehrt möchten Manche ihre Erwartung ge-
täuſcht finden, indem ſie ein reichhaltigeres literariſches
Material zu fordern geneigt wären, als ſich in dem vor-
liegenden Werk finden wird. Ich habe abſichtlich nur
ſolche Schriftſteller angeführt, die in Beziehung auf den
oben dargelegten Plan des Werks in irgend einer Weiſe
förderlich ſeyn können, wäre es auch nur indem ſie wie-
|0052 : XLVI|
Vorrede.
der auf andere Schriftſteller zu weiterer Nachforſchung
verweiſen; keinesweges alſo habe ich nach einer mate-
riellen Vollſtändigkeit in der Angabe aller einen Ge-
genſtand behandelnden Schriften geſtrebt, auch wenn ſie
uns keinen namhaften Gewinn darbieten, in welchem
Fall es uns ja der Leſer wenig Dank weiß, wenn wir
ihn durch Anführung ſolcher Schriften verleiten, ſeine
Zeit an eine unfruchtbare Bekanntſchaft zu verſchwen-
den. Wäre ich in jüngeren Jahren zu dieſer Unterneh-
mung, gekommen, ſo würde ich eine erſchöpfende Be-
nutzung der juriſtiſchen Literatur in ganz anderem Sinn
verſucht haben. Wir finden in derſelben zwey große,
ſchwer zu bewältigende, Maſſen, aus welchen allerdings
noch mancher Gewinn zu ziehen ſeyn möchte; die eine
beſteht in den Exegeten, von den Gloſſatoren an, und
dann beſonders durch die Franzöſiſche Schule hindurch:
die andere in den Praktikern, den Verfaſſern der zahl-
loſen Conſilien, Reſponſen u. ſ. w., gleichfalls von den
Gloſſatoren an gerechnet. Eine erſchöpfende Benutzung
derſelben bey Abfaſſung eines Rechtsſyſtems, ſo wie ich
ſie meyne, würde darin beſtehen, daß dieſe Schriftſteller
vollſtändig durchgeleſen würden mit beſonderer Rückſicht
auf dieſes Syſtem, das heißt um daſſelbe durch ſie zu
prüfen, zu berichtigen, zu ergänzen, wodurch unzweifel-
|0053 : XLVII|
Vorrede.
haft ſehr Vieles im Einzelnen, weniger im Großen und
Ganzen, gewonnen werden möchte. Jetzt, da ich am
Abend meines Lebens dieſes Werk anfange, wäre es
Thorheit an einen ſolchen Plan zu denken. Wer aber
etwa dem Werk einen bleibenden Werth beylegen möchte,
könnte ſich ein weſentliches Verdienſt um daſſelbe erwer-
ben, wenn er die hier bezeichnete literariſche Vervollſtän-
digung unternehmen wollte. Es liegt nichts Abentheuer-
liches in dieſem Vorſchlag, da derſelbe ganz allmälig und
ſtückweiſe zur Ausführung gebracht werden könnte; etwa
indem die Schriftſteller eines beſchränkten Zeitraums,
ja ſogar einzelne Werke, zu dem angegebenen Zweck
durchgeleſen würden. — Vielleicht wird auch im Ein-
gang des Werks eine allgemeine Zuſammenſtellung der
für das Studium unſres Rechtsſyſtems brauchbaren
und empfehlungswerthen Schriften vermißt werden. Es
ſcheint mir aber zweckmäßiger, dieſes allerdings erhebliche
Bedürfniß durch abgeſonderte bibliographiſche Schriften
zu befriedigen; eben ſo wie die hiſtoriſche Zuſammen-
ſtellung unſrer einzelnen Rechtsquellen, ihrer Handſchrif-
ten, und ihrer Ausgaben, beſſer in rechtsgeſchichtlichen
Werken, als in dem Eingang eines Rechtsſyſtems un-
ternommen wird, wo die Grundlage und der Zuſammen-
hang für eine befriedigende Mittheilung dieſer Art fehlt.
|0054 : XLVIII|
Vorrede.
Der Stoff zu dem vorliegenden Werk iſt allmälig
in Vorleſungen geſammelt und verarbeitet worden, die
der Verfaſſer gerade ſeit dem Anfang des Jahrhunderts
über das Römiſche Recht gehalten hat. Allein in der
Geſtalt, in welcher es hier vorliegt, iſt es dennoch eine
völlig neue Arbeit, wozu jene Vorleſungen nur als Vor-
bereitung benutzt werden konnten. Denn Vorleſungen
ſind für Unkundige beſtimmt; ſie ſollen Denſelben neue,
fremde Gegenſtände zum Bewußtſeyn bringen, indem ſie
dieſe Mittheilung an andere Kenntniſſe der Zuhörer,
und an die allgemeine Bildung derſelben, anzuknüpfen
ſuchen. Der Schriftſteller dagegen arbeitet für die Kun-
digen; er ſetzt bey ihnen den Beſitz der Wiſſenſchaft in
ihrer gegenwärtigen Geſtalt voraus, knüpft ſeine Mit-
theilung an dieſen Beſitz an, und fordert ſie auf, Das
was ſie wiſſen, gemeinſchaftlich mit ihm, von Neuem zu
durchdenken, damit ſie ihren Beſitz reinigen, ſichern, er-
weitern. So unläugbar nun dieſer Gegenſatz beider
Formen der Mittheilung iſt, ſo ſind doch auch Über-
gänge nicht nur denkbar, ſondern unverwerflich. Auch
der Schriftſteller kann zuweilen den Stoff auf ſolche
Weiſe behandeln, daß er unvermerkt, gemeinſchaftlich
mit dem Leſer, auf die Anfänge wiſſenſchaftlicher Be-
griffe zurückgeht, und ſie ſo vor ſeinen Augen gleichſam
|0055 : XLIX|
Vorrede.
neu entſtehen läßt. Nicht ſelten wird ein ſolches Ver-
fahren zur Läuterung der Begriffe und Grundſätze,
nachdem ſie von Anderen mit Willkühr behandelt und
entſtellt worden ſind, gute Dienſte thun; Neigung und
Fähigkeit dazu wird ſich vorzugsweiſe finden, wenn der
Verfaſſer den Stoff, welchen er jetzt als Schriftſteller
bearbeitet, oft in Vorleſungen zu behandeln Veranlaſ-
ſung gehabt hat. — Der Plan zu dem Werk in ſeiner
hier vorliegenden Geſtalt iſt im Frühjahr 1835 ent-
worfen worden; im Herbſt deſſelben Jahres wurde die
Ausarbeitung begonnen, und bey dem Anfang des Drucks
waren die Vier Kapitel des erſten Buchs, und die Drey
erſten Kapitel des zweyten zu Ende gebracht.
Indem ich jetzt dieſes Werk hinaus ſende, kann ich
den Gedanken an die Schickſale, die ihm bevorſtehen,
nicht unterdrücken. Gutes und Böſes wird ihm wi-
derfahren wie jedem menſchlichen Streben und Wirken.
Gar Manche werden mir ſagen, wie mangelhaft es ſey;
aber Keiner kann deſſen Mängel vollſtändiger einſehen
und lebhafter empfinden als ich. Jetzt, da ein anſehn-
licher Theil fertig vor mir liegt, möchte ich, daß ſo
Manches erſchöpfender, anſchaulicher, alſo anders gera-
then wäre. Sollte uns eine ſolche Erkenntniß den Muth
lähmen, den der Entſchluß zu jeder weitausſehenden Un-
d
|0056 : L|
Vorrede.
ternehmung fordert? Beruhigen kann neben jener Selbſt-
erkenntniß die Betrachtung, daß die Wahrheit nicht blos
gefördert wird, indem wir ſie unmittelbar erkennen und
ausſprechen, ſondern auch indem wir den Weg dazu zei-
gen und bahnen, indem wir die Fragen und Aufgaben
feſt ſtellen, auf deren Löſung aller Erfolg beruht; dann
helfen wir Anderen, an das Ziel zu gelangen, welches
zu erreichen uns nicht gewährt wurde. So beruhigt
mich auch jetzt das Selbſtvertrauen, daß das vorliegende
Werk fruchtbare Keime der Wahrheit enthalten mag,
die vielleicht erſt in Anderen ihre volle Entwicklung fin-
den, und zu reifen Früchten gedeihen werden. Wenn
dann über der neuen, reicheren Entfaltung die gegen-
wärtige Arbeit, die dazu den Keim darbot, in den Hin-
tergrund tritt, ja vergeſſen wird, ſo liegt daran wenig.
Das einzelne Werk iſt ſo vergänglich, wie der einzelne
Menſch in ſeiner ſichtbaren Erſcheinung; aber unver-
gänglich iſt der durch die Lebensalter der Einzelnen fort-
ſchreitende Gedanke, der uns Alle, die wir mit Ernſt
und Liebe arbeiten, zu einer großen, bleibenden Gemein-
ſchaft verbindet, und worin jeder, auch der geringe,
Beytrag des Einzelnen ſein dauerndes Leben findet.
Geſchrieben im September 1839.
|0057 : [1]|
Erſtes Buch.
Quellen des heutigen Römiſchen Rechts.
Erſtes Kapitel.
Aufgabe dieſes Werks.
§. 1.
Heutiges Römiſches Recht.
Der Theil der Rechtswiſſenſchaft, deſſen Darſtellung in
dieſem Werk unternommen wird, iſt als das heutige
Römiſche Recht bezeichnet worden. Dieſe beſondere
Aufgabe ſoll zunächſt genauer, als es in einer bloßen
Überſchrift geſchehen konnte, in folgenden Gegenſätzen be-
ſtimmt werden.
1. Es iſt Römiſches Recht, welches in dieſem Werk
dargeſtellt werden ſoll. Zur Aufgabe deſſelben gehören
alſo nur diejenigen Rechtsinſtitute, welche Römiſchen Ur-
ſprung haben, jedoch mit Einſchluß ihrer ſpäteren Fort-
bildung, wenngleich dieſe auf einen andern als Römiſchen
Urſprung zurück zu führen iſt. Ausgeſchloſſen ſind dadurch
alle Inſtitute, welchen ein Germaniſcher Urſprung zuge-
ſchrieben werden muß.
2. Es iſt heutiges Römiſches Recht. Dadurch
wird ausgeſchloſſen: erſtens die Geſchichte der Rechtsin-
1
|0058 : 2|
Buch I. Quellen. Kap. I. Aufgabe des Werks.
ſtitute als ſolche; zweytens jede einzelne, dem früheren
Recht angehörende, dem Juſtinianiſchen fremde, Beſtim-
mung, da nur dieſe neueſte Geſtalt des Römiſchen Rechts
mit unſrem heutigen Rechtszuſtand in Verbindung getre-
ten iſt; drittens jedes Inſtitut, welches zwar dem Juſti-
nianiſchen Recht angehört, aber aus unſrem Rechtszu-
ſtand verſchwunden iſt.
3. Nur das Privatrecht gehört zu unſrer Aufgabe,
nicht das öffentliche Recht: alſo dasjenige, was die Rö-
mer durch jus civile (in einer der vielen Bedeutungen
dieſes Ausdrucks) bezeichnen, oder das, was ſie zur Zeit
der Republik als die ausſchließende Kenntniß eines Juris-
consultus, oder die eigentliche jurisprudentia, anſahen (a).
Dieſe Beſchränkung iſt jedoch zum Theil ſchon als eine
Folge der vorhergehenden anzuſehen, indem nur das Pri-
vatrecht der Römer im Ganzen ein Stück unſres Rechts-
zuſtandes geworden iſt. Zwar iſt auch das Römiſche
Criminalrecht unſrem Rechtszuſtand nicht fremd geblie-
ben: allein es iſt doch nur theilweiſe, und ungleich weni-
ger als das Privatrecht, in denſelben übergegangen.
(a) So ſetzt Cicero ſich ſelbſt
ſehr beſtimmt den Juriſten ent-
gegen, aber er war weit entfernt
zu glauben, daß er oder ein an-
derer Staatsmann weniger als
ein Juriſt von der Verfaſſung,
vom jus sacrum u. ſ. w. wiſſen
müſſe. Ulpian freilich giebt der
jurisprudentia eine viel weitere
Ausdehnung (L. 10. §. 2. D. de
J. et J.); das liegt aber nicht
blos an der Ungenauigkeit ſeiner
Erklärung, noch weniger an einer
übertriebenen Erhebung ſeiner
Wiſſenſchaft, ſondern an der in
ſeiner Zeit ſehr veränderten Stel-
lung des Juriſten und des Staats-
manns überhaupt.
|0059 : 3|
§. 1. Heutiges Römiſches Recht.
4. Endlich nur das Syſtem der Rechte ſelbſt, mit
Ausſchluß des Prozeſſes, oder der zur Rechtsverfolgung
beſtimmten Anſtalten: alſo nur dasjenige, was von Vie-
len das materielle Privatrecht genannt wird. Denn der
Prozeß hat ſich durch die Miſchung hiſtoriſch verſchiede-
ner Quellen auf ſo eigenthümliche Weiſe ausgebildet, daß
eine abgeſonderte Behandlung deſſelben nothwendig ge-
worden iſt, anſtatt daß die Römiſchen Juriſten die unmit-
telbare Verbindung deſſelben mit der Theorie des mate-
riellen Rechts nicht nur für möglich, ſondern für zweck-
mäßig halten durften. Was nun die Gränze unſrer
Aufgabe nach dieſer Seite hin betrifft, ſo iſt dieſelbe zwar
dem Grundſatz nach nicht zweifelhaft, in der Anwendung
aber wird ſie häufig verkannt, hauptſächlich deshalb,
weil ein und daſſelbe Inſtitut in der That beiden Ge-
bieten angehören kann. So z. B. gehört das richterliche
Urtheil, nach ſeiner Form und ſeinen Bedingungen, in
den Prozeß: dagegen hat es, ſobald es rechtskräftig iſt,
zweyerley Wirkungen: die aus einer res judicata ent-
ſpringende actio und exceptio (die in das Syſtem der
Rechte ſelbſt gehören), und die Exſecution, die eine reine
Prozeßlehre iſt.
Werden dieſe Beſchränkungen unter einen gemeinſa-
men Geſichtspunkt zuſammengefaßt, ſo beſtimmen ſie
das Römiſche Recht genau in dem Sinn, in welchem es
für einen großen Theil von Europa gemeines Recht ge-
worden iſt.
1*
|0060 : 4|
Buch I. Quellen. Kap. I. Aufgabe des Werks.
§. 2.
Gemeines Recht in Deutſchland.
Mit dem im § 1. feſtgeſtellten Begriff des heutigen
Römiſchen Rechts iſt nahe verwandt der Begriff des in
Deutſchland geltenden gemeinen Rechts. Dieſer ſteht
in Verbindung mit der eigenthümlichen Verfaſſung des
deutſchen Reichs, deſſen einzelne Staaten unter der ge-
meinſamen Staatsgewalt des Reichs vereinigt waren.
So ſtand jeder Theil von Deutſchland unter einer zwie-
fachen Staatsgewalt, und unter dem Einfluß derſelben
hatte ſich überall ein zwiefaches poſitives Recht gebildet,
Territorialrecht und gemeines Recht. Bey der Auflö-
ſung des Deutſchen Reichs behaupteten nun manche Schrift-
ſteller, daß das gemeine Recht mit ſeiner Baſis, der
Reichsſtaatsgewalt, auch ſeine Geltung verloren habe.
Dieſe Meynung, entſtanden aus einem Misverſtändniß
über die Natur des poſitiven Rechts, iſt indeſſen ganz
ohne Einfluß auf den wirklichen Rechtszuſtand geblieben (a).
Es iſt nun das hier genannte gemeine Recht kein
anderes, als jenes heutige Römiſche Recht, nur in der
beſondern Anwendung auf das Deutſche Reich, alſo mit
(a) Jene gehen von der irri-
gen Anſicht aus, als müſſe mit
der Auflöſung einer Staatsgewalt
auch alles durch ſie oder unter
ihrem Einfluß Gebildete mit auf-
hören. Ein ganz ähnlicher Fall
findet ſich bei der Zerſtörung
des weſtlichen Römiſchen Reiches.
Auch hier behaupten Viele, das
Römiſche Recht habe durch die
Eroberung verſchwinden müſſen,
und es ſey auch wirklich ver-
ſchwunden. Wenigſtens dieſe facti-
ſche Behauptung dürfte wohl jetzt
nicht leicht mehr Vertheidiger
finden.
|0061 : 5|
§. 3. Gränzen der Aufgabe.
den dadurch beſtimmten beſonderen Modificationen. Dieſe
Modificationen aber ſind faſt nur in den Reichsgeſetzen
enthalten, und von geringer Erheblichkeit. Denn alle
wichtige Abweichungen vom reinen Römiſchen Recht, wie
z. B. die Klagbarkeit aller Verträge ohne Stipulation,
die ausgedehntere Wichtigkeit der bona fides, ſind niemals
dem Deutſchen Reich eigenthümlich geweſen, ſondern überall
gleichmäßig anerkannt worden, ſo weit im neueren Eu-
ropa Römiſches Recht Anwendung gefunden hat.
Daher wird denn auch eine Darſtellung des heutigen
Römiſchen Rechts, wozu dieſes Werk zunächſt beſtimmt iſt,
nur weniger Zuſätze bedürfen, um zugleich als Darſtellung
des gemeinen Rechts für Deutſchland gelten zu können.
§. 3.
Gränzen der Aufgabe.
Durch die feſtgeſtellten Gränzen unſrer Aufgabe iſt
jedes außer derſelben liegende Gebiet als ihr fremd be-
zeichnet. In dieſer Beziehung hat die Darſtellung zwey
entgegengeſetzte Fehler zu vermeiden. Der eine beſteht in
willkührlicher Ueberſchreitung derſelben, aus Vorliebe bald
für ein nahe liegendes Fach überhaupt, bald für eine ein-
zelne derſelben angehörende Unterſuchung; der andere in
ängſtlicher Beobachtung der Gränzen, da wo eine Ueber-
ſchreitung unvermeidlich iſt, wenn nicht die Gründlichkeit
der eigenen Forſchung oder die Klarheit der Darſtellung
leiden ſoll (a). Dieſe letzte Rückſicht macht zugleich von
(a) So wird es z. B. nöthig, von mancher Lehre auch antiquirte
|0062 : 6|
Buch I. Quellen. Kap. I. Aufgabe des Werks.
Seiten des Leſers eine gewiſſe Duldſamkeit wünſchens-
werth, da hier das rechte Maaß mehr durch Takt als
nach feſten Regeln getroffen wird, der ſubjectiven Anſicht
alſo einiger Spielraum nicht verſagt werden kann.
Insbeſondere wird aber gar Manches aufzunehmen
ſeyn, was zu den gemeinſamen Grundlehren eines jeden
poſitiven Rechts gehört, alſo dem Römiſchen Recht nicht
gerade eigenthümlich iſt. Für dieſe Aufnahme ſpricht nicht
blos der bisherige Gebrauch, beſonders in den Pandekten-
vorleſungen der Deutſchen Univerſitäten: nicht blos die
beſondere Geſtalt, die das Römiſche Recht auch manchem
Theil dieſer Lehren gegeben, und der Einfluß, den es
hierin auf andere Geſetzgebungen ausgeübt hat: ſondern
vorzüglich die Rückſicht, daß das Römiſche Recht durch
ſeine Schickſale mehr als jedes andere poſitive Recht einen
allgemeinen Character angenommen hat, welcher ſich zu
einer befriedigenden Behandlung jener Grundlehren vor-
zugsweiſe eignet.
Zweytes Kapitel.
Allgemeine Natur der Rechtsquellen.
§. 4.
Rechtsverhältniß.
Für das heutige Römiſche Recht haben wir die Grund-
lage zu ſuchen in der Feſtſtellung der ihm angehörenden
Theile darzuſtellen, wegen der
nothwendigen Rückſicht auf das
dadurch bedingte Verhältniß der
Rechtsquellen.
|0063 : 7|
§. 4. Rechtsverhältniß.
Rechtsquellen. Damit dieſes mit Erfolg geſchehen könne,
iſt eine allgemeinere Unterſuchung über die Natur der
Rechtsquellen überhaupt nöthig.
Betrachten wir den Rechtszuſtand, ſo wie er uns im
wirklichen Leben von allen Seiten umgiebt und durch-
dringt, ſo erſcheint uns darin zunächſt die der einzelnen
Perſon zuſtehende Macht: ein Gebiet, worin ihr Wille
herrſcht, und mit unſrer Einſtimmung herrſcht. Dieſe
Macht nennen wir ein Recht dieſer Perſon, gleichbedeu-
tend mit Befugniß: Manche nennen es das Recht im ſub-
jectiven Sinn. Ein ſolches Recht erſcheint vorzugsweiſe
in ſichtbarer Geſtalt, wenn es bezweifelt oder beſtritten,
und nun das Daſeyn und der Umfang deſſelben durch
ein richterliches Urtheil anerkannt wird. Allein die ge-
nauere Betrachtung überzeugt uns, daß dieſe logiſche Form
eines Urtheils nur durch das zufällige Bedürfniß hervor-
gerufen iſt, und daß ſie das Weſen der Sache nicht er-
ſchöpft, ſondern ſelbſt einer tieferen Grundlage bedarf.
Dieſe nun finden wir in dem Rechtsverhältniß, von
welchem jedes einzelne Recht nur eine beſondere, durch
Abſtraction ausgeſchiedene Seite darſtellt, ſo daß ſelbſt
das Urtheil über das einzelne Recht nur inſofern wahr
und überzeugend ſeyn kann, als es von der Geſammtan-
ſchauung des Rechtsverhältniſſes ausgeht. Das Rechts-
verhältniß aber hat eine organiſche Natur, und dieſe offen-
bart ſich theils in dem Zuſammenhang ſeiner ſich gegen-
ſeitig tragenden und bedingenden Beſtandtheile, theils in
|0064 : 8|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
der fortſchreitenden Entwicklung, die wir in demſelben
wahrnehmen, in der Art ſeines Entſtehens und Verge-
hens. Dieſe lebendige Conſtruction des Rechtsverhältniſ-
ſes in jedem gegebenen Fall iſt das geiſtige Element der
juriſtiſchen Praxis, und unterſcheidet ihren edlen Beruf
von dem bloßen Mechanismus, den ſo viele Unkundige
darin ſehen. Damit dieſer wichtige Punkt nicht blos im
Allgemeinen verſtanden werde, ſondern auch nach dem
ganzen Reichthum ſeines Inhalts zur Anſchauung komme,
mag es nicht überflüſſig ſeyn, ihn durch ein Beyſpiel zu
erläutern. Die berühmte L. Frater a fratre behandelt
folgenden Rechtsfall. Zwey Brüder ſtehen in der Gewalt
ihres Vaters. Einer giebt dem Andern ein Darlehen.
Der Empfänger zahlt dieſes nach des Vaters Tod zurück,
und es fragt ſich, ob er dieſes gezahlte Geld, als irrig
gezahlt, wieder fordern könne. Hier hat der Richter
lediglich über die Frage zu urtheilen, ob die condictio
indebiti begründet iſt oder nicht. Aber um dieſes zu kön-
nen, muß ihm die Geſammtanſchauung des Rechtsver-
hältniſſes gegenwärtig ſeyn. Deſſen einzelne Elemente
waren: die väterliche Gewalt über beide Brüder, ein
Darlehen des Einen an den Andern, ein Peculium,
welches der Schuldner vom Vater erhalten hatte. Die-
ſes zuſammengeſetzte Rechtsverhältniß hat ſich fortſchrei-
tend entwickelt durch des Vaters Tod, deſſen Beerbung,
die Rückzahlung des Darlehns. Aus dieſen Elementen
ſoll das vom Richter begehrte einzelne Urtheil hervorgehen.
|0065 : 9|
§. 5. Rechtsinſtitut.
§. 5.
Rechtsinſtitut.
Das Urtheil über das einzelne Recht iſt nur möglich
durch Beziehung der beſonderen Thatſachen auf eine all-
gemeine Regel, von welcher die einzelnen Rechte beherrſcht
werden. Dieſe Regel nennen wir das Recht ſchlecht-
hin, oder das allgemeine Recht: Manche nennen ſie das
Recht im objectiven Sinn. Sie erſcheint in ſichtbarer
Geſtalt beſonders in dem Geſetz, welches ein Ausſpruch
der höchſten Gewalt im Staate über die Rechtsregel iſt.
So wie aber das Urtheil über einen einzelnen Rechts-
ſtreit nur eine beſchränkte und abhängige Natur hat,
und erſt in der Anſchauung des Rechtsverhältniſſes ſeine
lebendige Wurzel und ſeine überzeugende Kraft findet,
auf gleiche Weiſe verhält es ſich mit der Rechtsregel.
Denn auch die Rechtsregel, ſo wie deren Ausprägung im
Geſetz, hat ihre tiefere Grundlage in der Anſchauung des
Rechtsinſtituts, und auch deſſen organiſche Natur zeigt
ſich ſowohl in dem lebendigen Zuſammenhang der Be-
ſtandtheile, als in ſeiner fortſchreitenden Entwicklung.
Wenn wir alſo nicht bey der unmittelbaren Erſcheinung
ſtehen bleiben, ſondern auf das Weſen der Sache einge-
hen, ſo erkennen wir, daß in der That jedes Rechtsver-
hältniß unter einem entſprechenden Rechtsinſtitut, als ſei-
nem Typus, ſteht, und von dieſem auf gleiche Weiſe be-
herrſcht wird, wie das einzelne Rechtsurtheil von der
|0066 : 10|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
Rechtsregel (a). Ja es iſt dieſe letzte Subſumtion abhän-
gig von jener erſten, durch welche ſie ſelbſt erſt Wahr-
heit und Leben erhalten kann. Zur Erläuterung ſoll auch
hier der im vorigen §. angeführte Rechtsfall benutzt wer-
den. Die darauf bezüglichen Rechtsinſtitute ſind: der Er-
werb des Vaters durch die Kinder, das alte Peculium
und insbeſondere die in demſelben geltende deductio, Über-
gang der Forderungen auf die Erben, Confuſion der For-
derungen und Schulden, die condictio indebiti. Für die
Entwicklung des Gedankens liegt ein natürlicher Unter-
ſchied darin, daß wir die Rechtsinſtitute zuerſt geſondert
conſtruiren, und hinterher willkührlich combiniren können,
anſtatt daß uns das Rechtsverhältniß durch die Lebens-
ereigniſſe gegeben wird, alſo unmittelbar in ſeiner con-
creten Zuſammenſetzung und Verwicklung erſcheint.
In fernerer Betrachtung aber erkennen wir, daß alle
Rechtsinſtitute zu einem Syſtem verbunden beſtehen, und
daß ſie nur in dem großen Zuſammenhang dieſes Sy-
ſtems, in welchem wieder dieſelbe organiſche Natur er-
ſcheint, vollſtändig begriffen werden können. So uner-
meßlich nun der Abſtand zwiſchen einem beſchränkten ein-
zelnen Rechtsverhältniß und dem Syſtem des poſitiven
Rechts einer Nation ſeyn mag, ſo liegt doch die Verſchie-
denheit nur in den Dimenſionen, dem Weſen nach ſind
ſie nicht verſchieden, und auch das Verfahren des Geiſtes,
(a) Vergl. Stahl Philoſophie des Rechts II. 1. S. 165. 166.
|0067 : 11|
§. 6. Begriff der Rechtsquellen.
welches zur Erkenntniß des einen und des andern führt,
iſt weſentlich daſſelbe.
Hieraus folgt aber, wie nichtig es iſt, wenn in der
Rechtswiſſenſchaft ſehr häufig Theorie und Praxis als
ganz getrennt, ja entgegengeſetzt angeſehen werden. Ver-
ſchieden iſt in ihnen der äußere Lebensberuf, verſchieden
die Anwendung der erworbenen Rechtskenntniß: aber die
Art und Richtung des Denkens, ſo wie die Bildung, die
dahin führt, haben ſie gemein, und es wird das eine und
das andere dieſer Geſchäfte nur von Demjenigen würdig
vollbracht werden, welchem das Bewußtſeyn jener Iden-
tität inwohnt (b).
§. 6.
Begriff der Rechtsquellen.
Wir nennen Rechtsquellen die Entſtehungsgründe
des allgemeinen Rechts, alſo ſowohl der Rechtsinſtitute,
als der aus denſelben durch Abſtraction gebildeten einzel-
nen Rechtsregeln. Dieſer Begriff hat eine zwiefache Ver-
wandtſchaft, wodurch es nöthig wird, zweyerley Verwechs-
lungen abzuwehren.
1. Auch die einzelnen Rechtsverhältniſſe haben ihre
Entſtehungsgründe (a), und die Verwandtſchaft der Rechts-
(b) Dieſe Ueberzeugungen ſind
bey dem Verfaſſer zuerſt durch
die genauere Bekanntſchaft mit
den gerade hierin großen Römi-
ſchen Juriſten entſtanden, dann
aber hauptſächlich durch die viel-
jährige Beſchäftigung mit der ju-
riſtiſchen Praxis entwickelt und
befeſtigt worden.
(a) Die allgemeine Lehre von
dieſen Entſtehungsgründen iſt im
dritten Kapitel des zweyten Buchs
enthalten.
|0068 : 12|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
verhältniſſe mit den Rechtsinſtituten führt leicht zu einer
Vermiſchung derſelben mit den Entſtehungsgründen der
Rechtsregeln. Will man z. B. die Bedingungen irgend
eines Rechtsverhältniſſes vollſtändig aufzählen, ſo gehört
dazu unzweifelhaft ſowohl das Daſeyn einer Rechtsregel,
als eine dieſer Regel entſprechende Thatſache, alſo z. B.
ein Geſetz, welches die Verträge anerkennt, und ein ge-
ſchloſſener Vertrag ſelbſt. Dennoch ſind dieſe beiden Be-
dingungen ſpecifiſch verſchieden, und es führt auf Ver-
wirrung der Begriffe, wenn man Verträge und Geſetze
auf Eine Linie als Rechtsquellen ſtellt (b.).
2. Eine andere, mehr durch den Namen begründete,
Verwechslung iſt die der Rechtsquellen mit den geſchicht-
lichen Quellen der Rechtswiſſenſchaft. Zu dieſen gehören
alle Denkmäler, woraus wir die Kenntniß rechtswiſſen-
ſchaftlicher Thatſachen ſchöpfen. Beide Begriffe ſind alſo
von einander ganz unabhängig, und es iſt nur zufällig,
wenn ſie auf irgend einem Punkte zuſammentreffen, ob-
gleich dieſes Zuſammentreffen beſonders häufig und wich-
tig iſt. So z. B. gehören Juſtinians Digeſten zu den
Quellen in beiden Bedeutungen des Ausdrucks: die Lex
(b.) Dieſe Zuſammenſtellung
findet ſich unter andern, der
Neuern nicht zu gedenken, in
mehreren Stellen des Cicero (ſ.
u. §. 22. Note m.). Wie hier
die Verträge mit Unrecht zu den
Rechtsquellen hinaufgehoben wer-
den, ſo werden anderwärts mit
umgekehrter Verwirrung die Ge-
ſetze in Eine Reihe mit den Ent-
ſtehungsgründen der Rechtsver-
hältniſſe heruntergezogen, um die
falſche Lehre vom Titulus und
modus adquirendi zu retten.
Höpfner Commentar §. 293.
Zu jenem erſten Irrthum hat
viel beigetragen der vieldeutige
Ausdruck Autonomie.
|0069 : 13|
§. 7. Allgemeine Entſtehung des Rechts.
Voconia gehört zu den Quellen des älteren Rechts, aber,
da ſie verloren iſt, nicht unter die Quellen der Rechts-
wiſſenſchaft: bey den Stellen alter Geſchichtsſchreiber oder
Dichter, welche juriſtiſche Notizen enthalten, tritt der um-
gekehrte Fall ein. — Es iſt jedoch zu bemerken, daß in
den allermeiſten Fällen, worin wir veranlaßt ſind von
Rechtsquellen zu reden, beide Bedeutungen des Ausdrucks
in der That zuſammentreffen, ſo daß die Gefahr einer
Verwirrung der Begriffe durch die Zweydeutigkeit des
Ausdrucks nicht groß iſt. So z. B. ſind die Beſtandtheile
des Corpus Juris, als Geſetze von Juſtinian Rechtsquel-
len für Juſtinians Reich, kraft ihrer Reception Rechts-
quellen für uns, endlich als noch vorhandene Bücher
Quellen unſrer Rechtswiſſenſchaft. Eben ſo ſind die Deut-
ſchen Rechtsbücher des dreyzehnten und vierzehnten Jahr-
hunderts Aufzeichnungen von Rechtsgewohnheiten, alſo von
Rechtsquellen, als erhaltene Bücher Quellen der Rechts-
wiſſenſchaft. Daher gebrauchen auch die meiſten Schrift-
ſteller den Ausdruck, ohne ihren Leſern über deſſen ver-
ſchiedene Beziehungen beſondere Auskunft zu geben, und
ſie ſind deshalb nicht zu tadeln.
§. 7.
Allgemeine Entſtehung des Rechts.
Welches ſind nun die Entſtehungsgründe des allgemei-
nen Rechts, oder worin beſtehen die Rechtsquellen?
Hierüber könnte man annehmen wollen, das Recht
|0070 : 14|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
habe eine ganz verſchiedene Entſtehung, je nach dem Ein-
fluß des Zufalls, oder auch menſchlicher Willkühr, Über-
legung und Weisheit. Allein dieſer Annahme widerſpricht
die unzweifelhafte Thatſache, daß überall, wo ein Rechts-
verhältniß zur Frage und zum Bewußtſeyn kommt, eine
Regel für daſſelbe längſt vorhanden, alſo jetzt erſt zu
erfinden weder nöthig noch möglich iſt. In Beziehung
auf dieſe Beſchaffenheit des allgemeinen Rechts, nach wel-
cher es in jedem gegebenen Zuſtand, in welchem es ge-
ſucht werden kann, als ein gegebenes ſchon wirkliches Da-
ſeyn hat, nennen wir es poſitives Recht.
Fragen wir ferner nach dem Subject, in welchem und
für welches das poſitive Recht ſein Daſeyn hat, ſo finden wir
als ſolches das Volk. In dem gemeinſamen Bewußtſeyn
des Volkes lebt das poſitive Recht, und wir haben es
daher auch Volksrecht zu nennen. Es iſt dieſes aber
keinesweges ſo zu denken, als ob es die einzelnen Glieder
des Volkes wären, durch deren Willkühr das Recht her-
vorgebracht würde; denn dieſe Willkühr der Einzelnen
könnte vielleicht zufällig daſſelbe Recht, vielleicht aber,
und wahrſcheinlicher, ein ſehr mannichfaltiges erwählen.
Vielmehr iſt es der in allen Einzelnen gemeinſchaftlich
lebende und wirkende Volksgeiſt, der das poſitive Recht
erzeugt, das alſo für das Bewußtſeyn jedes Einzelnen,
nicht zufällig ſondern nothwendig, ein und daſſelbe Recht
iſt. Indem wir alſo eine unſichtbare Entſtehung des po-
ſitiven Rechts annehmen, müſſen wir ſchon deshalb auf
|0071 : 15|
§. 7. Allgemeine Entſtehung des Rechts.
jeden urkundlichen Beweis derſelben verzichten. Allein
dieſer Mangel iſt unſrer Anſicht von jener Entſtehung mit
jeder anderen Anſicht gemein, da wir in allen Völkern,
welche jemals in die Gränzen urkundlicher Geſchichte ein-
getreten ſind, ein poſitives Recht ſchon vorfinden, deſſen
urſprüngliche Erzeugung alſo außer jenen Gränzen liegen
muß. Allein an Beweiſen anderer Art, wie ſie der beſon-
dern Natur des Gegenſtandes angemeſſen ſind, fehlt es
nicht. Ein ſolcher Beweis liegt in der allgemeinen, gleich-
förmigen Anerkennung des poſitiven Rechts, und in dem
Gefühl innerer Nothwendigkeit, wovon die Vorſtellung
deſſelben begleitet iſt. Dieſes Gefühl ſpricht ſich am be-
ſtimmteſten aus in der uralten Behauptung eines göttli-
chen Urſprungs des Rechts oder der Geſetze; denn ein
entſchiednerer Gegenſatz gegen die Entſtehung durch Zufall
oder menſchliche Willkühr läßt ſich nicht denken. Ein
zweyter Beweis liegt in der Analogie anderer Eigenthüm-
lichkeiten der Völker, die eine eben ſo unſichtbare, über
die urkundliche Geſchichte hinaufreichende Entſtehung ha-
ben, wie z. B. die Sitte des geſelligen Lebens, vor allen
aber die Sprache. Bey dieſer nun findet ſich dieſelbe
Unabhängigkeit von Zufall und freyer Wahl der Einzel-
nen, alſo dieſelbe Erzeugung aus der Thätigkeit des in
allen Einzelnen gemeinſam wirkenden Volksgeiſtes; bey ihr
aber iſt dieſes Alles durch ihre ſinnliche Natur anſchau-
licher und unverkennbarer als bey dem Recht. Ja es
wird die individuelle Natur der einzelnen Völker lediglich
|0072 : 16|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
durch jene gemeinſamen Richtungen und Thätigkeiten be-
ſtimmt und erkannt, unter welchen die Sprache, als die
ſichtbarſte, die erſte Stelle einnimmt.
Die Geſtalt aber, in welcher das Recht in dem gemein-
ſamen Bewußtſeyn des Volks lebt, iſt nicht die der ab-
ſtracten Regel, ſondern die lebendige Anſchauung der
Rechtsinſtitute in ihrem organiſchen Zuſammenhang, ſo
daß, wo das Bedürfniß entſteht, ſich der Regel in ihrer
logiſchen Form bewußt zu werden, dieſe erſt durch einen
künſtlichen Prozeß aus jener Totalanſchauung gebildet
werden muß. Jene Geſtalt offenbart ſich durch die ſym-
boliſchen Handlungen, die das Weſen der Rechtsverhält-
niſſe bildlich darſtellen, und in welchen ſich die urſprüng-
lichen Volksrechte meiſt deutlicher und gründlicher aus-
ſprechen, als in den Geſetzen.
Bey dieſer Annahme von der Entſtehung des poſitiven
Rechts wurde zunächſt noch abgeſehen von dem in der
Zeit fortgehenden Leben der Völker. Betrachten wir nun
auch deſſen Einwirkung auf das Recht, ſo werden wir
ihm vor Allem eine befeſtigende Kraft zuerkennen müſſen:
je länger die Rechtsüberzeugungen in dem Volk leben,
deſto tiefer werden ſie in ihm wurzeln. Ferner wird ſich
das Recht durch die Übung entfalten, und was urſprüng-
lich blos im Keim vorhanden war, wird durch die An-
wendung in beſtimmter Geſtalt zum Bewußtſeyn kommen.
Aber auch Veränderung des Rechts wird auf dieſem Wege
erzeugt werden. Denn wie in dem Leben des einzelnen
|0073 : 17|
§. 7. Allgemeine Entſtehung des Rechts.
Menſchen kein Augenblick eines vollkommnen Stillſtandes
wahrgenommen wird, ſondern ſtete organiſche Entwicklung,
ſo verhält es ſich auch in dem Leben der Völker, und in
jedem einzelnen Element, woraus dieſes Geſammtleben
beſteht. So finden wir in der Sprache ſtete Fortbildung
und Entwicklung, und auf gleiche Weiſe in dem Recht.
Und auch dieſe Fortbildung ſteht unter demſelben Geſetz
der Erzeugung aus innerer Kraft und Nothwendigkeit,
unabhängig von Zufall und individueller Willkühr, wie
die urſprüngliche Entſtehung. Allein das Volk erfährt in
dieſem natürlichen Entwicklungsprozeß nicht blos eine Ver-
änderung überhaupt, ſondern auch in einer beſtimmten,
regelmäßigen Folge der Zuſtände, und unter dieſen Zu-
ſtänden hat ein jeder ſein eigenthümliches Verhältniß zu
der beſonderen Äußerung des Volksgeiſtes, wodurch das
Recht erzeugt wird. Am freyeſten und kräftigſten erſcheint
dieſe in der Jugendzeit der Völker, in welcher der Natio-
nalzuſammenhang noch inniger, das Bewußtſeyn deſſelben
allgemeiner verbreitet, und weniger durch Verſchiedenheit
der individuellen Ausbildung verdeckt iſt. In demſelben
Maaße aber, in welchem die Bildung der Individuen un-
gleichartiger und vorherrſchender wird, und in welchem
eine ſchärfere Sonderung der Beſchäftigungen, der Kennt-
niſſe und der dadurch bedingten Stände eintritt, wird auch
die Rechtserzeugung, die auf der Gemeinſchaft des Be-
wußtſeyns beruhte, ſchwieriger werden; ja ſie würde end-
lich faſt ganz verſchwinden, wenn ſich nicht dafür, durch
2
|0074 : 18|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
den Einfluß derſelben neuen Zuſtände, wiederum eigene
Organe bildeten, die Geſetzgebung und die Rechtswiſſen-
ſchaft, deren Natur ſogleich dargeſtellt werden wird.
Dieſe Fortbildung des Rechts kann übrigens ein ganz
verſchiedenes Verhältniß zu dem urſprünglich vorhandenen
Recht haben. Es können durch ſie neue Rechtsinſtitute
erzeugt, oder auch die vorhandenen umgeſtaltet werden:
ja es können dieſe durch ſie ganz verſchwinden, wenn ſie
dem Sinn und Bedürfniß der Zeit fremd geworden ſind.
§. 8.
Volk.
Die Rechtserzeugung iſt hier vorläufig in das Volk,
als das thätige, perſönliche Subject, geſetzt worden. Die
Natur dieſes Subjects ſoll nunmehr genauer beſtimmt
werden.
Wenn wir in der Betrachtung des Rechtsverhältniſſes
von allem beſonderen Inhalt deſſelben abſtrahiren, ſo bleibt
uns als allgemeines Weſen deſſelben übrig, das auf be-
ſtimmte Weiſe geregelte Zuſammenleben mehrerer Menſchen.
Es liegt nun ſehr nahe, bei dieſem abſtracten Begriff einer
Mehrheit überhaupt ſtehen zu bleiben, und das Recht als
eine Erfindung derſelben zu denken, ohne welche die äu-
ßere Freiheit keines Einzelnen beſtehen könnte. Allein ein
ſolches zufälliges Zuſammentreffen einer unbeſtimmten Menge
iſt eine willkührliche, aller Wahrheit ermangelnde Vorſtel-
lung: und fände ſie ſich wirklich ſo zuſammen, ſo würde
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§. 8. Volk.
ihr unfehlbar die Fähigkeit der Rechtserzeugung mangeln,
da mit dem Bedürfniß nicht zugleich die Kraft der Befrie-
digung gegeben iſt. In der That aber finden wir überall,
wo Menſchen zuſammen leben, und ſo weit die Geſchichte
davon Kunde giebt, daß ſie in einer geiſtigen Gemeinſchaft
ſtehen, die ſich durch den Gebrauch derſelben Sprache
ſowohl kund giebt, als befeſtigt und ausbildet. In dieſem
Naturganzen iſt der Sitz der Rechtserzeugung, denn in
dem gemeinſamen, die Einzelnen durchdringenden Volks-
geiſt findet ſich die Kraft, das oben anerkannte Bedürfniß
zu befriedigen.
Die Gränzen aber dieſer Völkerindividuen ſind aller-
dings unbeſtimmt und ſchwankend, und dieſer zweifelhafte
Zuſtand offenbart ſich auch in der Einheit oder Verſchie-
denheit des in ihnen erzeugten Rechts. So kann es bei
verwandten Volksſtämmen ungewiß erſcheinen, ob ſie uns
als Ein Volk oder als mehrere gelten ſollen: gleicherweiſe
finden wir auch oft in ihrem Recht zwar nicht gänzliche
Übereinſtimmung, wohl aber Verwandtſchaft.
Allein auch da, wo die Einheit eines Volkes unzwei-
felhaft iſt, finden ſich innerhalb der Gränzen deſſelben oft
engere Kreiſe, die durch einen beſonderen Zuſammenhang,
noch neben dem allgemeinen des Volkes, vereinigt ſind,
wie Städte und Dörfer, Innungen, Corporationen aller
Art, welche insgeſammt volksmäßige Abtheilungen des
Ganzen bilden. Auch in dieſen wiederum kann eine eigen-
thümliche Rechtserzeugung ihren Sitz haben als parti-
2*
|0076 : 20|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
culäres Recht, neben dem gemeinſamen Volksrecht, wel-
ches dadurch auf manchen Seiten ergänzt oder umgebil-
det wird (a).
Wenn wir aber das Volk als eine natürliche Einheit,
und inſofern als den Träger des poſitiven Rechts betrach-
ten, ſo dürfen wir dabei nicht blos an die darin gleich-
zeitig enthaltenen Einzelnen denken; vielmehr geht jene
Einheit durch die einander ablöſenden Geſchlechter hindurch,
verbindet alſo die Gegenwart mit der Vergangenheit und
der Zukunft. Dieſe ſtete Erhaltung des Rechts wird be-
wirkt durch Tradition, und dieſe iſt bedingt und begrün-
det durch den nicht plötzlichen, ſondern ganz allmäligen
Wechſel der Generationen. Die hier behauptete Unab-
hängigkeit des Rechts von dem Leben der gegenwärtigen
Volksglieder gilt zunächſt von der unveränderten Fortdauer
der Rechtsregeln: eben ſo aber iſt ſie auch die Grundlage
der allmäligen Fortbildung des Rechts (§ 7.), und in die-
ſer Beziehung müſſen wir ihr eine vorzügliche Wichtigkeit
zuſchreiben.
Dieſe Anſicht, welche das individuelle Volk als Erzeu-
ger und Träger des poſitiven oder wirklichen Rechts aner-
kennt, dürfte Manchen zu beſchränkt erſcheinen, welche
geneigt ſeyn möchten, vielmehr dem gemeinſamen Men-
ſchengeiſt, als dem individuellen Volksgeiſt, jene Erzeugung
zuzuſchreiben. In genauerer Betrachtung aber erſcheinen
(a) So kamen in Rom uralte
Gewohnheitsrechte einzelner gen-
tes vor. Dirkſen civil. Ab-
handlungen B. 2. S. 90.
|0077 : 21|
§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.
beide Anſichten gar nicht als widerſtreitend. Was in dem
einzelnen Volk wirkt, iſt nur der allgemeine Menſchengeiſt,
der ſich in ihm auf individuelle Weiſe offenbart. Allein
die Erzeugung des Rechts iſt eine That, und eine gemein-
ſchaftliche That. Dieſe iſt nur denkbar für diejenigen,
unter welchen eine Gemeinſchaft des Denkens und Thuns
nicht nur möglich, ſondern auch wirklich iſt. Da nun
eine ſolche Gemeinſchaft nur innerhalb der Gränzen des
einzelnen Volkes vorhanden iſt, ſo kann auch nur hier das
wirkliche Recht hervorgebracht werden, obgleich in der
Erzeugung deſſelben die Äußerung eines allgemein menſch-
lichen Bildungstriebes wahrzunehmen iſt, alſo nicht etwa
die eigenthümliche Willkühr mancher beſonderen Völker,
wovon in andern Völkern vielleicht keine Spur angetroffen
werden könnte. Nur darin findet ſich eine Verſchiedenheit,
daß dieſes Erzeugniß des Volksgeiſtes bald dem einzelnen
Volke ganz eigenthümlich, bald aber in mehreren Völkern
gleichmäßig vorkommend iſt. Wie die Römer dieſe allge-
meinere Grundlage des Volksrechts als Jus gentium auf-
gefaßt haben, wird unten gezeigt werden (§ 22.).
§. 9.
Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.
Das Volk, dem wir als einem unſichtbaren Naturgan-
zen unbeſtimmte Gränzen zuſchreiben mußten, beſteht jedoch
nirgend und in keiner Zeit auf dieſe abſtracte Weiſe.
Vielmehr wirkt in ihm ein unaufhaltſamer Trieb, die
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Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
unſichtbare Einheit in ſichtbarer und organiſcher Erſchei-
nung zu offenbaren. Dieſe leibliche Geſtalt der geiſtigen
Volksgemeinſchaft iſt der Staat, und mit ihm ſind zu-
gleich ſcharf beſtimmte Gränzen der Einheit gegeben.
Fragen wir nun nach der Entſtehung des Staates, ſo
müſſen wir dieſelbe eben ſo in eine höhere Nothwendig-
keit, in eine von innen heraus bildende Kraft ſetzen, wie
es oben von dem Recht überhaupt geſagt worden iſt; und
zwar gilt dieſes nicht blos von dem Daſeyn eines Staa-
tes überhaupt, ſondern auch von der eigenthümlichen Ge-
ſtalt, welche der Staat in jedem Volke an ſich trägt.
Denn auch die Erzeugung des Staates iſt eine Art der
Rechtserzeugung, ja ſie iſt die höchſte Stufe der Rechts-
erzeugung überhaupt.
Überſehen wir von dem nun gewonnenen Standpunkt
aus das geſammte Recht, ſo unterſcheiden wir in demſel-
ben zwey Gebiete, das Staatsrecht und das Privat-
recht. Das erſte hat zum Gegenſtand den Staat, das
heißt die organiſche Erſcheinung des Volks: das zweyte
die Geſammtheit der Rechtsverhältniſſe, welche den ein-
zelnen Menſchen umgeben, damit er in ihnen ſein inneres
Leben führe und zu einer beſtimmten Geſtalt bilde (a).
Nicht als ob es, wenn wir dieſe beiden Rechtsgebiete ver-
gleichen, an Übergängen und Verwandtſchaften fehlte.
(a) L. 1. de J. et J. (I. 1.).
Publicum jus est quod ad sta-
tum rei Romanae spectat; pri-
vatum quod ad singulorum uti-
litatem. Sunt enim quaedam
publice utilia, quaedam priva-
tim. Vgl. L. 2 § 46. de orig.
jur. (I. 2.).
|0079 : 23|
§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.
Denn die Familie hat in ihrer dauernden Gliederung, ſo
wie in dem Verhältniß des Regierens und des Gehorchens,
unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Staate: und eben ſo
treten die Gemeinden, die doch wahre Beſtandtheile des
Staates ſind (§ 86), nahe an das Verhältniß der Ein-
zelnen heran. Dennoch bleibt zwiſchen beiden Gebieten ein
feſt beſtimmter Gegenſatz darin, daß in dem öffentlichen
Recht das Ganze als Zweck, der Einzelne als untergeord-
net erſcheint, anſtatt daß in dem Privatrecht der einzelne
Menſch für ſich Zweck iſt, und jedes Rechtsverhältniß ſich
nur als Mittel auf ſein Daſeyn oder ſeine beſonderen Zu-
ſtände bezieht.
Allein der Staat hat zugleich den mannichfaltigſten
Einfluß auf das Privatrecht, und zwar zunächſt auf die
Realität des Daſeyns deſſelben. Denn in ihm zuerſt erhält
das Volk wahre Perſönlichkeit, alſo die Fähigkeit zu han-
deln. Wenn wir alſo außer demſelben dem Privatrecht
nur ein unſichtbares Daſeyn, in übereinſtimmenden Gefüh-
len, Gedanken und Sitten zuſchreiben können, ſo erhält
es im Staat, durch Aufſtellung des Richteramtes, Leben
und Wirklichkeit. Das hat jedoch nicht den Sinn, daß
in dem Leben der Völker in der That eine Zeit vor Er-
findung des Staats vorkäme, worin das Privatrecht dieſe
unvollkommene Natur hätte (Naturzuſtand). Vielmehr
wird jedes Volk, ſobald es als ſolches erſcheint, zugleich
als Staat erſcheinen, wie auch dieſer geſtaltet ſeyn möge.
Jene Behauptung alſo ſollte blos gelten von demjenigen
|0080 : 24|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
Zuſtand des Volkes, welcher uns in Gedanken übrig bleibt,
wenn wir von ſeiner Eigenſchaft als Staat künſtlich ab-
ſtrahiren. — Hierin erhält zugleich das Verhältniß der
Einzelnen zu dem allgemeinen Recht ſeine Realität und
Vollendung. Das Recht hat ſein Daſeyn in dem gemein-
ſamen Volksgeiſt (§ 7. 8.), alſo in dem Geſammtwillen,
der inſofern auch der Wille jedes Einzelnen iſt. Allein
der Einzelne kann ſich, vermöge ſeiner Freiheit, durch Das
was er für ſich will, gegen Das auflehnen, was er als
Glied des Ganzen denkt und will. Dieſer Widerſpruch
iſt das Unrecht, oder die Rechtsverletzung, welche vernich-
tet werden muß, wenn das Recht beſtehen und herrſchen
ſoll. Soll aber dieſe Vernichtung vom Zufall unabhängig
werden, und eine regelmäßige Sicherheit erhalten, ſo iſt
das nur im Staate möglich. Denn hier allein kann dem
Einzelnen die Rechtsregel als ein Aeußeres und Objecti-
ves gegenüber ſtehen. Und in dieſem neuen Verhältniß
erſcheint die des Unrechts fähige individuelle Freiheit als
von dem Geſammtwillen gebunden und in ihm untergehend.
Außerdem aber hat der Staat auch den entſchiedenſten
Einfluß auf die Rechtserzeugung im Privatrecht: nicht nur
auf deſſen Inhalt, wovon noch weiter die Rede ſeyn wird,
ſondern auch auf die Gränzen der Rechtserzeugung, indem
die Volksgemeinſchaft innerhalb deſſelben Staats inniger
und wirkſamer, in verſchiedenen Staaten dagegen, auch
bei Stammesverwandtſchaft, entfernter und auf vielfache
Weiſe gehemmt ſeyn muß. Eben ſo wird die Entſtehung
|0081 : 25|
§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.
eines particulären Volksrechts (§ 8) durch die Einheit
des Staats zwar nicht ausgeſchloſſen, aber doch inſofern
beſchränkt, als dadurch jene weſentliche Einheit nicht ge-
fährdet werden darf. Nur würde es irrig ſeyn, in dieſer
Hinſicht den Einfluß des Staates, in Vergleichung mit
anderen Verhältniſſen, zu hoch anzuſchlagen, oder gar als
ausſchließenden Beſtimmungsgrund zu denken. So beſtan-
den im Mittelalter, nach der Zerſtörung des weſtrömiſchen
Reichs, mehrere Germaniſche Staaten mit theils Germa-
niſchen, theils Römiſchen Unterthanen; hier hatten die Rö-
miſchen Unterthanen des einen Staates mit denen der an-
dern daſſelbe Römiſche Recht: die Germaniſchen Unter-
thanen der verſchiedenen Staaten hatten wenigſtens ver-
wandtes Recht, und dieſe mehr oder weniger vollſtändige
Rechtsgemeinſchaft wurde durch die Gränzen der Staaten
nicht geſtört.
Um die hier aufgeſtellte Klaſſification der innerhalb
des Staates geltenden Rechte gegen den Vorwurf der Un-
vollſtändigkeit zu ſichern, iſt jedoch noch folgende Ergän-
zung nöthig. Ich will nicht den Staat auf die Zwecke
des Rechts beſchränken, ja die Theorie ſoll ſich überhaupt
nicht anmaaßen, die Freyheit individueller Entwicklung
durch Aufſtellung ausſchließender Zwecke der Thätigkeit
des Staats begränzen zu wollen. Dennoch iſt ſeine erſte
und unabweislichſte Aufgabe die Idee des Rechts in der
ſichtbaren Welt herrſchend zu machen. Dazu nun führt
eine zwiefache Thätigkeit des Staats. Erſtlich hat der-
|0082 : 26|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
ſelbe dem Einzelnen, der in ſeinem Recht verletzt wird,
Schutz zu gewähren gegen dieſe Verletzung; die Regeln,
unter welchen dieſe Thätigkeit ſteht, nennen wir den Ci-
vilprozeß. Zweytens hat er das verletzte Recht an ſich
zu vertreten und wiederherzuſtellen, ohne Rückſicht auf das
individuelle Intereſſe. Dieſes geſchieht durch die Strafe,
durch welche der menſchliche Wille, im beſchränkteren Ge-
biet des Rechts, das in der höheren Weltordnung wal-
tende Geſetz ſittlicher Vergeltung nachbildet (b). Die Re-
geln, unter welchen dieſe Thätigkeit ſteht, nennen wir das
Criminalrecht, von welchem der Criminalprozeß nur
einen Theil bildet (c). Civilprozeß, Criminalrecht und
Criminalprozeß, ſind demnach Theile des Staatsrechts,
und wurden bey den Römern auch ſo angeſehen. Daß
uns in neueren Zeiten dieſe Auffaſſung fremder geworden
iſt, hat ſeinen Grund in folgenden Umſtänden. Die Hand-
habung des Criminalrechts iſt oft an dieſelben Richterbe-
hörden, wie der Schutz des Privatrechts, gewieſen wor-
(b) Inſoweit kann man ſagen,
daß die allgemeine ſittliche Ord-
nung der Vergeltung, in einer
beſchränkten Weiſe, die Natur
einer Rechtsanſtalt annimmt, und
als ſolche vom Staate in Aus-
führung zu bringen iſt. Vergl.
Hegel Naturrecht §. 102. 103.
220. Klenze Lehrbuch des Straf-
rechts S. X — XVII.
(c) Es hängt von dem poſiti-
ven Recht eines jeden Staates
ab, wie weit der Staat dieſes
Recht unmittelbar ausüben, oder
die Ausübung deſſelben den ver-
letzten Einzelnen, noch neben der
Verfolgung ihrer eigenen Rechte,
überlaſſen will. Dieſe letzte Be-
handlung liegt den Römiſchen
Privatſtrafen zum Grunde. Eine
vollſtändigere Ausbildung der
Staatsgewalt wird überall dahin
führen, dieſen letzten Weg zu
verlaſſen.
|0083 : 27|
§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.
den, und daher hat auch die Behandlung beider Gegen-
ſtände eine ähnlichere Geſtalt angenommen. In dem
Civilprozeß iſt aber die Thätigkeit des Staats mit den
Rechten der Einzelnen ſo verwebt, daß eine vollſtändige
Trennung praktiſch nicht ausführbar iſt. Dennoch kann
dadurch das hier angegebene innere Weſen dieſer Rechts-
diſciplinen nicht umgeändert werden. Um nun auf der
einen Seite dieſem Weſen der Sache, auf der andern
Seite jenen mehr praktiſchen Beziehungen, ihre Anerken-
nung zu verſchaffen, erſcheint es, wie es nicht ungewöhn-
lich iſt, ſo auch zweckmäßig, neben dem Namen des Staats-
rechts noch den allgemeineren Namen des öffentlichen
Rechts zu gebrauchen, unter welchem der Civilprozeß
und das Criminalrecht mitbegriffen ſind. Dieſe Bezeich-
nung ſoll hier ferner angewendet werden.
Eine andere Bewandniß hat es mit dem Kirchen-
recht. Vom rein weltlichen Standpunkt aus erſcheint
die Kirche wie jede andere Geſellſchaft, und ſo wie an-
dere Corporationen theils im Staatsrecht, theils im Pri-
vatrecht, ihre abhängige, untergeordnete Stellung erhalten,
könnte man eine ſolche auch der Kirche anweiſen wollen.
Ihre, das innerſte Weſen des Menſchen beherrſchende,
Wichtigkeit läßt jedoch dieſe Behandlung nicht zu. In
verſchiedenen Zeiten der Weltgeſchichte hat daher die
Kirche und das Kirchenrecht eine ſehr verſchiedene Stel-
lung gegen den Staat angenommen. Bey den Römern
war das jus sacrum ein Stück des Staatsrechts, und
|0084 : 28|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
der Staatsgewalt untergeordnet (d). Die weltumfaſſende
Natur des Chriſtenthums ſchließt dieſe rein nationelle Be-
handlung aus. Im Mittelalter verſuchte die Kirche, die
Staaten ſelbſt ſich unterzuordnen und zu beherrſchen. Wir
können die verſchiedenen chriſtlichen Kirchen nur betrach-
ten als neben dem Staate, aber in mannichfaltiger und
inniger Berührung mit demſelben, ſtehend. Daher iſt uns
das Kirchenrecht ein für ſich beſtehendes Rechtsgebiet, das
weder dem öffentlichen noch dem Privatrecht untergeordnet
werden darf.
§. 10.
Abweichende Meynungen über den Staat.
Es fehlt aber viel, daß die hier aufgeſtellte Anſicht
von der Entſtehung und dem Weſen des Staats allgemein
Anerkennung fände.
Zuvörderſt iſt es auch hier wieder der unbeſtimmte
Begriff einer Menge überhaupt, abſtrahirt von der Volks-
einheit, welcher häufig als Subject des Staats gedacht
wird. Dieſer Behauptung aber widerſpricht vor Allem
die Thatſache, daß es zu allen Zeiten Völker waren, welche
in der organiſchen Geſtalt von Staaten aufgetreten ſind,
und wo auch der Verſuch im Großen gemacht worden iſt,
Maſſen von Menſchen ohne Rückſicht auf gänzliche Stamm-
verſchiedenheit willkührlich zuſammen zu bringen, wie in
den Amerikaniſchen Sklavenſtaaten, da iſt der Erfolg ſehr
unglücklich geweſen, und es haben ſich der Staatenbildung
(d) L. 1. §. 2. de just. et jure (I. 1.).
|0085 : 29|
§. 10. Abweichende Meynungen über den Staat.
unüberſteigliche Hinderniſſe in den Weg geſtellt. Im Wi-
derſpruch mit dieſer Anſicht alſo müſſen wir wiederholt
behaupten, daß der Staat urſprünglich und naturgemäß
in einem Volk, durch das Volk, und für das Volk
entſteht.
Ferner iſt es eine höchſt verbreitete Anſicht, nach wel-
cher die Staaten durch Willkühr der Einzelnen, alſo durch
Vertrag, entſtanden ſeyn ſollen, welche Anſicht in ihrer
Entwicklung auf eben ſo verderbliche als verkehrte Folgen
geführt hat. Man nimmt dabei an, die Einzelnen, die es
eben vortheilhaft fanden, gerade dieſen Staat zu grün-
den, hätten eben ſo gut ganz ohne Staat bleiben, oder
ſich ſo oder anders zu einem Staat miſchen oder begränzen,
oder endlich jede andere Verfaſſung wählen können. Da-
bey wird alſo nicht nur abermals die in dem Volk enthal-
tene Natureinheit, ſo wie die innere Nothwendigkeit über-
ſehen, ſondern vorzüglich auch der Umſtand, daß wo nur
irgend eine ſolche Ueberlegung möglich iſt, unfehlbar ſchon
ein wirklicher Staat, als Thatſache und als Recht, be-
ſteht, ſo daß niemals, wie Jene wollen, von der willkühr-
lichen Erfindung des Staats, ſondern höchſtens von deſſen
Zerſtörung die Rede ſeyn kann. Zwey Mißverſtändniſſe
haben dieſen Irrthum beſonders befördert. Zuvörderſt die
Wahrnehmung der großen Mannichfaltigkeit in der Staa-
tenbildung, das heißt des hiſtoriſchen und individuellen Ele-
ments der Staaten, welches man mit der freyen Wahl
und Willkühr der Einzelnen verwechſelt hat. Dann auch
|0086 : 30|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
die ſtete, oft unbewußte Verwechslung der ganz verſchie-
denen Begriffe, die mit dem gemeinſamen Namen Volk
bezeichnet werden. Dieſer Name bezeichnet nämlich
1. das Naturganze, in welchem wirklich der Staat
entſteht und fortwährend ſein Daſeyn führt, und bey wel-
chem von Wahl und Willkühr nicht die Rede ſeyn kann;
2. die Geſammtheit aller in einem Staate gleichzeitig
lebenden Individuen;
3. eben dieſelben Individuen mit Abzug der Regierung,
alſo die Gehorchenden im Gegenſatz der Herrſchenden;
4. in republikaniſchen Staaten, wie in Rom, diejenige
organiſirte Verſammlung Einzelner, in welcher nach der
Verfaſſung die höchſte Gewalt wirklich beruht. Diejenigen
nun, bei welchen auf eine verworrene Weiſe alle dieſe
Begriffe durcheinander liefen, wurden dadurch verleitet,
das ideale Recht des Volks als Naturganzen (1), und
das hiſtoriſche Recht des Römiſchen populus (4), auf die
Geſammtheit der Unterthanen (3) zu übertragen, und ſo,
mit Umkehrung aller Wahrheit, die Herrſchaft den von
Rechtswegen Gehorchenden beyzulegen. Aber ſelbſt wenn
man nicht dieſen äußerſten Schritt thut, ſondern Recht
und Macht in der Geſammtheit aller jetzt lebenden Ein-
zelnen, alſo mit Einſchluß der Regierenden (2) beruhen
läßt, ſo iſt damit nur wenig gebeſſert. Vor Allem weil
die Einzelnen nicht als ſolche, und nach ihrer Kopfzahl,
ſondern nur in ihrer verfaſſungsmäßigen Gliederung den
Staat ausmachen. Dann weil die Einzelnen niemals in
|0087 : 31|
§. 10. Abweichende Meynungen über den Staat.
ihrer Totalität, ſondern immer nur in einem mäßigen Aus-
zug, wollen und handeln können, ſo daß in Anſehung der
Mehrzahl (der Frauen und der Minderjährigen) nur die
Zuflucht zu der leeren Fiction einer Vertretung übrig bleibt.
Endlich weil ſelbſt die Totalität der Einzelnen doch nur
die des gegenwärtigen Augenblickes ſeyn würde, anſtatt
daß das ideale Volk, wovon hier die Rede iſt, auch die
ganze Zukunft in ſich ſchließt, alſo ein unvergängliches
Daſeyn hat (§ 8).
Dennoch iſt in den hier beſtrittenen Anſichten ein wah-
res Element enthalten. Allerdings kann auf die Bildung
der Staaten Zufall und Willkühr großen Einfluß aus-
üben, und beſonders wird die Begränzung derſelben durch
Eroberung und Zerſtückelung oft ſehr abweichend von den
natürlichen, durch Volkseinheit angegebenen Gränzen be-
ſtimmt. Umgekehrt kann oft ein fremdartiges Element dem
Staat völlig aſſimilirt werden; nur hat die Möglichkeit
einer ſolchen Aſſimilation ihre Bedingungen und ihre Stu-
fen, wie ſie denn beſonders durch einige Verwandtſchaft
des neuen Elements, ſo wie durch die innere Vollkommen-
heit des aufnehmenden Staates gefördert wird. Allein
alle ſolche Ereigniſſe, wie häufig ſie auch in der Geſchichte
vorkommen mögen, ſind doch nur Anomalien. Das Volk
bleibt darum nicht minder die natürliche Baſis des Staats,
und die Bildung durch inwohnende Kraft ſeine naturge-
mäße Entſtehung. Tritt nun ein fremdartiges hiſtoriſches
Moment in dieſen natürlichen Bildungsprozeß ein, ſo kann
|0088 : 32|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
daſſelbe durch die ſittliche Kraft und Geſundheit des Volkes
überwunden und verarbeitet werden; gelingt dieſe Verar-
beitung nicht, ſo wird ein krankhafter Zuſtand daraus
hervorgehen. Auf dieſe Weiſe erklärt es ſich, wie das,
was urſprünglich Gewalt und Unrecht war, allmälig
durch die dem Rechtszuſtand inwohnende Anziehungskraft
dergeſtalt umgebildet werden kann, daß es in denſelben
als neuer, rechtmäßiger Beſtandtheil übergeht. Ganz ver-
werflich aber, ja abentheuerlich iſt es, wenn man verſucht
hat, ſolche ſtörende und die ſittliche Kraft prüfende Ano-
malien als die wahre Entſtehung der Staaten darzuſtel-
len, und darin die einzig mögliche Rettung zu ſuchen vor
der gefährlichen Lehre, welche die Staaten durch den will-
kührlichen Vertrag ihrer einzelnen Mitglieder entſtehen
läßt (a). Bey dieſem Rettungsverſuch iſt es ſchwer zu
ſagen, welches von beiden bedenklicher iſt, die Krankheit
oder das Heilmittel.
§. 11.
Völkerrecht.
Betrachten wir weiter das Verhältniß mehrerer neben
einander beſtehender Völker und Staaten, ſo erſcheint uns
daſſelbe zunächſt ähnlich dem Verhältniß einzelner Men-
ſchen, die durch Zufall zuſammen geführt werden, ohne
durch Volksgemeinſchaft verbunden zu ſeyn. Iſt Jeder
derſelben ein wohlgeſinnter und gebildeter Menſch, ſo
werden ſie das Rechtsbewußtſeyn, welches Jedem aus
(a) Haller Reſtauration der Staatswiſſenſchaft.
|0089 : 33|
§. 11. Völkerrecht.
ſeinen früheren Verhältniſſen inwohnt, auf ihre zufällige
Nähe anwenden, und ſich ſo durch Willkühr einen Rechts-
zuſtand einrichten, der unfehlbar mehr oder weniger ein
nachgeahmter, alſo übertragener, ſeyn wird. Eben ſo kön-
nen mehrere unabhängige Staaten das, was einem Jeden
als Recht inwohnt, auf ihr gegenſeitiges Verhältniß will-
kührlich anwenden, ſo weit es dahin paßt, und ſo weit ſie
es vortheilhaft finden: allein auf dieſem Wege entſteht
noch kein Recht. Indeſſen kann auch unter verſchiedenen
Völkern eine ähnliche Gemeinſchaft des Rechtsbewußtſeyns
entſtehen, wie ſie in Einem Volk das poſitive Recht er-
zeugt. Die Grundlage dieſer geiſtigen Gemeinſchaft wird
theils in einer Stammesverwandtſchaft beſtehen, theils und
vorzüglich in gemeinſamen religiöſen Überzeugungen. Dar-
auf gründet ſich das Völkerrecht, welches namentlich
unter den chriſtlich-Europäiſchen Staaten beſteht, aber
auch den alten Völkern nicht fremd war, wie es z. B. bey
den Römern als jus feciale vorkommt. Auch dieſes dürfen
wir als poſitives Recht betrachten, jedoch aus zwey Gründen
nur als eine unvollendete Rechtsbildung: erſtlich wegen der
Unvollſtändigkeit eines irgend ſicheren Inhalts, und zweytens,
weil ihm diejenige reale Grundlage fehlt, die dem Recht
der einzelnen Glieder deſſelben Volks in der Staatsgewalt,
und namentlich in dem Richteramt, gegeben iſt (§ 9).
Indeſſen führt die fortſchreitende ſittliche Bildung, wie
ſie das Chriſtenthum begründet, jedes Volk dahin, ein
Analogon jenes poſitiven Völkerrechts ſelbſt auf ſolche
3
|0090 : 34|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
völlig fremde Völker anzuwenden, von welchen dieſe Ge-
ſinnung nicht getheilt und dieſes Verfahren nicht erwiedert
wird. Eine ſolche Anwendung aber hat einen rein ſittli-
chen Character, und nicht die Natur eines poſitiven Rechts.
§. 12.
Gewohnheitsrecht.
G. F. Puchta das Gewohnheitsrecht B. 1. 2. Erlangen 1828. 1837. 8.
Die hier unter dem Namen des Volksrechts dargeſtellte
Rechtserzeugung, die auf unſichtbare Weiſe vor ſich geht,
und alſo nicht auf eine äußere Begebenheit und auf einen
beſtimmten Zeitpunkt zurückgeführt werden kann, iſt zwar
zu allen Zeiten anerkannt worden, aber dieſe Anerkennung
iſt meiſt aus zwey Urſachen unfruchtbar geblieben: indem
man ihr eine zu beſchränkte Stellung anwies, und indem
man ihr Weſen unrichtig auffaßte. Das erſte kann erſt
unten, in Verbindung mit der Geſetzgebung, klar gemacht
werden: das zweyte ſteht in Verbindung mit dem dabey
üblichen Namen des Gewohnheitsrechts.
Dieſer Name konnte leicht zu folgender Gedankenge-
nealogie verleiten. Wenn in einem Rechtsverhältniß irgend
Etwas geſchehen mußte, ſo war es urſprünglich ganz
gleichgültig, was geſchah; Zufall und Willkühr beſtimmte
irgend eine Entſcheidung. Kam nun derſelbe Fall aber-
mals vor, ſo war es bequemer, dieſelbe Entſcheidung zu
wiederholen, als ſich auf eine neue zu beſinnen, und mit
jeder neuen Wiederholung mußte dieſes Verfahren noch
|0091 : 35|
§. 12. Gewohnheitsrecht.
bequemer und natürlicher erſcheinen. So wurde nach eini-
ger Zeit eine ſolche Regel zum Recht, die urſprünglich
nicht mehr Anſpruch auf Geltung hatte, als die entgegen-
geſetzte Regel, und der Entſtehungsgrund dieſes Rechts
war allein die Gewohnheit.
Sieht man nun auf die eigentlichen Grundlagen eines
jeden poſitiven Rechts, auf den feſten Kern deſſelben, ſo
wird in jener Anſicht das wahre Verhältniß von Urſache
und Wirkung gerade umgekehrt. Jene Grundlage hat ihr
Daſeyn, ihre Wirklichkeit, in dem gemeinſamen Bewußtſeyn
des Volks. Dieſes Daſeyn iſt ein unſichtbares, durch
welches Mittel alſo können wir es erkennen? Wir erken-
nen es, indem es ſich in äußeren Handlungen offenbart,
indem es in Übung, Sitte, Gewohnheit heraustritt: an
der Gleichförmigkeit einer fortgeſetzten, alſo dauernden
Handlungsweiſe erkennen wir ſeine gemeinſame, dem blo-
ßen Zufall entgegengeſetzte Wurzel, den Volksglauben.
So iſt alſo die Gewohnheit das Kennzeichen des poſitiven
Rechts, nicht deſſen Entſtehungsgrund. Dennoch hat auch
jener Irrthum, welcher die Gewohnheit zum Entſtehungs-
grund macht, einen wahren Beſtandtheil, der nur auf ſein
rechtes Maaß zurückgeführt werden muß. Es giebt näm-
lich außer jenen im Volksbewußtſeyn allgemein anerkann-
ten und unzweifelhaften Grundlagen des poſitiven Rechts
gar manche in’s Einzelne gehende Beſtimmungen, welche
an ſich ein weniger ſicheres Daſeyn haben; ſie können ein
ſolches dadurch erlangen, daß ſie durch öftere Übung dem
3*
|0092 : 36|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
Volk ſelbſt zu beſtimmterem Bewußtſeyn gebracht werden (a).
Solche Fälle werden häufiger vorkommen in dem Maaße,
als gerade bey dieſem Volk die rechtsbildende Kraft nicht
zu den hervorſtechenden Seiten ſeines Weſens gehört.
Außerdem liegt auch in der Natur vieler Beſtimmungen
eine relative Gleichgültigkeit: es kommt bey ihnen nur
darauf an, daß irgend eine feſte Regel gelte und als gel-
tend bekannt ſey, welche es auch ſey. Dahin gehören die
vielen Fälle, in welchen die Rechtsregel irgend eine Zahl
in ſich ſchließt, und wobey innerhalb gewiſſer Extreme
ſtets ein großer Spielraum der Willkühr übrig bleibt, wie
bey den Verjährungszeiten; eben ſo die Rechtsregeln, die
blos die äußere Form eines Rechtsgeſchäfts zum Gegen-
ſtand haben. In allen Fällen dieſer Art werden wir, mit
unſrem früheren Denken und Wollen, eine Autorität für
uns ſelbſt in jeder ſpäteren Anwendung, und ſo kann aller-
dings die Gewohnheit als ſolche auf die Rechtsbildung
Einfluß haben. Es wirkt hier das Geſetz der Continuität
menſchlicher Geſinnungen, Handlungen und Zuſtände: ein
Geſetz, welches auch in manchen einzelnen Rechtsinſtituten
von ausgedehntem Einfluß iſt (b). Dieſe Annahme einer
(a) Puchta II. S 8. 9.: „auch
für das Volk, aus deſſen Rechts-
anſichten ſie hervorgeht, dient die
Übung gleichſam als der Spiegel,
in welchem es ſein eignes Selbſt
erkennt.“
(b) Es zeigt ſich daſſelbe Ge-
ſetz wirkſam in der Beweislaſt
(als Bedingung einer Verände-
rung des bisherigen Zuſtandes),
dem Beſitz, der Erſitzung, der
Klageverjährung, endlich auch in
der Kraft der Präjudicien (§ 20),
überall freylich mit beſonderer
Beymiſchung und Ausbildung.
Hier konnte dieſer gemeinſchaft-
liche Geſichtspunkt nur angedeu-
tet werden: ihn nachzuweiſen,
|0093 : 37|
§. 12. Gewohnheitsrecht.
auf das Recht ſelbſt zurückwirkenden Gewohnheit iſt auch
nur inſofern herabwürdigend für daſſelbe, als man das
wiederholte Handeln als ein gedankenloſes, durch zufälli-
gen äußeren Anſtoß beſtimmtes, denkt: wird es dagegen
als ein beſonnenes, aus der Energie des Geiſtes hervor-
gehendes gedacht, ſo iſt durch dieſe Entſtehung die Würde
des Rechts nicht gefährdet. Obgleich alſo der Name des
Gewohnheitsrechts von zwey Seiten her erklärt, und ge-
wiſſermaßen gerechtfertigt werden kann, ſo iſt doch ein
weniger ausſchließender Gebrauch deſſelben wünſchenswerth,
da er das Erbtheil ſo mancher Misverſtändniſſe mit ſich
führt, die ſich von jeher an denſelben angeknüpft haben.
In beiden Beziehungen nun, in welchen die Übung des
Rechts wichtig iſt, als Kennzeichen des poſitiven Rechts,
und als mitwirkender Entſtehungsgrund, ſind es zwey Klaſ-
ſen von Handlungen, die ſich vorzugsweiſe fruchtbar und
wirkſam zeigen: die ſymboliſchen Formen der Rechtsge-
ſchäfte, und die Urtheilsſprüche der aus dem Volk gebil-
deten Gerichte (c). Jene bringen uns den Sinn der
muß der Darſtellung der hier
genannten Inſtitute vorbehalten
bleiben.
(c) Wenn ich hier auf die Na-
tur der Volksgerichte ein be-
ſonderes Gewicht lege, ſo geſchieht
dies im Gegenſatz der gelehrten
Gerichte unſerer neueren Zeiten,
die zugleich aus fortdauernden
Collegien beſtehen (§ 14). Jener
Character findet ſich recht unver-
kennbar bey den Deutſchen Schöf-
fengerichten: nicht minder aber
in den Römiſchen res judicatae,
und zwar in dieſen nicht ſowohl,
wie man leicht glauben möchte,
weil die judices Privatperſonen,
alſo in dieſem Sinne aus dem
Volk genommen waren: (denn
der Rechtsſatz, worauf hier Alles
ankommt, ging ja von dem Prä-
tor aus, nicht von dem judex);
ſondern deswegen, weil der Prä-
tor ſelbſt jährlich wechſelte, und
|0094 : 38|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
Rechtsinſtitute im Ganzen zur Anſchauung: dieſe, hervor-
gerufen durch den Gegenſatz ſtreitender Anſprüche, ſind
durch ihren Zweck genöthigt, das Rechtsverhältniß in
ſcharf beſtimmten Gränzen aufzufaſſen und darzuſtellen.
Wenn übrigens hier behauptet worden iſt, daß die in
einzelnen Fällen vorgekommene Übung des Volksrechts als
Mittel der Erkenntniß deſſelben betrachtet werden müſſe,
ſo kann dieſes als eine mittelbare Erkenntniß bezeichnet
werden, nöthig für Diejenigen, welche dieſes Recht gleich-
ſam von außen betrachten, ohne ſelbſt zu den Gliedern
der Genoſſenſchaft zu gehören, in welcher das Volksrecht
entſtanden iſt und ſein fortdauerndes Leben führt (§ 7. 8).
Denn für dieſe bedarf es einer ſolchen Folgerung aus ein-
zelnen Fällen der Übung nicht, da ihre Erkenntniß eine
unmittelbare, auf Anſchauung beruhende, iſt (§ 30).
§. 13.
Geſetzgebung.
Selbſt wenn das poſitive Recht die höchſte Sicherheit
und Beſtimmtheit hätte, ſo könnte dennoch Irrthum oder
nicht gerade einem gelehrten Ju-
riſtenſtande angehörte, alſo die
allgemeine Volksanſicht repräſen-
tirte. So beziehen auch die Rö-
mer ſelbſt die res judicatae, als
Rechtsquellen, auf die Prätoren
als ihre Urheber. Auctor ad
Herenn. II. 13. — Dieſes Alles
gilt jedoch nur von den gewöhn-
lichen Richtern, die einzeln oder
doch in geringer Zahl vom
Prätor für jeden Fall beſon-
ders ernannt wurden. In den
Centumviralſachen dagegen wa-
ren es die Urtheiler ſelbſt, von
welchen der Rechtsſatz ausging
(indem dieſen keine formula vor-
geſchrieben wurde), und ſo hat
ſich namentlich die querela inof-
ficiosi ausgebildet.
|0095 : 39|
§. 13. Geſetzgebung.
böſer Wille ſeiner Herrſchaft ſich zu entziehen verſuchen.
Dadurch kann es nöthig werden, ihm ein äußerlich erkenn-
bares Daſeyn zu geben, durch deſſen Macht jede indivi-
duelle Meynung beſeitigt und die wirkſame Bekämpfung
des unrechtlichen Willens erleichtert wird. Das poſitive
Recht, ſo durch die Sprache verkörpert, und mit abſoluter
Macht verſehen, heißt das Geſetz, und deſſen Aufſtellung
gehört zu den edelſten Rechten der höchſten Gewalt im
Staate. Die Geſetzgebung kann nun eben ſowohl im
öffentlichen Recht als im Privatrecht thätig ſeyn; hier
aber ſoll ſie vorzugsweiſe in dieſer letzten Beziehung näher
betrachtet werden.
Fragen wir zuerſt nach dem Inhalt des Geſetzes, ſo
iſt derſelbe ſchon durch dieſe Herleitung der geſetzgebenden
Gewalt beſtimmt: das ſchon vorhandene Volksrecht iſt
dieſer Inhalt, oder, was daſſelbe ſagt, das Geſetz iſt das
Organ des Volksrechts. Wollte man daran zweifeln, ſo
müßte man den Geſetzgeber als außer der Nation ſtehend
denken; er ſteht aber vielmehr in ihrem Mittelpunkt, ſo
daß er ihren Geiſt, ihre Geſinnungen, ihre Bedürfniſſe in
ſich concentrirt, und daß wir ihn als den wahren Vertre-
ter des Volksgeiſtes anzuſehen haben. Auch iſt es ganz
unrichtig, dieſe Stellung des Geſetzgebers als abhängig
zu denken von der verſchiedenen Einrichtung der geſetzge-
benden Gewalt in dieſer oder jener Staatsverfaſſung. Ob
ein Fürſt das Geſetz macht, oder ein Senat, oder eine
größere, etwa durch Wahlen gebildete Verſammlung, ob
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Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
vielleicht die Einſtimmung mehrerer ſolcher Gewalten für
die Geſetzgebung erfordert wird, das ändert Nichts in dem
weſentlichen Verhältniß des Geſetzgebers zum Volksrecht,
und es gehört wieder zu der ſchon oben gerügten Verwir-
rung der Begriffe, wenn Manche glauben, nur in dem
von gewählten Repräſentanten gemachten Geſetz ſey wah-
res Volksrecht enthalten.
Dieſe Anſicht von der Natur und dem Inhalt des Ge-
ſetzes iſt nicht ſelten ſo misverſtanden worden, als würde
dadurch dem Geſetzgeber eine untergeordnete, ſeiner nicht
würdige Stellung angewieſen, ja als ſollte dadurch im
Stillen das ganze Geſchäft der Geſetzgebung für über-
flüſſig, wohl gar für ſchädlich erklärt werden. Dieſes
Misverſtändniß wird am ſicherſten dadurch beſeitigt wer-
den, daß gezeigt wird, worin der wahre Einfluß der Ge-
ſetzgebung auf die Rechtsbildung beſteht, und welche eigen-
thümliche Wichtigkeit dieſem Einfluß zugeſchrieben werden
muß. Es zeigt ſich aber dieſer wichtige Einfluß vorzüg-
lich in zwey Beziehungen: erſtlich als ergänzende Nach-
hülfe für das poſitive Recht, zweytens als Unterſtützung
ſeines allmäligen Fortſchreitens.
In der erſten Beziehung iſt hier an dasjenige zu erin-
nern, was ſchon bey dem Gewohnheitsrecht (§ 12) bemerkt
worden iſt. Bey aller Sicherheit der Grundlagen des
poſitiven Rechts kann doch im Einzelnen Manches unbe-
ſtimmt geblieben ſeyn, und dieſes beſonders bey ſolchen
Völkern, deren Anlage und Richtung mehr nach anderen
|0097 : 41|
§. 13. Geſetzgebung.
Seiten als in der Rechtsbildung ausgezeichnet iſt. Dazu
kommen die zahlreichen Beſtimmungen, in deren Natur ein
gewiſſer Spielraum der Willkühr gegründet iſt, wie z. B.
alle diejenigen, welche einen beſtimmten Zeitraum als Be-
dingung enthalten. In allen Fällen dieſer Art iſt eine
Ergänzung des Volksrechts nöthig, und obgleich dieſelbe,
wie oben erwähnt, durch Gewohnheit gegeben werden
kann, ſo wird ſie doch ſchneller und ſicherer, alſo beſſer,
durch Geſetzgebung bewirkt.
Noch wichtiger aber, als auf die urſprüngliche Rechts-
bildung, iſt der Einfluß der Geſetzgebung auf das Fort-
ſchreiten des Rechts. Wenn nämlich durch veränderte
Sitten, Anſichten, Bedürfniſſe, eine Veränderung in dem
beſtehenden Recht nothwendig wird, oder wenn im Fort-
gang der Zeit ganz neue Rechtsinſtitute zum Bedürfniß
werden, ſo können zwar dem beſtehenden Recht dieſe neuen
Elemente durch dieſelbe innere, unſichtbare Kraft eingefügt
werden, welche urſprünglich das Recht erzeugte. Allein
gerade hier iſt es, wo der Einfluß der Geſetzgebung äußerſt
heilſam, ja ſelbſt unentbehrlich werden kann. Denn da
jene wirkenden Urſachen nur allmälig eintreten, ſo entſteht
nothwendig eine Zwiſchenzeit von ungewiſſem Recht, welche
Ungewißheit durch den Ausſpruch des Geſetzes zu been-
digen iſt. Ferner ſtehen alle Rechtsinſtitute unter ein-
ander in Zuſammenhang und Wechſelwirkung, ſo daß
durch jeden neu gebildeten Rechtsſatz unbemerkt ein Wi-
derſpruch mit anderen, in ſich unveränderten Rechtsſätzen
|0098 : 42|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
entſtehen kann. Dadurch nun wird eine Ausgleichung
nöthig, die aber faſt nur durch Reflexion und abſichtliches,
alſo perſönliches Eingreifen mit Sicherheit zu bewirken
iſt (a). Dieſe Gründe erhalten eine beſonders einleuch-
tende Wichtigkeit in den Fällen, in welchen auch ſchon
das einer gegenwärtigen Abänderung bedürftige Recht
durch frühere Geſetzgebung befeſtigt war; denn da nun
dieſem die, überall wahrzunehmende, widerſtehende Kraft
des geſchriebenen Buchſtabens inwohnt, ſo wird dadurch
die allmälig wirkende innere Fortbildung oft ganz verhin-
dert, oft auf einen unbefriedigenden Grad herabgeſetzt wer-
den (b). Endlich treten in der Geſchichte jedes Volkes
Entwicklungsſtufen und Zuſtände ein, die der Rechtserzeu-
gung durch gemeinſames Volksbewußtſeyn nicht mehr gün-
ſtig ſind (§ 7). Hier wird dieſe, unter allen Umſtänden
(a) Stahl Philoſophie des
Rechts II. 1. S. 140.
(b) Dieſes iſt der wahre Sinn
der oft misbrauchten Stelle von
Göthe:
Es erben ſich Geſetz’ und Rechte
Wie eine ew’ge Krankheit fort;
Sie ſchleppen von Geſchlecht ſich
zum Geſchlechte,
Und rücken ſacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unſinn, Wohl-
that Plage;
Weh Dir, daß Du ein Enkel biſt!
Vom Rechte, das mit uns gebo-
ren iſt,
Von dem iſt leider! nie die Frage.
Nicht ſelten iſt ſie ſo genommen
worden, als ſollte darin ein all-
gemeiner Tadel des poſitiven
Rechts ausgedrückt werden, und
das Bedauern, daß nicht ledig-
lich das Naturrecht regiere. Daß
der Dichter dieſe Stelle in dem
Zuſammenhange von Gedanken,
worin ich ſie ſetze, deutlich ge-
dacht habe, will ich nicht behaup-
ten. Es iſt aber das Vorrecht
des Sehers, dasjenige unmittel-
bar durch innere Anſchauung her-
vorzubringen, was wir Andern
nur auf dem langen und mühe-
vollen Wege fortſchreitender Ge-
dankenverbindung finden können.
|0099 : 43|
§. 13. Geſetzgebung.
unentbehrliche Thätigkeit großentheils von ſelbſt der Ge-
ſetzgebung zufallen. In keiner Zeit iſt dieſe letzte Verän-
derung ſo ſichtbar, ja ſo plötzlich erſchienen, als unter
Conſtantin, von welchem an die höchſt thätige Kaiſerliche
Geſetzgebung die Fortbildung des Rechts ausſchließend
übernahm.
Wie nun aus dieſen Betrachtungen hervorgeht, daß
der Geſetzgebung keinesweges eine untergeordnete Wichtig-
keit, in Vergleichung mit dem reinen (d. h. nicht in Geſetz-
gebung übergegangenen) Volksrecht zugeſchrieben werden
darf, ſo iſt auch vor dem umgekehrten Irrthum zu war-
nen, nach welchem das Volksrecht nur als ein nothdürf-
tiger Erſatz für die zufällig mangelnde Geſetzgebung be-
trachtet werden ſoll, von welchem nicht weiter die Rede
ſeyn dürfe, ſobald dieſe in’s Daſeyn getreten wäre. Die
conſequente Durchführung dieſer Anſicht führt dahin, die
Abänderung eines Geſetzes durch neueres Volksrecht (abro-
gatoriſche Gewohnheit) für unmöglich zu halten. Erkennt
man aber in beiden Formen der Rechtsbildung eine gleiche,
ſelbſtſtändige Würde an, ſo muß es einleuchten, daß die
natürliche fortbildende Kraft des Volksrechts nicht durch
den an ſich zufälligen Umſtand aufgehoben werden kann,
wenn ein früheres Erzeugniß deſſelben die Form der Ge-
ſetzgebung angenommen hat.
Außer dem Inhalt des Geſetzes, von welchem bisher
die Rede war, iſt nun auch noch die Form deſſelben in
beſondere Erwägung zu ziehen. Dieſe wird eben ſowohl
|0100 : 44|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
durch ſein Hervorgehen aus der höchſten Gewalt, als
durch die abſolute Macht, womit es wirken ſoll, beſtimmt.
Jener Entſtehung und dieſer Wirkung kann Nichts ange-
meſſener ſeyn, als die abſtracte Form der Regel und des
Gebots. Alles Andere, was damit verbunden werden
könnte, Entwicklung, Darſtellung, Einwirkung auf die
Überzeugung, iſt der Natur des Geſetzes fremd und gehört
anderen Sphären der Mittheilung an. Dadurch entſteht
indeſſen ein Misverhältniß zwiſchen dem Geſetz und dem
Rechtsinſtitut, deſſen organiſche Natur in jener abſtracten
Form unmöglich erſchöpft werden kann. Dennoch muß
dem Geſetzgeber die vollſtändigſte Anſchauung des orga-
niſchen Rechtsinſtituts vorſchweben, wenn das Geſetz ſei-
nem Zweck entſprechen ſoll, und er muß durch einen künſt-
lichen Prozeß aus dieſer Totalanſchauung die abſtracte
Vorſchrift des Geſetzes bilden: eben ſo muß derjenige,
der das Geſetz anwenden ſoll, durch einen umgekehrten
Prozeß den organiſchen Zuſammenhang hinzufügen, aus
welchem das Geſetz gleichſam einen einzelnen Durchſchnitt
darſtellt. Jenes Misverhältniß aber und die Nothwen-
digkeit dieſes künſtlichen Verfahrens erſcheint gemildert
überall, wo das Geſetz den oben dargeſtellten Beruf der
Ergänzung und Nachhülfe erfüllt, da dieſe beſonderen
Zwecke gleichfalls ſchon eine abſtracte Natur an ſich tra-
gen, und daher durch die abſtracte Form des Geſetzes
leichter erſchöpft werden können.
|0101 : 45|
§. 14. Wiſſenſchaftliches Recht.
§. 14.
Wiſſenſchaftliches Recht.
Es liegt in dem natürlichen Entwicklungsgang der
Völker, daß bey fortſchreitender Bildung einzelne Thätig-
keiten und Kenntniſſe ſich abſondern, und ſo den eigen-
thümlichen Lebensberuf beſonderer Stände bilden. So
auch wird das Recht, urſprünglich Gemeingut des ge-
ſammten Volkes, durch die ſich mehr verzweigenden Ver-
hältniſſe des thätigen Lebens dergeſtalt ins Einzelne aus-
gebildet, daß es durch die im Volk gleichmäßig verbreitete
Kenntniß nicht mehr beherrſcht werden kann. Dann wird
ſich ein beſonderer Stand der Rechtskundigen bilden,
welcher, ſelbſt Beſtandtheil des Volkes, in dieſem Kreiſe
des Denkens die Geſammtheit vertritt. Das Recht iſt
im beſondern Bewußtſeyn dieſes Standes nur eine Fort-
ſetzung und eigenthümliche Entwicklung des Volksrechts.
Es führt daher nunmehr ein zwiefaches Leben: ſeinen
Grundzügen nach lebt es fort im gemeinſamen Bewußt-
ſeyn des Volks, die genauere Ausbildung und Anwendung
im Einzelnen iſt der beſondere Beruf des Juriſtenſtandes.
Die äußeren Formen der Thätigkeit dieſes Standes
geben ein Bild von der ſehr allmäligen Entwicklung deſſelben.
Zuerſt erſcheint er blos als Rath gebend in einzelnen Fällen,
theils durch Gutachten über die Entſcheidung eines Rechts-
ſtreits (a), theils durch Belehrung über die richtige Ab-
(a) Zuerſt mündliches Gutachten der Advocati vor Gericht, ſpäter
ſchriftliche Responsa.
|0102 : 46|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
faſſung feyerlicher Rechtsgeſchäfte. Daneben finden ſich
dann als erſte literariſche Verſuche gewöhnlich Formu-
lare, mechaniſche Anweiſungen zur genauen Beſorgung
von Rechtsgeſchäften. Nach und nach wird die Thätig-
keit geiſtiger und bildet ſich zur Wiſſenſchaft aus. Nun
erſcheinen als theoretiſche Formen Darſtellungen des Rechts
theils in mannichfaltigen Büchern, theils in mündlicher
Lehre: als praktiſche Formen aber die Urtheilsſprüche der
Gerichte, die ſich von den alten Volksgerichten theils
durch die wiſſenſchaftliche Bildung der Mitglieder, theils
durch die Tradition bleibender Collegien unterſcheiden.
Man kann hiernach bey dem Juriſtenſtand eine zwie-
fache Wirkſamkeit unterſcheiden: eine materielle, indem
ſich die rechtserzeugende Thätigkeit des Volks großentheils
in ihn zurückzieht, und von ihm, als dem Repräſentan-
ten des Ganzen, fortwährend geübt wird: und eine for-
melle, rein wiſſenſchaftliche, indem von ihm das Recht
überhaupt, wie es auch entſtanden ſeyn möge, in wiſſen-
ſchaftlicher Weiſe zum Bewußtſeyn gebracht und darge-
ſtellt wird. In dieſer letzten Function erſcheint die Wirk-
ſamkeit der Juriſten zunächſt als eine abhängige, ihren
Stoff von außen empfangende. Indeſſen entſteht durch
die dem Stoff gegebene wiſſenſchaftliche Form, welche
ſeine inwohnende Einheit zu enthüllen und zu vollenden
ſtrebt, ein neues organiſches Leben, welches bildend auf
den Stoff ſelbſt zurück wirkt, ſo daß auch aus der Wiſ-
ſenſchaft als ſolcher eine neue Art der Rechtserzeugung
|0103 : 47|
§. 14. Wiſſenſchaftliches Recht.
unaufhaltſam hervorgeht. Wie wichtig und heilſam dieſe
formelle Rückwirkung der Wiſſenſchaft auf das Recht
ſelbſt ſeyn kann, iſt auf den erſten Blick einleuchtend;
allein ſie iſt auch nicht ohne Gefahren. Schon in früher
Zeit verſuchten es die Römiſchen Juriſten, für die Be-
handlung vieler Rechtsverhältniſſe allgemeine Formeln
aufzuſtellen, die ſich durch Tradition fortpflanzten, und
die zu großem und dauerndem Anſehen gelangten; Gajus
beſonders hat uns viele derſelben aufbewahrt. Allein ſie
ſelbſt (und mit ihren Worten Juſtinian) machen auf die
Gefahr der unbedingten Hingebung an dieſelben aufmerk-
ſam (b), und geben ihr Verhältniß dahin an, daß ſie als
Verſuche, das Recht aufzufaſſen, und ſeinen Inhalt zu
concentriren, nicht als Grundlage deſſelben betrachtet wer-
den müßten (c). In neueren Zeiten iſt dieſe formelle
Rückwirkung viel ausgebreiteter, mannichfaltiger und mäch-
tiger geworden, und darin eben liegt die große Gefahr
bey der Abfaſſung eines umfaſſenden Geſetzbuchs, durch
(b) L. 202 de R. J. (50. 17)
„Omnis definitio in jure civili
periculosa est: parum (rarum)
est enim, ut non subverti pos-
sit.”
(c) L. 1 de R. J. (50. 17)
„Regula est, quae rem quae
est breviter enarrat. Non (ut)
ex regula jus sumatur, sed (ut)
ex jure quod est regula fiat …
quae, simul cum in aliquo vi-
tiata est, perdit officium suum.”
Das heißt: der zu Liebe wir nie-
mals irgend eine, für ſich wohl-
begründete, concrete Beſtimmung
aufopfern müſſen. Hier iſt alſo
die Anerkennung von Ausnahmen
neben der Regel an ihrer Stelle,
ja das, was wir hier Ausnahme
nennen, iſt eigentlich nur die
Anerkennung einer unvollkomm-
nen Regelfaſſung. Eine andere
Natur haben die in Form all-
gemeiner Regeln gefaßten ge-
ſetzlichen Vorſchriften, neben wel-
chen wir mit der Zulaſſung
von Ausnahmen behutſamer ſeyn
müſſen.
|0104 : 48|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
welches unvermeidlich das zeitliche Ergebniß formeller
Auffaſſung fixirt, und der natürlichen Reinigung und
Veredlung durch fortſchreitende wiſſenſchaftliche Entwick-
lung entzogen wird.
Betrachtet man insbeſondere das Verhältniß des In-
riſtenſtandes zur Geſetzgebung, ſo zeigt ſich daſſelbe auf
folgende verſchiedene Weiſe. Er wirkt auf dieſelbe ein,
theils indem das in ihm ausgebildete Volksrecht, eben
ſowohl als das urſprüngliche, zum Stoff der Geſetzgebung
wird, theils durch die juriſtiſche Bildung der Perſonen,
die auf die Geſetzgebung in verſchiedenen Stufen Einfluß
haben. Er verarbeitet aber auch die Geſetzgebung und
vermittelt den Übergang derſelben in das wirkliche Leben.
Denn die freyen und mannichfaltigen Formen, in welchen
er ſich bewegen kann, machen es ihm möglich, die ab-
ſtracte Regel des Geſetzes in dem lebendigen Zuſammen-
hang mit dem Rechtsinſtitut darzuſtellen, von deſſen An-
ſchauung allerdings auch das Geſetz ausgegangen iſt, die
aber nicht unmittelbar in demſelben ſichtbar wird (§ 13).
So wird dem Geſetz durch wiſſenſchaftliche Verarbeitung
die Beherrſchung der Lebensverhältniſſe erleichtert und
geſichert.
Es erſcheint alſo hierin ein mannichfaltiger Einfluß
des Juriſtenſtandes auf das poſitive Recht. Gegen die
Behauptung dieſes Einfluſſes iſt zuweilen der Vorwurf
einer unbefugten Anmaßung erhoben worden. Dieſer Vor-
wurf könnte nur dann gegründet ſeyn, wenn die Juriſten
|0105 : 49|
§. 14. Wiſſenſchaftliches Recht.
einen geſchloſſenen Stand bilden wollten. Da aber Jeder
Juriſt werden kann, der die nöthige Kraft darauf wen-
det, ſo liegt in jener Behauptung nur der einfache Satz,
daß, Wer das Recht zu ſeinem Lebensberuf macht, durch
ſeine größere Sachkenntniß mehr als Andere auf das
Recht Einfluß haben wird.
Dieſe beſondere Art der Rechtserzeugung bezeichne ich
als das wiſſenſchaftliche Recht: anderwärts wird
ſie das Juriſtenrecht genannt.
Indem nun hier die geiſtige Entwicklung als Bedin-
gung des wiſſenſchaftlichen Rechts angegeben worden iſt,
ſo darf dieſes nicht lediglich von einem beſonders hohen
Grad wiſſenſchaftlicher Bildung verſtanden werden, da
vielmehr auch ſchon ein beſchränkter Anfang dazu hinrei-
chen kann, wie denn überhaupt Niemand hier an eine
ſcharfe Gränzbeſtimmung denken wird. Noch wichtiger
aber iſt die Bemerkung, daß ein ähnliches Verhältniß,
wenngleich eingeſchränkter, auch ſchon aus der Verfaſſung
eines Staats hervorgehen kann, wenn dieſe einen einzel-
nen Stand in die Lage ſetzt, vor anderen Ständen die
Kenntniß des Rechts zu beſitzen. So wird in Rom eine
Prudentium auctoritas angenommen zu einer Zeit, worin
von einem wiſſenſchaftlichen Bedürfniß noch nicht die lei-
ſeſte Spur vorhanden war, und es wird dieſelbe in Verbin-
dung geſetzt mit den ausſchließenden Kenntniſſen der Pontifi-
ces, alſo zugleich mit den Vorrechten des Patricierſtandes (d).
(d) L. 2. §. 5. 6. de orig. jur. (1. 2.). — Bis zu welchem Grade
4
|0106 : 50|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
§. 15.
Die Rechtsquellen in ihrem Zuſammenhang. Natur
und Herkunft ihres Inhalts.
Aus der bisherigen Darſtellung geht hervor, daß ur-
ſprünglich alles poſitive Recht Volksrecht iſt, und daß
dieſer urſprünglichen Rechtserzeugung (oft ſchon in frühen
Zeiten) Geſetzgebung ergänzend und unterſtützend zur Seite
tritt. Kommt dann, durch fortſchreitende Entwicklung des
Volks, Rechtswiſſenſchaft hinzu, ſo ſind dem Volksrecht
in dem Geſetz und der Wiſſenſchaft zwey Organe gege-
ben, deren jedes zugleich ſein eigenes Leben für ſich führt.
Nimmt endlich in ſpäteren Zeiten die rechtsbildende Kraft
des Volkes in ſeiner Totalität ab, ſo lebt ſie fort in die-
ſen Organen. Dann aber iſt auch von dem alten Volks-
recht meiſt wenig mehr in ſeiner urſprünglichen Geſtalt
ſichtbar, indem daſſelbe, ſeinem größten und wichtigſten
Theile nach, in Geſetzgebung und Wiſſenſchaft verarbeitet
ſeyn wird, und nur noch in dieſer unmittelbar erſcheint.
Auf dieſe Weiſe kann es geſchehen, daß das Volksrecht
von Geſetz und Wiſſenſchaft, in welchen es fortlebt, faſt
ganz verdeckt wird, und es wird nun auch die wahre
Entſtehung des vorhandenen poſitiven Rechts leicht ver-
geſſen und verkannt werden (a). Insbeſondere hat die
dieſe hiſtoriſche Angabe als wahr
anzunehmen iſt, kann hier nicht
der Ort ſeyn zu unterſuchen.
(a) Dieſes Verdecken der
urſprünglichen Rechtserzeugung
durch ſpätere Formen, worin der
frühere Stoff übergegangen war,
zeigt ſich beſonders in einem con-
ſtanten Sprachgebrauch des ſpä-
teren Römiſchen Rechts. Früher
|0107 : 51|
§. 15. Rechtsquellen im Zuſammenhang.
Geſetzgebung in ihrer äußeren Macht ein ſolches Überge-
wicht, daß daraus leicht die Täuſchung entſteht, als ob
ſie der einzig wahre Entſtehungsgrund des Rechts wäre,
alles Andere aber daneben nur in der untergeordneten
Stellung einer Nachhülfe oder eines Surrogats gedacht
werden dürfe. Allein ein geſunder Zuſtand des Rechts
iſt nur da vorhanden, wo dieſe rechtsbildenden Kräfte
harmoniſch zuſammen wirken, alſo keine derſelben von den
andern ſich iſolirt. Und da die Geſetzgebung und die
Wiſſenſchaft fortwährend von einzelnen Menſchen mit
Abſicht und Bewußtſeyn hervorgebracht werden, ſo iſt es
auch von Wichtigkeit, daß über die Entſtehung des poſi-
tiven Rechts, und über das wahre Verhältniß der dabey
wirkſamen Kräfte, richtige Vorſtellungen die Herrſchaft
erlangen und behaupten.
Dieſer innere Zuſammenhang der Geſetzgebung und
der Rechtswiſſenſchaft mit dem Volksrecht, welches auch
gab man als Rechtsquellen an:
Leges, plebisscita, Senatus con-
sulta u. ſ. w. Jetzt war dieſes
Alles längſt in die Schriften der
berühmten Juriſten übergegan-
gen, nur die Kaiſergeſetze beſtan-
den daneben, und wurden noch
ſtets durch neue vermehrt. Da-
her hieß es nun, alles Recht be-
ruhe auf Leges oder Consti-
tutiones (Kaiſergeſetze) und Jus
oder Prudentia (juriſtiſche Lite-
ratur). So in mehreren Stel-
len des Commonitorium vor
dem Weſtgothiſchen Breviar. Int.
L. 2. C. Th. de dot. (3. 13).
Int. L. un C. Th. de resp.
prud. (1. 4.). Int. Cod. Greg. II.
2. 1. — Edictum Theodorici
in epilogo. — Prooem. Inst.
§ 2. 4. Const. Deo auctore § 1.
2. 9. 11. Const. Cordi. pr. § 1.
L. 5. C. quorum appell. (7. 65.).
Justiniani Sanctio pragmatica
§ 11. — Ganz eben ſo beruht
das ganze Engliſche Recht auf
zwey Grundlagen, statute law,
und common law; was dort
die Kaiſergeſetze waren, ſind hier
die Parlamentsacten.
4*
|0108 : 52|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
für jene die Grundlage darbietet, macht es um ſo nöthi-
ger, die Beſchaffenheit des Inhalts des Volksrechts ge-
nauer zu unterſuchen. In demſelben finden wir ein zwie-
faches Element: ein individuelles, jedem Volke beſonders
angehörendes, und ein allgemeines, gegründet auf das
Gemeinſame der menſchlichen Natur. Beide finden ihre
wiſſenſchaftliche Anerkennung und Befriedigung in der
Rechtsgeſchichte und in der Rechtsphiloſophie. Unter
denen nun, welche ſich von jeher mit der Ergründung
der Natur des Rechts beſchäftigt haben, ſind nicht We-
nige, welche die Idee deſſelben als etwas für ſich Beſte-
hendes behandelten, unbekümmert um deren Geſtaltung
in dem vorhandenen realen Zuſtand, und um den Ein-
fluß ihrer Gedanken auf dieſen Zuſtand. Allein auch
Diejenigen, welche ihrer wiſſenſchaftlichen Arbeit ein be-
ſtimmtes Verhältniß zu dem realen Rechtszuſtand zu geben
trachteten, ſind dabey häufig, indem ſie nur das eine oder
das andere von den angegebenen zwey Rechtselementen
anerkannten, zu einer einſeitigen Behandlung des Rechts
geführt worden: die Einen, indem ſie den Inhalt des
Rechts als einen zufälligen und gleichgültigen auffaßten,
und ſich mit der Wahrnehmung der Thatſache als ſol-
cher begnügten; die Andern durch Aufſtellung eines über
allen poſitiven Rechten ſchwebenden Normalrechts, wel-
ches eigentlich alle Völker wohl thun würden, ſogleich
anſtatt ihres poſitiven Rechts aufzunehmen. Dieſe letzte
Einſeitigkeit entzieht dem Recht alles Leben überhaupt,
|0109 : 53|
§. 15. Rechtsquellen im Zuſammenhang.
während die erſte allen höheren Beruf in ihm verkennt.
Beide Abwege werden wir vermeiden, wenn wir eine
allgemeine Aufgabe annehmen, welche auf ihre beſondere
Weiſe zu löſen die geſchichtliche Aufgabe der einzelnen
Völker iſt. Der lebhafte Streit über dieſe Gegenſätze
hat gewiß dazu gedient, dieſelben ſchärfer und beſtimmter
zur Erkenntniß zu bringen; aber er hat eben ſo oft dahin
geführt, das wahre Element in den Beſtrebungen der
Gegner einſeitig zu verkennen. Denn wir dürfen nicht
überſehen, daß bey einer ſcheinbar auf das Einzelne be-
ſchränkten Unterſuchung, der Sinn für das Ganze, alſo
für die höhere Bedeutung der Rechtsinſtitute, ſich offen-
baren kann: ſo wie auf der andern Seite die auf das
Allgemeine gerichtete Unterſuchung von der Anſchauung
des geſchichtlichen Lebens der Völker wahrhaft durchdrun-
gen ſeyn mag. Sieht man dabey ab von den Aeußerun-
gen des Parteygeiſtes (als dem Nichtigen und Vergäng-
lichen), und faßt man die wiſſenſchaftlichen Richtungen
unſrer Zeit rein für ſich in’s Auge, ſo dürfte man wohl
dem erfreulichen Gedanken einer inneren Annäherung,
und damit eines wahrhaften Fortſchrittes, Raum geben
können.
Jene allgemeine Aufgabe alles Rechts nun läßt ſich
einfach auf die ſittliche Beſtimmung der menſchlichen Na-
tur zurück führen, ſo wie ſich dieſelbe in der chriſtlichen
Lebensanſicht darſtellt; denn das Chriſtenthum iſt nicht
nur von uns als Regel des Lebens anzuerkennen, ſondern
|0110 : 54|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
es hat auch in der That die Welt umgewandelt, ſo daß
alle unſre Gedanken, ſo fremd, ja feindlich ſie demſelben
ſcheinen mögen, dennoch von ihm beherrſcht und durch-
drungen ſind. Durch dieſe Anerkennung eines allgemei-
nen Zieles wird keinesweges das Recht in ein weiteres
Gebiet aufgelöſt und ſeines ſelbſtſtändigen Daſeyns be-
raubt: es erſcheint vielmehr als ein ganz eigenthümliches
Element in der Reihe der Bedingungen jener allgemeinen
Aufgabe, in ſeinem Gebiet herrſcht es unumſchränkt, und
es erhält nur ſeine höhere Wahrheit durch jene Ver-
knüpfung mit dem Ganzen. Mit der Annahme jenes
Einen Zieles aber genügt es völlig, und es iſt keineswe-
ges nöthig, demſelben ein ganz verſchiedenes zweytes,
unter dem Namen des öffentlichen Wohles, an die Seite
zu ſetzen: außer dem ſittlichen Princip ein davon unab-
hängiges ſtaatswirthſchaftliches aufzunehmen. Denn indem
dieſes auf Erweiterung unſrer Herrſchaft über die Natur
hinſtrebt, kann es nur die Mittel vermehren und veredlen
wollen, wodurch die ſittlichen Zwecke der menſchlichen
Natur zu erreichen ſind. Ein neues Ziel aber iſt darin
nicht enthalten.
Betrachten wir von dieſem Standpunkt aus das poſi-
tive Recht beſtimmter Völker, ſo finden wir in deſſen Er-
zeugung großentheils beide Elemente des Rechts als gar
nicht verſchieden, ſondern als eine und dieſelbe, unge-
theilte, ſchaffende Kraft. Nicht ſelten aber treten beide
in einem beſtimmten Gegenſatz aus einander, bekämpfen
|0111 : 55|
§ 15. Rechtsquellen im Zuſammenhang.
und beſchränken ſich wechſelſeitig, um ſich ſpäterhin viel-
leicht in einer höheren Einheit aufzulöſen. In dieſem
Gegenſatz erſcheint uns das beſondere oder nationale Ele-
ment, und alles Einzelne, was in der logiſchen Conſequenz
deſſelben enthalten iſt, als der bloße Buchſtab des Rechts
(jus strictum, ratio juris) (b); in ſolcher Abgeſchloſſenheit
iſt daſſelbe unvollkommen und beſchränkt, es hat aber die
Fähigkeit, im Lauf der Zeit die ihm verwandten allge-
meineren Principien mehr und mehr in ſich aufzunehmen
und ſich durch ſie zu erweitern. — Das allgemeine Ele-
ment dagegen erſcheint wiederum in verſchiedenen Geſtal-
ten. Am reinſten und unmittelbarſten, inſofern darin die
ſittliche Natur des Rechts im Allgemeinen wirkſam iſt:
alſo die Anerkennung der überall gleichen ſittlichen Würde
und Freyheit des Menſchen, die Umgebung dieſer Frey-
heit durch Rechtsinſtitute, mit Allem was aus der Natur
und Beſtimmung dieſer Inſtitute durch praktiſche Conſe-
quenz hervorgeht, und was die Neueren Natur der Sache
nennen (aequitas oder naturalis ratio). Mittelbar und in
gemiſchterer Natur erſcheint das allgemeine Rechtselement:
(b) Die Römiſchen Kunſtaus-
drücke werden an dieſer Stelle
angegeben, nicht um die bey den
Römern vorkommende Begriffe
hiſtoriſch feſtzuſtellen, ſondern um
die gegenwärtige allgemeine Dar-
ſtellung durch Erinnerung an
bekannte Kunſtausdrücke anſchau-
licher zu machen. Die Anknüpfung
derſelben an die bey den Römern
herrſchenden Grundbegriffe über
die Entſtehung des Rechts wird
im § 22 nachfolgen. — Die logi-
ſche Conſequenz iſt in folgender
Stelle ſehr bezeichnend ausge-
drückt: L. 51. § 2. ad L. Aquil.
(9. 2.) „Multa autem jure ci-
vili, contra rationem dispu-
tandi, pro utilitate communi
recepta esse.”
|0112 : 56|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
1) als Beachtung ſittlicher Zwecke außer dem Rechtsge-
biet (boni mores), im neueſten Recht auch kirchlicher
Zwecke, 2) als Beachtung des Staatsintereſſe (publica
utilitas, quod reipublicae interest), 3) als väterliche Vor-
ſorge für das Wohl der Einzelnen (ratio utilitatis), z. B.
Beförderung des Verkehrs, Schutz einiger Klaſſen, wie
Frauen und Minderjährige, gegen beſondere Gefahren. —
Nach dieſer Überſicht laſſen ſich die Entſtehungsgründe
auch folgendergeſtalt klaſſificiren. Sie beruhen entweder
rein auf dem Rechtsgebiet für ſich (jus strictum und
aequitas), oder zugleich auf der Mitwirkung ſolcher Prin-
cipien, die nicht in den Gränzen dieſes Gebietes liegen,
obgleich ſie das allgemeine Ziel mit demſelben gemein
haben (boni mores und jede Art von utilitas).
Durch jene Anerkennung der beiden Elemente jedes
poſitiven Rechts, des allgemeinen und des individuellen,
eröffnet ſich zugleich für die Geſetzgebung ein neuer und
hoher Beruf. Denn gerade in der Wechſelwirkung jener
Elemente liegt ſchon das wichtigſte Motiv des fortſchrei-
tenden Volksrechts, wobey es überall darauf ankommt,
das allgemeine Ziel ſicherer zu erkennen, und ſich demſel-
ben anzunähern, ohne doch die friſche Kraft des indivi-
duellen Lebens zu ſchwächen. Auf dieſem Wege giebt es
Vieles auszugleichen, manches Hinderniß zu überwinden,
und hier kann die geſetzgebende Gewalt dem unſichtbar
arbeitenden Volksgeiſt die wohlthätigſte Hülfe leiſten.
Aber in keinem Geſchäft iſt auch ſo viel Behutſamkeit
|0113 : 57|
§. 16. Abſolutes u. vermittelndes, regelmäß. u. anomal. Recht.
nöthig, damit nicht einſeitige Meynung und Willkühr das
lebendig waltende und fortſchreitende Recht verdränge.
Hier vorzüglich iſt dem Geſetzgeber der Sinn für wahre
Freyheit wichtig, der oft bey denen am meiſten vermißt
wird, die ihn vor Anderen im Munde führen.
§. 16.
Abſolutes und vermittelndes, regelmäßiges und
anomaliſches Recht.
Bey der Betrachtung der Beſtandtheile des objectiven
Rechts finden wir zwey Gegenſätze, die ſchon an dieſem
Ort dargeſtellt werden müſſen, weil ſie von mannichfalti-
gem Einflnß auf die nachfolgenden Lehren ſind.
Erwägt man erſtlich das Verhältniß, in welchem die
Rechtsregeln zu den durch ſie beherrſchten Rechtsverhält-
niſſen ſtehen (§ 5), ſo findet ſich darin folgende Verſchie-
denheit. — Ein Theil derſelben ſoll herrſchen mit unab-
änderlicher Nothwendigkeit, ohne der individuellen Will-
kühr Spielraum zu laſſen: ich nenne ſie abſolute oder
gebietende Rechtsregeln. Der Grund dieſer Nothwen-
digkeit kann liegen in der Natur des Rechtsorganismus
ſelbſt, ſo wie er ſich in dieſem poſitiven Recht darſtellt:
oder in politiſchen und ſtaatswirthſchaftlichen Zwecken:
oder auch unmittelbar in ſittlichen Rückſichten (§ 15). —
Ein anderer Theil läßt zunächſt dem individuellen Willen
freye Macht, und nur wo dieſer unterlaſſen hat ſeine
Macht auszuüben, tritt die Rechtsregel an ſeine Stelle,
|0114 : 58|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
um dem Rechtsverhältniß die nöthige Beſtimmtheit zu
geben: dieſe Regeln, die man als Auslegungen des un-
vollſtändig gebliebenen Willens betrachten kann, nenne
ich vermittelnde. — Dieſer Gegenſatz iſt von den Rö-
miſchen Juriſten ſehr beſtimmt anerkannt. Sie bezeichnen
die Regeln der erſten Art am häufigſten als jus publi-
cum (a): auch als jus ſchlechthin (b), als jus commune (c),
oder juris forma (d). Nicht ſelten drücken ſie ſpeciell die
Beziehung aus, um deren willen die Regel dieſe Eigen-
ſchaft hat, namentlich das Staatsintereſſe (e), oder die
guten Sitten (f). Die Regeln der zweyten Art, deren
Natur ſich meiſt aus dem Gegenſatz von ſelbſt ergiebt,
haben keine ſo regelmäßig wiederkehrende Bezeichnung (g). —
Bey den Neueren liegt zum Theil derſelbe Gedanke zum
Grunde, wenn ſie die Geſetze in gebietende, verbietende
und erlaubende eintheilen (h). Bey dieſer Eintheilung iſt
(a) L. 38 de pactis (2. 14.),
L. 20 pr. de relig. (11. 7.), L.
42 de op. lib. (38. 1.), L. 45
§ 1 de R. J. (50. 17.) etc.
(b) L. 12 § 1 de pactis dot.
(23. 4.), L. 27 de R. J. (50. 17.).
(c) L. 7 § 16 de pactis (2. 14.).
(d) L. 42 de pactis (2. 14.),
L. 114 § 7 de leg. 1 (30), L. 49
§ 2 de fidej. (46. 1.).
(e) L. 27 § 4. L. 7 § 14 de
pactis (2. 14) publica causa,
res publica.
(f) Consultatio § 4 in mehre-
ren Stellen.
(g) Res familiaris, privata,
ad voluntatem spectans. L. 7
§ 14. L. 27 § 4 de pactis (2.
14.). L. 12 § 1 de pactis dot.
(23. 4.). L. 27 de R. J. (50.
17.). — Von der Unterſcheidung
beider Arten der Rechtsregeln
wird im vierten Kapitel gehandelt
werden.
(h) Glück I. § 14. — Die
Veranlaſſung dieſer Eintheilung
liegt in L. 7 de leg. (1. 3.), wo
nur noch ein Glied mehr vor-
kommt: „Legis virtus est im-
perare, vetare, permittere, pu-
nire.” Hier aber ſtehen dieſe
Fälle nur als anſpruchloſe Über-
ſicht über die Wirkungsart der
|0115 : 59|
§. 16. Abſolutes u. vermittelndes, regelmäß. u. anomal. Recht.
jedoch zuvörderſt die Beſchränkung auf Geſetze zu tadeln,
da doch derſelbe Gegenſatz auch in dem Gewohnheitsrecht
vorkommen kann. Ferner unterſcheiden ſich die gebieten-
den und verbietenden Geſetze nur durch die logiſche Form
der Bejahung und Verneinung, welcher an ſich gleichgül-
tige Umſtand keine Eintheilungsglieder begründen kann.
Endlich iſt bey der dritten Art das, worauf es ankommt,
gar nicht das Erlauben, ſondern vielmehr die Ergänzung
einer mangelhaften Willensbeſtimmung. Das Erlauben
könnte überhaupt nur Sinn haben in Beziehung auf ein
vorausgedachtes Verbot: ſey es, daß dieſes durch die Er-
laubniß aufgehoben, oder ausnahmsweiſe beſchränkt wer-
den ſollte. In der That bezieht man auch den Ausdruck
vorzugsweiſe auf ſolche Geſetze, worin für beſtimmte Per-
ſonen eine Handlungsfähigkeit anerkannt, eigentlich alſo
deren Negation negirt wird. — Unter den angeführten
Kunſtausdrücken iſt übrigens einer, der noch einer näheren
Erörterung bedarf, weil deſſen Vieldeutigkeit große Mis-
verſtändniſſe erzeugt hat, nämlich der Ausdruck publicum
jus. Publicum überhaupt iſt populicum, das was mit dem
populus in Beziehung ſteht. Dieſer Grundbegriff führt
auf folgende Varietäten. Erſtlich kann gemeynt ſeyn der
populus Romanus (welches als die regelmäßige Bedeu-
tung bezeichnet wird), oder der populus einer einzelnen
Stadt (i). Zweytens kann das Publicum betreffen den
Geſetze, nicht als Grundlage ei-
ner Claſſification.
(i) L 15 de V. S. (50. 16.),
L. 16 eod. L. 9 de usurp. (41. 3.).
|0116 : 60|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
populus als Ganzes (wie der ager publicus, die bonorum
publicatio u. ſ. w.), oder alle einzelne Mitglieder deſſelben
(wie die res publicae im Gemeingebrauch der Einzelnen) (k).
Was insbeſondere das publicum jus betrifft, ſo können
durch dieſen Ausdruck ganz verſchiedene Beziehungen
des jus zum populus bezeichnet werden. So bedeutet pu-
blicum jus zuerſt das öffentliche Recht, d. h. die Rechts-
regeln, deren Gegenſtand der populus iſt (§ 9. a.); ferner
die Rechtsregeln überhaupt (das objective Recht), welche
ihre Entſtehung haben in der Anerkennung des populus
(§ 7. 8) (l); endlich diejenigen Regeln des Privatrechts,
wobey der populus ein Intereſſe hat (publice interest,
publica utilitas), und die deswegen von der individuellen
Willkühr unabhängig ſind, alſo die abſoluten Rechtsregeln
(Note a.). Allein nicht blos auf die Rechtsregeln (das
objective Recht) wird der Ausdruck publicum jus ange-
wendet, ſondern auch auf die Befugniſſe der Einzelnen
(das ſubjective Recht). So heißt publicum jus der Allen
gemeinſame Genuß an Flüſſen und Heerſtraßen (m); eben
ſo heißen publica jura die Rechte, welche den Einzelnen
als Senatoren, als Mitgliedern der Volksverſammlung
u. ſ. w. zukommen (n). Die Vernachläſſigung dieſer ver-
(k) L. 5 pr. de div. rer. (1.
8.), L. 7 § 5. L. 14 pr. L. 30
§ 1. L. 65 § 1 de adq. rer. dom.
(41. 1.), L. 6 pr. L. 72 § 1 de
contr. emt. (18. 1.), L. 45 pr.
de usurp. (41. 3.).
(l) L. 8 de tut. (26. 1.), L.
77 § 3 de cond. (35. 1.), L. 116
§ 1 de R. J. (50. 17.), L. 8. 14
C. de Judaeis (1. 9.).
(m) L. 1 § 16. 17. L. 3 § 4.
L. 4 de O. n. n. (39. 1.). Ähn-
lich iſt L. 40 ad L. J. de adult.
(48. 5.).
(n) L. 5 § 2. L. 6 de cap.
min. (4. 5.).
|0117 : 61|
§. 16. Abſolutes u. vermittelndes, regelmäß. u. anomal. Recht.
ſchiedenen, aber verwandten Bedeutungen hat nicht ſelten
bedeutende Irrthümer veranlaßt (o).
Ein zweyter Gegenſatz bezieht ſich auf die verſchiedene
Herkunft der Rechtsregeln, je nachdem dieſelben entſprun-
gen ſind auf dem reinen Rechtsgebiet (ſey dieſes jus oder
aequitas), oder aber auf einem fremdartigen Gebiet (§ 15).
Indem dieſe letzten als fremde Elemente in das Recht ein-
greifen, werden deſſen reine Grundſätze durch ſie modifi-
cirt, und inſofern gehen ſie contra rationem juris (p). Ich
nenne ſie daher anomaliſche, die Römer nennen ſie
Jus singulare, und ſetzen ihren Entſtehungsgrund in die
von dem Recht verſchiedene utilitas oder necessitas (q.).
(o) Großentheils hieraus iſt
entſtanden das Werk von Bur-
chardi: Grundzüge des Rechts-
ſyſtems der Römer aus ihren Be-
griffen von öffentlichem und Pri-
vatrecht entwickelt, Bonn 1822.
Er betrachtet das ganze Perſo-
nenrecht als jus publicum, das
Sachenrecht als jus privatum,
das Actionenrecht als aus beiden
gemiſcht. Ich halte den Grund-
gedanken für unrichtig, deſſen
ſcharfſinnige Durchführung aber
macht das Buch dennoch lehrreich.
(p) L. 14. 15. 16 de leg. (1.
3.), L. 141 pr. de R. J. (50.
17.). — Im Weſentlichen iſt die-
ſes dieſelbe Grundanſicht, welche
ſchon von Thibaut dargeſtellt
iſt, Verſuche H. N. 13.
(q.) L. 16 de leg. (1. 3.) „Jus
singulare est quod contra te-
norem rationis propter aliquam
utilitatem auctoritate consti-
tuentium introductum est.”
Der Name jus singulare ſteht
auch in L. 23 § 3 de fid. lib.
(40. 5.). L. 23. §. 1. L. 44 § 1
de adqu. poss. (41. 2.). L. 44
§ 3 de usurp. (41. 3.). L. 15 de
reb. cred. (12. 1.) („Singularia
quaedam recepta”). — Utilitas
(vgl. oben § 15) als ihr Entſte-
hungsgrund auch in L. 44 § 1
cit. L. 2 § 16 pro emt. (41. 4.).
— Necessitas (von utilitas im
Weſen nicht verſchieden) in L.
162 de R. J. (50. 17.). — Es
heißt zuweilen benigne receptum
L. 34 pr. mandati (17. 1.). Vgl.
Brissonius v. benigne und be-
nignus. — In mehreren ande-
ren Stellen heißt dieſes ſingu-
läre, rein poſitive Recht jus con-
stitutum, alſo ohne Beziehung
auf Kaiſerconſtitutionen als Ent-
|0118 : 62|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
Das auf dem Rechtsgebiet entſprungene Recht nenne ich
das regelmäßige; die Römer bezeichnen daſſelbe ge-
wöhnlich gar nicht, doch kommt dafür der Name Jus
commune vor (r). Bey weitem die häufigſte Bezeichnung
des Jus singulare bey den Römern iſt aber die durch den
Ausdruck privilegium. So kommen vor Privilegien der
Soldaten bey den Teſtamenten (s), mehrerer Perſonen als
Excuſationen von der Vormundſchaft (t), ganz beſonders
häufig aber als Begünſtigung mancher Creditoren im Con-
curs (u), namentlich des Fiscus, der Unmündigen, der
Dotalforderungen u. ſ. w., alſo unter andern derjenigen
Forderungen, die ſpäterhin den noch größeren Vortheil
eines ſtillſchweigenden Pfandrechts erlangt haben (v): in
allen dieſen Fällen aber heißt privilegium genau daſſelbe,
was ſo eben als die Bedeutung von Jus singulare nach-
gewieſen worden iſt. — Suchen wir uns den Character
ſtehungsgrund. L. 25 de don.
int. v. et ux. (24. 1.). — L. 1
rer. am. (25. 2.). — L. 20 § 3
de statu lib. (40. 7.) L. 94 pr.
§ 1 de cond. (35. 1.). Alciati
parerg. VII. 26. (Anderwärts
bezeichnet freylich jus constitu-
tum das Conſtitutionenrecht. L.
1 § 2 quae sent. 49. 8. Unſicher
ſind in dieſer Hinſicht Fragm.
Vat. § 278, und L. 22 C de
usur. 4. 32.). — Der Gegenſatz
jenes ſingulären Rechts (jus con-
stitutum) heißt dann jus vulga-
tum. L. 32 § 24 de don. int.
vir. (24. 1.).
(r) L. 15 de vulg. (28. 6.).
(s) L. 15 de vulg. (28. 6.),
L. 40 de admin. (26. 7.).
(t) L. 30 § 2 de excus. (27.
1.). Fr. Vatic. § 152. Doch iſt
hier der Ausdruck nicht häufig.
(u) So durch den ganzen Ti-
tel de reb. auct. jud. (42. 5.),
beſonders L. 24 § 2. 3. L. 32.
Sie heißen hier privilegiarii.
(v) Unſer beſonders häufiger
Ausdruck der privilegirten Hy-
potheken iſt bey den Römern
nicht üblich.
|0119 : 63|
§. 10. Abſolutes u. vermittelndes, regelmäß. u. anomal. Recht.
dieſes Jus singulare noch vollſtändiger zu entwickeln, ſo
erſcheint es zuerſt als rein poſitiv, und zwar meiſt ſo, daß
es auf den Willen eines beſtimmten Geſetzgebers zurück-
geführt werden kann (w), in ſeltneren Fällen auch als
Erzeugniß uralter Nationalanſicht, alſo ohne bekannten
Urſprung: ſo das Verbot der Schenkung zwiſchen Ehe-
gatten, welches auf ſittlichen Anſichten, nicht auf einem
Rechtsprincip beruht (x). — Ferner erſcheint das anoma-
liſche Recht zu dem regelmäßigen in dem logiſchen Ver-
hältniß einer Ausnahme zur Regel: allein dieſes Verhält-
niß iſt ein abgeleitetes, und das Weſen der Sache iſt
darin nicht enthalten. — Endlich erſcheint das anomaliſche
Recht (was ſchon in ſeinem Character als einer Ausnahme
liegt) ſtets als beſchränkt auf gewiſſe Klaſſen von Perſo-
nen, Sachen, oder Rechtsgeſchäften: aber dieſes Verhält-
niß iſt zuvörderſt ein unbeſtimmtes, da man den Begriff
ſolcher Klaſſen nach Belieben bilden kann, wie denn z. B.
das ganze Recht des Kaufs nur für die Klaſſe der Käu-
fer und Verkäufer gilt: es iſt ferner, ſo wie das vorher
erwähnte Ausnahmeverhältniß, ein untergeordnetes, und
ganz irrig haben Viele das Weſen des Jus singulare
hierin geſetzt. Wäre dieſes der Fall, ſo müßte man auch
den Satz umkehren können, und jedes Recht beſonderer
Klaſſen müßte ſtets ein Jus singulare ſeyn, was aber
durchaus nicht angenommen werden darf. So z. B. geht
(w) „Auctoritate constituen-
tium” ſ. d. Note q.
(x) L. 1 de don. int. vir.
(24. 1.).
|0120 : 64|
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
Juſtinians dreyjährige Uſucapion nur auf bewegliche Sa-
chen, iſt aber darum dennoch kein Jus singulare. Das
Vorrecht der Unmündigen bey der actio tutelae iſt ein
Jus singulare, ihre Handlungsunfähigkeit iſt es nicht.
Das Sc. Vellejanum iſt ein Jus singulare der Frauen,
ihre ausſchließende Fähigkeit, mit Männern in dem Rechts-
verhältniß einer Ehe zu leben, iſt es nicht. Alſo iſt die
Beſchränkung eines Rechts auf einzelne Klaſſen nicht das,
wodurch das Recht zu einem Jus singulare wird. — In der
gewöhnlichſten Beziehung auf eine einzelne Klaſſe von Per-
ſonen iſt der Zweck nicht, wie bey dem regelmäßigen
Recht (der aequitas) auf eine gleichmäßige Behandlung
aller Betheiligten gerichtet, ſondern vielmehr, in Folge der
von außen in das Recht eingreifenden utilitas, entweder
auf einen Vortheil oder einen Nachtheil dieſer Klaſſe. In
dem erſten Fall, welcher der häufigſte iſt, heißt jenes Recht
auch beneficium (y). Beyſpiele des letzten Falls ſind die
im neueren Römiſchen Recht wichtigen beſonderen Rechte
der Ketzer und Juden. — Nach dieſer Darſtellung iſt der
Begriff des Jus singulare ein allgemeiner, nicht hiſtori-
ſcher. Dennoch kann er inſofern einen hiſtoriſchen Cha-
racter annehmen, als ein dem Recht urſprünglich fremdes
Princip von demſelben aſſimilirt werden kann, ſo daß Das,
was urſprünglich als utilitas galt, im Lauf der Zeit als
ratio juris aufgefaßt wird. Das geſchah ohne Zweifel
bey dem Erwerb des Beſitzes durch freye Mittelsperſonen,
(y) Z. B. L. 1 § 2 ad munic. (50. 1.).
|0121 : 65|
§. 16. Abſolutes u. vermittelndes, regelmäß. u. anomal. Recht.
und auch die Singularia bey dem Darlehn ſcheinen ſo ver-
ſtanden werden zu müſſen (z).
Große Verwirrung iſt in dieſe Lehre dadurch gekom-
men, daß man das Jus singulare zuſammen geworfen hat
mit dem, was wir heutzutage gewöhnlich Privilegien nen-
nen, nämlich mit den durch die höchſte Staatsgewalt be-
ſtimmten individuellen Ausnahmen von der Anwendung der
Rechtsregeln. Um dieſes klar zu machen, iſt es nö-
thig, das Verhältniß der Begriffe von der Terminologie
genau zu ſcheiden (aa). — Solche individuelle Ausnahmen
ſind überhaupt gar nicht Beſtandtheile des allgemeinen
Rechts, und unterſcheiden ſich dadurch gänzlich von dem
Jus singulare. Sie haben mit demſelben gemein die Na-
tur der Ausnahme von einer Regel: ferner die Entſtehung
durch eine einſeitige Erklärung der geſetzgebenden Gewalt.
Allein dieſe letzte Ähnlichkeit iſt nur eine zufällige, nicht
allgemeine, da ſie ja auch durch Verträge entſtehen kön-
nen. — Mit der Terminologie aber verhält es ſich fol-
gendergeſtalt. In der älteſten Sprache heißen dieſe indi-
viduellen Ausnahmen in der That privilegia (bb). In
unſren Rechtsquellen dagegen iſt privilegium die regelmä-
ßige Bezeichnung für das Jus singulare, und kommt dabey,
wie oben bemerkt, in einer großen Zahl von Stellen vor.
(z) L. 1 C. de adqu. poss.
(7. 32.). L. 53 de adqu. rer.
dom. (41. 1.). L. 15 de reb.
cred. (12. 1.).
(aa) Dieſe Rechte ſelbſt wer-
den unten bey der Anwendung
der Geſetze dargeſtellt werden.
(bb) So in mehreren Stellen
des Cicero (Ernesti v. privile-
gium) Gellius X. 20. — Vgl.
Dirkſen civiliſtiſche Abhandlun-
gen B. 1 S. 246 fg.
5
|0122 : 66|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Die individuellen Ausnahmen aber ſind in den Rechts-
quellen überhaupt ſelten erwähnt, und wo ſie vor-
kommen, werden ſie durch keinen regelmäßigen Kunſtaus-
druck bezeichnet, ſondern bald blos beſchrieben (cc), bald
personales constitutiones, oder auch privata privilegia
genannt (dd).
Drittes Kapitel.
Quellen des heutigen Römiſchen Rechts.
§. 17.
A. Geſetze.
Was bisher über die Natur der Rechtsquellen im All-
gemeinen geſagt worden iſt (§ 4—16), ſoll nunmehr auf
das heutige Römiſche Recht, als auf die beſondere Auf-
gabe dieſes Werks (§ 1—3), angewendet werden. Es
iſt alſo die beſondere Stellung anzugeben, welche Geſetz-
gebung, Gewohnheitsrecht, und wiſſenſchaftliches Recht,
als Quellen des heutigen Römiſchen Rechts, einnehmen.
Als Geſetze kommen hier zunächſt in Betracht die vier
Theile der Juſtinianiſchen Geſetzgebung, die wir unter
dem Namen Corpus Juris zuſammen zu faſſen pfle-
gen: alſo die drey Rechtsbücher, und die nach denſelben
erlaſſenen einzelnen Novellen (a). Dieſe aber in den Grän-
(cc) L. 3 in f. C. de leg. (1.
14.) Const. Summa § 4.
(dd) L. 1 § 2 de const. princ.
(1. 4.). L. 4. C. Th. de itin.
mun. (15. 3.). Vgl. § 24.
(a) Die Geſchichte und Lite-
ratur dieſer Quellen gehört der
|0123 : 67|
§. 17. Geſetze.
zen und der beſonderen Geſtalt, welche ſie in der Schule
von Bologna erhalten haben. Denn nur ſo waren ſie
bekannt, als ſich von jener Schule aus die Anerkennung
des Römiſchen Rechts als eines gemeinen Rechts für das
neuere Europa feſtſtellte: und als vier Jahrhunderte ſpä-
ter zu jenen Quellen allmälig noch neue hinzugebracht
wurden, war die ausſchließende Herrſchaft der früheren
ſo lange und ſo allgemein anerkannt, ja ſie waren ſo ſehr
in den wirklichen Rechtszuſtand übergegangen, daß es ganz
unmöglich war, den neuen Entdeckungen einen andern als
blos gelehrten Gebrauch zuzuſchreiben. Nur aus dieſem
Grunde iſt das vorjuſtinianiſche Recht von aller Anwen-
dung ausgeſchloſſen, und dieſe Ausſchließung iſt von allen
ohne Ausnahme anerkannt. Ganz inconſequent aber würde
es ſeyn, daſſelbe Princip nicht auch auf die Gränzen des
Juſtinianiſchen Quellencanons anwenden zu wollen. Da-
her ſind alſo ausgeſchloſſen die Griechiſchen Texte in den
Digeſten, an deren Stelle die in Bologna angenommenen
Überſetzungen treten: ferner die wenig bedeutenden Reſti-
tutionen in den Digeſten, und die weit wichtigeren im
Codex. Eben ſo aber iſt auch unter den Drey auf neuere
Zeiten gekommenen Sammlungen der Novellen (b) nur
diejenige anzuerkennen, welche wir als Authenticum
bezeichnen, und zwar in der Abkürzung, die ſie in Bologna
Rechtsgeſchichte an; hier iſt blos
anzugeben, was davon als gel-
tendes Recht betrachtet werden
darf.
(b) Sammlung der 168, Ju-
lian, und liber Authenticorum.
Biener Geſchichte der Novellen
Juſtinians. Berlin 1824. 8.
5*
|0124 : 68|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
erhalten hat, und worin ſie den Namen der Vulgata
führt (c). Aus denſelben Gründen aber müſſen wir auf
der andern Seite im Codex die Erweiterung anerkennen,
die er in Bologna durch Aufnahme der von Kaiſer Frie-
drich I. und Friedrich II. herrührenden Authentiken erhalten
hat: ingleichen durch Aufnahme der weit zahlreicheren
Authentiken des Irnerius (d). Weiter jedoch als auf die
Begränzung jenes Quellenkreiſes dürfen wir den unmit-
telbaren Einfluß der Bologneſiſchen Schule nicht ausdeh-
nen: namentlich nicht auf die Lehrmeynungen, worin eine
ausſchließende Allgemeinheit daſelbſt niemals bewirkt oder
nur bezweckt wurde (e): eben ſo wenig auf die Kritik des
(c) Biener S. 258. 259. —
Wenn auch einzelne Juriſten,
wiewohl ſehr ſelten, abweichende
Meynungen über dieſen Punkt
gehabt haben mögen (Müh-
lenbruch I. § 18.), ſo darf
doch deshalb die Sache ſelbſt nicht
als zweifelhaft angeſehen werden.
Denn giebt man das hier auf-
geſtellte Princip auf, ſo iſt es
ganz unmöglich, eine ſchranken-
loſe Willkühr abzuwehren.
(d) Savigny Geſchichte des
R. R. im Mittelalter B. 3. § 195.
196. — Es darf nicht als In-
conſequenz angeſehen werden,
wenn gleich nachher die Autori-
tät der Gloſſe verneint, hier aber
die der Authentiken des Irnerius
behauptet wird, obgleich dieſe auch
nichts Anderes waren, als Gloſ-
ſen zur Erleichterung des Pa-
rallelismus zwiſchen dem Co-
dex und den Novellen. Denn
man erkannte ſie nur inſofern
für Stücke des geſetzlichen Ca-
nons an, als ſie bloße Auszüge
ſeyn ſollten, ohne alle eigene Zu-
that: ſo daß es nur als eine Be-
quemlichkeit für das Studium
und für die Citate betrachtet
wurde, wenn man ſich nach Be-
lieben an den Text oder an den
Auszug wenden konnte. Es
würde daher dem Sinne der
Aufnahme der Authentiken völlig
entgegen ſeyn, wenn man aus
ihnen einen Widerſtreit gegen
den Novellentext begründen wollte.
(e) Im Gegenſatz gegen dieſe
Behauptung iſt die Meynung
aufgeſtellt worden, wir hätten
überhaupt nicht das von den
Gloſſatoren begränzte Corpus
Juris, ſondern vielmehr die in
den Gloſſatoren ausgedrückte
|0125 : 69|
§. 17. Geſetze.
Textes, worin zwar gemeinſame Beſtrebungen der Gloſſa-
toren unverkennbar ſind, jedoch ohne daß dieſelben jemals
in einer abgeſchloſſenen Arbeit fertig wurden, für welche
allein eine ausſchließende Anerkennung auch nur zur Frage
kommen könnte (f). — Weit wichtiger iſt die Beſchränkung
der Anwendbarkeit, welche ſich auf den Inhalt jenes im
Allgemeinen anerkannten Quellenkreiſes bezieht. Dahin
gehört nicht nur die wichtige Ausſchließung des Staats-
rechts von aller heutigen Anwendung (§ 1), ſondern auch
die Ausſchließung ganzer, dem Prtvatrecht angehörenden,
Rechtsinſtitute, wie z. B. des Sklavenrechts, des Colonats,
der Stipulation. Dieſe materielle Begränzung aber iſt
nicht ſo wie jene formelle der Schule von Bologna zuzu-
ſchreiben, ſondern vielmehr der Rückwirkung anderer Rechts-
quellen (Gewohnheitsrecht und Wiſſenſchaft) auf das ge-
ſetzliche Recht. Ja ſie iſt auch nicht von jeher allgemein
anerkannt worden, vielmehr iſt es erſt dem kritiſchen Geiſt
neuerer Rechtswiſſenſchaft gelungen, die irrige Anwendung
ganz zu verdrängen, die früherhin vom Römiſchen Recht
häufig verſucht wurde. Wie ſehr namentlich die Gloſſa-
Italieniſche Rechtspraxis reci-
pirt (Seidenſticker) Juriſtiſche
Fragmente Th. 2 S. 188—194.
Das iſt um ſo mehr zu verwer-
fen, als die Gloſſatoren nur In-
terpreten ſeyn, und die Praxis
nicht darſtellen, ſondern reformi-
ren wollten. Savigny Ge-
ſchichte des R. R. im Mittelal-
ter B. 5 Kap. XLI Num. I. —
Das wahre Element in jenem
Irrthum beſteht darin, daß die
Lehrmeynungen der Gloſſatoren
allerdings auch auf die Deutſche
Rechtspraxis nicht wenig Einfluß
gehabt haben.
(f) Savigny a. a. O. § 175.
176.
|0126 : 70|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
toren geneigt waren, jene natürliche Gränzen nicht ſelten
zu verkennen, zeigt die unter K. Friedrich I. verſuchte An-
wendung des Römiſchen Rechts zur feſteren Begründung
der Kaiſerlichen Gewalt.
Die hier aufgeſtellte Gränze des als Geſetz recipirten
Römiſchen Rechts iſt von Einer Seite her nicht ohne
Anfechtung geblieben, ſo weit nämlich hier die Ungültig-
keit der ungloſſirten oder reſtituirten Theile des Corpus
Juris behauptet wird. Zwar ſtimmt mit dieſer Behaup-
tung die Mehrzahl theoretiſcher und praktiſcher Schrift-
ſteller überein, die jede Abweichung von dieſem Grundſatz
als entſchiedenen Irrthum anſehen (g). Doch hat es auch
nicht an Gegnern dieſer Behauptung gefehlt. Einzelne
ſind ſo weit gegangen, ſelbſt den Novellen des K. Leo VI.
geſetzliche Gültigkeit zuzuſchreiben (h), ohne zu erwägen,
daß zur Zeit dieſes Kaiſers (um das Jahr 900) die Herr-
ſchaft der Griechiſchen Kaiſer über Italien längſt aufge-
hört hatte, alſo keine Brücke mehr vorhanden war, auf
welcher ihre Geſetze, ſo wie die von Juſtinian, zu uns
hätten gelangen können. Mehr Schein hat die Meynung
Anderer, welche die Geſetzeskraft auf die reſtituirten Stücke
des Juſtinianiſchen Rechts, wohl auch nur auf einen Theil
derſelben, beſchränken, oder wenigſtens die Frage als zwei-
(g) Lauterbach proleg. § V
Num. 6. 7. Eckhard hermeneut.
§ 282. Brunnquell hist. j. II
9 § 22. Zepernick hinter Beck
de novellis Leonis Hal. 1779.
p. 552 sq. Glück I § 53. 56.
Weber Verſuche über das Ci-
vilrecht S. 47—49.
(h) Beck de novellis Leonis
ed. Zepernick Halae 1779.
|0127 : 71|
§. 17. Geſetze.
felhaft darſtellen (i). Man hat nämlich die Sache ſo
aufgefaßt, als wäre die beſchränkte Gültigkeit in dem
ausſchließenden Gebrauch der gloſſirten Ausgaben begrün-
det, und ſeitdem dieſe außer Gebrauch gekommen und
durch vollſtändigere Ausgaben (z. B. die Gothofrediſchen)
verdrängt worden, ſey auch deren ganzer Inhalt für reci-
pirt zu achten. Allein einen ſo materiellen und zufälligen
Zuſammenhang hat die Sache in der That niemals ge-
habt; vielmehr war die Reception in beſtimmten Gränzen
anerkannt und fixirt, längſt ehe man an gedruckte Aus-
gaben oder gar an eine Verſchiedenheit unter ſolchen den-
ken konnte. Allerdings kann man ſagen, dieſelbe Fähigkeit
und Befugniß zur Reception, wie in früheren Zeiten, habe
auch noch im ſechszehnten Jahrhundert, in welches die
Reſtitutionen größtentheils fallen, fortgedauert. Die Re-
ception aber iſt eine Thatſache, die ſich nicht verbergen
läßt, die aber auch nicht ohne wichtige Gründe eintritt.
An ſolchen Gründen hat es bey der wirklichen Reception
(i) Beck l. c. § 48. Mühlen-
bruch l § 18. Dabelow Hand-
buch des Pandectenrechts Th. I
Halle 1816 § 50. Dieſer letzte
ſtellt folgende Sätze auf. Nach
dem älteren Brauch waren alle
ungloſſirte Stücke ungültig; nach
dem neuern Brauch, ſeitdem die
gloſſirten Ausgaven verſchwan-
den, ſind zwar die ungloſſirten
Novellen noch immer ungültig,
die übrigen ungloſſirten Stücke
aber ſind jetzt gültig (S. 199.
200.). Dagegen haben auch noch
jetzt „die ſogenannten leges re-
stitutae keine practiſche Anwend-
barkeit“ (S. 201), ſo daß hierin
kein alter und neuer Brauch un-
terſchieden wird. Er hat alſo
das Originelle, daß er die un-
gloſſirten Stücke von den reſti-
tuirten unterſcheidet. Beide ſind
aber in der That von einander
gerade ſo verſchieden, wie die
Digeſten von den Pandekten.
|0128 : 72|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
gewiß nicht gefehlt; wären nun z. B. damals die Digeſten
unvollſtändig geblieben, und hätte man etwa das Infor-
tiatum im ſechszehnten Jahrhundert erſt gefunden, ſo würde
deſſen Reception ſchwerlich gefehlt haben. Aber bey den
damals reſtituirten Stellen, einzelnen Geſetzen, zum Theil
von zweydeutigem oder völlig verwerflichem Inhalt, fehlte
ein ſolcher Beweggrund gänzlich, auch hat ſich nie eine
öffentliche Meynung für deren Reception im Ganzen aus-
geſprochen. Es kann alſo nur noch die Frage ſeyn, ob
vielleicht einzelne Stellen dieſer Art, etwa ihres vorzüg-
lichen Inhalts wegen, beſonders recipirt worden ſind.
Dieſes iſt namentlich behauptet worden für die L. 4 C. de
in jus vocando (von Cujacius reſtituirt), worin die Ver-
letzung der Litispendenz mit dem Verluſt der Klage bedroht
wird; dieſe Stelle wird namentlich in einem reichsgericht-
lichen Erkenntniß angeführt und einer Strafdrohung zum
Grunde gelegt (k). Allein wenn dies nicht etwa aus blo-
(k) Ein ſolches Mandat er-
kannte am 23. Dec. 1650 das
Reichskammergericht in Sachen
Waldeck c. Paderborn und con-
sortes, die Grafſchaft Piermont
betreffend. Es iſt vollſtändig ab-
gedruckt bey Er. Mauritius de
judicio aulico § 14 (Kilon. 1666
und in deſſen Dissert. et opusc.
Argent. 1724. 4. p. 337). Die
hierher gehörende Stelle lautet
ſo: „Wir heiſchen und laden ....
zu ſehen und zu hören, Deine
Andacht und Euch um dero un-
gehorſams und obbeſagter Thä-
tigkeiten wie auch überfahrungs
willen, in die Poen. l. ult. § ult.
C. de in jus voc. gefallen ſeyn,
mit Urtheil und Rechtſprechen
erkennen und erklären.“ —
Manche Schriftſteller reden von
dieſer Sache ſo, als ob ſolche
Erkenntniſſe in Menge von den
Reichsgerichten ausgegangen wä-
ren, z. B. Andler jurisprud. qua
publ. qua privata Solisbaci
1672. 4. p. 434. Pütter de
praeventione § 19. 90. 135. Geht
man aber auf den Grund, ſo
findet ſich auch nicht ein einziges
|0129 : 73|
§. 17. Geſetze.
ßem Verſehen geſchah, wogegen doch auch die Reichsge-
richte nicht privilegirt waren (l), ſo ließe es ſich wohl
erklären, daß den Reichsgerichten ein Geſetz willkommen
geweſen wäre, wodurch ſie das Anſehen ihrer höchſten
Gerichtsbarkeit ſtrenger handhaben konnten; der Satz wäre
darum doch nicht in den gemeinen Deutſchen Prozeß über-
gegangen. Ganz irrig wird die Autorität des Pfälziſchen
Oberappellationsgerichts angeführt, welches die (reſtituirte)
L. 12 C. de aedificiis privatis einem Urtheil zum Grund
gelegt haben ſoll, da doch die Gründe des Urtheils be-
ſtimmt die Geſetzeskraft jener Stelle verneinen (m). Kann
Präjudiz außer dem hier ange-
führten von 1650.
(l) Ein ſolches Verſehen möchte
man wohl annehmen nach der
Art, wie ſich darüber erklärt Uf-
fenbach de consilio aulico C.
12. p. 155 „additur interdum
citatio ad videndum se inci-
disse in poenam L. ult. C. de
in j. voc.... Et quamvis quod
pauci hactenus observarunt,
praedicta L. ult. non authen-
tica sed a Cujacio restituta,
consequenter spuria sit, et hinc
adeo secure cum illa neuti-
quam navigari videatur, hoc
tamen non obstante Dn. ab
Andler quotidianam praedictae
L. ult. praxin confirmat” etc.;
nun kommt dafür als Beweis
lediglich das in der vorigen Note
angeführte Mandat von 1650. —
Man kann nun wohl von der
Meynung des Dabelow (Note i)
ſo viel zugeben, daß der verbrei-
tete Gebrauch vollſtändigerer Aus-
gaben leicht ein ſolches Ver-
ſehen herbeyführen konnte, wel-
ches früher gar nicht möglich
war; nur entſteht auf dieſem
Wege kein wahrer und allgemei-
ner Gerichtsgebrauch, alſo auch
kein gemeines Recht.
(m) J. W. Textor decisio-
nes electorales Palatinae Fran-
cof. 1693. 4. Decisio XX. Al-
lerdings hatte ſich der Kläger
auf jene lex restituta berufen
(p. 78), aber der Gerichtshof be-
hauptet p. 81. 82. ganz beſtimmt
die gänzliche Ungültigkeit dieſer
und jeder anderen lex restituta,
wo nicht irgend ein darin ent-
haltener Satz durch ſpecielles Ge-
wohnheitsrecht recipirt ſey. Die-
ſes letzte könnte höchſtens der Fall
geweſen ſeyn bey dem Urtheil
des Reichskammergerichts in Sa-
chen Waldeck c. Paderborn (ſ.
o. Note k). — Es iſt ganz un-
|0130 : 74|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
nun nach dieſen Gründen von der aufgeſtellten Gränze
des recipirten Rechts Nichts aufgegeben werden, ſo iſt
dagegen der wiſſenſchaftliche Gebrauch der reſtituirten
Stellen (welcher mittelbar auch auf die Ausbildung des
praktiſchen Rechts Einfluß haben kann) auf keine Weiſe
zu beſtreiten; dieſer iſt eben ſo unzweifelhaft, als der wiſ-
ſenſchaftliche Gebrauch der Stellen über antiquirte Rechts-
inſtitute (z. B. die Sklaverei), ſo wie der vorjuſtinianiſchen
Rechtsquellen. Nur iſt er durch die Natur ihres Inhalts
weit beſchränkter und unbedeutender. Gajus und Ulpian
geben uns Licht über Vieles, das uns ſonſt in den Dige-
ſten dunkel bleiben würde; jene reſtituirte Stellen dagegen
ſind einzelne abändernde Geſetze, die auf das übrige Recht
kein neues Licht werfen, und wobei es nur darauf an-
kommt, ob ſie unmittelbar angewendet werden ſollen oder
nicht. So z. B. bey der L. 22 C. de finde instrum. kann
nur die Frage ſeyn, ob eine Prozeßpartei zu verlangen
befugt iſt, daß ein Dritter ihr Urkunden mittheile oder
nicht; eben ſo bey Nov. 121. 138. wegen der Be-
rechnung der Zinſen über das Doppelte. Das unabhän-
gig von dieſen Geſetzen geltende frühere Recht wird durch
ſie um gar Nichts deutlicher. Dagegen kommt wohl der
begreiflich, wie Beck de novel-
lis Leonis § 48 das Pfälziſche
Urtheil anführen, und dabey von
der L. 12 C. cit. ſagen kann:
excitatam tamen pariter ad
causae definitionem in supremo
appellationis judicio Palatino …
docet J. W. Textor. Dieſe
Worte muß Jeder ſo verſtehen,
als hätte der Gerichtshof das
Geſetz ſeiner Entſcheidung zum
Grunde gelegt, der doch gerade
das Gegentheil ſagt.
|0131 : 75|
§. 17. Geſetze.
Fall vor, daß über eine Rechtsfrage widerſtreitende Stel-
len der Digeſten vorliegen, und daß über dieſelbe Frage
eine nicht gloſſirte Novelle von Juſtinian ſich ausſpricht.
Wenngleich dieſe nicht die Kraft eines Geſetzes hat, ſo
iſt ihr dennoch die einer höchſt wichtigen Autorität nicht
abzuſprechen, und ſo wird auch von praktiſchen Schriftſtellern
mit Recht Rückſicht auf ungloſſirte Novellen genommen (n).
Finden ſich nun aber auch einzelne Urtheilsſprüche,
worin reſtituirte Stücke des Juſtinianiſchen Rechts gera-
dezu als Geſetze angewendet ſeyn mögen, ſo iſt doch ein-
leuchtend, daß durch ſo ſeltene und vereinzelte Entſchei-
dungen das hier aufgeſtellte Princip weder aufgehoben,
noch auch nur zweifelhaft gemacht ſeyn kann, da die
Wahrheit deſſelben im Allgemeinen von Theoretikern und
Praktikern aller Jahrhunderte ſtets anerkannt worden iſt.
Außer dem Römiſchen Recht kommt hier als Geſetz
in Betracht das canoniſche Recht, inſofern es Römi-
ſche Rechtsinſtitute fortgebildet und modificirt hat. Denn
auch dies hat eine gleich allgemeine Europäiſche Anerken-
nung gefunden, wie das Römiſche. Jedoch läßt ſich dieſe
Anerkennung mit Sicherheit nur von folgenden Samm-
(n) Dahin gehört die ungloſ-
ſirte Nov. 162, ſ. u. § 164. —
Der hier anerkannte blos wiſſen-
ſchaftliche Gebrauch der Rechts-
quellen vor und nach Juſtinian,
läßt ſich noch durch zwey völlig
paſſende Analogieen erläutern.
Dieſelbe Art des Gebrauchs näm-
lich muß behauptet werden für
die altdeutſchen Rechtsquellen in
den Ländern des gemeinen Rechts;
eben ſo aber auch für das Rö-
miſche Recht in den mit neuen
Geſetzbüchern verſehenen Län-
dern (Preußen, Öſterreich, Frank-
reich).
|0132 : 76|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
lungen behaupten: von Gratians Decret, den Decretalen
Gregors IX., dem Sextus, und den Clementinen (o).
Faßt man endlich das heutige Römiſche Recht in der
beſondern Geſtalt auf, die es als gemeines Recht des
Deutſchen Reichs angenommen hat, ſo gehören unter die
darin anwendbaren Geſetze auch die Reichsgeſetze, inſo-
weit darin Inſtitute des Römiſchen Privatrechts modifi-
cirt worden ſind. Dieſe Modificationen aber ſind in ihrem
Umfang noch um Vieles unbedeutender, als die im cano-
nifchen Recht begründeten.
§. 18.
B. Gewohnheitsrecht.
Es iſt ferner zu zeigen, welche Stelle das oben im
Allgemeinen dargeſtellte Volksrecht oder Gewohnheitsrecht
(§ 7. 12) unter den Quellen des heutigen Römiſchen Rechts
einnimmt.
Als Juſtinian zur Regierung kam, war das urſprüng-
liche Römiſche Volksrecht in dieſer Form ſchon längſt
nicht mehr ſichtbar. Der wichtigſte Theil deſſelben war
ſchon zur Zeit der Republik in Volksſchlüſſe oder Edicte
übergegangen, und was daneben noch als freies Gewohn-
heitsrecht übrig blieb, nahm die juriſtiſche Literatur in ſich
(o) Eichhorn Kirchenrecht I
S. 349—360. Beſtritten iſt da-
neben die Reception der beiden
Extravagantenſammlungen; al-
lein gerade für die hier allein in
Frage ſtehenden Modificationen
des Römiſchen Privatrechts ſind
dieſe nicht von Wichtigkeit, ſo
daß für unſern Zweck die Streit-
frage gleichgültig iſt.
|0133 : 77|
§. 18. Gewohnheitsrecht.
auf, ſo daß es nur noch als wiſſenſchaftliches Recht er-
ſchien. Nach dem Erlöſchen der Literatur aber fehlte es
meiſt an der friſchen nationalen Kraft, die zu neuer Rechts-
bildung erfordert wird; und wenn auch zu Zeiten ein
äußeres Bedürfniß dazu antrieb, ſo bedurfte es doch faſt
immer der kaiſerlichen Geſetzgebung, um dem neuen Rechts-
inſtitut eine beſtimmte Geſtalt zu geben (a). Es war alſo kaum
denkbar, daß neben den Juſtinianiſchen Rechtsbüchern noch
freyes Gewohnheitsrecht als gemeines Römiſches Recht
hätte fortdauern mögen, da alles Bedeutende, was auf
dieſem Wege vormals entſtanden war, unfehlbar in den
Digeſten oder dem Codex ſeine Stelle gefunden hatte.
Dagegen konnte vieles partikuläre Gewohnheitsrecht neben
dieſer allgemeinen Geſetzgebung beſtehen, ohne daß wir
im Stande wären, den Umfang und die Wichtigkeit deſſel-
ben auch nur vermuthungsweiſe zu beſtimmen. — Unter
Juſtinians Nachfolgern mußte bey ähnlichen Bedingungen
daſſelbe Verhältniß um ſo mehr fortdauern, als ſeine Ge-
ſetzgebung die letzte große Anſtrengung dieſer Art geweſen
war, und nach ihm die Kraft der Rechtsbildung immer
mehr verſchwand.
Ein ganz anderer Zuſtand trat ein, als im erneuerten
Europa das Römiſche Recht bey Nationen Eingang fand,
in welchen es nicht entſtanden war. Damals waren auch
dieſe ſchon in Verhältniſſe eingetreten, in welchen die Ent-
(a) Das ſogenannte peculium
adventitium und die donatio
propter nuptias können als er-
läuternde Beyſpiele dienen.
|0134 : 78|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
ſtehung eines allgemeinen Gewohnheitsrechts Schwierigkeit
fand, vorzüglich eines ſolchen, wodurch das ihnen fremde
Römiſche Recht ergänzt und fortgebildet werden ſollte.
Dennoch traten daneben auch Umſtände ein, die einem
ſolchen allgemeinen Gewohnheitsrecht günſtig waren. Durch
das aufgenommene fremde Recht war in ihnen ein künſt-
licher und verwickelter Rechtszuſtand erzeugt worden, der
nur durch manche neue vermittelnde Rechtsbildung aus-
geglichen werden konnte. Dieſes Bedürfniß konnte durch
eine einſichtsvolle, thätige Geſetzgebung befriedigt werden,
wenn eine ſolche nach dem Character jener Staaten mög-
lich geweſen wäre. Da ſie fehlte, konnte nur durch Ge-
wohnheitsrecht geholfen werden, deſſen Entſtehung aller-
dings durch die friſche, jugendliche Kraft der Nationen
begünſtigt wurde. Allein die beſondere Art, wie das Be-
dürfniß entſtanden war, mußte auch dieſem Gewohnheits-
recht ſelbſt einen eigenthümlichen Character geben. Es
war nicht in dem Maaße, wie anderes Volksrecht, Ge-
meingut der ganzen Nation, ſondern es nahm gleich An-
fangs eine wiſſenſchaftliche Natur an, wie dieſes ſogleich
genauer entwickelt werden wird (§ 19).
Der größte und merkwürdigſte Act eines allgemeinen
Gewohnheitsrechts in dieſem Anfang der neuen Zeit war
eben die Reception des Römiſchen Rechts ſelbſt, und zwar
in den beſtimmten Gränzen, welche bereits angegeben wor-
den ſind (§ 17). Dieſe Reception aber hatte eine ver-
ſchiedene Bedeutung in verſchiedenenen Nationen des neueren
|0135 : 79|
§. 18. Gewohnheitsrecht.
Europa, ſo daß die daraus hervorgehende Neuerung des
Rechtszuſtandes in ſehr verſchiedenen Graden fühlbar wer-
den mußte. In Italien war das Juſtinianiſche Recht
niemals verſchwunden: neu war alſo hier nur theils deſſen
Wiederbelebung, theils die eigenthümliche und beſtimmte
Begränzung, in welcher es nunmehr anerkannt wurde.
In Frankreich war zwar auch das Römiſche Recht nicht
verſchwunden, aber die beſondere Geſtalt deſſelben in der
Juſtinianiſchen Geſetzgebung war hier ſchon völlig neu.
Weit fühlbarer aber mußte jene Reception in Deutſchland
werden, wo das Römiſche Recht ſelbſt ein ganz neues,
bisher unbekanntes Rechtselement war: freylich den neu
entſtandenen Lebensverhältniſſen angemeſſen, da es nur
dadurch Eingang finden konnte. Gerade hier nun ging
ein langer und lebhafter Widerſtreit der entſchiedenen Re-
ception vorher, und dadurch wurde dieſe Einwirkung des
Gewohnheitsrechts ſowohl vorbereitet, als conſtatirt. —
Aber nicht blos die Aufnahme des Römiſchen Rechts an
ſich muß als entſchiedener Einfluß des Gewohnheitsrechts
unſere ganze Aufmerkſamkeit auf ſich ziehen, ſondern eben
ſo und faſt noch mehr die beſtimmte Art und Begränzung,
in welcher dieſe Aufnahme Statt fand (§ 17), indem daraus
hervorgeht, daß dieſelbe von einem klaren Bewußtſeyn
begleitet war, und nicht etwa als das Werk eines gedan-
kenloſen Zufalls betrachtet werden darf. Auch darf dieſe
in beſtimmter Art vollzogene Aufnahme nicht als etwas
Augenblickliches und ſogleich völlig Abgeſchloſſenes betrachtet
|0136 : 80|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
werden, indem ſie vielmehr theilweiſe erſt allmälig zu
vollendeter Entwicklung kam. Dieſes gilt namentlich von
der materiellen Begränzung, durch welche ein bedeutender
Theil des Inhalts des Römiſchen Rechts von der Re-
ception ausgeſchloſſen iſt. — In dieſer großen Erſchei-
nung eines allgemeinen Gewohnheitsrechts, in vielen Staa-
ten gleichmäßig (wenngleich nicht zu derſelben Zeit) vor-
kommend, offenbart ſich zugleich die eigenthümliche Natur
der ganzen neuern Zeit. Dieſe Staaten nahmen im Gan-
zen ein Recht auf, das nicht in ihnen, ſondern in einem
fremden Volke entſtanden war, in einem Volke, mit wel-
chem einige unter ihnen nicht einmal Stammverwandtſchaft
hatten. Es zeigt ſich hierin, daß die neueren Nationen
nicht in dem Maaße wie die alten, zu einer abgeſchloſſe-
nen Nationalität berufen waren, daß vielmehr der gemein-
ſame chriſtliche Glaube um ſie alle ein unſichtbares Band
geſchlungen hatte, ohne doch die nationale Eigenthümlich-
keit aufzuheben (b). Hierin liegt der große Entwickelungs-
gang der neueren Zeit, deren letztes Ziel vor unſren Au-
gen noch verborgen iſt.
Neben dem allgemeinen aber kam ſtets auch ein par-
ticuläres Gewohnheitsrecht in der neueren Zeit vor, und
deſſen Entſtehung in engeren Kreiſen hatte, eben ſo wie
vormals im Römiſchen Staate, weit geringere Schwie-
rigkeit. Es konnte in dieſen engeren Kreiſen durch ein
(b) Savigny Geſchichte des R. R. im Mittelalter B. 3 § 33.
|0137 : 81|
§. 18. Gewohnheitsrecht.
wahrhaft gemeinſames Rechtsbewußtſeyn, alſo auf rein
volksmäßige Weiſe, entſtehen, ohne erſt durch Wiſſenſchaft
vorbereitet und vermittelt zu ſeyn. In dieſem partikulä-
ren Gewohnheitsrecht haben ſich beſonders die urſprüng-
lich Germaniſchen Rechtsverhältniſſe des ländlichen Grund-
beſitzes (Lehen, Stammgüter, Bauergüter) nebſt dem damit
zuſammenhängenden Erbrecht auf die ausgedehnteſte Weiſe
erhalten und fortgebildet; Verhältniſſe, die über die Dauer
des einzelnen Menſchenlebens hinauszureichen beſtimmt ſind,
und die in zahlreichen Ständen mit dauernden und gleich-
artigen Sitten und Beſchäftigungen zuſammen zu hängen
pflegen. Auf ähnliche Weiſe zeigt es ſich in den Städten,
daß die Gemeinſchaft gewerblicher Verhältniſſe bey Kauf-
leuten und Handwerkern überall beſondere Gewohnheits-
rechte hervorgetrieben hat, welche beſonders auch die Erb-
folge (durch Gütergemeinſchaft in mancherley Formen)
modificirten; jedoch blieb hier daneben ein freyerer Raum
für die Anwendung des Römiſchen Rechts. Dagegen fin-
det ſich eine weit beſchränktere Einwirkung partikulärer
Gewohnheiten auf die ſchon im Römiſchen Recht vorkom-
menden Rechtsinſtitute, unter welchen nur wenige, durch
das täglich wiederkehrende gleichförmige Bedürfniß, neue
Beſtimmungen auf dem Wege der Gewohnheit erhielten,
wie z. B. das Baurecht im Verhältniß zu den Hausnach-
baren, das Recht der Miethwohnungen, und das Dienſt-
botenverhältniß. So iſt alſo das partikuläre Gewohn-
heitsrecht ſtets ſehr wichtig geblieben für das urſprüng-
6
|0138 : 82|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
lich Germaniſche Recht, wenig wichtig für die Fortbildung
des Römiſchen Rechts (c).
Und dieſes zwiefache Gewohnheitsrecht, allgemeines
und partikuläres, iſt nicht blos für die Vergangenheit als
eine Quelle des heutigen Römiſchen Rechts, neben den
Geſetzen, anzuerkennen, ſondern es kann auch eben ſo in
der Zukunft, als daſſelbe fortbildend, vorkommen.
Auch müſſen wir ihm in dieſer beſonderen Anwendung
dieſelbe Natur zuſchreiben, welche oben für das Gewohn-
heitsrecht im Allgemeinen geltend gemacht worden iſt.
Es entſteht alſo gleichfalls durch die Gemeinſchaftlichkeit
der Überzeugung, nicht durch den Willen der Einzelnen,
deren Geſinnungen und Handlungen blos als Kennzeichen
jener Gemeinſchaftlichkeit angeſehen werden dürfen. Die
Sitte und Übung, das was wir eigentlich Gewohnheit
nennen, iſt daher der Hauptſache nach für uns ein Mittel
der Erkenntniß, nicht für jenes Recht ſelbſt Grund der
Entſtehung. Sehen wir endlich auf die Wirkſamkeit deſ-
ſelben im Verhältniß zu den Geſetzen, ſo müſſen wir die-
ſen Rechtsquellen völlige Gleichheit zuſchreiben. Geſetze
alſo können durch neueres Gewohnheitsrecht nicht nur
ergänzt und modificirt, ſondern auch außer Kraft geſetzt
werden (§ 13), und zwar ohne Unterſchied, es mag das
Gewohnheitsrecht lediglich das Geſetz entkräften, oder
(c) Sehr gute Bemerkungen
über das Materielle dieſes Ge-
genſatzes finden ſich in: Götze
Provinzialrecht der Altmark. Mo-
tive. I. S. 11—13.
|0139 : 83|
§. 19. Wiſſenſchaftliches Recht.
ſelbſt wieder eine neu erzeugte Regel an deſſen Stelle
ſetzen (d).
§. 19.
C. Wiſſenſchaftliches Recht.
Im alten Rom hatte das Volksrecht, in früher Ge-
meinſchaft mit Geſetzgebung, eine höchſt bedeutende und
eigenthümliche Rechtsbildung hervorgebracht, lange ehe
man an eine Rechtswiſſenſchaft dachte. Als aber wiſſen-
ſchaftliches Leben überhaupt in der Nation aufging, wen-
dete ſich dieſes natürlich auch auf das Recht, worin es
einen eben ſo würdigen, als ächt nationalen Stoff bereits
verfand. Der Juriſtenſtand, der ſich nun bildete, wurde
zugleich größtentheils der Träger des Volksrechts, deſſen
ſchaffende Kraft in ſeiner urſprünglichen Form nur noch
ſeltener ſichtbar hervortrat. War alſo die Rechtswiſſen-
ſchaft zwar ein Zweig des allgemeinen, in der Nation
entſtandenen wiſſenſchaftlichen Lebens, ſo hatte ſie doch
einen ganz eigenthümlichen Entwicklungsgang. Sie kam
langſamer als andere Wiſſenſchaften zu derjenigen Reife,
die ihnen überhaupt unter den Römern beſchieden war,
und ſie erreichte den Gipfel ihrer Vollendung zu einer
(d) Die Bedeutung und Wich-
tigkeit dieſer ſehr abſtract erſchei-
nenden Sätze wird erſt unten
(§ 28 fg.) aus den entgegen-
geſetzten Meynungen neuerer
Schriftſteller klar werden. Eben
dahin verweiſe ich die genauere
Feſtſtellung der Bedingungen ei-
nes wahren Gewohnheitsrechts,
die ſchon hier ihre Stelle finden
würden, wenn es nicht wegen
der ſehr verbreiteten Irrthümer
der neueren Rechtslehrer gerathe-
ner wäre, die wahren Bedingun-
gen in Verbindung mit dieſen
Irrthümern, und im Gegenſatz
derſelben, kritiſch feſtzuſtellen.
6*
|0140 : 84|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Zeit, worin Wiſſenſchaft und Kunſt im Allgemeinen ſchon
ſichtbar im Verfall waren. Dieſe Abweichung in den
Bildungsperioden aber brachte der Römiſchen Rechtswiſ-
ſenſchaft großen Vortheil, indem ihre langſamere Entwick-
lung zugleich gründlicher und eigenthümlicher war, wo-
durch ihr ein bleibender Einfluß auf fremde Nationen und
ſpätere Zeitalter geſichert wurde, wie ihn die Römer in
keinem andern wiſſenſchaftlichen Kreiſe erlangt haben.
Dieſe Entſtehung der Rechtswiſſenſchaft in Folge eines
allgemeinen wiſſenſchaftlichen Triebes der Nation gehörte
mit zu der natürlichen, von fremden und zufälligen Ein-
flüſſen nicht geſtörten Entwicklung, wodurch ſich überhaupt
die Römer in ihrer Rechtsgeſchichte vor anderen Nationen
auszeichnen. — Von der Art, wie die Römiſchen Juri-
ſten auf die Fortbildung des Rechts einwirkten (nicht auf
die bloße Erkenntniß deſſelben), wird es uns ſchwer eine
richtige Vorſtellung zu erlangen, weil es ſo natürlich iſt,
die Anſchauung unſrer Zuſtände unvermerkt in jene durch-
aus verſchiedene Zeit hinein zu tragen. Bey den Römern
hatten die Juriſten eine ſehr ausgezeichnete Stellung durch
die freye, blos wohlthätige Übung ihres Berufs, durch
ihre mäßige Zahl, großentheils auch durch ihren Geburts-
ſtand. Sie lebten meiſt zuſammen in der Hauptſtadt der
Welt, in der Nähe der Prätoren, ſpäter der Kaiſer, alſo
auch mit unausbleiblichem Einfluß auf dieſe. Nichts war
natürlicher, als daß die gemeinſamen Meynungen dieſes
Standes die Fortbildung des Rechts großentheils beſtimm-
|0141 : 85|
§. 19. Wiſſenſchaftliches Recht.
ten, und jeder Einzelne unter ihnen, beſonders der durch Geiſt
Ausgezeichnete, hatte an dieſer unſichtbaren Macht einen
namhaften Antheil. Bey uns heißt Juriſt ein Jeder, der
Rechtswiſſenſchaft ſtudirt hat, um ſie als Richter, Sach-
walter, Schriftſteller, Lehrer zu üben, alſo faſt immer um
einen einträglichen Lebensberuf damit zu verbinden. Dieſe
Juriſten ſind verbreitet über ganz Deutſchland, in unge-
heurer Anzahl, und ſie bilden eine höchſt gemiſchte Geſell-
ſchaft in der mannichfaltigſten Abſtufung des innern Wer-
thes. Natürlich iſt hier die Einwirkung ſehr viel unbe-
ſtimmter und maſſenhafter, es gehört längere Zeit dazu,
ehe eine gemeine Meynung zu entſchiedener Anerkennung
gelangt, und es muß weit mehr vom Zufall abhängig
ſeyn, wie gerade eine eigenthümliche Bildungsweiſe oder
Anſicht hier oder dort zu einem Einfluß auf die Geſetzge-
bung, und durch dieſe auf die Fortbildung des Rechts kommt.
Einen ganz anderen Zuſtand, als im alten Rom, fin-
den wir im Mittelalter, als das Römiſche Recht von
einem großen Theil der Europäiſchen Staaten aufgenom-
men wurde. Dieſe Aufnahme erzeugte einen künſtlichen
Rechtszuſtand (§ 18), deſſen Schwierigkeiten nur durch einen
höheren Grad von Rechtskenntniß, als ſie im Gemeingut
der Nation denkbar iſt, erworben werden konnte. Durch
dieſes Bedürfniß entſtand eine juriſtiſche Schule und Lite-
ratur, ohne durch die allgemeine Bildungsſtufe der Völker
hervorgerufen zu ſeyn (a). Auch hier alſo, wie im alten
(a) Savigny Geſchichte des R. R. im Mittelalter B. 3 § 32.
|0142 : 86|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Rom, hatte die Rechtswiſſenſchaft ihre eigenthümlichen,
von den allgemeinen abweichenden Bildungsperioden, nur
hier in umgekehrter Ordnung. Denn anſtatt daß in Rom
die höchſte Blüthe der Rechtswiſſenſchaft ſpäter eintrat,
als die der anderen Wiſſenſchaften, entſtand im Mittelal-
ter die Rechtswiſſenſchaft weit früher, als das allgemeine
wiſſenſchaftliche Leben der Völker erwachte. Die Einſam-
keit, in welcher ſie ſich deshalb lange Zeit hindurch be-
fand, erhöhte ſehr die Schwierigkeit ihres Daſeyns, und
machte ihr nach manchen Seiten hin eine vollendete Aus-
bildung unmöglich. Allein die höhere Anſtrengung, wozu
die Gloſſatoren dadurch genöthigt wurden, gab ihrer Ar-
beit einen ernſten und würdigen Character, und der bedeu-
tende Erfolg, der dieſer Arbeit unter ſo ſchwierigen Um-
ſtänden dennoch zu Theil ward, nimmt noch jetzt unſere
Bewunderung in Anſpruch (b).
In dieſer Lage war das Volksrecht, ſoweit es ſich
nicht auf engere Kreiſe beſchränkte, gleich Anfangs mit
dem wiſſenſchaftlichen Recht identiſch, ſo daß es außer
demſelben gar nicht wirkſam wurde, und das prakti-
ſche Bedürfniß des Volks nur in der Wiſſenſchaft ſeinen
Ausdruck und ſeine Befriedigung fand (§ 18). Dadurch
bekam die Rechtswiſſenſchaft ſelbſt einen eigenthümlichen
Character, und es war dieſem Zuſtand angemeſſen, daß
in der Beſchäftigung der Rechtsgelehrten Theorie und
Praxis innig verbunden blieben, wie denn auch nicht ſelten
(b) Savigny a. a. O. B. 5 S. 215.
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§. 19. Wiſſenſchaftliches Recht.
die Rückwirkung der Praxis dazu gedient hat, die Theorie
vor gänzlichem Verſinken zu bewahren (c). — In den
nachfolgenden Jahrhunderten hat zwar die Rechtswiſſen-
ſchaft verſchiedene Bildungsſtufen durchlaufen, und ſehr
wechſelnde Schickſale gehabt. Allein ihr allgemeines Ver-
hältniß zu der Rechtserzeugung ſelbſt iſt daſſelbe geblie-
ben, wie es ſo eben für die Zeit des Mittelalters darge-
ſtellt worden iſt.
Die Erzeugniſſe der geiſtigen Thätigkeit, die ſeit der
Aufnahme des Römiſchen Rechts auf daſſelbe gerichtet
war, ſind jedoch von ſo ungeheurem Umfang, und der
Art nach ſo mannichfaltig, daß es einer beſonderen Un-
terſuchung bedarf, in welchem Sinn dieſelben unter die
Rechtsquellen gerechnet werden dürfen, und wie wir uns
dazu zu verhalten haben. Wir können zu dieſem Zweck
alle vor uns liegende Arbeit der Rechtsgelehrten in zwey
große Maſſen zerlegen, theoretiſche und praktiſche
Arbeit. Dieſe Ausdrücke aber, in welchen derſelbe Gegenſatz
oft von ſehr verſchiedenen Seiten aufgefaßt wird, bedürfen
einer genaueren Beſtimmung.
Theoretiſch nenne ich hier jede rein wiſſenſchaftliche
Forſchung, mag ſie nun auf Feſtſtellung des Textes der
Quellen, oder auf Erklärung derſelben, oder auf ihre Ver-
arbeitung zu Reſultaten eines Rechtsſyſtems, oder auf die
innere Vollendung dieſes Syſtems gerichtet ſeyn. Dadurch
(c) Savigny a. a. O. B. 6 S. 20.
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Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
wird kein neues Recht erzeugt, ſondern nur das vorhan-
dene Recht zu reinerer Erkenntniß gebracht, und inſofern
kann dieſe Arbeit zunächſt nicht unter die Rechtsquellen
gezählt werden. Dennoch nimmt ſie als eine große Auto-
rität eine ähnliche Natur an. Denn obgleich für Jeden,
der eine ſolche Arbeit ſelbſtſtändig prüfen will, die Frey-
heit des Urtheils nicht beſchränkt iſt, mögen auch noch ſo
viele Schriftſteller in einer neu aufgeſtellten Meynung
übereinſtimmen, ſo giebt es doch ſtets eine eben ſo zahl-
reiche als ehrenwerthe Klaſſe von Rechtsbeamten, die auch
bey gründlicher Vorbildung nicht mehr in der Lage ſind,
eine eigene, unabhängige Kritik auf die neue Meynung zu
verwenden, und dadurch zu einer ſelbſtſtändigen Überzeu-
gung zu gelangen. Für dieſe wird es nicht nur natür-
lich, ſondern ſelbſt löblich und wünſchenswerth ſeyn, daß
ſie jene Autorität unbedingt befolgen. Es geſchieht alſo
nicht im Intereſſe der Bequemlichkeit, daß dieſes Verfah-
ren hier empfohlen wird, ſondern im Intereſſe der Si-
cherheit des Rechts ſelbſt. Denn dieſe kann unmöglich
dabey gewinnen, wenn ein Richter, ohne die Möglichkeit
eines umfaſſenden Studiums, ein eigenes Urtheil über jede
einzelne Rechtsfrage zu bilden verſucht, welches durch
die Einſeitigkeit ſeiner Entſtehung von ſehr zufälligem
und zweifelhaftem Erfolg ſeyn wird. Vorzüglich aber
kann dieſes Princip allein der Gefahr vorbeugen, daß
Richter von einiger Regſamkeit durch den oberfläch-
lichen Schein irgend einer neuen Lehre hingeriſſen werden
|0145 : 89|
§. 19. Wiſſenſchaftliches Recht.
zum größten Nachtheil der Rechtspflege (d). Findet ſich
einmal ein eigentlicher Gelehrter auf dem Richterſtuhl,
ſo ſoll dieſem damit das Recht nicht abgeſprochen werden,
ſeine wohl begründete und geprüfte Überzeugung auch in
der Rechtspflege geltend zu machen. — Woran nun das
Daſeyn einer ſolchen wahren und guten Autorität zu erken-
nen iſt, das läßt ſich freylich nicht durch eine äußere,
formelle Regel beſtimmen. Auf die Zahl der übereinſtim-
menden Schriftſteller kann es nicht ankommen, noch weni-
ger kann bey fortdauerndem Streit an eine Stimmenzäh-
lung gedacht werden. Alles hängt vielmehr davon ab,
daß diejenigen Rechtslehrer, die im Ruf beſonnener und
gründlicher Forſchung ſtehen, in einer ſolchen Meynung
übereinſtimmen, daß alſo von Keinem derſelben ein ſchein-
bar bedeutender, mit Gründen unterſtützter Widerſpruch
fortdauernd erhoben worden iſt. Natürlich wird dieſes
nur angenommen werden können, wenn die neue Meynung
einige Zeit hindurch Gegenſtand der öffentlichen Prüfung
war, obgleich es Niemand unternehmen wird, dafür eine
beſtimmte Zahl von Jahren feſtzuſtellen. In dieſem rela-
tiven Sinn alſo kann ſelbſt eine theoretiſche Arbeit unter
die Rechtsquellen gezählt werden, indem derſelben unter
jenen Bedingungen eine gewiſſe wohlbegründete Herrſchaft
zugeſchrieben werden muß. Als Beyſpiel mag hier die
(d) Über den Werth und das
Weſen der Autorität in der
Rechtspflege vrgl. den trefflichen
kleinen Aufſatz von Möſer, pa-
triotiſche Phantaſieen I N. 22.
|0146 : 90|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Lehre von den zwey Graden der Culpa dienen, die in
unſren Tagen eben ſo allgemein Anerkennung gefunden
hat, als vorher und ſehr lange Zeit hindurch die Lehre
von drey Graden für wahr gehalten wurde. Es geht
aber aus der Natur der hier beſchriebenen Autorität her-
vor, daß dieſelbe niemals als etwas abgeſchloſſenes und
unabänderliches betrachtet werden kann, indem eine künftige
noch tiefer gehende Forſchung die jetzt angenommene Mey-
nung abermals modificiren kann, und dann natürlich kein
geringeres Recht in Anſpruch zu nehmen hat, als ihrer
Vorgängerin bisher zuerkannt wurde.
§. 20.
Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.
Als praktiſche Arbeit dagegen bezeichne ich hier jede
Forſchung, welche nicht auf den Inhalt der Quellen für
ſich beſchränkt iſt, ſondern zugleich das Verhältniß dieſes
Inhalts zu dem lebendigen Rechtszuſtand, in welchen ſie
eingreifen ſollen, alſo den Zuſtand und das Bedürfniß der
neueren Zeit, ins Auge faßt. Welche äußere Veranlaſſung
ſolche Forſchung hat, kann dabey als gleichgültig oder
untergeordnet betrachtet werden: ob die Mittheilung des
gewonnenen Reſultats durch Lehre und Schrift, oder aber
das Bedürfniß der Entſcheidung eines entſtandenen Rechts-
ſtreits. In beiden Fällen alſo iſt dieſe Forſchung Organ
des Gewohnheitsrechts, und zugleich ein Stück des wiſſen-
ſchaftlichen Rechts, indem bey gelehrten und beſonders
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§. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.
bey collegialiſch gebildeten Gerichten jede Entſcheidung
einen wiſſenſchaftlichen Character an ſich trägt (§ 14).
Es bewährt ſich alſo hierin die weſentliche Identität des
Gewohnheitsrechts mit dem wiſſenſchaftlichen Recht, welche
oben als ein beſonderer Charakter der neueren Jahrhun-
derte angegeben worden iſt. Unter die praktiſchen Arbei-
ten in dieſem Sinn rechne ich demnach eben ſowohl
dogmatiſche Schriften, wenn ſie dieſe beſtimmte Richtung
in ſich aufgenommen haben, als Sammlungen von Con-
ſilien, Reſponſen und Urtheilen, mögen dieſe nun von ein-
zelnen Rechtslehrern, oder von Rechtscollegien, z. B. von
Juriſtenfacultäten oder Obergerichten herrühren. Indem
aber hier die praktiſchen Arbeiten der Schriftſteller den
theoretiſchen entgegengeſetzt werden, iſt dieſes keinesweges
ſo gemeynt, als ob jedes einzelne Werk einer dieſer Klaſ-
ſen ausſchließend angehören müßte. Sehr viele werden
den theoretiſchen und den praktiſchen Charakter zugleich
an ſich tragen, meiſt mit einem überwiegenden Antheil
des einen, vielleicht ſelbſt mit gleicher Kraft in beiden
Gebieten wirkend.
Bey den praktiſchen Arbeiten entſteht, ſo wie oben bey
den theoretiſchen, die Frage, woran wir das Gültige und
Ächte zu erkennen haben, um es auf ſichere Weiſe vom
Ungültigen und Unächten unterſcheiden zu können. Dieſe
Frage hat hier eine noch weit höhere Wichtigkeit, und
bedarf deswegen einer genaueren Erörterung.
Wenn man einem des Rechts Unkundigen einen Streit
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Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
zur Entſcheidung vorlegt, ſo wird er meiſt nach einem
verworrenen Totaleindruck urtheilen, und doch vielleicht
bey geſundem Verſtand und entſchiedenem Character, ſei-
ner Sache ſehr gewiß zu ſeyn glauben. Es wird aber
ſehr zufällig ſeyn, ob ein Zweyter, von ähnlichen Eigen-
ſchaften, dieſelbe Entſcheidung oder die entgegengeſetzte
geben wird. Die Wiſſenſchaft nun ſoll die Rechtsver-
hältniſſe und die Regeln der Entſcheidung individualiſiren
und ſondern, um dadurch jene Verworrenheit in Klarheit
zu verwandeln, und die aus ihr entſpringende Unſicher-
heit und Zufälligkeit der Entſcheidungen wegzuräumen.
Hierin bewährt ſich die große Meiſterſchaft der Römiſchen
Juriſten, welche freylich durch eine ſehr beſtimmte Termi-
nologie, und beſonders durch die genaue Bezeichnung der
einzelnen Klagen unterſtützt wird: jedoch wäre es ein
Irrthum, dieſen Vortheil als einen zufälligen anrechnen
zu wollen, da er vielmehr ſelbſt ſchon durch den der Na-
tion inwohnenden rechtsbildenden Trieb hervorgebracht
worden iſt. Uns fehlt dieſer Vortheil, und zugleich auch
der noch wichtigere eines ganz einheimiſchen, mit der Na-
tion aufgewachſenen Rechts: allein die Aufgabe, und die
Möglichkeit ihrer Löſung iſt für uns nicht minder vor-
handen. Betrachten wir nun unbefangen den Umfang
desjenigen, was uns als praktiſches Recht, abweichend
vom Römiſchen, aber als Umbildung Römiſcher Rechts-
inſtitute, von unſrer Vorzeit überliefert worden iſt, ſo
können wir darin zwey ganz ungleichartige Beſtandtheile
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§. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.
unterſcheiden. Ein Theil iſt geſunder Natur, und beruht
auf neuen Bedürfniſſen, wie ſie aus der Verſchiedenheit
der Zuſtände, unter andern aus dem ſehr veränderten
Gerichtsweſen, zum Theil auch aus der durch das Chri-
ſtenthum großentheils umgebildeten ſittlichen Lebensanſicht,
natürlich hervorgegangen ſind: dieſem müſſen wir, nach
den ſo eben entwickelten Anſichten, die Kraft und Reali-
tät eines auf dem wiſſenſchaftlichen Wege anerkannten
Gewohnheitsrechts zuſchreiben. Dabey iſt es auch gleich-
gültig, wenn vielleicht frühere Rechtslehrer den irrigen
Verſuch machten, ſolche Sätze aus dem Römiſchen Recht
abzuleiten. Dieſer Irrthum kann die Wahrheit der Sätze
ſelbſt nicht mindern: nur müſſen wir uns nicht mit der
Annahme täuſchen, als ob hier die irrige Deduction eine
bloße Form wäre. Jene Juriſten meynten es damit ganz
ehrlich, und wir müſſen die Ergründung des wahren Rö-
miſchen Rechts in ſolchen Fällen als weſentliches Stück
unſrer Aufgabe anſehen: nicht um es aufrecht zu halten,
ſondern um den wahren Umfang der Neuerung feſtzu-
ſtellen. — Ein anderer Theil dagegen iſt lediglich aus
der oben erwähnten characterloſen Verworrenheit, alſo
aus mangelhafter Wiſſenſchaft, hervorgegangen; dieſen
haben wir als Irrthum aufzudecken und zu verdrängen,
ohne daß ihn ein langer, ungeſtörter Beſitzſtand zu ſchützen
vermöchte: um ſo mehr, als ſich ihm großentheils ein
innerer Widerſpruch, alſo ein logiſcher Grundfehler, wird
nachweiſen laſſen. Was dieſe Natur an ſich trägt, hat
|0150 : 94|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
nur den falſchen Schein eines praktiſchen Rechts: es iſt
ſchlechte Theorie, die einer beſſeren Theorie jederzeit wei-
chen muß (a). Eine kritiſche Scheidung dieſer beiden Be-
ſtandtheile iſt bisher nicht verſucht worden, indem man
ſich meiſt begnügt hat, mit willkührlicher Auswahl die
Zeugniſſe einzelner Praktiker für oder wider die heutige
Geltung irgend eines Rechtsſatzes anzuführen. Im voraus
eine allgemeine Regel für jene Scheidung aufzuſtellen, iſt
ganz unmöglich: vielmehr muß dieſe Arbeit vom Einzel-
nen ausgehen, wobey es einſtweilen dahin geſtellt bleiben
mag, wie weit ſich die Kritik des Einzelnen in allgemei-
nere Geſichtspuncte wird zuſammen faſſen laſſen. Dieſe
kritiſche Prüfung der Praxis im Einzelnen ſoll denn auch
eine Hauptaufgabe des gegenwärtigen Werks ſeyn: eine
Aufgabe, deren große Schwierigkeit der vielleicht ſehr un-
vollſtändigen Löſung zur Entſchuldigung dienen wird. Von
einer andern Seite angeſehen, läßt ſich dieſelbe Aufgabe
auch ſo ausdrücken: in dem Römiſchen Recht dasjenige
zu ſcheiden, was ſchon abgeſtorben iſt, von dem was noch
fortlebt, und großentheils ſtets fortleben wird. — Die
Hauptbedingung zur Löſung dieſer Aufgabe iſt ein reiner,
unbefangener Wahrheitsſinn. Wer aus Vorliebe für das
Römiſche Recht nur darauf ausgeht, dieſes überall in
ſeiner Reinheit wiederherzuſtellen, der iſt dazu ungeſchickt:
(a) Als erläuterndes Beyſpiel
für dieſen Fall kann das Sum-
mariissimum dienen, ſo wie es
in der neueren Praxis nicht ſel-
ten erſcheint. Vgl. Savigny
Recht des Beſitzes § 51 der ſechs-
ten Ausgabe.
|0151 : 95|
§. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.
eben ſo aber auch, wer ſeine Einbildungen der neueren
Praxis unterſchiebt, und ihr eine durchgeführte Selbſtſtän-
digkeit andichtet, woran ihre Urheber nicht gedacht haben.
Beiden iſt Aberglaube vorzuwerfen: Jenem, indem er ein
erſtorbenes Stück der Geſchichte als lebend behandelt:
Dieſem, indem er den eigenen Wahn als Wirklichkeit
anſieht.
Derjenige Beſtandtheil des praktiſchen Rechts, welchen
ich als den geſunden bezeichnet habe, hat eine ganz andere
Wichtigkeit, als welche oben der theoretiſchen Arbeit zu-
geſchrieben worden iſt. Er wirkt nicht blos als eine Ach-
tung gebietende Autorität, ſondern er ſchließt in Wahrheit
neu gebildetes Recht in ſich. Dennoch können wir auch
ihm kein abgeſchloſſenes, unabänderliches Daſeyn zuerken-
nen. Zwar auf dem Wege einer blos theoretiſchen Prü-
fung, indem einem ſolchen Satz des praktiſchen Rechts
die Abweichung von dem quellenmäßigen Recht nachge-
wieſen würde, kann die Gültigkeit deſſelben nicht entkräf-
tet werden, da es als wahres Gewohnheitsrecht ein
ſelbſtſtändiges Daſeyn gewonnen hat. Das aber iſt
nicht zu bezweifeln, daß es auf demſelben Wege, auf
welchem es entſtand, auch wiederum ſeine Gültigkeit ver-
lieren kann.
Häufig hat man den Einfluß des praktiſchen Rechts
noch auf ganz andere Weiſe aufgefaßt, indem man be-
hauptet hat, durch mehrere gleichförmige Ausſprüche eines
Gerichts werde daſſelbe verbunden, die von ihm befolgte
|0152 : 96|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Regel nun auch in der Zukunft unabänderlich beyzubehal-
ten (b). Das Wahre hieran iſt dieſes, daß in ſolchen Fäl-
len das Gericht für ſich ſelbſt eine Autorität bildet, welche
zu achten würdiger und wohlthätiger ſeyn wird, als ſie
in leichtſinniger Unbeſtändigkeit wieder aufzugeben: was
alſo wiederum, ſo wie jede Gewohnheit, auf dem ſchon
bemerklich gemachten Geſetz der Continuität beruht (§ 12. a).
Wenn dagegen eine wiederholte, ernſte Prüfung neue,
bisher unerwogene Gründe darbietet, kann das Verlaſſen
der früher befolgten Regel nicht getadelt werden: vorzüg-
lich aber iſt kein Grund vorhanden, dieſes Verlaſſen durch
die ganz willkührliche Annahme einer ſo entſtandenen un-
abänderlichen Regel ausſchließen zu wollen. — Eine etwas
andere Natur hat der Einfluß der Entſcheidungen eines
höheren Gerichts auf die ihm untergebenen Gerichte. Denn
hier wirkt nicht blos eine Achtung gebietende Autorität,
ſondern die dem höheren Gericht zuſtehende Macht, ſeinen
Überzeugungen durch abändernde Urtheile Geltung zu ver-
ſchaffen. Indem ſich nun das untergeordnete Gericht in
die abweichende Meynung fügt, weicht es nicht etwa einer
äußeren Gewalt, ſondern es geht vielmehr in den Sinn
und die wohlthätige Abſicht der Abſtufung der Gerichte,
oder des Inſtanzenzuges, ein.
In dieſer ganzen Unterſuchung ſind abſichtlich einige
Kunſtausdrücke vermieden worden, deren höchſt unbeſtimmter
(b) Thibaut § 16, und viele
frühere Schriftſteller. — Sehr
gut handelt hiervon Puchta
Gewohnheitsrecht II S. 111.
|0153 : 97|
§. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.
und ſchwankender Gebrauch viel zu der in dieſem Gebiet
herrſchenden Verwirrung der Begriffe beygetragen hat.
Es wird jetzt genügen, ihre verſchiedene Bedeutung bey
neueren Schriftſtellern, ſo wie ihr Verhältniß zu der hier
aufgeſtellten Genealogie der Begriffe ſelbſt, kurz anzugeben.
Dahin gehört zuerſt der Ausdruck Gerichtsgebrauch.
Man verſteht darunter bald das durch Urtheilsſprüche
bekundete wahre Gewohnheitsrecht, bald die gleichförmi-
gen Ausſprüche eines und deſſelben Gerichts, welche an-
geblich auch für die Zukunft bindende Kraft haben. Es
wäre zweckmäßig, dieſen Ausdruck, ſo wie den Ausdruck
Praxis, lediglich auf den erſten Begriff, alſo auf das
wahre Gewohnheitsrecht, ſo weit es aus Urtheilen erkenn-
bar iſt, anzuwenden. — Daneben iſt aber beſonders gegen
einen ſehr häufigen und verderblichen Misbrauch dieſer
Ausdrücke zu warnen. Es genügt nämlich Vielen, welche
einen Rechtsſatz auf die Praxis gründen wollen, wenn
ſie die Anerkennung deſſelben in einzelnen Urtheilen nach-
weiſen. Da aber die Richter eben ſo gut als die Schrift-
ſteller dem Irrthum unterworfen ſind, ſo können auch
ſolche Urtheile aus bloßer Unkunde des Rechts hervorge-
gangen ſeyn. Auch hier alſo, wie bey den Schriftſtellern,
iſt vielmehr eine allgemeinere Übereinſtimmung nöthig, die
durch mehrere gegen einander laufende Urtheile gänzlich
ausgeſchloſſen wird (c).
(c) Vgl. über die Übereinſtim-
mung der Schriftſteller § 19, und
über die nicht unbedingte Taug-
lichkeit von Urtheilen zur Be-
7
|0154 : 98|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Ferner gehört dahin der Ausdruck Obſervanz oder
Herkommen, bey welchem der Sprachgebrauch noch
weit ſchwankender iſt, als bey dem vorhergehenden. Zu-
weilen wird er auf das Staatsrecht beſchränkt, ſo daß
er hier daſſelbe bezeichnen ſoll, was im Privatrecht Ge-
wohnheit heißt (d). Im Privatrecht wird er oft mit Ge-
wohnheitsrecht ganz gleichbedeutend gebraucht, und iſt dann
entbehrlich und beſſer zu vermeiden (e). Der beſtimmteſte
Gebrauch des Worts iſt wohl der, nach welchem es zwar
ein Gewohnheitsrecht bezeichnet, aber nur das partikuläre
Gewohnheitsrecht einer begränzten Klaſſe von Perſonen,
z. B. eines beſtimmten Standes, oder auch der Mitglieder
einer Corporation (f). Es iſt blos eine Modification die-
ſer Bedeutung, wenn unter jenem Ausdruck ein ſtillſchwei-
gründung eines Gewohnheits-
rechts § 29 Num. 4. — Man
muß daher ſehr mistrauiſch ſeyn
gegen die beliebte Formel: Praxin
testantur etc.
(d) Pütter inst. jur. publ.
§ 44.
(e) Hofacker § 127. Thi-
baut § 16. — So auch in eini-
gen Stellen der Rechtsquellen.
§ 7 J. de satisd. (4. 11.) „cum
necesse est omnes provincias …
regiam urbem ejusque obser-
vantiam sequi.” — L. 2 § 24
de O. J. (1. 2) „vetustissima
juris observantia.” Clem. 2 de
appell. (2. 12.) „antiquam et com-
munem observantiam litigan-
tium sequi.” — In andern Stel-
len heißt das Wort ſo viel als
das häufigere observatio: Beob-
achtung oder Befolgung einer
Regel, was alſo nicht hierher
gehört. Noch weniger gehört
hierher die häufigſte Bedeutung
des Worts bey den klaſſiſchen
Schriftſtellern: perſönliche Ehr-
furcht. Cicero de invent. II.
22. 53.
(f) Eichhorn Deutſches Pri-
vatrecht § 35. Mühlenbruch
§ 40. — Die perſönliche Parti-
cularität, im Gegenſatz der loca-
len, iſt alſo die Grundlage des
Begriffs, ſo daß man wohl von
einer Obſervanz des Adels, oder
einer gewiſſen Klaſſe deſſelben,
eines Domkapitels, einer Zunft
u. ſ. w. ſprechen kann, aber nicht
von der einer Provinz oder Stadt.
|0155 : 99|
§. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.
gendes, durch Handlungen ausgedrücktes Statut der Cor-
poration verſtanden wird, begründet durch das ihr zuſte-
hende Recht der Autonomie (g). Dagegen iſt es eine völ-
lige Umänderung jener beſtimmteſten Bedeutung des Wor-
tes Obſervanz zu nennen, wenn daſſelbe einen ſtillſchwei-
genden Vertrag der Corporationsmitglieder bezeichnen
ſoll (h). Auch dabey wäre es vor Allem beſſer, den zwey-
deutigen Ausdruck ganz zu vermeiden, und nur den ſiche-
ren Ausdruck des Vertrags anzuwenden. Sieht man aber
genauer zu, ſo wird man finden, daß in den Fällen, worin
gewiß die Meiſten den Namen der Obſervanz gebrauchen
mögen, doch nur Gewohnheitsrecht, nicht Vertrag, vor-
handen iſt, daß aber die Veranlaſſung, weshalb man
einen Vertrag darunter denken wollte, tiefer liegt. Es
giebt nämlich manche Rechtsverhältniſſe, worin es in der
That zweifelhaft ſeyn kann, ob ſie einer Beſtimmung durch
Gewohnheitsrecht, oder vielmehr nur durch einen ſtill-
ſchweigenden Vertrag der einzelnen Betheiligten unterlie-
gen. Über dieſen Zweifel, oder vielleicht auch über die
unklare Auffaſſung des Gegenſatzes ſelbſt, kam man am
leichteſten hinweg durch den Gebrauch jenes ſchwankenden
(g) Eichhorn Kirchenrecht
B. 2 S. 39—44. — Puchta
Gewohnheitsrecht II S. 105, der
den Unterſchied der Obſervanz
von verwandten Begriffen ſchär-
fer als alle Anderen beſtimmt
hat, will dieſen Fall (Anwendung
der Autonomie) allein als wahre
Obſervanz gelten laſſen. Auch
würde der Verwirrung dieſer Be-
griffe in der That am beſten vor-
gebeugt ſeyn, wenn ſich der
Sprachgebrauch in der von Puchta
angegebenen Weiſe fixiren wollte.
(h) Meurer Abhandlungen
Num. 6. Hofacker § 127. Thi-
baut § 16. — S. dagegen Eich-
horn a. a. O. S. 41.
7*
|0156 : 100|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Ausdrucks. Aber das Übel war dadurch nicht gehoben,
ſondern vielmehr unheilbar gemacht, indem nun die Aner-
kennung jenes Zweifels, und alſo die unentbehrliche Ent-
ſcheidung über denſelben, verhindert wurde.
Endlich gehört dahin auch noch der Ausdruck commu-
nis opinio, welchem man in früheren Jahrhunderten eine
ungemeine Wichtigkeit beyzulegen pflegte. Man dachte
darunter eine ſo übereinſtimmende Meynung der Rechts-
lehrer, daß dadurch jeder Einzelne als gebunden betrach-
tet werden müſſe, und man ſuchte nun, wegen der Wich-
tigkeit dieſer Folge, den Begriff und die Bedingungen der
Allgemeinheit durch formelle Regeln feſtzuſtellen, ſo wie
es einſt Valentinian III. durch ein Geſetz gethan hatte (i).
Freylich befand man ſich damit im Gebiet vollkommner
Willkühr, und die häufig ſehr ſeltſame Faſſung der Re-
geln verläugnete dieſen ihren Urſprung nicht. Die rich-
tige Bedeutung einer gemeinen Meynung und ihre wahre
Wirkſamkeit iſt bereits entwickelt worden (§ 19). In
neueren Zeiten übrigens iſt von dieſem Kunſtausdruck
kaum mehr die Rede.
§. 21.
Concurrirende Rechtsquellen.
Bey der bisherigen Darſtellung der Quellen des heu-
tigen Römiſchen Rechts wurden dieſelben, als allein vor-
handen und in ſich geſchloſſen, vorausgeſetzt. Auch war
(i) Puchta Gewohnheitsrecht I S. 163.
|0157 : 101|
§. 21. Concurrirende Rechtsquellen.
dieſe Betrachtungsweiſe nothwendig, wenn ſie rein und
vollſtändig aufgefaßt werden ſollten. Allein ein ſo ver-
einzeltes Daſeyn haben ſie in der Wirklichkeit in keinem
der Staaten gehabt, worin ſie Eingang fanden. Daher
ſoll nun noch eine Überſicht über diejenigen ihnen fremd-
artigen Rechtsquellen gegeben werden, die mit ihnen in
Berührung getreten ſind, und mit welchen ſie im Leben
ſelbſt die Herrſchaft über die Rechtsverhältniſſe ge-
theilt haben.
Zuerſt begegnete ihnen überall ſchon zur Zeit ihrer
Aufnahme einheimiſches Recht: namentlich alſo in Deutſch-
land urſprünglich Germaniſches Recht, und eben ſo in den
meiſten anderen Ländern, insbeſondere in Frankreich. Das
Verhältniß dieſer beiden verſchiedenartigen Rechte in der
Anwendung auf das Leben, war zu allen Zeiten ein ſchwie-
riges und verwickeltes, und die Ausgleichung dieſes Con-
flicts gehörte ſtets zu den wichtigſten Aufgaben des wiſſen-
ſchaftlichen Rechts, beſonders in dem praktiſchen Theil
deſſelben (§ 20).
Dann aber ſchloß ſich überall eine fortgehende Lan-
desgeſetzgebung an das aufgenommene fremde Recht an,
die theils durch das eben erwähnte Bedürfniß der Aus-
gleichung mit dem Germaniſchen Recht angeregt wurde,
theils auch ohne Rückſicht auf dieſen Conflict durch die
neuere Praxis (§ 20), die in dieſen Landesgeſetzen häufig
Anerkennung und Feſtſtellung fand. Dahin gehört alſo
in den einzelnen Theilen von Deutſchland das ganze Ter-
|0158 : 102|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
ritorialrecht, welches ſich bald auf ein ganzes Land, bald
auf einzelne Beſtandtheile deſſelben bezieht, und deſſen Um-
fang und Wichtigkeit je nach den Ländern ſehr verſchie-
den iſt. Auf den Gegenſatz dieſes Territorialrechts grün-
det ſich der oben (§ 2) aufgeſtellte Begriff des gemeinen
Rechts, welches überall zu jenem im Verhältniß eines
Subſidiarrechts ſteht, ſo daß es nur zur Anwendung
kommen kann, inſofern nicht eine andere Beſtimmung des
Territorialrechts vorhanden iſt. Dieſes Verhältniß folgt
natürlich, ja nothwendig daraus, daß eine ſolche neuere
Geſetzgebung gerade durch das Bedürfniß der Fortbildung
des vorhandenen Rechts entſteht, alſo dieſe Fortbildung
recht eigentlich zum Zweck hat. Nur würde es unrichtig
ſeyn, dieſes Verhältniß des Subſidiarrechts ſo anzuſehen,
als ob nun im wirklichen Leben die Entſcheidung ſtreitiger
Verhältniſſe in der Regel durch Territorialrecht beſtimmt
würde, neben welchem das gemeine Recht nur in ſelte-
nen ausgenommenen Fällen zur Anwendung käme. Viel-
mehr iſt überall die wirkliche Anwendung des gemeinen
Rechts in großem Übergewicht geblieben, ſo lange nur
der Begriff deſſelben überhaupt beybehalten wurde, wel-
cher freylich überall aufgehört hat, wo neue Geſetzbücher
eingeführt wurden.
In einem großen Theil von Europa nämlich ſind in
neueren Zeiten die Rechtsquellen durch neue einheimiſche
Geſetzbücher weſentlich umgebildet worden. In Preußen
und Öſterreich haben dazu nur innere, den Rechtszuſtand
|0159 : 103|
§. 21. Concurrirende Rechtsquellen.
ſelbſt betreffende Gründe den Anſtoß gegeben, in Frank-
reich ſind dazu noch beſondere politiſche Veranlaſſun-
gen gekommen: theils die durch die Revolution bewirkte
Erſchütterung ſo vieler Rechtsverhältniſſe, theils das Be-
dürfniß, die provinziellen Verſchiedenheiten auch von dieſer
Seite in Vergeſſenheit zu bringen. Die inneren, bey allen
dieſen Geſetzbüchern wirkſamen Gründe waren dieſelben,
wodurch auch ſchon vorher eine große Zahl einzelner Ge-
ſetze in vielen Ländern veranlaßt worden waren: man
wollte die Schwierigkeiten beſeitigen, welche theils durch
den Conflict der Römiſchen und Germaniſchen Rechtsin-
ſtitute, theils durch die unbeholfene Theorie und die oft
ſchwankende Praxis der letzten Jahrhunderte (§ 19. 20)
entſtanden waren. Dieſe Zwecke konnten wahrhaft nur dann
erreicht werden, wenn eine Reinigung der Rechtswiſſenſchaft
von dieſen Mängeln durch eine eindringende kritiſche Er-
forſchung vorherging: da aber dieſe fehlte, und alſo die
Abfaſſung der Geſetzbücher unter dem Einfluß deſſelben
mangelhaften Zuſtandes der Rechtswiſſenſchaft unternom-
men wurde, dem man abhelfen wollte, ſo konnte die Ver-
beſſerung nur eine äußerliche, zufällige und beſchränkte
ſeyn, während die innere und weſentliche Mangelhaftig-
keit fixirt, und dadurch für die Zukunft die Reinigung
durch die innere Kraft der Wiſſenſchaft verhindert, oder
wenigſtens ſehr erſchwert wurde.
Der große Unterſchied dieſer Geſetzbücher von allen
bisherigen einzelnen Geſetzen liegt in ihrer umfaſſenden
|0160 : 104|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
und in ihrer ausſchließenden Natur. Sie enthalten näm-
lich erſchöpfende, abgeſchloſſene Rechtsſyſteme. Obgleich
nun z. B. im Preußiſchen Landrecht die Abſicht gar nicht
auf eine Abänderung des vorhandenen materiellen Rechts,
ſondern auf eine verbeſſerte Form deſſelben gerichtet war,
ſo lag es doch in der organiſch bildenden Kraft einer
jeden Rechtstheorie (§ 14), daß man bald unwillkührlich
über das vorgeſteckte Ziel fortgeriſſen wurde, und ſo zu
Reſultaten kam, die gar nicht in der urſprünglichen Ab-
ſicht lagen, und die, wenn man ſie gleich Anfangs hätte
überſehen können, über die ganze Unternehmung Bedenken
erregt haben möchten. — Durch ihre ausſchließende Na-
tur gaben dieſe Geſetzbücher dem poſitiven Recht ihrer
Länder eine ganz neue Baſis: neu der Form nach, indem
nun in ihrem Gebiet von einer unmittelbaren Anwendung
des Römiſchen Rechts nicht mehr die Rede ſeyn kann:
nicht neu dem Gehalt nach, indem die in den früheren
Rechtsquellen wurzelnden Begriffe und Rechtsregeln auch
in den neuern Geſetzbüchern fortleben. Daher iſt denn
auch eine gründliche Einſicht in dieſe Geſetzbücher nur
dadurch möglich, daß ihr Inhalt auf ſeinen erſten Ur-
ſprung zurückgeführt wird, ſo daß durch dieſelben ein
erſchöpfendes Studium der früheren Rechtsquellen um gar
Nichts entbehrlicher geworden iſt, wie ſehr ſich auch Viele
mit einer ſolchen Erleichterung der juriſtiſchen Arbeit ge-
ſchmeichelt haben mögen.
Hierin liegt denn zugleich der Grund, warum das
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§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.
heutige Römiſche Recht zum Standpunct des gegenwär-
tigen Werks gewählt worden iſt (§ 1). Denn da von
dieſem Standpunct aus ſowohl eine unmittelbare Anwen-
dung möglich wird in den Ländern, worin die früheren
Rechtsquellen herrſchend geblieben ſind, als auch eine
gründliche Einſicht in die neuen Geſetzbücher, da wo dieſe
eingeführt wurden, ſo iſt dieſer Standpunkt überhaupt
der fruchtbarſte zur Belebung der juriſtiſchen Wiſſenſchaft
und der mit ihr zuſammenhängenden Praxis.
§. 22.
Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im
Allgemeinen (a).
Mit dieſer Darſtellung der Natur unſrer Rechtsquellen
ſind nun noch die Ausſprüche der Römer über denſelben
Gegenſtand zu vergleichen. Welche Bedeutung wir dieſen
Ausſprüchen beyzulegen haben, wird erſt, nachdem ſie
ſelbſt zuſammengeſtellt ſind, unterſucht werden können.
Auch im canoniſchen Recht und in den Reichsgeſetzen fin-
det ſich Einiges, was dahin gehört, aber ſo Weniges,
daß es füglich als Anhang den Äußerungen des Römi-
ſchen Rechts hinzugefügt werden kann.
Der Aufzählung der Rechtsquellen, wie ſie ſich in
mehreren Stellen der Römiſchen Juriſten findet, liegt
kein beſtimmter Begriff derſelben zum Grund. Sie faſſen
vielmehr blos die Formen der äußeren Erſcheinung des
(a) Puchta Gewohnheitsrecht Buch 1. Beſonders Cap. 4. 5. 6.
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Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Rechts auf, unbekümmert um das Weſen und die Her-
kunft ihres Inhalts, und um die Klaſſification derſelben,
welche nur aus der Verwandtſchaft oder Verſchiedenheit
des Inhalts hervorgehen könnte. Es hat alſo bey ihnen
dieſe Aufzählung, wie es ihrem praktiſchen Sinn ganz
angemeſſen iſt, die Natur einer Anweiſung für den Rich-
ter, wohin er ſich zu wenden habe, um zur Belehrung
über irgend eine Rechtsfrage zu gelangen. Zu dieſer
äußerlichen Auffaſſungsweiſe paßt denn auch ſehr gut die
mehrmals vorkommende Eintheilung des Rechts in jus
scriptum und non scriptum (b), welche ganz buchſtäblich
zu nehmen iſt, und worauf übrigens die Römer ſelbſt gar
kein beſonderes Gewicht gelegt haben. Jus scriptum alſo
heißt dasjenige Recht, deſſen Entſtehung mit einer ſchrift-
lichen Aufzeichnung verbunden iſt (c). Neuere Rechtsleh-
(b) § 3. 9. 10. J. de jure nat.
(1. 2.), L. 6 § 1 de J. et J. (1.
1.), L. 2 § 5. 12. de orig jur.
(1. 2.). — Die Stelle, die am
beſtimmteſten jede künſtliche Deu-
tung ausſchließt, iſt Cicero de
partit. orat. C. 37 „sed propria
legis et ea, quae scripta sunt,
et ea quae sine litteris, aut
gentium jure aut majorum
more, retinentur.”
(c) So iſt das Prätoriſche
Edict jus scriptum, auch wenn
ihm altes Gewohnheitsrecht zum
Grunde liegt, weil dieſes durch
die Aufnahme in das Edict auf
ſolche Weiſe anerkannt, gewiß
geworden, vielleicht auch umge-
bildet worden iſt, daß man es
im Verhältniß zur Praxis als
neu entſtanden anſehen kann.
Die responsa der Juriſten wa-
ren eben ſo jus scriptum, weil
ſie durch ihre ſchriftliche Abfaſ-
ſung bindende Kraft erhielten.
Aber ein Satz des Gewohnheits-
rechts wurde nicht dadurch zum
jus scriptum, daß juriſtiſche
Schriftſteller in ihren Rechtsſy-
ſtemen ihn aufnahmen und als
wahr bezeugten. Denn dieſes
war nur wiſſenſchaftliche Mit-
theilung des Rechtsſatzes, ohne
Zuſammenhang mit deſſen Ent-
ſtehung. — Vgl. Thibaut § 10.
— Nicht ſowohl unrichtig, als zu
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§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.
rer glaubten ſich bey dieſem einfachen Wortſinn nicht
beruhigen zu dürfen, ſondern erklärten vielmehr jus
scriptum von dem durch einen Geſetzgeber promulgirten
Recht, non scriptum von dem nicht promulgirten, alſo
dem Gewohnheitsrecht, beides ohne Rückſicht auf Gebrauch
und Nichtgebrauch der Schrift (d). Noch Andere laſſen
beide Parteyen Recht haben, indem ſie einen juriſtiſchen
und grammatiſchen Sinn der Eintheilung unterſcheiden,
deren man ſich nach Belieben bedienen könne (e).
Gajus ſtellt die Rechtsquellen ſo zuſammen: Lex, Ple-
biſcit, Senatusconſult, Kaiſerconſtitutionen, Edicte, Re-
ſponſa der Juriſten (f). Eben ſo Juſtinians Inſtitutio-
nen, nur daß ſie noch das dort fehlende ungeſchriebene
Recht hinzufügen (g). Pomponius giebt zuerſt eine chro-
nologiſche Überſicht der Entſtehung des Rechts, und faßt
dann die darin vorkommenden Entſtehungsgründe ſo zuſam-
men: Lex, Prudentium interpretatio, legis actiones, Plebiſcit,
ſubtil, und darum der Sache
nicht angemeſſen, iſt die Erklä-
rung bey Zimmern I § 14.
(d) (Hübner) Berichtigungen
und Zuſätze zu Höpfner S. 152.
(e) Glück I § 82, wo man
die Sache mit überflüſſiger Weit-
läufigkeit abgehandelt, und zu-
gleich die früheren Schriftſteller
angeführt findet. — Die Veran-
laſſung der falſchen Meynung,
aber keineswegs ihre Entſchuldi-
gung, liegt in L. 35. 36. de le-
gibus (1 3.). — Das wahre
Element dieſes Irrthums beſteht
übrigens darin, daß das geſchrie-
bene Recht in einem feſten Buch-
ſtab äußerlich erkennbar iſt, wo-
durch ſein Daſeyn und Inhalt
größere Gewißheit erhält in Ver-
gleichung mit dem Gewohnheits-
recht. Nur iſt die Autorität des
Geſetzgebers dabey nicht noth-
wendig, wie denn der Prätor in
ſeinem Edict jus scriptum machte,
ohne Geſetzgeber zu ſeyn.
(f) Gajus I § 2 — 7.
(g) § 3—9 J. de j. nat. (1. 2.)
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Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Edicte, Senatusconſult, Kaiſerconſtitutionen (h). Papi-
nian endlich ſtimmt ganz mit Gajus überein, nur nennt
er (ſo wie Pomponius) anſtatt der ſpeciellen Reſponſa
vielmehr die allgemeinere auctoritas Prudentium (i). —
Der Unterſchied liegt alſo zunächſt in der Ordnung der
einzelnen Stücke: ferner darin, daß das ungeſchriebene
Recht bald fehlt, bald aufgenommen iſt: dann in der ver-
ſchiedenen Auffaſſung des Juriſtenrechts: endlich darin,
daß Pomponius allein die legis actiones mitzählt. Dieſer
letzte Unterſchied erklärt ſich leicht daraus, daß Pompo-
nius in einer Überſicht der Rechtsgeſchichte ſehr wohl
einen Gegenſtand aufnehmen konnte, welcher in Werken
über das geltende Recht nicht paſſend geweſen wäre.
Andere Zuſammenſtellungen der Rechtsquellen finden
ſich in rhetoriſchen Schriftſtellern. Darunter hat die in
Cicero’s Togik am meiſten Ähnlichkeit mit den angeführten
juriſtiſchen Stellen, was ſich auch aus dem Zweck dieſer
Schrift erklärt (k). Die übrigen laſſen ſich in eigentliche
Speculation über die urſprüngliche Entſtehung der Rechts-
begriffe ein (l). Allein nicht nur iſt dieſe ſehr verworren
und unbefriedigend, ſondern ſie begnügen ſich, eben ſo
wie jene Juriſten, mit der Auffaſſung der äußeren Er-
(h) L. 2 § 12 de orig. jur.
(1. 2.).
(i) L. 7 de J. et J. (1. 1.).
(k) Cicero top. C. 5 „ut si
quis jus civile dicat id esse,
quod in legibus, senatus con-
sultis, rebus judicatis, juris
peritorum auctoritate, edictis
magistratuum, more, aequitate
consistat.”
(l) Cicero de invent. II. Cap.
22. 53. 54. — de partit. orato-
ria C. 37. — Auct. ad Heren-
nium II C. 13.
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§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.
ſcheinung des Rechts, obgleich dieſes Verfahren zu ihrer
ganzen Richtung nicht paßt: ja ſie treiben die Verwir-
rung ſo weit, daß ſie mit den Rechtsquellen die thatſäch-
lichen Entſtehungsgründe der einzelnen Rechtsverhältniſſe
vermengen, wovon freylich jene Juriſten ganz frey ſind (m).
Mit mehr Sorgfalt, als jene allgemeine Zuſammen-
ſtellungen der Rechtsquellen, wurden von den alten Ju-
riſten zwey Gegenſätze in der Rechtserzeugung behandelt,
an welche ſich ein bedeutendes praktiſches Intereſſe knüpfte:
ich meyne den Gegenſatz des Jus civile und gentium, und
den des Jus civile und honorarium. — Der erſte dieſer
Gegenſätze hatte folgende Bedeutung (n). Der frühe Ver-
kehr mit benachbarten fremden Völkern machte es noth-
wendig, neben dem einheimiſchen Recht auch das Recht
von Peregrinen vor Römiſchen Gerichten anzuwenden,
alſo auch kennen zu lernen: und zwar nicht blos das
Recht irgend eines einzelnen fremden Staats, ſondern auch
das, was Mehreren derſelben gemeinſam war. Je mehr
nun die Römiſche Herrſchaft ausgebreitet, alſo der Ver-
kehr mit Fremden mannichfaltiger wurde, deſto mehr
(m) So z. B. Cicero de part.
or. C. 37. Alles Recht entſpringt
aus natura oder lex. Dieſes
letzte iſt theils geſchrieben, theils
ungeſchrieben. Das geſchriebene
entſteht entweder aus Handlun-
gen einer öffentlichen Gewalt:
Lex, senatus consultum, foedus;
oder aus Privathandlungen: Ta-
bulae, pactum conventum, sti-
pulatio. Auch in dem unge-
ſchriebenen Recht kommen wieder
Verträge vor. Ähnlich ſind hierin
auch die andern angeführten
Stellen.
(n) Vgl. Dirkſen Eigen-
thümlichkeit des Jus gentium,
Rhein. Muſeum B. 1 S. 1—50. —
Puchta Gewohnheitsrecht I S.
32—40.
|0166 : 110|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
mußte ſich hierin der Geſichtskreis erweitern, und auf
dieſem Wege kam man unvermerkt zu dem abſtracteren
Begriff eines den Römern mit allen fremden Völkern,
alſo allen Menſchen, gemeinſchaftlichen Rechts (o). Die-
ſer Begriff war zunächſt aus der Erfahrung geſchöpft,
und inſofern nicht völlig begründet, als ſich doch die Rö-
mer über die Unvollſtändigkeit ihrer Induction nicht täu-
ſchen konnten; denn theils kannten ſie nicht alle Völker,
theils wurde gewiß nicht bey jedem Satz des Jus gen-
tium ängſtlich nachgeforſcht, ob er auch wirklich bey allen
bekannten Völkern gelte. Dennoch war es natürlich, auch
bey dieſer nur relativen Allgemeinheit auf den Entſte-
hungsgrund derſelben zurück zu gehen, und dieſen fand
man denn im Allgemeinen in der naturalis ratio, d. h. in
dem der menſchlichen Natur eingepflanzten gemeinſamen
Rechtsbewußtſeyn (p), wovon wieder die Unveränderlich-
keit dieſes Rechts als eine nothwendige Folge angeſehen
wurde (q). Jedoch begnügte man ſich, dieſen Entſtehungs-
grund im Allgemeinen anzuerkennen, ohne die einzelnen
Sätze des Jus gentium von dieſer Seite einer Prüfung
zu unterwerfen.
(o) „Omnes homines”, „om-
nes gentes”, „gentes humanae”
Gajus I § 1. L. 9. L. 1 § 4 de
J. et J. (1. 1.).
(p) Gajus I § 1. 189. II § 66.
69. 79., L. 9 de J. et J. (1. 1.).
L. 1 pr. de adqu. rer. dom.
(41. 1.). — In den rhetoriſchen
Schriften heißt es gewöhnlicher
blos Natura (Note I). — Die
allgemeinere Wurzel dieſer An-
ſicht iſt ſchon oben nachgewieſen
worden, am Ende des § 8.
(q) L. 11 de J. et J. (1. 1.)
§ 11. J. de j. nat. (1. 2.).
|0167 : 111|
§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.
Die Vergleichung ſelbſt nun zwiſchen dem einheimi-
ſchen und dem allgemeinen Recht ergab Folgendes. Einige
Inſtitute, mit den auf ſie bezüglichen Rechtsregeln, waren
in der That von jeher gemeinſam, alſo juris gentium und
civilis zugleich. Dahin gehörten die meiſten Contracte
des täglichen Verkehrs, wie Kauf, Miethe, Societät u. ſ. w.
Ferner die meiſten Delicte, inſofern ſie die Verpflichtung
zur Entſchädigung mit ſich führen. Dann die Tradition
als Erwerb des Eigenthums, die in Anwendung auf res
nec mancipi auch ſchon im Civilrecht anerkannt war.
Endlich der durch die Geburt ſich fortpflanzende Skla-
venſtand. — Weit mehrere Inſtitute aber waren dem
einheimiſchen Recht ausſchließend eigen. So die Ehe, die
ſelbſt in ihrer freyeſten Form doch nur zwiſchen Römiſchen
Bürgern möglich, und dadurch ganz poſitiv bedingt war.
Noch mehr die väterliche Gewalt, und die durch ſie be-
gründete Agnation. Eben ſo die meiſten und wichtigſten
Entſtehungsgründe des Eigenthums, wie Mancipation,
Uſucapion u. ſ. w. Ferner in den Obligationen die ver-
borum und literarum obligatio; die Delicte inſofern ſie
eine Strafe von willkührlich angenommener Größe mit
ſich führen. Endlich das geſammte Erbrecht. — Allein
die meiſten dieſer poſitiven Inſtitute haben dennoch einen
allgemeinen Kern, und kommen alſo auch in dem fremden
Recht, dieſem ihrem allgemeinen Weſen nach, nur in an-
derer Form, gleichfalls vor. So geſchah es nun durch
den vermehrten Verkehr mit Fremden, daß neben vielen
|0168 : 112|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
jener poſitiven Inſtitute auch ſelbſt in Römiſchen Gerich-
ten verwandte Inſtitute des allgemeinen Rechts praktiſch
anerkannt wurden. Alſo neben der Civilehe eine gültige,
nur minder wirkſame Ehe nach jus gentium. Neben der
Agnation eine naturalis cognatio. Neben dem Eigenthum
ex jure quiritium das in bonis. Neben der ſtrengſten
Form der Stipulation (spondes spondeo) freyere, auch
den Peregrinen zugängliche Formen. Am wenigſten ge-
ſchah es im Erbrecht, das überhaupt am meiſten eine
ſtreng poſitive Natur hat; und doch beruht auch hier die
zugelaſſene und ſtets erweiterte Inteſtaterbfolge der Cogna-
ten auf derſelben natürlichen Rechtsentwicklung. — Es
erhellt aus dieſer Zuſammenſtellung, daß man nur theil-
weiſe einen Gegenſatz zwiſchen dem nationalen und all-
gemeinen Recht (jus civile und gentium) annehmen kann,
indem ein großer Theil des erſten zugleich auch dem zwey-
ten angehört (r). Und auch jener partielle Gegenſatz
mußte ſich im Lauf der Zeit vermindern, indem bey der
ſtetigen praktiſchen Berührung beider Rechtsſyſteme in den
Gerichten deſſelben Staates eine gewiſſe Aſſimilation un-
vermeidlich war.
Aus dieſen Betrachtungen erklären ſich ganz einfach
die zwey Benennungen, die hier als völlig gleichbedeutend
(r) Faßt man den Gegenſatz von
dieſem Standpunct auf, ſo iſt er
verwandt, obgleich nicht identiſch,
mit dem von Jus strictum und
aequitas, jus (oder juris ratio)
und utilitas. Hier zeigt ſich alſo
in ſpeciell hiſtoriſcher Anwendung,
was oben ((§ 15) über dieſe Ge-
genſätze in allgemeiner Betrach-
tung geſagt worden iſt.
|0169 : 113|
§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.
gebraucht werden: Jus gentium, das Recht, welches bey
allen bekannten Völkern gefunden wird: Jus naturale, das
Recht, welches durch das in der menſchlichen Natur ge-
gründete gemeinſame Rechtsbewußtſeyn hervorgebracht
wird (s). — Jedoch iſt unter dieſen beiden Arten der Auf-
faſſung die erſte als die überwiegende zu betrachten, ſo
daß nach Anſicht der Römer das Jus gentium nicht min-
der als das Jus civile ein ganz poſitives, geſchichtlich
entſtandenes und fortgebildetes Recht war. In demſelben
Maaße nun, als die Römiſche Nation, viele verſchiedene
Völker beherrſchend, zwar dieſe ſich aſſimilirte, zugleich
aber ihre Individualität an dieſe ungeheure und unbe-
ſtimmte Maſſe verlor, mußte das Jus gentium, als das
dieſem neuen Zuſtande angemeſſenere, ſo vorherrſchend wer-
den, wie es in der Juſtinianiſchen Geſetzgebung wirklich
erſcheint. Dieſe große Veränderung alſo iſt als das Werk
innerer Nothwendigkeit zu betrachten, nicht als Willkühr
zu tadeln, noch als Weisheit zu loben: außer inſoferne
es das höchſte Lob verdient, daß das allmälige und ſtille
Wirken jener Nothwendigkeit damals, wie in keinem frü-
heren Zeitpunct, richtig erkannt, und ſo der Buchſtab des
Rechts mit dem ſehr veränderten Geiſt und Weſen deſſel-
ben befriedigender ausgeglichen worden iſt, als es von
(s) Dieſe Terminologie, ge-
gründet auf die hier ausgeführte
zweygliedrige Eintheilung, kann
als die unter den Römiſchen Ju-
riſten vorherrſchende angeſehen
werden. Allerdings erſcheint da-
neben auch noch eine dreygliedrige
Eintheilung in Jus naturale,
gentium, civile. Davon handelt
die Beilage I zu dieſem Bande.
8
|0170 : 114|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
dieſem Zeitalter erwartet werden durfte. — Das wich-
tigſte praktiſche Intereſſe, welches ſich an dieſen Gegen-
ſatz knüpfte, beſtand nun aber darin, daß die Anwend-
barkeit beider Rechtsſyſteme von dem Standesverhältniß
der einzelnen Perſon abhing. Die eigenthümlichen Rechts-
verhältniſſe des Jus civile waren nur zugänglich den Rö-
miſchen Bürgern, ſpäterhin theilweiſe auch den Latinen,
durchaus nicht den Peregrinen: die des Jus gentium wa-
ren allen Menſchen zugänglich, die nur nicht überhaupt
als rechtlos galten. — Ein ähnlicher Unterſchied der Em-
pfänglichkeit für die Anwendung der Rechtsregeln findet
ſich auch bey den Grundſtücken, indem die Inſtitute und
Regeln des Sachenrechts entweder nur in Italien, oder
auch in den Provinzen anwendbar waren, je nachdem ſie
dem Jus civile angehörten (wie die Mancipation und Uſu-
capion), oder dem Jus gentium (wie die Tradition). —
Man kann dabey noch die Frage aufwerfen, wie ſich die-
ſer Gegenſatz zu dem des geſchriebenen und ungeſchriebe-
nen Rechts verhalte. Gewöhnlich wird dieſer letzte nur
bey Gelegenheit des Jus civile erwähnt, ſo daß er als
eine Unterabtheilung deſſelben erſcheint. Allein ein innerer
Grund zu dieſer Beſchränkung iſt nicht vorhanden, und
da die Erkenntniß des Jus gentium auf der fortgehenden
Sammlung und Vergleichung mehrerer fremden Rechte
beruht, alſo auf einem Verfahren, wobey eine ſchriftliche
Urkunde undenkbar iſt, wenngleich dabey die geſchriebenen
Geſetze fremder Völker benutzt werden konnten, ſo gehört
|0171 : 115|
§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.
für die Römer das ganze Jus gentium urſprünglich (d. h.
wenn es nicht zufällig in ein Edict aufgenommen wird)
zum ungeſchriebenen Recht, und bildet einen zweyten Theil
deſſelben neben dem einheimiſchen Gewohnheitsrecht, oder
den mores majorum. Dieſe Zuſammenſtellung findet ſich
übrigens bei keinem Juriſten, wohl aber bey Cicero (t). —
Zum Schluß muß endlich noch folgendes Verhältniß zwi-
ſchen den beiden hier erklärten Arten des Rechts bemerk-
lich gemacht werden. Da das Jus gentium in Rom ein
in ſich geſchloſſenes Rechtsſyſtem von poſitiver Natur und
praktiſcher Anwendbarkeit geworden war, ſo war es un-
vermeidlich, daß auch Beſtimmungen des Jus civile auf
daſſelbe mußten einwirken können. Wurde alſo durch das
Jus civile irgend etwas verboten, z. B. eine Ehe in einem
gewiſſen Grad der Verwandtſchaft, ſo hatte eine ſolche
Ehe in Rom auch nicht einmal nach Jus gentium Da-
ſeyn und Wirkſamkeit, wenngleich ein ſolches Verbot bey
andern Völkern vielleicht nicht vorkam, ſo daß bey ihnen
dieſelbe Ehe gültig geweſen wäre (u). Eben ſo entſteht
aus einem durch Jus civile verbotenen Vertrag (z. B. durch
Spielſchuld oder Zinswucher) ganz entſchieden nicht ein-
mal eine naturalis obligatio. Cicero ſpricht dieſe Rück-
(t) Cicero de partitione ora-
toria C. 37 ſ. o. Note b.
(u) § 12 J. de nupt. (1. 10.).
Vgl. unten § 65 Note b. — In
ſolchen Fällen zeigt ſich alſo ge-
wiſſermaßen eine zwiefache Be-
trachtungsweiſe für das jus gen-
tium: eine ſpeculative, welche
bloß den Urſprung der Rechts-
ſätze beachtet, und eine prakti-
ſche, welche ſich auf die Geſtalt
bezieht, die daſſelbe in den
Römiſchen Gerichten annehmen
mußte.
8*
|0172 : 116|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
wirkung des Jus civile auf das Jus gentium geradezu
aus in folgender Stelle (de partit. orat. C. 37) „atque
etiam hoc imprimis, ut nostros mores legesque tueamur,
quodammodo naturali jure praescriptum est.” Es kann
jedoch dieſe Rückwirkung, wie ſich von ſelbſt verſteht, nur
denjenigen Regeln des Jus civile zugeſchrieben werden,
welche die Natur eines abſoluten Rechts (§ 16) an ſich tragen.
Der zweyte bedeutende Gegenſatz war der von Jus
civile und honorarium (v). Deſſen praktiſche Wichtigkeit
aber lag nicht etwa darin, daß dieſes an ſich weniger
wirkſam, und z. B. in Colliſionsfällen nachſtehend geweſen
wäre, was durchaus nicht angenommen werden darf, ſon-
dern darin, daß die Gültigkeit deſſelben auf den Amts-
ſprengel und die Amtszeit ſeines Urhebers beſchränkt blieb,
anſtatt daß jede zum Jus civile gehörende Form in allen
Theilen des Reichs und zu allen Zeiten zu wirken fähig
war (w). In dieſem Sinne iſt es zu nehmen, wenn ſehr
(v) L. 7 pr. de J. et J. (1. 1.).
L. 2 § 10 de orig. jur. (1. 2.).
§ 7 J. de j. nat. (1. 2.). — Jus
civile hat alſo überhaupt ſehr
verſchiedene Bedeutungen. Es
heißt: 1) Privatrecht (§ 1); 2) po-
ſitives Recht irgend eines Staa-
tes: 3) insbeſondere das der Rö-
mer § 1. 2. 3. J. de j. nat. (1.
2.). L. 6 pr. L. 9 de J. et J.
(1. 1.); 4) noch enger, das Rö-
miſche Recht mit Ausſchluß des
honorarium L. 7 de J. et J.
(1. 1.); 5) noch enger dasjenige,
was keinen ſpezielleren Namen
führt. L. 2 § 5. 6. 8. 12 de orig.
jur. (1. 2.).
(w) Ich ſage alſo nicht, daß
es überall wirkte, ſondern daß
es dazu an ſich fähig war. So
z. B. wirkten die Edictalgeſetze
der Kaiſer zwar in der Regel
überall im Reich, aber ſie konn-
ten durch ihren Inhalt auch auf
eine einzelne Provinz oder Stadt
beſchränkt ſein. Die Reſponſa
und urſprünglich auch die Re-
ſcripte, wirkten nur in der ein-
zelnen Sache, alſo höchſt be-
ſchränkt, aber dieſe ihre be-
|0173 : 117|
§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.
häufig dieſes Jus civile auch bezeichnet wird als Lex und
quod legis vicem obtinet (x), und wenn die alten Juri-
ſten bey einzelnen Rechtsquellen mit Sorgfalt bemerken,
daß dieſes letzte von ihnen geſagt werden könne (y). Es
hatte aber dieſer rein praktiſche Unterſchied folgenden tie-
feren Grund. Durch Volksſchlüſſe, Senatusconſulte, Kai-
ſerconſtitutionen wurde in der That neues Recht erzeugt.
Der Prätor dagegen ſprach in ſeinem Edict nicht aus,
was hinfort Recht ſeyn ſolle (wozu er gar nicht befugt
war), ſondern was er als Recht anſehn und handhaben
werde, ſo daß er blos ſeine eigene amtliche Thätigkeit
voraus ankündigte. Daher wurden jene Rechtsregeln als
ipso jure, dieſe als jurisdictione, tuitione Praetoris gül-
tig, bezeichnet. Dieſer Gegenſatz wird noch klarer hervor-
treten durch die Vergleichung mit anderen, ſchon vorge-
kommenen Gegenſätzen. — Daß das Jus honorarium ganz
ſchränkte Wirkſamkeit konnte in
jedem Theil des Reichs eintreten.
Das Edict einer Obrigkeit dage-
gen hatte ſchon ſeiner Natur nach
nur Gültigkeit in den Gränzen
des Bezirks, worin der Urheber
deſſelben Gerichtsbarkeit hatte.
(x) Gajus IV § 118. „Ex-
ceptiones … omnes vel ex le-
gibus, vel ex his quae legis
vicem obtinent substantiam
capiunt, vel ex jurisdictione
Praetoris proditae sunt.” L. 14
de condit. inst. (28. 7.). —
Daſſelbe, was hier Gajus zufäl-
lig von den Exceptionen ſagt,
gilt eben ſo auch von den Klagen.
(y) Legis vicem haben: 1) die
Senatusconſulte. Gajus I § 4. —
2) die Kaiſerconſtitutionen. Ga-
jus I §. 5. L. 1 pr. de const.
(1. 4.). (Ja ſogar die imperia-
les contractus. L. 26 C. de don.
int. vir. 5. 16.) — 3) Die Re-
ſponſa. Gajus I § 7. — 4) Das
Gewohnheitsrecht. L. 32 § 1. L.
33 de leg. (1. 3.) „pro lege”
L. 38 eod. „vim legis” L. 3 C.
quae sit longa consu. (8. 53)
„legis vicem.” §. 9 J. de j. nat.
(1. 2.) „legem imitantur.”
|0174 : 118|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
zu dem geſchriebenen Recht gehört, folglich das ungeſchrie-
bene nur auf der Seite des Jus civile liegt, verſteht ſich
von ſelbſt. Zweifelhafter kann das Verhältniß des Jus
honorarium zu dem Jus gentium erſcheinen. Ganz falſch
würde es ſeyn, beide für identiſch zu halten, da das Edict
des Praetor urbanus theils vieles ſtreng Römiſche Recht
enthielt, theils auch nicht ſelten die utilitas abweichend
von den Regeln der naturalis ratio (§ 15), in Schutz
nahm (z). Eben ſo wenig aber darf der Gegenſatz des
Jus civile und honorarium als eine Unterabtheilung des
Jus civile (im Gegenſatz des Jus gentium) angeſehen wer-
den. Denn die Provinzialedicte enthielten gewiß neben
bloßem Partikularrecht auch vieles Jus gentium, und noch
vorherrſchender mußte dieſes in dem Edict des Peregri-
nenprätors ſeyn. Nur das läßt ſich als wirkliche Ver-
wandtſchaft beider Begriffe behaupten, daß aus dem all-
gemeinen im Jus gentium enthaltenen Element Vieles in
das Jus civile der Römer überging, und daß für dieſen
ſchon oben bemerkten Übergang das Jus honorarium ſehr
häufig als vermittelndes Organ diente. Endlich kann
man die noch allgemeinere Frage aufwerfen, ob das prä-
toriſche Recht, ſo weit es Neues enthielt, und beſonders
ſo weit es das Jus civile abänderte, Geſetz oder Gewohn-
heit war? Wir können jetzt als entſchieden annehmen,
daß es ſeine abändernde Kraft lediglich aus dem Gewohn-
(z) Beyſpiele ſolcher Conflicte
des Edicts mit dem jus gentium
ſind zuſammengeſtellt bey Düroi
Archiv. B. 6 S. 308. 309. 393.
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§. 22. Ausſprüche der Römer über die Rechtsquellen im Allg.
heitsrecht, nicht aus eigener Macht des Prätors, hernahm
(§ 25. t). Dennoch würden wir irren, wenn wir darum
den Prätor als bloßen Schreiber des Gewohnheitsrechts
anſehen wollten. Der Stoff freylich war ihm durch
Volksrecht gegeben; aber die daraus hervorgehende Fort-
bildung des Rechts im Einzelnen zu entwickeln und durch-
zuführen (corrigendi juris civilis) war ihm mit großer
Freiheit überlaſſen, eben ſo wie die Ergänzung des Civil-
rechts, wo dieſes unvollſtändig war (supplendi juris civi-
lis) (aa). In der That alſo wurde die Fortbildung des
Rechts großentheils durch den Prätor beſorgt, aber durch
den jährlichen Wechſel der Prätoren bekam die Leitung
dieſes Geſchäfts doch wieder etwas Volksmäßiges, wie-
wohl mit ariſtokratiſchem Character.
Alles, was bisher über die allgemeine Anſicht der Rö-
mer von den Rechtsquellen geſagt worden iſt, kann nur
von der Zeit gelten, in welcher die Rechtswiſſenſchaft noch
einiges Leben erhielt. Nach dieſer Zeit, alſo von den
chriſtlichen Kaiſern an, änderte ſich die Anſicht von Grund
aus. Nun gab es als Rechtsquellen nur Leges und
Jus, d. h. kaiſerliche Edicte und wiſſenſchaftlich verarbei-
(aa) Der ſcheinbare Wider-
ſpruch ſolcher Stellen, die den
Stoff des Edicts auf Gewohn-
heit zurückführen (§ 25. t) mit
andern, welche das Edict dem
Gewohnheitsrecht entgegenſetzen,
wie Gajus III § 82: „neque
lege XII tab., neque praetoris
edicto, sed eo jure quod con-
sensu receptum est und § 3—9
J. de j. nat. (1. 2.) löſt ſich ſchon
durch die Bemerkung, daß in
den Stellen dieſer letzten Art
nur dasjenige als Gewohnheits-
recht bezeichnet wird, was in die-
ſer ſeiner urſprünglichen Geſtalt
geblieben, und nicht in das Edict
aufgenommen worden iſt.
|0176 : 120|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
tetes Recht (§ 15 a), in welchen Formen ſich jetzt alle
frühere aufgelöſt hatten. Valentinian III. brachte dieſen
Gebrauch der Litteratur in den Gerichten auf feſte Re-
geln (§ 26). Noch weit einfacher wurden die Rechtsquel-
len durch Juſtinians Geſetzgebung, Er ſanctionirte einen
Theil der vorhandenen rechtswiſſenſchaftlichen Litteratur
als Geſetz, ſetzte den weit größeren übrigen Theil außer
Kraft, und verbot für die Zukunft die Entſtehung einer
neuen (§ 26). Indem nun alſo die Digeſten nicht mehr
als Jus, ſondern als eine Lex galten, konnte man ſagen,
daß es keine andere Rechtsquellen mehr gebe, als Kaiſer-
conſtitutionen: nur etwa noch mit Hinzurechnung einiges
Gewohnheitsrechts, von deſſen dürftiger Geſtalt ſogleich
weiter die Rede ſeyn wird. — Auch die allgemeinen Ge-
genſätze von Jus civile und gentium, civile und honora-
rium, waren in Juſtinians Geſetzgebung, wie es hier in
der That geſchehen iſt, nur noch hiſtoriſch zu erwähnen,
da ſie ihre praktiſche Wichtigkeit gänzlich verloren hatten,
wenn auch nicht alle praktiſche Anwendbarkeit. Denn es
war noch jetzt Regel, daß nur der Römiſche Bürger eine
vollgültige Ehe ſchließen, väterliche Gewalt erwerben, ein
Teſtament machen, und zum Erben eingeſetzt werden könne.
Aber freylich waren die Peregrinen, denen dieſer Theil der
Rechtsfähigkeit ſtets verſagt blieb, nur noch die Auslän-
der, alſo vom Standpunct der Römer aus, und für Rö-
miſche Gerichte, jetzt unbedeutend. Und auch für ſie wurde
noch ein großer Theil des praktiſchen Unterſchieds dadurch
|0177 : 121|
§. 23. Ausſprüche der Römer über die Geſetze.
weggeräumt, daß die Inteſtaterbfolge ſeit der Novelle 118
nicht mehr durch Agnation bedingt ſeyn ſollte. — Neues
Jus honorarium entſtand ſchon längſt nicht mehr, und
darum konnte auch nicht mehr von den geographiſchen
Gränzen ſeiner Anwendbarkeit die Rede ſeyn.
§. 23.
Ausſprüche der Römer über die Geſetze.
Quellen:
Dig. I. 3. 4.
Cod. Just. I. 14. 15. 19. 22. 23.
Cod. Theod. I. 1. 2. 3.
Was uns über die älteren Formen der Geſetzgebung
in den Rechtsquellen aufbewahrt iſt, hat eine ſehr dürftige
Geſtalt. Es ſind faſt nur Gemeinplätze, Anweiſungen für
das Benehmen des Geſetzgebers, woraus wenig zu lernen
iſt (a). Ohne Zweifel fanden ſich bey den alten Juriſten
lehrreiche Nachrichten über die Stellung jeder Art der
Volksſchlüſſe im alten Staatsrecht, ſo wie über die geſetz-
gebende Gewalt des Senats: aber dieſe hatten zu wenig
Beziehung auf die Zeit Juſtinians, als daß eine Aufnahme
in ſeine Sammlungen erwartet werden konnte (b).
Wichtiger und zuſammenhängender ſind die Nachrich-
ten und Regeln über die Kaiſergeſetze; dieſe waren noch
in Juſtinians Reich anwendbar, und theilweiſe iſt auch
(a) L, 3—6. 8. 10—12, de leg.
(1. 3.).
(b) Schon die wenigen und
verſtümmelten Worte bey Ulpian.
tit. de leg. § 3 beſtätigen dieſe
Vermuthung. Vgl. Blume,
Zeitſchriftt f. geſchichtl. Rechts-
wiſſ. IV. 367.
|0178 : 122|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
auf unſren Zuſtand eine Anwendung wenigſtens denkbar.
Gajus und Ulpian ſagen übereinſtimmend, alle Constitu-
tiones hätten legis vicem, weil jeder Kaiſer durch eine
lex ſein imperium erhalte (c): und ſie zählen drey Arten
derſelben auf, Edicte, Decrete und Reſcripte, zu denen
wir noch die Mandate hinzufügen müſſen.
I. Edicte. Nicht nur ihr Name, ſondern auch die
Berechtigung zu denſelben, knüpft ſie unmittelbar an das
Staatsrecht der Republik an. Es waren Vorſchriften, die
der Kaiſer vermöge einer ihm zuſtehenden Magiſtratur
erließ, ſo wie es vor der Kaiſerzeit und noch lange wäh-
rend derſelben, die Prätoren, Proconſuln u. ſ. w. auch tha-
ten. Daß nicht gleich Anfangs dieſe Form zu den wich-
tigſten Handlungen der höchſten Gewalt gebraucht wurde,
erklärt ſich zunächſt aus dem lange anhaltenden Beſtreben
der Kaiſer, mit den alten gewohnten Formen zu herrſchen:
dann auch daraus, daß jene Form, ſo lange ſie ſich ſtreng
in ihren hergebrachten Gränzen hielt, für allgemeine Ge-
ſetzgebung nicht ganz paſſend war. Denn wenn der Kai-
ſer in ſeiner tribunicia oder proconsularis potestas ein
Edict erließ, ſo galt jenes nur in Rom, wie die Tribu-
nengewalt ſelbſt: dieſes nur in den Provinzen, und zwar
(c) Gajus I § 5. — L. 1 de
const. princ. (1. 4.) von Ulpian,
daraus genommenen § 6 J. de j.
nat. (1. 2.). Die Unterſuchung,
wie in den Digeſten und Inſti-
tutionen die lex regia einen an-
dern als den urſprünglichen Sinn
erhalten hat, gehört nicht hier-
her. — Gewöhnlich alſo bezeich-
net constitutio die ganze Gat-
tung, zuweilen nur die Edicte,
im Gegenſatz der Reſcripte L. 3
C. si minor. (2. 43.).
|0179 : 123|
§. 23. Ausſprüche der Römer über die Geſetze.
nur in denen, die dem Kaiſer zugetheilt waren. Erſt nach-
dem der Begriff des Kaiſers, als des ſouveränen magi-
stratus für das ganze Reich, entwickelt und anerkannt
war, konnten ſeine Edicte als Reichsgeſetze angeſehen wer-
den, und es iſt deshalb ſehr merkwürdig, daß ihnen ſchon
Gajus legis vicem zuſchreibt, ſie alſo für unabhängig von
irgend einem Amtsſprengel erklärt, anſtatt daß alle andere
Edicte die Beſchränkung auf einen ſolchen Sprengel als
Grundcharacter haben, und ſich dadurch von der lex et
quod legis vicem obtinet ſcharf unterſcheiden (§ 22). Den-
noch finden ſich ſchon in den erſten Jahrhunderten nicht
wenige ganz ſichere Kaiſerliche Edicte: als ſicher aber
ſehe ich nur die in den Rechtsquellen mit dieſer Bezeich-
nung angeführte an, da bey den Geſchichtsſchreibern auf
eine gleich ſtrenge Beobachtung des techniſchen Sprachge-
brauchs nicht zu rechnen iſt (d).
(d) Ich will hier eine Über-
ſicht ſicherer Edicte geben, die
ohne Zweifel noch ſehr vermehrt
werden kann. Vier von Au-
guſt L. 2 pr. ad Sc. Vell.
(16. 1.), L. 26 de lib. (28. 2.),
L. 8 pr. de quaest. (48. 18.),
Auct. de j. fisci § 8. — Clau-
dius vier. L. 2 pr. ad Sc. Vell.
(16. 1.), L. 15 pr. ad L. Corn.
de falsis (48. 10.), L. 2 qui
sine man. (40. 8.), L. un. § 3
C. de lat. lib. (7. 6.), Ulpian.
III § 6. — Vespaſian zwey.
L. 4 § 6 de legat. (50. 7.), L.
2 C. de aed. priv. (8. 10.). —
Domitian. L. 2 § 1 de cust.
(48. 3.). — Nerva. L. 4 pr.
ne de statu (40. 15.). — Tra-
jan vier. L. 6 § 1 de extr. crim.
(47. 11.), Gajus III § 172, § 4
J. de succ. lib. (3. 7.), L. 13
pr. § 1 de j. fisci (49. 14.),
Auct. de j. fisci § 6. — Ha-
drian zwey. Gajus I § 55. 93.
L. 3 C. de ed. D. Hadr. (6.
33.). — Pius L. 11 de muner.
(50. 4.). — Marcus drei. § 14
J. de usuc. (2. 6.), L. 24 § 1
de reb. auct. jud. (42. 5.), L.
3 C. si adv. fiscum (2. 37.). —
Severus. L. 3 § 4 de sep.
viol. (47. 12.). — Außerdem
aber kommen als Edicte auch
|0180 : 124|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Da nun die Edicte als wahre Geſetze allgemein ver-
bindliche Kraft haben ſollten, im Gegenſatz der übrigen
Conſtitutionen, ſo war es wichtig, ſichere Kennzeichen dafür
zu haben. Dieſe werden in einem Edict von Theodos II. und
Valentinian III. ſo angegeben: der Name edictum oder gene-
ralis lex, die Mittheilung an den Senat durch eine oratio,
die Bekanntmachung durch die Statthalter der Provinzen,
endlich die der Conſtitution eingerückte Beſtimmung, daß
ſie für Alle verbindliche Kraft haben ſolle; jedes dieſer
Kennzeichen ſollte für ſich allein, auch ohne die übrigen,
hinreichen (e). Es wurde daher dieſe Eigenſchaft nicht
ausgeſchloſſen durch die ſpecielle, in einem einzelnen Rechts-
fall liegende Veranlaſſung, wie dieſes die angeführte Con-
ſtitution ausdrücklich ſagt: eben ſo nicht durch den Um-
ſtand, daß der Inhalt nicht auf alle Römer, ſondern auf
eine einzelne Klaſſe, gerichtet war (f), da auch dieſe Vor-
ſchriften von Allen gekannt und reſpectirt werden ſollten:
endlich nicht durch die Richtung an eine einzelne Obrig-
keit, auf deren Anfrage vielleicht das Geſetz erlaſſen wor-
den war (g). — Außerdem erklärten dieſelben Kaiſer, wie
ſolche Bekanntmachungen an das
Volk vor, worin gar kein Rechts-
ſatz aufgeſtellt werden ſollte, z. B.
das des Nerva bey Plinius epist.
X 66.
(e) L. 3 C. de leg. (1. 14.).
(f) Was unſre Juriſten ein jus
singulare nennen. So z. B. be-
trafen Edicte von Auguſt und
Claudius die Bürgſchaften der
Frauen, ein Edict von Auguſt
verbot die Enterbung der Sol-
daten. L. 2 pr. ad Sc. Vell.
(16. 1.), L. 26 de lib. (28. 2.).
Das waren darum dennoch (nach
dem ſpäteren Sprachgebrauch)
generales leges. Hierüber irrt
Güyet Abhandlungen S. 42.
(g) Bey weitem die meiſten
Kaiſergeſetze, namentlich die von
|0181 : 125|
§. 23. Ausſprüche der Römer über die Geſetze.
ſie künftig ihre Edicte unter Mitwirkung des Senats aus-
arbeiten laſſen würden (h), wodurch ſie jedoch gewiß nicht
ſagen wollten, daß die Geſetzeskraft von der Beobachtung
dieſer Form abhängig ſeyn ſollte. — Endlich wird auch
noch die Nothwendigkeit der Bekanntmachung der Geſetze
anerkannt, jedoch ohne Beſtimmung einer Form für die-
ſelbe, die doch allein praktiſchen Werth haben kann (i).
II. Decrete. Darunter verſteht man jede Ausübung
des kaiſerlichen Richteramts, ſowohl durch Interlocute als
durch Endurtheile (k). Wenn auch dieſen, wie allen an-
dern Conſtitutionen, Geſetzeskraft für den einzelnen Fall
beygelegt wird, ſo ſcheint das nicht conſequent, da ſie
vielmehr als richterliche Entſcheidungen angeſehen werden
mußten, die ſtets rechtskräftig waren, weil ſie von der
höchſten Inſtanz im Reich ausgingen. Jene Vorſtellungs-
weiſe erklärt ſich vielleicht daraus, daß die ganze Gerichts-
barkeit des Kaiſers etwas außerordentliches war, worauf
Juſtinian, ſind an einen Beam-
ten, z. B. einen Praefectus prae-
torio gerichtet, und man konnte
ſie nach dieſer Form auch Re-
ſcripte nennen; aber Niemand
zweifelte, daß ſie wahre edicta,
generales leges, leges edictales
ſeyen, und darum war bey ihnen
der an ſich paſſende Ausdruck
rescriptum nicht üblich. Eine
Vergleichung neuerer Einrichtun-
gen wird dieſes anſchaulicher ma-
chen. Was durch die Preußiſche
Geſetzſammlung publicirt wird,
hat völlig gleiche Geſetzeskraft,
es mag nun Geſetz oder Verord-
nung heißen, alſo unmittelbar
an alle Unterthanen und Beamte
gerichtet ſeyn, oder aber in einer
Kabinetsordre an das Staatsmi-
niſterium, oder einen einzelnen
Miniſter beſtehen. Vgl. § 24
Note e.
(h) L. 8 C. de leg. (1. 14.).
(i) L. 9 C. de leg. (1. 14.).
(k) L. 1 § 1 de const. princ.
(1. 4.) „Quodcunque igitur
Imp.... vel cognoscens decre-
vit, vel de plano interlocutus
est … legem esse constat.”
|0182 : 126|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
der alte Begriff von judicium und res judicata nicht un-
mittelbar paßte; man wollte alſo recht entſchieden aus-
drücken, daß die Urtheile des Kaiſers nicht minder als die
eines judex, ja noch kräftiger, das ſtreitige Rechtsverhält-
niß unabänderlich feſtſtellten. — In der Sache ſelbſt war
denn allerdings kein weſentlicher Unterſchied von dem
rechtskräftigen Urtheil eines Richters; denn auch hier ſollte
die Wirkung beſchränkt ſeyn auf den vorliegenden Rechts-
fall, und ſelbſt die in der Entſcheidung enthaltene Regel
ſollte auf andere Fälle, als geſetzlich feſtgeſtellt, nicht an-
gewendet werden dürfen. Freylich die Kraft einer großen
Autorität konnte man der in einem Decret angewendeten
Regel nicht verſagen: und daher erklärt es ſich, wenn
Sammlungen ſolcher Decrete von den Juriſten angelegt
wurden (l), und wenn einzelne Decrete zur Ausbildung
und Anerkennung ganz neuer Rechtsſätze Veranlaſſung
gaben (m).
Bey dieſer beſchränkten Wirkſamkeit der Decrete hat
es Juſtinian zum Theil gelaſſen, nämlich inſoferne von In-
terlocuten die Rede iſt: denn in den Codex iſt eine frü-
here Conſtitution aufgenommen, die für die Interlocute
dieſes ausdrücklich vorſchreibt (n). Dagegen hat er für
(l) Pauli libri tres decreto-
rum. Ferner die Sammlung
Hadrianiſcher Decrete von Doſi-
theus.
(m) Z. B. das decretum D.
Marci über die Selbſthülfe L.
13 quod metus (4. 2.), L. 7 ad
L. J. de vi priv. (48. 7.).
(n) L. 3 C. de leg. (1. 14.)
„… interlocutionibus, quas in
uno negotio judicantes protu-
limus vel postea proferemus,
non in commune praejudican-
|0183 : 127|
§. 23. Ausſprüche der Römer über die Geſetze.
die Kaiſerlichen Endurtheile eine ausgedehntere Wirkſam-
keit vorgeſchrieben, ſo daß die in ihnen ausgeſprochene
Rechtsregel auch in allen künftigen Fällen als Geſetz an-
gewendet werden ſollte (o). Schon aus der Faſſung dieſer
Verordnung geht es hervor, daß bis dahin ein anderes
Recht galt, und daß alſo etwas Neues eingeführt werden
ſollte; wenn ſich der Kaiſer dabey auf die übereinſtimmende
Meynung der alten Juriſten beruft, ſo giebt er ihren Worten
eine willkührliche Deutung, indem ſie gewiß nur an die
Geſetzeskraft der Decrete für den einzelnen Fall dach-
ten (p). In der That aber ließ ſich für dieſe Neuerung
Vieles ſagen, wenigſtens fielen die Bedenken weg, die
einer ähnlichen Behandlung der Reſcripte im Wege ſtan-
den. Denn eine Täuſchung des Kaiſers durch einſeitige
Vorträge war hier nicht möglich, wo beide Theile gehört
worden waren, und den Mangel einer öffentlichen Be-
kanntmachung erſetzte gewiſſermaßen die mit dem Gerichts-
hof des Kaiſers verbundene Feyerlichkeit und Publicität (q).
tibus” (im Gegenſatz der vorher
beſtimmten Geſetzeskraft für die
Edicte).
(o) L 12 pr. C. de leg. (1.
14.) „Si imperialis majestas
causam cognitionaliter exami-
naverit, et partibus cominus
constitutis sententiam dixerit:
omnes omnino judices … sciant
hanc esse legem non solum illi
causae, pro qua producta est,
sed et omnibus similibus.” Ge-
wöhnlich nimmt man zwiſchen
dieſer Stelle und der in der vo-
rigen Note angeführten einen
Widerſtreit an: allein die zwey Ar-
ten der Decrete ſind ja hier eben
ſo deutlich unterſchieden, wie ſie
Ulpian unterſcheidet (Note k).
(p) L. 12 cit. „… cum et
veteris juris conditores, con-
stitutiones quae ex imperiali
decreto processerunt, legis vim
obtinere, aperte dilucideque
definiant”: Am unmittelbarſten
ſcheint hier gedacht an Gajus
I § 5.
(q) Die Decrete dieſer Art kön-
|0184 : 128|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Vor Juſtinian alſo hatten alle Decrete nur in dem vor-
liegenden Rechtsfall Geſetzeskraft: durch ſeine neue Verord-
nung wurde den Endurtheilen eine ausgedehntere Wirk-
ſamkeit gegeben, indem die in ihnen enthaltene Rechtsregel
als allgemeines Geſetz angeſehen werden ſollte.
Die Natur dieſes Gegenſatzes iſt von den neueren Ju-
riſten großentheils misverſtanden worden. Sie haben ihn
verwechſelt erſtlich mit der Beſchränkung der Rechtskraft
auf die Parteyen in dieſem Prozeß. Allein die Rechts-
kraft betrifft das einzelne Rechtsverhältniß, und dieſe ſollte
auch hier nicht ausgedehnt werden; hatte alſo der Kaiſer
in einem Erbſchaftsſtreit zwiſchen zwey Perſonen entſchie-
den, ſo ſollte auch dieſe höchſte Entſcheidung einer dritten
Perſon weder nutzen noch ſchaden. Zweytens haben ſie
den Gegenſatz verwechſelt mit dem einer ſtrengen und aus-
dehnenden Interpretation. Auch davon iſt hier gar nicht
die Rede, ſondern vielmehr von der zuläſſigen oder unzu-
läſſigen Anwendung derſelben (nicht ausgedehnten) Rechts-
regel auf künftige, völlig gleiche Rechtsfälle.
§. 24.
Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.
III. Reſcripte(a). Rescriptum heißt wörtlich eine
Rückſchrift, ein Antwortſchreiben. Dieſes konnte in Be-
nen mit den Deciſionen unſrer
Oberappellationsgerichte vergli-
chen werden.
(a) Schulting diss. pro re-
scriptis Imp. Rom. (Comm.
acad. Vol. 1 N. 3). Güyet Ab-
handlungen N. 4.
|0185 : 129|
§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.
ziehung auf die äußere Form, in verſchiedener Weiſe
erlaſſen werden: blos am Rande des empfangenen Schrei-
bens (adnotatio, snbscriptio): in einem abgeſonderten
Briefe (epistola): endlich in einer feyerlicheren Ausferti-
gung (pragmatica sanctio), deren canzleymäßige Geſtalt
wir nicht genau kennen (b). Allen dieſen Reſcripten wird
die Gültigkeit einer Lex zugeſchrieben, jedoch weſentlich
verſchieden durch engere Gränzen von der Gültigkeit der
Edicte. Was iſt nun darunter zu verſtehen? Damit
ihnen dieſe eigenthümliche Natur einer begränzten Gültig-
keit zukomme, müſſen wir nothwendig etwas hinzudenken,
was in jenem durch Form und Veranlaſſung beſtimmten
Begriff noch nicht enthalten iſt. Es giebt alſo Kaiſerliche
Briefe, die noch weniger Kraft haben, alſo überhaupt gar
nicht einer Lex ähnlich wirken: andre, die ſtärker wirken,
frey von jenen engen Gränzen; beide müſſen wir abrech-
nen, und nur von den übrig bleibenden, in der Mitte lie-
genden, kann hier die Rede ſeyn: nur dieſe können uns
als Reſcripte im techniſchen Sinn gelten.
(b) Dieſe Form ſollte eigent-
lich nur bey wichtigeren Gelegen-
heiten gebraucht werden, nämlich
nur bey Reſcripten über Ange-
legenheiten des öffentlichen Rechts,
und zwar in Beziehung auf Cor-
porationen. L. 7 C. de div. re-
scr. (1. 23.). Daß jedoch dieſe
Beſchränkung nicht allgemein be-
obachtet wurde, zeigt ganz klar
Const. Summa § 4: „Si … pra-
gmaticae sanctiones … alicui
personae impertitae sunt” ....
Sehr reichhaltiges Material zu
dieſer Unterſuchung findet ſich in
J. H. Böhmer exerc. ad Pand.
l. ex. 12. C. 1, der jedoch darin
irrt, daß er jene geſetzliche Be-
ſchränkung der Anwendung der
pragm. sanct. als den Begriff
derſelben behandelt.
9
|0186 : 130|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Alſo weniger Kraft als eigentliche Reſcripte haben
zuvörderſt alle Briefe von nicht geſchäftlichem Inhalt, die
ohnehin Jeder ſtillſchweigend wegdenkt, obgleich Name und
Form ſie nicht ausſchließen. Aber auch unter den geſchäft-
lichen, die wir als Verfügungen bezeichnen können, müſſen
wir ferner unterſcheiden diejenigen, welche gar nicht eine
Regel anwenden, ſondern bloße Willkühr ausüben wollen,
wie z. B. individuelle Ausnahmen von der Anwendung
der Geſetze (§ 16), Unterſtützungen, Verweiſe (c). Dieſe
haben in ihrer Wirkung zwar gleiche Kraft mit einer Lex,
nämlich für die Perſon und den Fall wofür ſie erlaſſen
ſind, und jeder Richter hat ſie als ſolche zu reſpectiren.
Dagegen können ſie durchaus nicht als Autorität eine
Regel darbieten für die Behandlung anderer Fälle, da ſie
ſelbſt ja überhaupt auf keiner Regel beruhen.
Mehr Kraft als eigentliche Reſcripte haben auf der
andern Seite diejenigen Anſchreiben, welche eine Regel
als ſolche zur allgemeinen Befolgung vorſchreiben, und
zu dieſem Zweck öffentlich bekannt gemacht werden. Dieſe
ſind wahre Geſetze von unbegränzter Gültigkeit, bey wel-
chen die zufällig gewählte Briefesform, ſelbſt auch die
Veranlaſſung durch Frage oder Antrag, worauf ſie geſetz-
gebend antworten, durchaus keinen Unterſchied von ande-
ren Geſetzen begründen kann. In früherer Zeit zwar
(c) Sie heißen personales
constitutiones. L. 1 § 2 de const.
(1. 4.), § 6 J. de j. nat. (1. 2.).
Neuere Schriftſteller nennen ſie
Gnadenreſcripte, was jedoch zu
eng iſt, und z. B. auf Verweis
und Beſtrafung gewiß nicht paßt.
|0187 : 131|
§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.
nannte man auch dieſe, von ihrer äußeren Form her, Ge-
neralbriefe oder Generalreſcripte (d), ohne dadurch eine
begränzte Gültigkeit andeuten zu wollen. Späterhin aber,
als dieſe Form der Geſetzgebung die vorherrſchende wurde,
wandte man auch nicht einmal dieſen Namen ferner auf
ſie an, ſondern begriff ſie unter dem allgemeinen Namen
leges, edicta, edictales constitutiones (e). Die öffentliche
Bekanntmachung, die aus der Geſtalt, worin wir ſie ken-
nen, meiſt nicht erhellt, verſtand ſich dabey von ſelbſt,
(d) L. 1 § 2 de fugit. (11. 4.)
„Est etiam generalis epistola
D. Marci et Commodi, qua de-
claratur, et praesides et ma-
gistratus, et milites stationarios
dominum adjuvare debere in
inquirendis fugitivis” etc. L. 3
§ 5 de sepulchro viol. (47. 12.)
„D. Hadrianus rescripto poe-
nam statuit quadraginta aureo-
rum in eos qui in civitate se-
peliunt, quam fisco inferri jus-
sit, et in magistratus eadem
qui passi sunt … quia genera-
lia sunt rescripta, et oportet
Imperialia statuta suam vim
obtinere et in omni loco va-
lere.” — Eben dahin gehört viel-
leicht die epistola D. Hadriani
über die Bürgſchaften § 4 J. de
fidej. (3. 20.). Gajus III § 121.
122. — In den beiden zuerſt
genannten Fällen eignete ſich die
Sache zu dieſer Behandlung durch
ihre polizeyliche Natur. Solche
Reſcripte waren daſſelbe, was
wir Circularreſcripte nennen, an
viele Behörden zu gleicher Zeit
gerichtet.
(e) So z. B. nennt Juſtinian
in L. 5 pr. C. de receptis (2.
56.) ſeine eigene frühere Verord-
nung (L. 4 eod.) eine lex, ob-
gleich dieſelbe ein Anſchreiben an
den Praefectus praetorio gewe-
ſen war. Noch entſcheidender iſt
hierin der Theodoſiſche Codex,
der faſt ganz aus ſolchen An-
ſchreiben beſteht, und deſſen Be-
ſtandtheile dennoch von dem Ur-
heber ſelbſt als „constitutiones …
edictorum viribus aut sacra
generalitate subnixae”, und
„edictales generalesque consti-
tutiones” bezeichnet werden. L.
5. 6 C. Th. de const. (1. 1.) ed.
Hänel. — Hierüber irrt Güyet
S. 84, der ſich durch die äußere
Form dieſer Anſchreiben verleiten
läßt, ſie unter die Reſcripte zu
zählen und den Edicten entgegen
zu ſetzen, woraus er dann ferner
Folgerungen für die wahren ei-
gentlichen Reſcripte ableitet, vgl.
oben § 23 Note g.
9*
|0188 : 132|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
und wurde von den Staatsbeamten, an die ſie gerichtet
waren, nach allgemeinen Vorſchriften bewirkt, ohne daß
es dazu in jedem einzelnen Fall einer beſonderen Anwei-
ſung bedurfte; zuweilen jedoch wurde dieſe Anweiſung in
der Verordnung ſelbſt ausgedrückt (f). Eben ſo konnten
auch die pragmaticae sanctiones eigentliche Geſetze ſeyn (g),
ſo daß bey ihnen wie bey den weniger förmlichen epistolae
immer noch Etwas hinzugedacht werden muß, wenn ſie
in das Gebiet der eigentlichen, in ihrer Gültigkeit begränz-
ten Reſcripte fallen ſollen.
Was iſt es nun alſo, das die eigentlichen Reſcripte
characteriſirt, und von den Edicten ſtreng unterſcheidet?
Es iſt ihre Beſtimmung, lediglich auf einen einzelnen
Rechtsfall einzuwirken, womit denn von ſelbſt verbunden
iſt der Mangel jeder öffentlichen Bekanntmachung. Da-
gegen haben ſie mit anderen Conſtitutionen das gemein,
daß ſie auf einer Regel beruhen, und dieſe Regel aus-
ſprechen, jedoch nur zum Zweck dieſer concreten Anwen-
dung. Übrigens kommen bey ihnen folgende wichtige Un-
terſchiede vor.
1. Sie werden erlaſſen auf die Anfrage bald einer
einzelnen Partey (libellus), bald einer Richterbehörde (h).
Dieſes letzte kommt beſonders in der wichtigen, zu einer
(f) Z. B. in L. un. C. de
grege domin. (11. 75.). Andere
Stellen ſind geſammelt bey Gü-
yet S. 74.
(g) So z. B. Juſtinians San-
ctio pragmatica pro Petitione
Vigilii über die Einrichtung von
Italien nach der vollendeten Ero-
berung.
(h) L 7 pr. C. de div. rescr.
(1. 23.).
|0189 : 133|
§. 21. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.
beſonderen Prozeßform ausgebildeten Anwendung vor, da
ein Richter den Kaiſer bittet, ihm das auszuſprechende
Urtheil vorzuſchreiben (relatio, consultatio). Hier erſcheint
der Kaiſer nicht ſelbſt als Richter, ſondern als Urtheils-
faſſer für einen andern Richter, ganz wie unſre Juriſten-
facultäten bey der Actenverſendung. Daher wird eine
ſolche Verfügung und die Reſcripte nicht unter die De-
crete gerechnet. Juſtinian hat dieſe Conſultationen ver-
boten, was jedoch nicht ſo unbedingt verſtanden werden
darf, als es nach den Worten ſcheinen könnte (i).
2. Die in ihnen enthaltene Regel iſt bald mit der ein-
zelnen Entſcheidung verwebt, bald abgeſondert ausgeſpro-
chen, und dann als Grund der Entſcheidung benutzt, ſo
daß ſie in derſelben Geſtalt auch als Geſetz hätte aufgeſtellt
werden können, was nur hier nicht geſchehen iſt. Solche
Reſcripte heißen generalia reseripta, in einem andern Sinn,
als in welchem der Ausdruck oben vorgekommen iſt (k).
(i) Über die Conſultationen
vgl. überhaupt Hollweg Civil-
prozeß I § 10. — Die Aufhebung
derſelben iſt enthalten in der
Nov. 125 vom J. 544. Daß dieſe
Aufhebung nicht unbedingt gelten
ſollte, kann erſt in der Lehre von
der Auslegung der Geſetze § 48
gezeigt werden. Außerdem aber
verſteht es ſich von ſelbſt, daß
wenn ein Richter, trotz des Ver-
bots dennoch anfragte, und der
Kaiſer ſich zu einer Antwort ent-
ſchloß, der Richter daran ſo gut
als vor der Nov. 125 gebunden
war. Eben ſo wenn der Kaiſer
aus eigener Bewegung oder auf
Bitte einer Partey, ein Reſcript
an den Richter erließ. Die
Wirkung der Reſcripte auf einen
einzelnen Rechtsſtreit war alſo
jetzt zwar beſchränkt worden, aber
keinesweges ganz aufgehoben.
(k) L. 89 § 1 ad L. Falc.
(35. 2.) „generaliter fescripse-
runt”, L. 1 § 3 de leg. tut. (26.
4.) „generaliter rescripsit”, L.
9 § 2 de her. inst. (28. 5.) „re-
scripta generalia”, L. 9 § 5 de
jur. et facti ign. (22. 6.) „ini-
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Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
3. Die von ihnen angewendete Regel iſt oft ſchon in
dem bisherigen Recht vollſtändig enthalten, ſo daß der
Kaiſer in derſelben Weiſe, wie ein reſpondirender Juriſt,
thätig iſt; oft aber wird in dem Reſcript das bisherige
Recht durch freye Interpretation fortgebildet. Dieſes ge-
ſchieht beſonders da, wo polizeyliche oder ſtaatswirth-
ſchaftliche Rückſichten die neue Regel beſtimmen, und wo
kein Recht einer andern Perſon dadurch gefährdet wird (l).
Die Wirkſamkeit der Reſcripte läßt ſich in folgenden
Regeln zuſammenfaſſen: 1) Sie ſollten Geſetzeskraft haben
für den einzelnen Fall, worin ſie erlaſſen waren. 2) Für
jeden andern Fall ſollten ſie dieſe Geſetzeskraft nicht haben.
3) Dagegen wirkten ſie auch auf andere Fälle mit der
Kraft einer großen Autorität.
Die Geſetzeskraft für den einzelnen Fall folgt daraus,
daß ihnen dieſelbe in den Digeſten und Inſtitutionen im
Allgemeinen beygelegt (§ 23), im Codex aber für jeden ande-
ren Fall, als für welchen ſie erlaſſen waren, abgeſprochen
wird, ſo daß die Anwendbarkeit der Geſetzeskraft gerade
tium constitutionis generale
est.” — Die in dieſen Stellen
angeführten Reſcripte beziehen
ſich auf einzelne Rechtsfälle, und
unterſcheiden ſich dadurch von
den in der Note d. angeführten
Generalreſcripten. Der Ausdruck
generale rescriptum ſoll aber
doch auf der andern Seite hier
mehr bedeuten, als blos den Ge-
genſatz gegen personalis consti-
tutio (Note c).
(l) Beide Rückſichten zugleich
erklären es, warum vorzüglich
die Lehre von den Excuſationen
ſo ſehr durch bloße Reſcripte er-
weitert wurde. Fragm. Vatic.
§ 191. 208. 247. — § 159. 206.
211. 215. 246. — Beſonders merk-
würdig iſt § 236, worin die Ab-
ſicht einer Neuerung geradezu
ausgeſprochen iſt: „quo rescripto
declaratur ante eos non ha-
buisse immunitatem.”
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§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung
nur für dieſen einzelnen Fall übrig bleibt. Sie hat hier
den Sinn, daß jeder über dieſen Fall urtheilende Richter,
dem das Reſcript vorgelegt wird, an deſſen Befolgung
ſtrenge gebunden iſt, ohne ſeiner eignen Überzeugung Raum
geben zu dürfen. Dieſe große Wirkung war vorzüglich
wichtig, wenn nicht ein Richter, ſondern eine Partey ſie
ausgewirkt hatte; hier erſcheinen ſie als ein der Perſon
erworbenes Recht, welches auch von Erben und Streit-
genoſſen, und auch noch nach längerer Zeit geltend ge-
macht werden konnte (m). Aber in demſelben Fall waren
ſie auch beſonders gefährlich, ſchon wegen der möglichen
Verfälſchung, noch weit mehr aber, weil ſie durch
unwahre oder einſeitige Darſtellung der Thatſachen bewirkt
ſeyn konnten. Gegen die Verfälſchung ſuchte man Schutz
in genauen Vorſchriften über Form und Kennzeichen der
Reſcripte (n). Wegen unrichtiger Darſtellung der That-
ſachen war es ſtets der Gegenpartey geſtattet, ein beſon-
deres Proceßverfahren einzuleiten (o). Damit hieng auch
die Vorſchrift zuſammen, daß jedes Reſcript ungültig ſeyn
ſollte, welches entweder mit dem Staatsintereſſe in Wi-
derſpruch ſtände, oder mit anerkannten Rechtsregeln (contra
jus) (p). Durch dieſe letzte Beſtimmung wollten nicht etwa
(m) L. 4. 12 (ſonſt 2 und
10) C. Th. de div. rescr. (1. 2.),
L. 1. 2 C. de div. rescr. (1. 23.).
(n) L. 3. 4. 6 C. de div. re-
scr. (1. 23.), L. 1 C. Th. eod.
(1. 2.).
(o) L. 7 C. de div. rescr.
(1. 23.), L. 2. 3. 4. 5. C. si con-
tra jus (1. 22.). Darauf bezieht
ſich auch die gegen Reſcripte (d.
h. gegen die auf ſie gegründete
Urtheile) zugelaſſene Appellation.
L. 1 § 1 de appell. (49. 1.).
(p) L. 2 (ſonſt 1) Cod. Th.
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Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
die Kaiſer der Fortbildung des Rechts durch ihre Re-
ſcripte entſagen; vielmehr war hier an ſolche Reſcripte
gedacht, worin die Kaiſer durch unwahre Darſtellung
verleitet ſeyn möchten, wider ihren Willen die beſtehenden
Rechtsregeln zu verletzen. — Erwägt man dieſe mit der
Geſetzeskraft der Reſcripte verbundenen Gefahren, ſo hätte
man es allerdings für zweckmäßiger halten mögen, wenig-
ſtens an die Parteyen gar keine Reſcripte in Rechtsſachen
zu erlaſſen, wie es auch in der That Trajan gehalten
haben ſoll: auch iſt durch dieſe Betrachtung Juſtinian zu-
letzt bewogen worden, den Richtern die Beachtung der
Privatreſcripte zu unterſagen, mithin die Geſetzeskraft der-
ſelben gänzlich aufzuheben (q).
Dagegen wurde den Reſcripten die Geſetzeskraft für
andere Fälle, als den, wofür ſie erlaſſen waren, wieder-
holt und auf das Beſtimmteſte abgeſprochen. Dieſes ge-
ſchah in beſonderer Anwendung auf die durch consultatio-
nes der Richter veranlaßte Reſcripte (r), bey welchen eine
de div. rescr. (1. 2.), L. 6 C.
si contra jus (1. 22.), L. 3. 7.
C. de precibus (1. 19.), Nov. 82.
C. 13.
(q) Capitolini Macrinus C.
13 „quum Trajanus nunquam
libellis responderit.” Er wollte
alſo nur an die Obrigkeiten Re-
ſcripte erlaſſen, nicht an Par-
teyen. Mehrere Reſcripte von
Trajan ſind zuſammengeſtellt von
Schulting diss. pro rescriptis
§ 15. — Juſtinian hat die Beach-
tung der Privatreſcripte verbo-
ten in der Nov. 113 C. 1 vom
J. 541.
(r) L. 11 (ſonſt 9) C. Th.
de div. rescr. (1. 2.), L. 2 C.
de leg. (1. 14.) „Quae ex re-
lationibus … vel consultatione
… statuimus … nec generalia
jura sint, sed leges faciant his
duntaxat negotiis atque perso-
nis, pro quibus fuerint pro-
mulgata.” L. 13 C. de sentent.
et interloc. (7. 45) „Nemo ju-
dex vel arbiter existimet, ne-
que consultationes, quas non
|0193 : 137|
§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.
ſolche weitere Wirkſamkeit noch am unbedenklichſten hätte
erſcheinen können; daraus folgte aber dieſelbe Einſchrän-
kung für die Privatreſcripte ſo ſehr von ſelbſt, daß es
nicht einmal nöthig ſchien ſie beſonders auszuſprechen.
Dieſe Einſchränkung hatte zunächſt den Grund, daß durch die
Rückſicht auf den einzelnen Rechtsfall, und beſonders auf den
vielleicht ganz unwahren Vortrag der Partey, auch die aus-
rite judicatas esse putaverit,
sequendum … cum non exem-
plis sed legibus judicandum
sit.” Dieſe letzte Stelle iſt in
zweyerley Rückſicht beſonders wich-
tig: erſtlich weil ſie in den hier
abgedruckten Worten ausdrücklich
ſagt, wovon die Rede iſt, näm-
lich von der Anwendung der ein-
mal angenommenen Regel auf
neue Fälle gleicher Art: zweytens
weil ſie mit den Conſultationen
(d. h. mit den durch dieſe veran-
laßten Reſcripten) zuſammenſtellt
die Urtheile mehrerer hohen Ge-
richtshöfe, aber nicht die des Kai-
ſers ſelbſt. Durch deren Aus-
laſſung iſt jeder Widerſpruch der
Stelle mit L. 12 pr. C. de leg.
(1. 14.) (§ 23 Note o.) ſehr vor-
ſichtig vermieden. Es wird alſo
unterſchieden zwiſchen den Ur-
theilsſprüchen des Kaiſers ſelbſt,
über eine vor ihm verhandelte
Sache, und den Urtheilen der
Richter, welchen nur ein Re-
ſcript des Kaiſers zum Grunde
lag. Denn dieſe letzten Urtheile
hatten mit jenen erſten weder
gleiche Publicität, noch gleiche
Zuverläſſigkeit, da in ihnen noch
immer ein Misverſtändniß über
den Sinn des Reſcripts denkbar
war. — Viele wollen ausnahms-
weiſe den Reſcripten eine allge-
meine Kraft beylegen, wenn ſie
eine authentiſche Interpretation
enthalten, weil L. 12 § 1 C. eod.
ſagt: „interpretationem, sive
in precibus, sive in judiciis,
sive alio quocunque modo
factam, ratam et indubitatam
haberi.” (Glück. I § 96 N. III.).
Allein gültig waren ja auch die
Reſcripte, ſogar wie Geſetze gül-
tig, nur beſchränkt auf den ein-
zelnen Fall. Hätte ihnen hier
Juſtinian eine allgemeine Gül-
tigkeit beylegen wollen, im Wi-
derſpruch mit den angeführten
andern Stellen, ſo würde er das
nicht in den beyläufigen Worten
sive in precibus angedeutet, ſon-
dern eben ſo ausdrücklich geſagt
haben, wie er es unmittelbar
vorher von den Decreten wirk-
lich geſagt hat.
|0194 : 138|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R
geſprochene Regel ſelbſt leicht eine ſo einſeitige Geſtalt
erhalten konnte, daß ihre allgemeine Anwendung ſehr be-
denklich werden mußte. Dazu kam aber der noch durch-
greifendere Grund, daß den Reſcripten die öffentliche Be-
kanntmachung fehlte. Dieſer Grund paßt auf die inter-
pretirenden Reſcripte ſo gut als auf alle anderen, und
es iſt unrichtig, wenn jenen eine verbindliche Kraft für
andere Fälle von Manchen beygelegt wird, was jedoch
erſt unten ganz klar gemacht werden kann (§ 47). — Auch
bey den Reſcripten, wie bey den Decreten (§ 23), iſt dieſe
Einſchränkung in neuerer Zeit häufig misverſtanden wor-
den. Auch hier hat man ſie mit dem Verbot einer aus-
dehnenden Interpretation verwechſelt, da doch nur von
der Anwendung derſelben (gar nicht erweiterten Regel) auf
neue Fälle ganz gleicher Art die Rede war. Auch hier
hat man die Einſchränkung verwechſelt mit der Rechtsre-
gel, daß ein rechtskräftiges Urtheil nur unter den Par-
teyen gelte. Davon war aber hier noch weniger als bey
den Decreten die Rede, ja es konnte hier nicht die Rede
davon ſeyn. Denn wenn z. B. der Teſtamentserbe ein
Teſtament von bedenklicher Gültigkeit dem Kaiſer vor-
legte, und der Kaiſer durch Reſcript die Gültigkeit aner-
kannte, ſo konnte davon der Teſtamentserbe gegen jeden
Inteſtaterben Gebrauch machen, indem ein beſtimmter
Gegner in der Bittſchrift nicht einmal bezeichnet zu ſeyn
brauchte.
Aber auch nur die Geſetzeskraft für andere Fälle ſollte
|0195 : 139|
§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.
den Reſcripten entzogen ſeyn, nicht die Einwirkung, die
ſie als große Autoritäten darauf haben konnten (s). Dieſe
zu verbieten war unmöglich, ja es konnte nicht einmal
als wünſchenswerth erſcheinen. Vielmehr lag eben hierin
ein vorzügliches Mittel der Fortbildung des Rechts, und
es liegt in den Digeſten vor unſren Augen, wie fleißig
die alten Juriſten dieſes Mittel benutzt haben. Die Ge-
fahr vor ſchlechten Reſcripten war bey dieſer Art des
Gebrauchs nicht bedeutend, da der Character einer bloßen
Autorität die Kritik und Verwerfung einzelner Reſcripte
niemals ausſchloß. Dennoch ſoll einmal wegen dieſer Ge-
fahr der Kaiſer Macrinus den Gedanken gehabt haben,
alle alten Reſcripte aufzuheben, was offenbar nur auf
dieſe Autorität zu beziehen iſt (t).
(s) Manche ſcheinen die von
Gajus und Ulpian den Reſcrip-
ten beygelegte legis vis auch
wohl von dieſem Einfluß als Au-
torität zu verſtehen, aber gewiß
unrichtig. Dieſe Juriſten wuß-
ten ihre Ausdrücke beſſer zu wäh-
len, als man ihnen hier zutraut.
Meynten ſie etwas ſo Unbeſtimm-
tes, wie Einfluß und Wirkſam-
keit überhaupt, ſo würde Gajus
die legis vis bey dem jus hono-
rarium nicht ausgelaſſen haben:
eben ſo hätte er im § 7 nicht
blos die responsa prudentium
genannt, ſondern die weit mehr
ins Große wirkende Auctoritas
Prudentium. — Eben ſo aber
wäre es auf der anderen Seite
irrig, den unbeſtimmten Ausdruck
des Gajus (I § 5) ſo zu deuten,
als wollte er den Reſcripten eine
eben ſo allgemein verbindende
Kraft, wie den Edicten der Kai-
ſer, zuſchreiben. Eben ſo ſchein-
bar allgemein legt er im § 7 den
Reſponſen „legis vicem” bey,
und nur erſt aus dem folgenden
Gegenſatz wird es beyläufig klar,
daß doch nur von der geſetzlich
bindenden Kraft für den judex
des einzelnen Rechtsſtreits
die Rede ſeyn ſollte.
(t) Capitolini Macrinus C.
13. „Fuit in jure non incalli-
dus, adeo ut statuisset omnia
rescripta veterum principum
tollere, ut jure non rescriptis
ageretur, nefas esse dicens le-
ges videri Commodi et Cara-
|0196 : 140|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Von dieſem Geſichtspunct aus erklären ſich leicht alle
Erſcheinungen, die wir bey den Reſcripten finden. Es
erklärt ſich, daß die Juriſten davon eine ſehr umfaſſende
Kenntniß haben konnten, da ſie ſelbſt meiſt in der Nähe
des Kaiſers lebten, oft die Abfaſſung der Reſcripte be-
ſorgten, noch öfter aber freyen Zutritt zu den Archiven
haben konnten (u). Es erklärt ſich, daß ſie ſchon frühe
Sammlungen der Reſcripte in der Form von Büchern
bekannt machten (v). Es erklärt ſich aber auch, daß ſie
nicht ſelten das Gegentheil lehrten von dem, was in
einem Reſcript enthalten war, entweder weil ſie es zufäl-
calli et homin um imperitorum
voluntates, quum Trajanus nun-
quam libellis responderit, ne
ad alias causas facta praefer-
rentur, quae ad gratiam com-
posita viderentur.” Jenes Vor-
haben des Kaiſers konnte nur
auf die Autorität der Reſcripte
für die Zukunft gehen, denn die
Rechtsfälle ſelbſt, worin die ve-
teres principes reſcribirt hat-
ten, waren ja damals längſt er-
ledigt und vergeſſen.
(u) Es iſt alſo nicht nöthig,
wegen dieſer ſehr gewöhnlichen
Bekanntſchaft mit den Reſcripten,
eine öffentliche Bekanntmachung
derſelben anzunehmen, wie es
von Güyet a. a. O. S. 74 ge-
ſchieht.
(v) So z. B. Papirii Justi
libri XX constitutionum, wel-
ches nach den erhaltenen Frag-
menten Reſcripte waren. Spä-
terhin der Gregorianiſche und
Hermogenianiſche Codex wenig-
ſtens zum großen Theil. — Fer-
ner gehören dahin ohne Zweifel
die Semestria des D. Marcus,
halbjährige Sammlungen einer
Auswahl der wichtigſten Re-
ſcripte (vielleicht auch Decrete)
des Kaiſers, vielleicht von Pri-
vatperſonen veranſtaltet, vielleicht
auch vom Kaiſer ſelbſt, in wel-
chem Fall dieſes als eine Art von
geſetzlicher Publication hätte gel-
ten können. Vgl. darüber Bris-
sonius v. Semestria, Cujacius
in Papin. L. 72 de cond., Opp.
IV. 489, deren Erklärung der
Semestria ich nicht für richtig
halte.
|0197 : 141|
§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.
lig nicht kannten, oder weil ſie deſſen Inhalt als unrich-
tig verwarfen (w).
Aus dieſer Zuſammenſtellung der in verſchiedenen Zei-
ten über die Reſcripte erlaſſenen Vorſchriften ergiebt es
ſich, daß ſie zwar noch zur Zeit der Juſtinianiſchen Rechts-
bücher von der größten Wichtigkeit waren, daß aber ihr
Einfluß durch die Geſetzgebung der Novellen faſt ganz
vernichtet worden iſt.
IV. Mandate. Dieſes waren Inſtructionen der Kai-
ſer an Beamte, die in ihrem Auftrag zu handeln hatten.
Regelmäßig kamen ſolche vor bey den Legaten, die in den
Kaiſerlichen Provinzen als Stellvertreter der Kaiſer ver-
walteten, ſo wie ja auch die gewöhnlichen Proconſuln
Mandate erlaſſen konnten (wohin z. B. die mandata juris-
dictio gehört). Solche Mandate hatten in der Provinz
daſſelbe Anſehen wie die Provinzialedicte. Daß ſie weit
ſeltener als andere Arten der Conſtitutionen erwähnt wer-
den, erklärt ſich wohl aus der im Verhältniß zum ganzen
Reich abhängigeren Lage der Provinzen, in welchen daher
nur ſelten die Fortbildung des gemeinen Römiſchen Rechts
ihren Anfang nehmen mochte. Die meiſten Mandate, von
welchen wir Nachricht haben, betreffen das Criminalrecht
oder Polizeyvorſchriften (x). Ein bedeutender Fall, in
welchem ſie bey einem neuen Satz des Privatrechts ange-
(w) Stellen ſolcher Art finden
ſich geſammelt bey Güyet a. a. O.
S. 55 fg.
(x) Brissonius de formulis
Lib. 3 C. 84.
|0198 : 142|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
führt werden, betrifft die Militärteſtamente (y): allein hier
erklärt es ſich leicht aus der Natur des Gegenſtandes,
da ein Feldzug, welcher bey einem ſolchen Teſtament
vorausgeſetzt wird, nur in Provinzen vorkommen konnte,
und daher auch in ſolchen hauptſächlich dieſer Rechtsſatz
zur Anwendung zu bringen war. Eben ſo gründete ſich
auf Mandate das Verbot der Ehe zwiſchen Römiſchen
Provinzialbeamten und Frauen aus dieſer Provinz (z). —
Gajus und Ulpian übergehen die Mandate in der Auf-
zählung der Arten der Conſtitutionen: dieſes kann eben
aus der erwähnten geringeren Wichtigkeit herrühren: viel-
leicht auch daher, daß ſie auf den Umfang einzelner Provinzen
beſchränkt waren, ſo daß ihnen eben ſo wenig, als dem
jus honorarium, die den übrigen Conſtitutionen zukom-
mende legis vis beygelegt werden konnte.
Das Reſultat dieſer Unterſuchung über die Wirkſam-
keit der Kaiſerconſtitutionen läßt ſich in folgenden Sätzen
zuſammenfaſſen. Die Edicte und Mandate waren
eigentliche Geſetze, für Richter und Parteyen gleich ver-
pflichtend: die Mandate natürlich nur in den Provinzen,
wofür ſie erlaſſen waren. Die Reſcripte hatten Ge-
ſetzeskraft nur für den einzelnen Fall, wofür ſie erlaſſen
waren; ſeit Juſtinians neueſten Vorſchriften auch hier nur
(y) L. 1 pr. de test. mil. (29.
1.) „et exinde mandatis inseri
coepit caput tale: Cum in no-
titiam” etc.
(z) L. 2 § 1 de his quae ut
ind. (34. 9.), L. 6 C. de nupt.
(5. 4.).
|0199 : 143|
§. 24. Ausſprüche der Römer über die Geſetze. Fortſetzung.
ſehr beſchränkt, indem die an Privatperſonen erlaſſenen
ganz unbeachtet bleiben ſollten, den Richtern aber, der
Regel nach (mit Ausnahme der zweifelhaften Geſetzausle-
gung) unterſagt wurde, Reſcripte einzuholen. Decrete
waren für den einzelnen Fall wie rechtskräftige Urtheile;
inſoferne ſie Endurtheile enthielten (nicht bloße Interlo-
cute), ſollte die in ihnen ausgeſprochene Rechtsregel als
wahres Geſetz allgemeine Gültigkeit haben. — Daneben
aber hatten alle Arten der Conſtitutionen, ohne Rückſicht
auf dieſe Unterſchiede und Einſchränkungen, überall die
natürliche Kraft großer Autoritäten für Jeden, der zufäl-
lig Kenntniß von ihnen erhalten hatte.
Für alle dieſe Arten der Kaiſergeſetze machte Juſti-
nians Codex einen großen Abſchnitt. Was hier aufge-
nommen wurde, erhielt Geſetzeskraft, wenngleich es als
Reſcript oder Decret dieſelbe für künftige Fälle bisher
nicht gehabt hatte: das nicht Aufgenommene war eben
dadurch als Geſetz abgeſchafft (aa). Die hier aufgeſtellten
Regeln alſo ſollten von nun an auf diejenigen Conſtitutio-
nen Anwendung finden, welche nach der Bekanntmachung
des Codex, von Juſtinian oder ſeinen Nachfolgern erlaſſen
werden würden.
Als eine Art von Anhang oder Surrogat der Kaiſer-
(aa) Const. Summa § 3. —
Damit ſollten aber nicht auch die
Privilegien aufgehoben ſeyn, die
etwa einer Corporation oder ei-
nem Einzelnen durch Reſcripte
ertheilt ſeyn möchten. ibid. § 4.
|0200 : 144|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
lichen Geſetzgebung konnten betrachtet werden die Edicte
oder generales formae der Praefecti Praetorio. Schon
Alexander Sever gab ihnen allgemein verbindliche Kraft,
wenn ſie den Geſetzen nicht widerſprächen, und ſo lange
der Kaiſer nicht anders verfügen würde (bb). Juſtinian
beruft ſich auf einzelne derſelben wie auf Geſetze (cc).
Einige Bruchſtücke von ſolchen haben ſich hinter unſrer
Novellenſammlung erhalten (dd). Caſſiodor ſchreibt dem
Präfecten eine gleichſam geſetzgebende Gewalt zu (ee).
§. 25.
Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht.
Quellen:
Dig. I. 3.
Cod. VIII. 53.
Cod. Th. V. 12.
Bey Cicero findet ſich, mitten unter ziemlich verwor-
renen Gedanken, folgende merkwürdige Äußerung über
das Gewohnheitsrecht. „Es giebt eine Regel des Lebens,
ſagt er, die nicht aus der Meynung der Einzelnen, ſon-
dern aus einer unſrer ſittlichen Natur inwohnenden Noth-
wendigkeit entſpringt. In der Gemeinſchaft der zuſammen
(bb) L. 2 C. de off. praef.
praet. Or. et Ill. (1. 26.). Das
war damals für das ganze Reich
zu verſtehen, ſeit Conſtantin für
jede Präfectur beſonders, ſo wie
vormals bey den Provinzialedicten
der Proconſuln.
(cc) L. 16 C. de jud. (3. 1.).
L. 27 C. de fidejuss. (8. 41.).
(dd) Nov. 165. 166. 167. 168.
Vgl. Biener Geſchichte der No-
vellen S. 98. 118.
(ee) Cassiodor. Var. VI. 3.
Formula Praef. Praet. „Pene
est ut leges possit condere” etc.
|0201 : 145|
§. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht.
lebenden Menſchen wird dieſe Regel theils, wo ſie nur
als unbeſtimmte Richtung vorhanden war, zu beſtimmter
Geſtalt ausgebildet, theils erweitert, theils als unverän-
derliche Sitte befeſtigt.” Dieſem Allen ſetzt er nachher
die lex, oder die poſitive, durch Willkühr gebildete Regel
entgegen (a). — Bey den alten Juriſten finden wir das
Gewohnheitsrecht nicht in der ihm zukommenden Ausdeh-
nung und Wichtigkeit anerkannt. Dieſes erklärt ſich leicht
daraus, daß zu ihrer Zeit der größte Theil des alten
nationalen Gewohnheitsrechts ſchon längſt in andere
Rechtsformen übergegangen war, alſo nicht mehr in ſei-
ner urſprünglichen Geſtalt erſchien (§ 15. 18). Zur Er-
zeugung eines neuen allgemeinen Gewohnheitsrechts auf
dem rein volksmäßigen Wege war aber ihr Zeitalter we-
niger geeignet (§ 7). Daher war es meiſt nur partikulä-
res Gewohnheitsrecht, was ihnen im wirklichen Leben
vorkam, und auf dieſes beziehen ſich die meiſten Stellen
über Gewohnheitsrecht, die aus ihren Schriften erhalten
ſind (b). Dennoch ſind die Anſichten, die ſie darüber auf-
ſtellen, im Ganzen befriedigend, und wenn durch dieſelben
neuere Schriftſteller zu irrigen Meynungen verleitet worden
(a) Cicero de inventione II
53. 54. „Natura jus est, quod
non opinio genuit, sed quae-
dam innata vis inseruit, ut re-
ligionem, pietatem .... Consue-
tudine jus est, quod aut levi-
ter a natura tractum aluit et
majus fecit usus, ut religionem:
aut si quid eorum, quae ante
diximus, ab natura profectum,
majus factum propter consue-
tudinem videmus, aut quod in
morem vetustas vulgi appro-
batione perduxit.”
(b) Puchta Gewohnheitsrecht
I S. 71 fg.
10
|0202 : 146|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
ſind, ſo lag dieſes nur an der Unbeſtimmtheit des Aus-
drucks. Nach der Lehre der Römer iſt ein Rechtsſatz als
begründet anzuſehen, wenn er in langer, vieljähriger
consuetudo erſcheint, und der Grund ſeiner Gültigkeit iſt
der ſtillſchweigende consensus des populus, alſo derer,
die jenen Rechtsſatz üben (utentium, auch omnium) (c).
Dieſes wurde nun ſo misverſtanden, als ob die Gewöh-
nung den Entſtehungsgrund des Rechts enthielte, und als
ob die Bildung dieſes Rechts durch den willkührlichen
Entſchluß der Einzelnen bewirkt würde, alſo durch den
Willen derjenigen Perſonen, welche auch in den Comitien
die Geſetze machen. Dieſe letzte Deutung war beſonders
deshalb wichtig, weil dadurch das Gewohnheitsrecht in
unmittelbare Verbindung mit einer beſonderen Staatsver-
faſſung geſetzt zu ſeyn ſchien, wodurch es auf das kai-
ſerliche Rom und auf unſre Monarchien ſeine Anwend-
barkeit verlieren würde. Allein in der That iſt ihnen die
consuetudo nicht der Entſtehungsgrund dieſer Art des
Rechts, ſondern nur die ſinnliche Erſcheinung derſelben,
alſo das Mittel ſie zu erkennen, wie ſie ja auch die For-
men des geſchriebenen Rechts von dieſer Seite aufzufaſſen
pflegen (§ 22). Die Richtigkeit dieſer Anſicht ergiebt ſich
daraus, daß in mehreren Stellen die ratio, d. h. die ge-
meinſame unmittelbare Überzeugung von dem Daſeyn und
der Gültigkeit einer Rechtsregel, als eigentlicher Entſte-
(c) Gajus III § 82. Ulpian.
tit. de leg. § 4. L. 32—40 de
leg. (1. 3.). § 9. 11 J. de j. nat.
(1. 2.)
|0203 : 147|
§. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht.
hungsgrund, noch ueben der Gewohnheit ſelbſt genannt
wird (d). Eben ſo iſt consensus nicht ein willkührlicher
Entſchluß, der eben ſo gut auch in entgegengeſetzter Rich-
tung gedacht werden könnte, ſondern die aus innerer Noth-
wendigkeit übereinſtimmende Geſinnung. Daher iſt denn auch
der populus, dem dieſer consensus zugeſchrieben wird, nicht
ſowohl die Geſammtheit der in Tribus und Centurien in
irgend einem Zeitpunct eingeſchriebenen Bürger, als viel-
mehr die ideale, durch alle Generationen fortdauernde,
Römiſche Nation, die in den verſchiedenſten Verfaſſungen
ſtets als dieſelbe gedacht werden kann (e). Die Richtig-
keit dieſer Erklärung zeigt ſich zuvörderſt in dem hohen
Grad von Gewißheit, der als Grundcharacter des Ge-
wohnheitsrechts angegeben wird (f), und der offenbar einer
(d) L. 39 de leg. (1. 3.) „Quod
non ratione introductum, sed
errore primum, deinde consue-
tudine obtentum est: in aliis
similibus non obtinet.” (Die
alia similia ſind die künftigen
ganz gleichen Fälle.) L. 1 C.
quae sit. l. c. (8. 53.) „Nam
et consuetudo praecedens, et
ratio quae consuetudinem sua-
sit, custodienda est.” Vgl.
Puchta S. 61. 81.
(e) Gegen dieſe letzte Behaup-
tung wird mit vielem Schein
angeführt L. 32 § 1 de leg. (1.
3.), worin aus dem expressus
populi consensus in der lex
auf den tacitus in der consue-
tudo geſchloſſen wird. Allein erſt-
lich ſoll hier durch dieſe Verglei-
chung nicht ſowohl die Gültigkeit
der Gewohnheit ſelbſt, als viel-
mehr die Art dieſer Gültigkeit
(das legis vice) dargethan wer-
den (Puchta S. 84). Zweytens
behaupte ich auch gar nicht, daß
ſich die alten Juriſten des Ge-
genſatzes in den Bedeutungen
von populus ſtets deutlich be-
wußt geweſen ſind. Die hier
vertheidigte Anſicht würde nur
dann widerlegt ſeyn, wenn die
alten Juriſten, gerade bey deut-
lichem Bewußtſeyn des Gegen-
ſatzes, die Geſammtheit der ci-
ves, und nicht die ideale Nation,
als Subject des Gewohnheits-
rechts anerkannt hätten.
(f) L. 36 de leg. (1. 3.): „quod
in tantum probatum est ut non
10*
|0204 : 148|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
gemeinſamen Volksüberzeugung angemeſſener iſt, als einem
willkührlichen Entſchluß Einzelner zu einzelnen wiederkeh-
renden Handlungen. Dann aber bewährt ſich die Rich-
tigkeit jener Erklärung auch in den Bedingungen und
Kennzeichen, die uns für das Gewohnheitsrecht angege-
ben werden.
Es ſoll nämlich ein Gewohnheitsrecht erkannt werden
in der gemeinſamen Uberzeugung der Rechtskundigen, der
Prudentium auctoritas (g). Dieſe können nun ſehr wohl
das Organ ſeyn, worin das gemeinſame Volksbewußtſeyn
in beſonderer Kraft und Beſtimmtheit lebt und wirkt
(§ 14), dagegen würde es ſehr unpaſſend ſeyn, durch ihren
willkührlichen Entſchluß die ganze Nation binden zu laſſen.
Und doch ſoll für dieſe, und nicht für die Juriſten allein,
das Gewohnheitsrecht gelten. — Ferner wird uns als ein
vorzügliches Erkenntnißmittel des Gewohnheitsrechts an-
gegeben die Übereinſtimmung richterlicher Erkenntniſſe (h).
Auch hierin liegt eine Beſtätigung unſrer Erklärung, indem
dieſe Erkenntniſſe ein beſonders glaubwürdiges Zeugniß
für das Daſeyn einer Volksüberzeugung ablegen können,
während der willkührliche Entſchluß der Richter unmög-
efurit necesse scripto id com-
prehendere.”
(g) L. 2 § 5. 6. 8. 12. de orig.
jur. (1. 2.).
(h) L. 38 de leg. (1. 3.), L.
1 C. quae sit l. consu. (8. 53.).
Ganz vorzüglich bey dem parti-
culären Gewohnheitsrecht L. 34
de leg. (1. 3.) (Puchta I S.
96). — Es iſt merkwürdig, daß
die res judicatae in der allge-
meinen Aufzählung der Rechts-
quellen bey den rhetoriſchen
Schriftſtellern ganz gewöhnlich
vorkommen, bey den alten Ju-
riſten nicht (§ 22). Anerkannt
übrigens waren ſie zu allen Zei-
ten (§ 12 Note b.).
|0205 : 149|
§. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht.
lich die Nation binden könnte. Ganz irrig aber wäre es,
den res judicatae an ſich, abgetrennt von Gewohnheits-
recht, eine ſolche Kraft beylegen zu wollen, da gerade im
Gegentheil ausdrücklich verordnet iſt, durch Präjudicien
allein ſolle ſich kein Richter beſtimmen laſſen (i). Das
kann alſo nur den Sinn haben, daß Präjudicien an ſich
ſelbſt ohne Einfluß, als Zeugniſſe für ein Gewohnheits-
recht aber von dem höchſten Einfluß ſeyn ſollen. — Zur
Ergänzung dieſer Bedingungen gehört noch die Regel,
daß ein erweislicher Irrthum das Daſeyn des Gewohn-
heitsrechts ausſchließt (k): ferner die andere, daß der
Kaiſer entſcheiden ſoll, wenn die Gewohnheit zu neu iſt,
um für ſich allein das Daſeyn eines gemeinſamen Be-
wußtſeyns außer Zweifel zu ſetzen (l). — Mehr findet
ſich im Römiſchen Recht über die Bedingungen des Ge-
wohnheitsrechts nicht. Namentlich iſt ihm ganz fremd die
Anſicht, daß daſſelbe, als eine bloße Thatſache, von dem-
jenigen bewieſen werden müſſe, der ſich darauf berufe (m).
Über die Wirkung des Gewohnheitsrechts endlich ſtellt
das Römiſche Recht den Grundſatz auf, daß es legis
vicem vertrete (n). Das heißt, nach der oben gegebenen
(i) L. 13 C. de sent. et in-
terloc. (7. 45.). S. o. § 24
Note r.
(k) L. 39 de leg. (1. 3.) ſ. o.
Note d. Puchta I. S. 99. Der
ganz natürliche Grund liegt darin,
daß die Gewohnheit nun die er-
weisliche Folge des Irrthums,
alſo nicht Ausdruck und Kenn-
zeichen eines gemeinſamen Rechts-
bewußtſeyns iſt, was ihr allein
Kraft verleihen kann.
(l) L. 11 C. de leg. (1. 14.).
(m) Puchta I. S. 110.
(n) S. o. § 22. Note x.
|0206 : 150|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Erklärung (§ 22), es wirkt nicht nur mit eben ſo entſchiedener
Kraft, ſondern auch in derſelben Weiſe, wie eine Lex, ſo daß
es durch ſeine Natur nicht auf einen beſtimmten Amtsſpren-
gel, noch auf beſtimmte Zeit, wie das jus honorarium, ein-
geſchränkt iſt. Mit dieſer Eigenſchaft ſteht aber die Mög-
lichkeit eines partikulären Gewohnheitsrechts keinesweges
im Widerſpruch, gerade ſo wie ja auch ein Geſetz für
eine einzelne Stadt oder Provinz erlaſſen werden kann.
Dieſe Wirkung kann ſich auf eine zwiefache Weiſe
äußern. Zuerſt als bloße Ergänzung, wenn der Ausdruck
des Geſetzes unbeſtimmt oder zweydeutig iſt (o), oder wenn
es über eine Rechtsfrage an einer geſetzlichen Beſtimmung
gänzlich fehlt (p). Dieſes letzte kann nun beſonders in
ſolchen Fällen des ſtädtiſchen Verkehrs Bedürfniß ſeyn,
worin es durchaus nöthig iſt, irgend eine feſte Beſtimmung
zu haben, während der Inhalt dieſer Beſtimmung ziem-
lich gleichgültig ſeyn kann. Fehlt es einer Stadt in ſol-
chen Fällen an einer beſtimmten Gewohnheit, ſo ſoll die
Gewohnheit der Stadt Rom befolgt werden (q), was nicht
blos in ihrer Würde als der erſten Stadt des Reichs
gegründet war, ſondern noch mehr darin, daß ſie urſprüng-
lich die Nation in ſich ſchloß. In einer Zeit alſo, worin
die Nation als Ganzes, wegen ihrer unbeſtimmten Aus-
breitung, eines gemeinſamen Rechtsbewußtſeyns weniger
(o) L. 38 de leg. (1. 3.).
(p) L. 32 pr. L. 33 de leg.
(1. 3.). Vgl. Puchta I. S. 87.
(q) L. 32 pr. de leg. (1. 3.)
„si qua in re hoc defecerit …
tunc jus, quo urbs Roma uti-
tur, servari oportet.”
|0207 : 151|
§. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht.
mächtig war, konnte füglich Rom als Vertreterin der
Nation gelten in der Erzeugung eines neuen Volksrechts,
wo dieſes nicht zu entbehren war. Dieſes Vorrecht wurde
im öſtlichen Reich auf Conſtantinopel übertragen (r), was
eine bloße Folge der allgemeinen Gleichſtellung beider
Städte war, und keinesweges durch ein ähnliches ge-
ſchichtliches Verhältniß gerechtfertigt wurde. Übrigens
kann dieſe Ergänzung in verſchiedenem Umfang vorkom-
men: bald für eine einzelne, bisher unbeachtete Seite eines
ſchon bekannten Rechtsinſtituts, bald als Erzeugung eines
ganz neuen Inſtituts, mithin als Erweiterung des Rechts-
ſyſtems ſelbſt. In dieſer wichtigeren Art werden die mo-
res erwähnt als Entſtehungsgründe der cura prodigi, der
verbotenen Schenkung unter Ehegatten, und der Pupillar-
ſubſtitution (s).
Zweytens kann ſich die Kraft des Gewohnheitsrechts
äußern im Widerſtreit mit dem Inhalt eines Geſetzes, ſey
es nun, daß es an die Stelle der geſetzlichen Regel eine
andere ſetze, oder aber jene lediglich aufhebe. Dieſe
Kraft dem Gewohnheitsrecht zuzuſchreiben, würden wir
ſchon durch die gänzliche Gleichſtellung im Ausdruck (legis
vis) genöthigt ſeyn. Sie iſt aber auch deutlich als all-
gemeine Regel ausgeſprochen (t). Und was vollends jeden
(r) L. 1 § 10 C. de vet. j.
enucl. (1. 17.) § 7 J. de satisd.
(4. 11.).
(s) L. 1 pr. de curat. (27.
10.), L. 1 de don. int. v. et ux.
(24. 1.), L. 2 pr. de vulg. et
pup. subst. (28. 6.).
(t) L. 32 § 1 de leg. (1. 3.).
„.... Quare rectissime etiam
illud receptum est, ut leges
|0208 : 152|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Zweifel entfernen muß, iſt der Umſtand, daß in allen
Zeiten der Römiſchen Geſchichte das Gewohnheitsrecht
dieſe Kraft auf die ausgedehnteſte Weiſe ausgeübt hat.
So iſt der ganze Theil des prätoriſchen Edicts, worin
das jus civile, und beſonders das Zwölftafelngeſetz corri-
girt wird, Nichts als ein abänderndes Gewohnheitsrecht,
an deſſen Gültigkeit nie ein Römer gezweifelt hat (u).
Eben ſo iſt die Wirkſamkeit des usus in der Ehe zum
Theil durch Gewohnheitsrecht abgeſchafft worden: des-
gleichen das zweyte Kapitel der lex Aquilia und die
interrogatoriae actiones (v). Juſtinian aber hat jene
Kraft des Gewohnheitsrechts in ſo vielen eigenen Vor-
ſchriften anerkannt, ohne irgend ein Bedenken dagegen zu
äußern, daß es kaum zu begreifen iſt, wie auf dem Stand-
punkt ſeiner Geſetzgebung darüber jemals ein Zweifel
erhoben werden konnte (w). Zwey Gründe ſind jedoch
ſehr häufig für eine abweichende Meynung geltend ge-
macht worden. Erſtlich, daß in mehreren ſchon angeführ-
non solum suffragio legislato-
ris, sed etiam tacito consensu
omnium per desuetudinem ab-
rogentur.” Vgl. Puchta a. a. O.
S. 86. 90.
(u) Cicero de invent. II. 22.
„Consuetudinis autem jus esse
putatur id, quod voluntate om-
nium sine lege vetustas com-
probavit. In ea autem … sunt …
eorum multo maxima pars,
quae praetores edicere con-
sueverunt.” Die Misverſtänd-
niſſe der früheren Rechtshiſtori-
ker über dieſen Punct können
nun wohl als beſeitigt angeſehen
werden.
(v) Gajus I § 111., L. 27 § 4
ad L. Aquil. (9. 2.), L. 1 § 1
de interrog. act. (11. 1.).
(w) § 11 J. de j. nat. (1. 2.),
§ 7 J. de injur. (4. 4.) — L. 1
pr. C. de cad. toll. (6. 51.), L.
1 § 10 C. de vet. j. enucl. (1.
17.), Const. Haec quae necess.
§ 2. — Nov. 89 C. 15. Nov. 106.
|0209 : 153|
§. 25. Ausſprüche der Römer über das Gewohnheitsrecht.
ten Stellen geſagt werde, die Gewohnheit gelte in Er-
mangelung eines Geſetzes, was ſo viel heiße als nur in
dieſer Ermangelung. Dieſe überall bedenkliche Erklärungs-
weiſe wird im vorliegenden Fall durch den Zuſammen-
hang vollſtändig widerlegt (x). Mehr Schein hat zwey-
tens der Ausſpruch einer Stelle des Codex, die Gewohn-
heit könne nie ein Geſetz überwinden. Allein hier iſt nicht
von Gewohnheiten überhaupt, ſondern von partikulären
allein die Rede, und dieſe ſollen allerdings im Conflict
mit einem abſoluten Landesgeſetz zurück ſtehen (y).
Alles dieſes hatte nun keine Bedeutung mehr für die
vor Juſtinian entſtandenen Sätze eines allgemein Römi-
ſchen Gewohnheitsrechts. Denn dieſe ſollten gewiß nach
ſeiner Abſicht entweder in die Rechtsbücher aufgenommen
ſeyn, oder gar nicht mehr gelten. Dagegen war es an-
wendbar auf jedes künftig entſtehende Gewohnheitsrecht,
ja auch auf das ſchon vorhandene partikuläre, ſoweit
dieſes überhaupt nach der eben erwähnten Einſchränkung
Gültigkeit haben konnte. Denn da ein ſolches in den
Plan der neuen Rechtsſammlungen gar nicht gehörte, ſo
konnte auch deren ausſchließende Natur das Fortbeſtehen
deſſelben nicht hindern.
(x) L. 32 pr. L. 33 de leg.
(1. 3.). Vgl. Puchta I. S. 88. —
Beſonders bey der erſten dieſer
Stellen iſt ein ſolches argumen-
tum a contrario ganz unbegreif-
lich, da der Verfaſſer in den
gleich folgenden Worten (§ 1)
gerade das Gegentheil ſagt.
(y) L. 2 C. quae sit l. consu.
(8. 53.). S. hierüber die Bey-
lage II zu dieſem Bande.
|0210 : 154|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Da dieſe Art der Rechtsquellen übrigens auch im cano-
niſchen Recht und den Reichsgeſetzen erwähnt wird, ſo
ſoll davon hier anhangsweiſe gehandelt werden.
Im canoniſchen Recht ſind mehrere Römiſche Stellen
wörtlich aufgenommen, woraus alſo nichts Neues hervor-
geht (z). Folgende Sätze könnte man für neu und eigen-
thümlich halten:
1) Die Gewohnheit muß, um gelten zu können, ratio-
nabilis ſeyn. Mit dieſem ſehr unbeſtimmten Ausdruck,
wenn er auch durch Stellen des Römiſchen Rechts veran-
laßt ſeyn mag, ſcheint doch hier etwas Beſonderes gemeynt,
nämlich eine materielle Prüfung des Inhalts, und eine
Anerkennung nur inſofern dieſer Inhalt gut und zweck-
mäßig erſcheint: um ſo mehr als dieſe Bedingung nicht
allgemein aufgeſtellt wird, ſondern nur für den Fall eines
Conflicts mit den Geſetzen (aa).
2) Die Gewohnheit muß ſeyn legitime oder canonice
praescripta (bb). Daraus haben Viele eine wirkliche Ver-
(z) C. 4 D. XI = L. 2 C. quae
sit l. consu. (8. 53.), — C. 6
D. XII = § 9 J. de j. nat. (1.
2.), — C. 7 D. XII = L. 1 C.
quae sit l. consu. (8. 53.).
(aa) C. 11. X. de Consuet.
(1. 4.). C. 1 de constit. in VI
(1. 2.). Von der Bedeutung die-
ſer Stellen iſt in der Beylage II.
die Rede.
(bb) C. 11. X. de consuet.
(1. 4.), C. 3 de consuet. in VI
(1. 4.); C. 9. de offic. ord. in
VI. (1. 16.), C. 50. X. de elect.
(1. 6.). — Über den Sinn die-
ſer Stellen findet ſich eine Un-
terſuchung in Meurers juriſt.
Abhandlungen, Leipzig 1780 N.
V, welcher behauptet, es ſey hier
zwar von Verjährung, aber nicht
zur Begründung einer Gewohn-
heit, ſondern zum Erwerb eines
einzelnen Rechts die Rede. Zu-
letzt aber lenkt er doch in die
im Text aufgeſtellte Erklärung
ein, wenigſtens in Beziehung auf
|0211 : 155|
§. 26. Ausſprüche der Römer über das wiſſenſchaftliche Recht.
jährung gemacht, deren Natur jedoch zur Begründung
einer allgemeinen Rechtsregel gar nicht paßt. Auch würde
die Vorſchrift, ſo aufgefaßt, doch keine beſtimmte Anwen-
dung geſtatten, da es Verjährungen von ſehr verſchiede-
ner Dauer giebt, hier aber keine beſtimmte Zeit angegeben
iſt. Sehr wahrſcheinlich ſoll daher dieſer Ausdruck, über-
einſtimmend mit dem Römiſchen Recht, nur überhaupt
eine lange Dauer bezeichnen, und alſo legitime praescripta
hier ſo viel heißen als longa oder diuturna.
Endlich erwähnen auch mehrere Reichsgeſetze des Ge-
wohnheitsrechts, aber nur indem ſie überhaupt die Richter
zu ſeiner Befolgung anweiſen, ohne deſſen Bedingungen
oder Wirkung näher zu beſtimmen (cc).
§. 26.
Ausſprüche der Römer über das wiſſenſchaftliche Recht.
Von früher Zeit her wird das Anſehen der Rechts-
kundigen, und der Einfluß derſelben auf die Fortbildung
des Rechts durch Sitte, bezeugt (a). Daß dieſer Einfluß
C. 11. X. de consuet. Jene
erſte Meynung hat von ihm an-
genommen Glück I § 86 Num.
V. — Eichhorn Kirchenrecht
S. 42. 43. will jene Stellen nicht
von einem eigentlichen Gewohn-
heitsrecht verſtanden wiſſen, ſon-
dern von einer Obſervanz, d. h.
einem ſtillſchweigenden Statut,
inſofern daraus dritte Perſonen
Rechte herleiten wollen (§ 20. f.).
Es mag ſeyn, daß die Rück-
ſicht auf ſolche Fälle Veranlaſ-
ſung zu jenen Ausſprüchen ge-
geben hat. Allein daß dieſe all-
gemein gefaßt ſind, giebt er
ſelbſt zu, und ſo mag doch wohl
dem ungenauen Ausdruck auch
ein unklarer Gedanke zum Grunde
gelegen haben.
(cc) C. C. C. art. 104. — Conc
ord. cam. Tit. 19 provem. Tit.
71, Rec. Imp. nov. § 105.
(a) L. 2 § 5 de orig. jur. (1. 2.).
|0212 : 156|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
wachſen mußte, als zu dem Zutrauen in die Geſchäftser-
fahrung auch noch das Übergewicht wiſſenſchaftlicher Bil-
dung hinzutrat, iſt augenſcheinlich.
Auguſt erhöhte und modificirte dieſen Einfluß, indem
er einzelnen bewährten Juriſten das Recht zu Gutachten
ertheilte, die von den Richtern wie Geſetze (legis vice)
befolgt werden mußten, ſo lange nicht entgegenſtehende
Gutachten gleichfalls autoriſirter Juriſten vorgebracht wür-
den (b). Daneben dauerte die allgemeine, unbeſtimmte
Autorität der juriſtiſchen Lehrer und Schriftſteller fort,
welche jedoch nicht legis vicem hatte, ſondern auf jeden
Richter nur durch ihre innere, geiſtige Kraft einwirkte,
wenn etwa in einem Rechtsſtreit entweder gar keine, oder
widerſprechende Gutachten vorgebracht waren.
Die privilegirten Gutachten werden von Gajus als
eine noch beſtehende Anſtalt erwähnt. Sie haben wahr-
(b) Gajus I § 7, § 8 J. de j.
nat. (1. 2.). — L. 2 § 47 de
orig. jur. (1. 2.). — Ich unter-
ſcheide alſo die Responsa, d. h.
die Gutachten jetzt lebender, und
zwar autoriſirter Juriſten über
einen einzelnen, ihnen vorgeleg-
ten Rechtsſtreit, von den Mey-
nungen der gegenwärtigen und
früheren Schriftſteller, das heißt
der geſammten juriſtiſchen Lite-
ratur. Der Einfluß der Re-
sponsa, wie ein Geſetz den Rich-
ter bindend, war etwas ganz
Poſitives und wird auch in den
angeführten Stellen ſo darge-
ſtellt. Der Einfluß der Literatur
war etwas Natürliches, aber auch
Unbeſtimmtes, und kein Richter
war daran gebunden. Gajus
ſpricht von dem erſten, ganz po-
ſitiven Einfluß, ohne damit den
zweyten ausſchließen zu wollen.
Hugo Rgeſch. S. 811 ed. 11
erklärt die angeführten Stellen
von dem zweyten Einfluß, und
negirt (oder bezweifelt wenigſtens)
den erſten. Das ſcheint mir aber
ſchon mit dem ſpeciellen Aus-
druck Responsa ganz unverein-
bar. Doch die Ausführung dieſer
Streitfrage gehört nicht hierher.
|0213 : 157|
§. 26. Ausſprüche der Römer über das wiſſenſchaftliche Recht.
ſcheinlich aufgehört mit dem wiſſenſchaftlichen Leben des
Rechts überhaupt. Denn als die Zahl der namhaften
Rechtsgelehrten ſchleunig abnahm, und das Privilegium
nur noch an Wenige gegeben werden konnte, hätten dieſe
Wenige einen übermäßigen Einfluß auf die Rechtspflege
erhalten, und dieſe Betrachtung mag es wohl veran-
laßt haben, daß gar keine Privilegien dieſer Art mehr
ertheilt wurden.
Aber damit war nicht auch der allgemeine Einfluß
der höchſt bedeutenden juriſtiſchen Literatur aufgehoben.
Im Gegentheil mußte dieſer Einfluß der in Büchern fort-
lebenden Vergangenheit in demſelben Maaße wachſen, als
die geiſtige Kraft der Gegenwart ſich verminderte. Bey
dem großen Umfang dieſer Literatur, und bey den vielen
darin vorkommenden Controverſen, mußte bald das Be-
dürfniß formeller Regeln über ihre Anwendung fühlbar
werden. Einzelne Regeln ſcheinen auch ſchon von Con-
ſtantin an aufgeſtellt worden zu ſeyn (c). Allein eine
erſchöpfende Vorſchrift erließ erſt Valentinian III. (d),
durch welche der Begriff einer gemeinen Meynung der
Juriſten auf einem ganz anderen Wege praktiſch geltend
gemacht wurde, als es früher durch die Vorſchrift über
die übereinſtimmenden Gutachten verſucht worden war.
Und dieſes Geſetz beſtand noch, als Juſtinian die Regie-
rung antrat. Obgleich nun durch daſſelbe die Schwie-
(c) L. 1. 2. C. Th. de resp.
prud. (1. 4.) (neu aufgefunden).
(d) L. 3 (ſonſt un.) C. Th.
de resp. prud. (1. 4.) vom J. 426.
|0214 : 158|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
rigkeiten der Anwendung des wiſſenſchaftlichen Rechts
vermindert waren, ſo waren ſie doch nicht gehoben (e),
und dieſe Betrachtung bewog Juſtinian zu einer ganz
neuen und weit durchgreifenderen Maaßregel.
Er ließ aus dem ganzen Umfang der juriſtiſchen Lite-
ratur, ohne Rückſicht auf die von Valentinian III. gezo-
gene Gränzen, dasjenige ausheben, was zu einer vollſtän-
digen Überſicht des Rechts, und namentlich für die Rechts-
pflege, nöthig ſchien. Dieſes wurde in Ein Buch zuſam-
men getragen und als Geſetz bekannt gemacht, alles Übrige
aber abgeſchafft. So war alſo jetzt ein Auszug des Jus
zu einer Lex erhoben, und es war Nichts mehr vorhan-
den, was in ſeiner urſprünglichen Geſtalt, als Jus, hätte
gelten dürfen. Für die Zukunft aber verbot er gänzlich
die Entſtehung einer neuen juriſtiſchen Literatur. Nur
griechiſche Überſetzungen des lateiniſchen Textes, und (als
mechaniſches Hülfsmittel) kurze Angaben des Inhalts der
Titel ſollten erlaubt ſeyn: würde aber ein eigentliches
Buch, ein Commentar über die Geſetze, geſchrieben, ſo
ſollte dieſes zerſtört und der Verfaſſer mit der Strafe der
Fälſchung belegt werden (f). Das einzige Mittel zur Er-
haltung und Fortpflanzung der Rechtswiſſenſchaft ſollte
alſo der mündliche Unterricht in den Rechtsſchulen ſeyn,
die deshalb von Juſtinian mit einem neuen Lehrplan ver-
(e) Savigny Geſch. des R.
R. im Mittelalter I § 3.
(f) L. 1 § 12, L. 2 § 21, L. 3
§ 21 C. de vet. j. enucl. (1.
17.).
|0215 : 159|
§. 26. Ausſprüche der Römer über das wiſſenſchaftliche Recht.
ſehen wurden (g). Hält man aber damit das erwähnte
Verbot zuſammen, ſo iſt es unzweifelhaft, wie dieſer Un-
terricht gemeynt war. Gewiß nicht als Verarbeitung der
Rechtsbücher durch freye Geiſtesthätigkeit der Lehrer, wo-
durch eine verwandte Thätigkeit auch in den Schülern
erregt, und ſo eine lebendige Wiſſenſchaft erhalten wor-
den wäre: denn ein ſolches Verfahren hätte mit dem Zweck
jenes Verbots in offenbarem Widerſpruch geſtanden. Viel-
mehr mußte der ganze Unterricht in einem mechaniſchen
Einlernen beſtehen, und das Verdienſt der Lehrer mußte
ſich darauf beſchränken, den ungeübten Schülern die ſub-
jectiven Schwierigkeiten überwinden zu helfen, die in der
Unbekanntſchaft mit einem ihnen fremden Stoff von ſo
großem Umfang liegen mußten. Allen dieſen Anordnun-
gen alſo lag der Eine Gedanke zum Grunde, die hier
ausgewählte und geordnete geiſtige Production der Vor-
fahren ſey für den Rechtszuſtand ausreichend: jede neue
Production ſey dafür nicht nöthig, und könne das jetzt
gegründete Werk nur wieder verderben.
Manche mögen wohl dieſe Anſichten in ihrem buch-
ſtäblichen Sinn allzu ſeltſam finden, und daher nach einer
figürlichen oder mildernden Deutung ſuchen: wie ich glaube,
mit Unrecht. Als Juſtinian zur Regierung kam, hörte
er wahrſcheinlich eben ſo laute Stimmen über die heilloſe
Verwirrung des Rechts, und über das dringende Bedürf-
niß einer durchgreifenden Reform, wie K. Friedrich II.
(g) Const. Omnem.
|0216 : 160|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
von Preußen im J. 1740. Ein glücklicher Zufall führte
ihm einige ſo einſichtsvolle Juriſten zu, wie ſie ſeit mehr
als einem Jahrhundert nicht mehr erſchienen waren, und
ihm ſelbſt fehlte es weder an eigener Rechtskenntniß, noch
an Thätigkeit und Ruhmbegierde. Man ſuchte alſo dem
abzuhelfen, was zunächſt als Übel fühlbar wurde, der
unbezwinglichen Maſſe der juriſtiſchen Literatur, und den
vielen in ihr vorkommenden Widerſprüchen. Irgend eine
Erfahrung ähnlicher Art, an welcher man das Unterneh-
men hätte prüfen können, lag nicht vor, und ſo konnte
man am kaiſerlichen Hof ehrlich glauben, auf dieſem Wege
einen ganz vortrefflichen Zuſtand hervorzubringen, und
nur durch geſetzliche Verbote der Wiederkehr des alten
Übels ſteuern zu müſſen. Auch hatte man nicht zu fürch-
ten, daß durch dieſe Verbote ein wirklich vorhandenes
geiſtiges Leben unterdrückt würde, wie etwa, wenn Ha-
drian oder Marc Aurel einen ähnlichen Gedanken hätten
faſſen wollen: denn die Kraft und Bildung der Gegen-
wart war ja Jedem ohnehin klar genug, und daran war
gewiß wenig zu verderben. Zwar die Drohung der Cri-
minalſtrafe und der Zerſtörung der Bücher, ja ſelbſt das
Verbot Bücher zu ſchreiben, iſt unſren Sitten völlig fremd,
und neben der Buchdruckerey und dem lebhaften Verkehr
ſo vieler Europäiſchen Staaten wäre es abentheuerlich,
an dergleichen auch nur zu denken. Allein wenn wir von
dieſer gewaltſamen Ausführung, als dem Zufälligen, ab-
ſehen, ſo iſt der Grundgedanke dieſelbe Selbſttäuſchung,
|0217 : 161|
§. 26. Ausſprüche der Römer über das wiſſenſchaftliche Recht.
die, als tief in der menſchlichen Natur gegründet, in allen
geiſtigen Gebieten, und beſonders im religiöſen, ſtets wie-
derkehrt: indem wir glauben, diejenige Verkörperung des
Gedankens, die wir durch redliche Anſtrengung unſrer
eigenen Kraft hervorgebracht haben, Anderen als aus-
ſchließend gültig aufſtellen zu dürfen, den Irrthum für
immer bannend, freylich aber zugleich die Freyheit des
Geiſtes. Eine ſolche juriſtiſche Concordienformel ſtellte
Juſtinian auf, und Niemand ſollte wagen, den Frieden
zu ſtören, den ſie zu bringen beſtimmt war. Wollen wir
ihn darüber hart beurtheilen? Unſer Geſichtskreis iſt
durch die Erfahrungen von Ein bis Zwey Tauſend Jah-
ren mehr erweitert, und doch wohnt das Weſentliche jener
Gedanken Juſtinians noch jetzt in denen, die von der Ab-
faſſung neuer Geſetzbücher ſo ſchwärmeriſche Hoffnungen
hegen: freylich ohne die Macht, und gewiß auch ohne den
Willen, ihre Gedanken durch ſo harten Zwang, wie es
Juſtinian verſuchte, zur Ausführung zu bringen.
Dieſe Betrachtungen ſollen nicht etwa das Verfahren
Juſtinians rechtfertigen, wozu ich gewiß nicht geneigt bin,
ſondern nur in einem milderen Lichte darſtellen, vorzüglich
aber inſoweit begreiflich machen, daß die Thatſache, von
deren Darſtellung an dieſer Stelle zunächſt die Rede iſt,
als buchſtäblich wahr angenommen, und gegen jede künſt-
liche oder gewaltſame Deutung geſchützt werde.
11
|0218 : 162|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
§. 27.
Praktiſcher Werth der Römiſchen Beſtimmungen über
die Rechtsquellen.
Nachdem die Ausſprüche des Römiſchen Rechts über
die Rechtsquellen aufgeſtellt worden ſind (§ 22 — 26), iſt
nun die Frage zu beantworten, welcher praktiſche Werth
denſelben, von unſerm Standpunkt aus, beyzulegen iſt.
Dieſe Frage bezieht ſich auf jeden Staat, worin einmal
die Reception Statt gefunden hat, und ſie muß in fol-
genden zwey verſchiedenen Anwendungen aufgefaßt und
beantwortet werden: erſtlich, iſt ſeit dem Zeitpunkt der
Reception die bisherige Fortbildung des Rechts (§ 21)
nach jenen Regeln zu prüfen und zu beurtheilen? Zwey-
tens, gelten dieſe Regeln für die künftige Fortbildung des
Rechts in einem ſolchen Staate? Die erſte Anwendung
bezieht ſich auf Dasjenige, was wir als wahren Inhalt
des jetzt geltenden gemeinen Rechts anzuerkennen haben:
die zweyte auf deſſen mögliche Abänderungen in der Zu-
kunft. Es iſt aber für beide Anwendungen nur eine und
dieſelbe Frage, deren Beantwortung alſo auch nach beiden
Seiten hin nicht verſchieden ausfallen kann.
Auf den erſten Blick ſcheint Nichts natürlicher, als die
Bejahung der Frage. Denn wo überhaupt Römiſches
Recht gilt, warum ſollte es in dieſem wichtigen Punkt,
für die fortgehende Entwicklung des Rechts, nicht gelten?
Die neueren Schriftſteller pflegen die Frage gar nicht auf-
|0219 : 163|
§. 27. Prakt. Werth der Röm. Beſtimmungen über die Rechtsq.
zuwerfen, ſondern ſtillſchweigend zu bejahen, und in dieſer
Vorausſetzung Stellen des Römiſchen Rechts zu benutzen:
freylich mit dem Vorbehalt, dieſe Benutzung da, wo ſie
allzu bedenklich erſcheinen würde, zu unterlaſſen.
Ich will zuvörderſt kurz zuſammen ſtellen, wie ſich die
durchgeführte Bejahung jener Frage geſtalten würde.
In Anſehung der eigentlichen Geſetze (§ 23) könnten
wir etwa noch auf die Mitwirkung des Senats bey ihrer
Abfaſſung verzichten, weil ein ſolcher, im Sinn des Rö-
miſchen Kaiſerreichs, in keinem neueren Staat vorhanden
iſt. Aber die ausſchließenden Kennzeichen eines wahren
Geſetzes müßten wir doch aus der Verordnung von Theo-
doſius II. entnehmen. — Weit wichtiger jedoch iſt die
Sache bey den landesherrlichen Reſcripten in einzelnen
Rechtsſachen (§ 24), die von jedem Richter als Geſetz
anerkannt werden müßten, wenigſtens in der eingeſchränk-
teren Weiſe, wie es nach Juſtinians Novellen noch anzu-
nehmen iſt. Dagegen haben ſich neuere Schriftſteller aus-
drücklich erklärt (a). Andere beſtehen feſt auf der Anwen-
dung der Römiſchen Regeln, zuweilen ſelbſt ohne Rück-
ſicht auf die durch die Novellen gemachten Einſchränkungen,
aber indem ſie in der Stille dieſen Regeln einen ganz
anderen Sinn unterlegen. Sie übergehen nämlich die Haupt-
ſache, die Geſetzeskraft für den einzelnen Fall, mit Stillſchwei-
gen, und legen den Reſcripten blos Geſetzeskraft für künf-
tige gleiche Fälle bey (b), die doch ſelbſt nach Römiſchem
(a) Mühlenbruch I § 35.
(b) Glück I § 96, der auch
11*
|0220 : 164|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Recht den Reſcripten niemals zukam, ſondern nur den
Decreten (§ 23. 24.).
Bey dem Gewohnheitsrecht (§ 25) wird im Allgemei-
nen die Anwendbarkeit des Römiſchen Rechts gar nicht
bezweifelt. Nur findet es ſich wohl, daß ein einzelner
Schriftſteller, wenn er eine beſondere Anwendung des Ge-
wohnheitsrechts überhaupt bekämpft, die doch im Römi-
ſchen Recht anerkannt iſt, dieſes Bedenken durch kritiſche
Zweifel an der Anwendbarkeit jenes Rechts zu entfer-
nen ſucht (c).
Bey dem wiſſenſchaftlichen Recht endlich (§ 26) pflegt
man das nicht unwichtige Geſetz Juſtinians gegen die juri-
ſtiſchen Bücher ganz mit Stillſchweigen zu übergehen, und
ich kenne auch nicht einen einzigen neueren Schriftſteller,
der aus Gehorſam gegen jenes Geſetz behauptete, ſolche
Bücher müßten noch jetzt zerſtört werden. Eine ſolche
Liebloſigkeit gegen das eigene Werk wäre auch in der
That unverantwortlich geweſen. Und doch, warum ſollte
dieſes Geſetz weniger Kraft haben, als die anderen über
verwandte Fragen?
Faßt man dieſes Alles zuſammen, ſo ergiebt es ſich,
daß unſere Juriſten die im Römiſchen Recht über die
andere Schriftſteller für und wi-
der ſeine Meynung anführt.
(c) So z. B. Schweitzer de
desuetudine p. 52. 53. 84. Die
ganze Schrift iſt gegen die Wir-
kung der reinen desuetudo ge-
richtet, und deswegen behauptet
er, daß in dieſer Frage das R. R.
keine Anwendbarkeit habe: für
das ganze übrige Gewohnheits-
recht ſoll es gelten, und nament-
lich ſchon für die nahe verwandte
Frage von der obrogatio durch
Gewohnheit.
|0221 : 165|
§. 27. Prakt. Werth der Röm. Beſtimmungen über die Rechtsq.
Rechtsquellen enthaltenen Vorſchriften ganz willkührlich
bald annehmen, bald mit Stillſchweigen übergehen. Da
nun eine unbedingte Anwendung aller dieſer Vorſchriften
ganz unmöglich ſeyn würde, ſo entſteht ſchon daraus ein
zwiefaches Bedenken gegen jede Anwendung überhaupt.
Denn erſtlich iſt dieſes Verfahren inconſequent, und gegen
dieſen Vorwurf könnte man ſich nur dadurch retten, daß
man annähme, durch ein neueres Gewohnheitsrecht ſey
z. B. das Verbot der juriſtiſchen Bücher wieder abgeſchafft
worden. Zweytens aber iſt zu erwägen, daß diejenigen
Vorſchriften, die man als noch jetzt gültig annimmt, ab-
getrennt von dem Zuſammenhang mit den verworfenen,
vielleicht eine ganz andere Natur annehmen, und ſelbſt
unpaſſend werden dürften.
Geht man aber der Sache mehr auf den Grund, und
fragt man, warum einige dieſer Vorſchriften, beſonders
welche die Geſetze betreffen, entſchieden für unanwendbar
gehalten werden müſſen, ſo erkennt man bald den Grund
darin, daß ſie dem Staatsrecht angehören, welches
überhaupt nicht unter die recipirten Theile des fremden
Rechts gehört (§ 1. 17.). Dieſer Grund aber paßt nicht
nur auf die Geſetzgebung, ſondern eben ſo auch auf jede
andere Bildungsweiſe des allgemeinen Rechts, ſo daß,
wer den Grundſatz feſthalten will, auch anerkennen muß,
daß das Römiſche Recht auf die Rechtsquellen überhaupt
nicht anzuwenden iſt. Dadurch wird denn unter andern
die Streitfrage über den Sinn der L. 2 C. quae si
|0222 : 166|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
longa consuet. für das praktiſche Recht ganz unbe-
deutend.
Alles was hier über die Unanwendbarkeit des Römi-
ſchen Rechts auf die Lehre von den Rechtsquellen geſagt
worden iſt, gilt ganz eben ſo auch von dem canoni-
ſchen Recht.
Anders würde es ſich in den Deutſchen Staaten mit
den Reichsgeſetzen verhalten, da dieſe unſtreitig für das
öffentliche Recht eben ſo wohl als für das Privatrecht
Geſetzeskraft hatten. Aber auch von ihnen kann hier nicht
die Rede ſeyn, da ſie überhaupt Nichts über die Rechts-
quellen enthalten, als die allgemeine und unbeſtimmte
Anerkennung des Daſeyns eines Gewohnheitsrechts (§ 25),
welches aber dieſer Anerkennung in der That nicht bedurfte.
§. 28.
Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen.
Es ſollen nun noch die Hauptpunkte angegeben wer-
den, worin die bey den Neueren als vorherrſchend erſchei-
nenden Anſichten der Rechtsquellen von den hier aufge-
ſtellten abweichen. Dabey wird großentheils ſchon die
bloße Aufſtellung des Gegenſatzes, ohne Angabe einzelner
Schriftſteller, und ohne Ausführung eines Streites, an
dieſer Stelle hinreichen.
Die Geſetzgebung wird ſehr gewöhnlich in ein ganz
anderes Verhältniß zu den Rechtsquellen überhaupt geſtellt.
Man hält ſie häufig für den einzig wahren und guten
|0223 : 167|
§. 28. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen.
Entſtehungsgrund des Rechts, neben welchem alles Übrige
nur als Nothhülfe vorkommen ſoll, und beſſer gar nicht
vorhanden wäre. Dadurch erhält zugleich die Rechts-
wiſſenſchaft einen ſehr zufälligen und veränderlichen Stoff,
und ein ſo abhängiges Daſeyn, daß ſie bey fortſchreiten-
der Vollkommenheit der Geſetzgebung immer unbedeutender
werden, und bey einem idealen Zuſtand derſelben endlich
verſchwinden müßte. — In der ferneren Entwicklung dieſer
Grundanſicht liegt der unbedingte Werth, den man in
neueren Zeiten auf neue umfaſſende Geſetzbücher ſetzt, und
die glänzende Erwartung, die man an die Abfaſſung der-
ſelben knüpft. Doch kommt es wohl auch vor, daß jene
Grundanſicht von Solchen angenommen wird, die dieſe
letzte Meynung nicht theilen, oder wenigſtens nicht mit
ſolcher Wichtigkeit behandeln, und dieſes dürfte leicht als
die Stimmung des größten Theils der ehrenwerthen Prak-
tiker befunden werden.
An die Geſetzgebung ſoll ſogleich das wiſſenſchaft-
liche Recht angeknüpft werden. Die Behandlung der
früheren Schriftſteller iſt bey den Neueren oft ſehr will-
kührlich und ungleich, ſo daß derſelben nach Gutfinden
in einzelnen Fällen ein Gewicht eingeräumt oder verſagt
wird, ohne daß ein leitender Grundſatz für dieſes abwech-
ſelnde Verfahren auch nur geſucht würde. Insbeſondere
wird nicht ſelten die Meynung der älteren Praktiker ſo
aufgefaßt, als ob durch ſie für alle Zeiten ein unabän-
derlicher Abſchluß gemacht wäre, und als ob nicht jedes
|0224 : 168|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Zeitalter ſeinen Anſpruch auf Fortbildung des Rechts
durch innere Kraft eben ſo geltend machen könnte, wie es
in jener früheren Zeit geſchehen war. Man pflegt ſich
dann unwillkührlich unſer Verhältniß zu jener früheren
Zeit in ähnlicher Weiſe zu denken, wie es durch Valenti-
nian III. zu ſeiner Vorzeit wirklich feſtgeſtellt war. Allein
dieſe Feſtſtellung war eine völlig poſitive, die ſich in keiner
Zeit von ſelbſt verſtehen kann: ganz beſonders aber hatte
ſie einen inneren Grund in dem wirklichen Abſterben der
Rechtswiſſenſchaft, wie des geiſtigen Lebens überhaupt,
anſtatt daß unſerer Zeit, wie man auch ſonſt von ihr
denken mag, eine große Regſamkeit gewiß nicht abzu-
ſprechen iſt.
Bey dem Gewohnheitsrecht würde eine ſo ſumma-
riſche Überſicht der herrſchenden neueren Meynungen nicht
genügen. Ich habe vielmehr die genauere Darſtellung
meiner eigenen Meynung über unſer praktiſches Gewohn-
heitsrecht (§ 18) bis an dieſen Ort aufgeſchoben, weil ſie
nur in Verbindung mit den anderwärts herrſchenden Mey-
nungen verſtändlich werden kann.
Nach der herrſchenden Anſicht iſt das Gewohnheits-
recht eine nicht natürliche Art der Rechtserzeugung, die
alſo, um anerkannt zu werden, einer ganz beſonderen
Rechtfertigung bedarf. Dieſe ſoll in Republiken in dem
Umſtand liegen, daß derſelbe populus (§ 10), der in einer
beſtimmten Weiſe gleichförmig handelt, zugleich auch der
Träger der geſetzgebenden Gewalt iſt. Darum führt alſo
|0225 : 169|
§. 28. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen.
jede Gewohnheit immer und nothwendig mit ſich die ſtill-
ſchweigende Einwilligung des Geſetzgebers in die geübte
einzelne Regel (consensus tacitus specialis), und jede Ge-
wohnheit erſcheint daher in einer Republik als ſtillſchwei-
gendes Geſetz. Anders in unſeren Monarchien, wo das
Volk, das die Gewohnheit äußert, ohne geſetzgebende Ge-
walt iſt, und der Fürſt, der die geſetzgebende Gewalt hat,
an der Gewohnheit keinen Theil nimmt. Auch die con-
ſtitutionelle Monarchie macht hierin keinen weſentlichen
Unterſchied, da vielleicht kein einziges Mitglied der Kam-
mern je an der Gewohnheit Theil genommen hat, auch
die Kammern allein, ohne den Fürſten, niemals das Ge-
ſetz machen. Hier erſcheint alſo das Gewohnheitsrecht als
eine Art von Oppoſition der Unterthanen gegen die Re-
gierung, als Anmaßung eines Zweigs der höchſten Gewalt,
und ein ſo gefährliches Unternehmen bedarf einer beſon-
ders vorſichtigen Rechtfertigung. Dieſe konnte nur geſucht
werden in der Einwilligung des Geſetzgebers, die aber
nicht, wie in der Republik, in der Gewohnheit ſelbſt ſchon
enthalten war, ſondern von außen hinzugethan werden
mußte. In den Ländern, worin Römiſches Recht gilt,
macht das keine Schwierigkeit, denn das Römiſche Recht
ſagt ja ganz deutlich, das Gewohnheitsrecht ſolle befolgt
werden. Darin liegt alſo der consensus generalis expres-
sus des Geſetzgebers in alle künftige Gewohnheiten. Nur
wenn die Gewohnheit ein Geſetz abſchaffen ſollte, ſchien
die L. 2 C. quae sit longa consuetudo noch eine andere
|0226 : 170|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Begründung nöthig zu machen. Und dieſe fand man in
des Fürſten consensus specialis tacitus für den einzelnen
Fall. Dabey kommen jedoch noch zwey verſchiedene Wen-
dungen vor, indem bald geſagt wird, der Conſens ſey
ſchon aus der bloßen Duldung der Gewohnheit zu ver-
muthen, bald aber es müſſe ſpeciell bewieſen werden, daß
der Geſetzgeber von dieſer Gewohnheit Kenntniß gehabt
habe (a). — Dieſes betraf die Gültigkeit des Gewohn-
heitsrechts überhaupt. In jedem einzelnen Fall aber wird
die bloße Gewohnheit, d. h. das gleichförmige Handeln,
als eigentlicher Entſtehungsgrund der Rechtsregel ange-
ſehen, ſo daß man annimmt, es müßte ſich dieſer Entſte-
hungsgrund ſtets in beſtimmte, einzeln erweisliche Hand-
lungen auflöſen laſſen. Dieſer beſchränkte Geſichtspunkt
konnte höchſtens auf partikuläre Gewohnheiten angewendet
werden, an welche allein man auch meiſtens zu denken
pflegt. Auf die großen und ſchwierigen Fälle des moder-
nen Gewohnheitsrechts dagegen, worin daſſelbe mit dem
wiſſenſchaftlichen Recht zuſammenfällt (§ 18. 20.), leidet
derſelbe gar keine Anwendung.
Dieſe Grundanſichten haben nun auch den größten Einfluß
auf die praktiſche Behandlung der einzelnen, das Gewohn-
heitsrecht betreffenden Fragen gehabt. Dieſelben betreffen
theils die Bedingungen — theils den Beweis — theils
die Wirkungen des Gewohnheitsrechts.
(a) Glück I § 85. Guilleaume Rechtslehre von der Gewohnheit,
Osnabrück 1801 § 24 — 27.
|0227 : 171|
§. 29. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.
§. 29.
Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen.
Fortſetzung.
Die Bedingungen, die man für die Entſtehung des
Gewohnheitsrechts anzunehmen pflegt, beziehen ſich durch-
aus auf die Natur derjenigen einzelnen Handlungen, aus
welchen man daſſelbe ſtets hervorgehen läßt (§ 28). Sie
haben daher auch nur eine einſeitige Anwendbarkeit auf
das partikuläre Gewohnheitsrecht, und ſelbſt bey dieſem
dürfen die einzelnen Handlungen nicht eigentlich als Ent-
ſtehungsgründe, ſondern vielmehr als Erſcheinungen oder
Kennzeichen einer vorhandenen gemeinſamen Rechtsüber-
zeugung angeſehen werden. Mit dieſen Modificationen
aber kann jenen Bedingungen allerdings Wahrheit zuge-
ſchrieben werden, ſo daß ſie einzeln geprüft und feſtgeſtellt
werden müſſen. Es ſollen nämlich, wie man behauptet,
jene Handlungen, um zur Begründung eines Gewohnheits-
rechts tauglich zu ſeyn, folgende Eigenſchaften an ſich tragen.
1) Es ſollen mehrere Handlungen ſeyn. Wie viele,
war lange beſtritten. Eine ſollte gewiß nicht hinreichen,
Zwey in der Regel auch nicht, doch ausnahmsweiſe möch-
ten ſie gelten. Endlich neigten die Meiſten dahin, Alles
dem richterlichen Ermeſſen zu überlaſſen, wobey man es
denn auch bewenden laſſen kann. Der Richter wird, nach
der verſchiedenen Beſchaffenheit der Handlungen, bald
mehr, bald weniger fordern, und dabey ſtets den Geſichts-
|0228 : 172|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
punkt feſt halten, daß durch die Mehrheit der Handlungen
der Einfluß des Individuellen und Zufälligen abgewehrt
werden ſoll, welches den täuſchenden Schein einer aus
gemeinſamer Rechtsüberzeugung hervorgehenden Handlung
annehmen kann (a).
2) Gleichförmige, ununterbrochene Handlungen; das
heißt, die Gewohnheit wird geſtört, wenn zwiſchen jenen
Handlungen andere, auf entgegengeſetzter Regel beruhende,
vorgekommen ſind. Dieſe Beſtimmung iſt unbedenklich (b).
3) Die Handlungen ſollen ſich lange Zeit hindurch
wiederholen. Die Länge der Zeit war ganz beſonders
beſtritten. Einige forderten 100 Jahre, weil irgendwo
einmal der Ausdruck longaevum dieſe Bedeutung hat.
Weit mehrere aber dachten, nach dem Ausdruck des cano-
niſchen Rechts, an die gewöhnliche Verjährungszeit, und
zwar longum tempus, alſo 10 Jahre, denn von 20 Jahren
ſollte nicht die Rede ſeyn, weil der Fürſt oder das Volk,
gegen welche gleichſam das neue Recht erworben werde,
ſtets gegenwärtig ſeyen. Nur gegen das canoniſche Recht,
alſo gegen die Kirche, wurden 40 Jahre verlangt, gegen
den Landesherrn eine unvordenkliche Zeit. Späterhin
haben ſich die Meiſten dahin geeinigt, gar keine beſtimmte
Zeit anzunehmen, ſondern Alles dem richterlichen Ermeſſen
zu überlaſſen, wobey man ſich denn beruhigen kann. Auch
(a) Lauterbach I. 3. § 36,
Müller ad Struv. I 3. § 20,
Glück I § 86 N. I. Beſonders
aber Puchta Gewohnheitsrecht
II. S. 79 fg. S. 85.
(b) Puchta II. S. 89 fg.
|0229 : 173|
§. 29. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.
hier, wie bey der Mehrheit der Handlungen, kommt Alles
darauf an, zu verhüten, daß das Individuelle, Zufällige,
Vorübergehende durch den täuſchenden Schein, den es
annehmen kann, fälſchlich als Kennzeichen einer zum
Grund liegenden gemeinſamen Rechtsüberzeugung angeſe-
hen werde (c).
4) Daß zu ſolchen Handlungen beſonders auch rich-
terliche Urtheile tauglich ſeyen, war allgemein anerkannt.
Dagegen behaupteten Manche, ſolche Urtheile ſeyen zu
einem Gewohnheitsrecht ganz unentbehrlich, was jedoch
von den Meiſten mit Recht verworfen wurde (d). Allein
ganz unbedingt kann ich ſelbſt die Zuläſſigkeit der Ur-
theile zu dieſem Zweck nicht einräumen. Es gilt viel-
mehr von denſelben das, was oben (§ 20) von den prak-
tiſchen Arbeiten der Juriſten überhaupt, mit Unterſchei-
dung der Fälle, geſagt worden iſt. Sind alſo die Ur-
theile namentlich auf ein Gewohnheitsrecht gegründet, ſo
gelten ſie als wichtige Zeugniſſe für deſſen Daſeyn. Eben
ſo, wenn ſie auch nur eine Rechtsregel überhaupt als
wahr und gewiß anerkennen, ohne ſich über deren Her-
kunft beſtimmter auszuſprechen. Anders wenn ſie eine
Rechtsregel aus theoretiſchen Gründen, und zwar aus
einer falſchen Theorie, herleiten: denn nun haben ſie ſelbſt
nur den Character der Theorie, und es läßt ſich aus ihnen
(c) Puchta II. S. 93 fg.
(d) Lauterbach I 3. § 35,
Müller ad Struv. I 3. § 20,
Glück I § 86 N. V. Guilleaume
a. a. O. § 31. Beſonders Puchta
II. S. 31 fg.
|0230 : 174|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
das Daſeyn jener Regel in dem gemeinſamen Rechtsbe-
wußtſeyn nicht erkennen.
5) Vornahme der Handlung in dem Gefühl rechtlicher
Nothwendigkeit (necessitatis opinio). Wenn alſo Viele,
auf dieſelbe Weiſe, und längere Zeit hindurch, bloße Frey-
gebigkeit geübt haben, ſo kann daraus nie ein Gewohn-
heitsrecht entſtehen, weil die Geber wie die Empfänger
ſtets einſahen, daß die Handlung willkührlich ſey, und
eben ſo auch unterbleiben oder anders eingerichtet werden
könnte. — Dieſe Bedingung iſt unter allen die wichtigſte,
und ihre Bedeutung wird in Verbindung mit den gleich
folgenden noch beſtimmter hervortreten. Die Stellen des
Römiſchen Rechts, worin ſie ausdrücklich anerkannt wird,
ſind ſchon oben (§ 25 Note d.) angegeben worden. Aus
dieſem Grund eignen ſich vorzugsweiſe richterliche Urtheile
zur Erkenntniß eines Gewohnheitsrechts, indem ſie nur
aus der Rechtsüberzeugung des Richters, nicht aus Will-
kühr, hervorgehen können. Weniger die Verträge, wel-
chen ſtets ein willkührliches Element inwohnt. Dennoch
können auch ſie als Erkenntnißmittel eines Gewohnheits-
rechts dienen, inſofern ſie eine Rechtsregel entweder als
wahr vorausſetzen, oder blos beſtätigend in ſich auf-
nehmen (e).
6) Die Handlungen ſollen nicht auf Irrthum beruhen.
Dieſe Bedingung hatte eine ausdrückliche Anerkennung des
Römiſchen Rechts für ſich (f), aber man verwickelte ſich
(e) Puchta II. S. 33 fg.
(f) S. u. Note l.
|0231 : 175|
§. 29. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.
damit in einen unauflöslichen Widerſpruch. Denn die
Rechtsregel ſollte ja erſt durch die Gewohnheit entſtanden
ſeyn, war alſo zur Zeit der erſten Handlung gewiß noch
nicht vorhanden. Dennoch ſollte, nach der vorigen Regel,
ſchon die erſte Handlung von der necessitatis opinio be-
gleitet ſeyn. Folglich beruhte dieſelbe auf einem Irrthum,
und durfte bey der Entſtehung des Gewohnheitsrechts gar
nicht mitgezählt werden. Daſſelbe aber gilt auch von der
zweyten Handlung, die nun erſte wird, und von der drit-
ten und allen folgenden. Die Bildung eines Gewohnheits-
rechts iſt daher, wenn man nicht eine jener Bedingungen
aufgiebt, ganz unmöglich. Der Widerſpruch iſt hier ſo
augenſcheinlich, daß auch in der That Einige den Irr-
thum nicht nur zugelaſſen, ſondern ganz conſequent als
nothwendig mit jedem Gewohnheitsrecht verbunden ange-
ſehen haben, ohne zu bedenken, daß dieſe Anſicht mit dem
Ausſpruch des Celſus nicht vereinbar iſt (g). — Von un-
ſerm Standpunkt aus entſteht gar kein Widerſpruch, da
die Rechtsregel durch die Gewohnheit nur offenbart, nicht
erzeugt wurde, folglich ſchon bey der erſten erweislichen
einzelnen Handlung die necessitatis opinio ohne allen Irr-
(g) Schweitzer de desuetu-
dine p. 78. (Hübner) Berich-
tigungen und Zuſätze zu Höpf-
ner S. 164. Dieſer ſucht ſich mit
L. 39 de leg. dadurch abzufinden,
daß er ſie auf irrige Geſetzaus-
legung beſchränkt, und dieſer die
Kraft eines Gewohnheitsrechts
abſpricht. Allein erſtens muß
dieſe Einſchränkung willkührlich
in die Stelle hineingetragen wer-
den; und zweytens, wenn jeder
andere Irrthum die Entſtehung
eines wahren Gewohnheitsrechts
nicht hindert, warum denn dieſer?
|0232 : 176|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
thum vorhanden ſeyn konnte und mußte. Indeſſen iſt
dieſe Bedingung nicht ohne alle Einſchränkung als wahr
anzunehmen. Wenn z. B. neben der wirklich vorhandenen
Volksüberzeugung der theoretiſche Irrthum nur als eine
äußere Beſtärkung gedient hat (§ 20), ſo ſteht der Irrthum
nicht im Wege. Eben ſo iſt es auch, wenn die Handlung
eine ſo äußerliche und an ſich gleichgültige Natur hat,
daß dabey von einer inneren Überzeugung eigentlich nicht
die Rede ſeyn kann. So z. B. kann es jetzt als ausge-
macht angeſehen werden, daß ſich ſeit dem Mittelalter eine,
dem Römiſchen Recht fremde Form in die Unterſchriften
und Siegel der Zeugen irrigerweiſe eingeſchlichen hat.
Dieſe urſprünglich irrige Form iſt durch den langen, völlig
gleichförmigen Gebrauch in der That zu einer Rechtsform
geworden (h).
7) Die Handlungen ſollen vernunftgemäß (rationabiles)
ſeyn. Die Stellen des canoniſchen Rechts, woraus dieſe
Bedingung abgeleitet wird, ſind ſchon oben angeführt wor-
den (§ 25 Note z.). Nimmt man dieſe Bedingung in
einem poſitiven Sinn, als Zweckmäßigkeit und Heilſam-
keit der in der Gewohnheit ausgedrückten Regel, ſo iſt
es ſehr bedenklich für die Rechtsgewißheit, dem Richter
das Urtheil über eine ſo wenig beſtimmbare Eigenſchaft
zu überlaſſen. Daher wird ſie denn auch häufiger in
einem blos negativen Sinn aufgefaßt, ſo daß dadurch nur
die ganz widerſinnigen, dem ſittlichen Gefühl widerſtre-
(h) Über den Irrthum bey Gewohnheiten vgl. Puchta II. S. 62 fg.
|0233 : 177|
§. 29. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.
benden Gewohnheiten abgewehrt werden ſollen (i). Für
dieſe, praktiſch wenig bedenkliche Deutung ſcheint eine
Stelle der peinlichen Gerichtsordnung zu ſprechen, worin
eine Anzahl von „böſen unvernünftigen“ Gewohnheiten an-
gegeben und misbilligt wird (k). Allein in dieſer Stelle wird
nicht etwa das Princip aufgeſtellt, worauf es hier ankommt,
daß die unvernünftigen Gewohnheiten an ſich ungültig,
und zur Bildung eines Rechtsſatzes untauglich ſeyen:
vielmehr findet es der Kaiſer nöthig, ſie aus ſeiner Macht
aufzuheben, was alſo ihre Rechtsgültigkeit bis zu dieſer
Aufhebung vorausſetzt, wenn man nicht in dem Geſetz
einen höchſt ungenauen Ausdruck annehmen will.
Faßt man dieſe drey letzten Bedingungen als ein Gan-
zes auf, ſo ergiebt ſich daraus folgender, aus dem Weſen
des Gewohnheitsrechts hervorgehender Sinn. Die Rechts-
regel entſteht durch das gemeinſame Rechtsbewußtſeyn,
oder durch die unmittelbare Überzeugung von der Wahr-
heit und an ſich ſelbſt (ohne äußere Sanction) bindenden
(i) Glück 1 § 86 N. III. Vgl.
beſonders Puchta II. S. 49 fg.
(k) C. C. C. art. 218: „....
als wir dann auß Kayſerlicher
macht die ſelben hiemit auffheben,
vernichten und abthun, und hin-
fürter nit eingefürt werden ſol-
len.“ — Dieſe Stelle kann um
ſo weniger für eine allgemeine
Beſtimmung über die bleibende
Natur des Gewohnheitsrechts
gelten, als in ihr die Erwäh-
nung der Gewohnheiten zum
Theil nur zufällig iſt. Denn ei-
nige der von ihr aufgehobenen
Rechtsſätze gründeten ſich gar
nicht auf Gewohnheiten, ſondern
auf Landesgeſetze. Jene Stelle
alſo ging darauf aus, im Straf-
recht das Verhältniß des allge-
meinen zum partikulären Rechte
feſtzuſtellen, nicht das davon we-
ſentlich verſchiedene Verhältniß
des geſchriebenen zum ungeſchrie-
benen Recht.
12
|0234 : 178|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
Kraft der Regel. Dieſe Überzeugung kann ſich offenbaren
durch gleichförmige einzelne Handlungen, das heißt durch
Gewohnheit. Dann müſſen aber dieſe Handlungen nicht
von dem Bewußtſeyn der Willkührlichkeit begleitet ſeyn,
wie z. B. Freygebigkeit, oder auch ein häufig vorkommen-
des Verbrechen, bey welchem ja kein Handelnder an ſei-
nem Unrecht, alſo an der individuellen Willkühr ſeines
Thuns zweifelt. Sie dürfen aber eben ſo wenig aus einem
erweislichen Irrthum hervorgehen, denn auch in dieſem
Fall liegt in ihnen nicht der Ausdruck jener unmittelbaren
Überzeugung, worauf allein Alles ankommt (l). Ein ſehr
erläuterndes Beyſpiel iſt es, wenn etwa der Richter aus
Verſehen eine ungloſſirte Stelle des Juſtinianiſchen Rechts
zur Anwendung bringt, blos weil in ſeiner Ausgabe ſolche
Stellen nicht augenſcheinlich von den anderen unterſchieden
ſind (§ 17); thun ihm das auch Mehrere nach, ſo entſteht
daraus dennoch kein Gewohnheitsrecht. — Betrachten wir
alſo den Irrthum und die Unvernünftigkeit blos als ſolche
Eigenſchaften des Handelns, wodurch es unfähig wird,
zur Anerkennung eines Gewohnheitsrechts mitzuwirken,
ſo erſcheint die Bedingung ihrer Abweſenheit nicht als
(l) L. 39 de leg. (1. 3.) „Quod
non ratione introductum, sed
errore primum, deinde consue-
tudine obtentum est: in aliis
similibus non obtinet.” Das
heißt: wenn die Gewohnheit aus-
ging nicht von einer gemeinſa-
men Rechtsüberzeugung, ſondern
ſogar erweislich von einem Irr-
thume (der jene Überzeugung
nothwendig ausſchließt), ſo iſt
deshalb kein Gewohnheitsrecht
anzunehmen, und wir finden alſo
darin keinen Grund, die künfti-
gen Fälle gleicher Art nach die-
ſer Regel zu beurtheilen.
|0235 : 179|
§. 29. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.
verſchieden von der allgemeinen Bedingung der necessita-
tis opinio, ſondern als eine bloße Folge oder Entwicklung
derſelben. Da auf dieſem Punkt die richtige Einſicht in
die Natur des Gewohnheitsrechts hauptſächlich beruht,
ſo wird es nicht überflüſſig ſeyn, das hier Geſagte durch
einige Beyſpiele zu erläutern. Das Römiſche Recht ver-
bietet, Zinſen von Zinſen zu nehmen. Wenn nun an einem
Ort dieſe Art des Wuchers ſehr gewöhnlich wäre, aber
ſtets künſtlich verſteckt würde, ſo könnte ſchon deswegen
kein Gewohnheitsrecht angenommen werden, weil aus der
Verheimlichung die Abweſenheit der rechtlichen Überzeu-
gung klar wäre. Dagegen iſt es in dem Handelsſtand
allgemein üblich, am Ende eines Jahres, zuweilen ſelbſt
eines kürzeren Zeitraums, Abſchlüſſe zu machen, und den
Saldo auf neue Rechnung zu übertragen, da er dann
ſogleich wieder Zinſen trägt, obgleich er ſelbſt zum Theil
aus Zinſen des abgeſchloſſenen Zeitraums beſteht. Das
iſt der Regel des Römiſchen Rechts allerdings entgegen,
aber es geſchieht offen und allgemein, und kann gar nicht
anders ſeyn, ohne die Einfachheit der Rechnungsführung
zu ſtören: auch paßt der Zweck des Römiſchen Verbots
auf dieſen Fall gar nicht. Hier iſt alſo das Verbot durch
eine allgemeine Gewohnheit des Handelsſtandes abgeſchafft,
wobey es gar nicht darauf ankommt, wie viele Einzelne
ſich von dieſem Zuſammenhang der Sache Rechenſchaft
geben mögen: denn Alle handeln ſo im Gefühl der Noth-
wendigkeit und Rechtmäßigkeit ihres Verfahrens. — Faſ-
12*
|0236 : 180|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
ſen wir nun aber dieſe Bedingungen des Gewohnheits-
rechts ſo auf, wie es hier dargeſtellt worden iſt, ſo erſchei-
nen dieſelben nicht blos auf einzelne Handlungen und
partikuläre Gewohnheiten anwendbar, ſondern auch auf
das noch wichtigere allgemeine Gewohnheitsrecht der neue-
ren Zeiten. Denn der Unterſchied, welcher oben in dem
praktiſchen Recht gemacht worden iſt, je nachdem es aus
einer falſchen Theorie hervorgieng, oder aber aus der
Beachtung der veränderten Zuſtände und Bedürfniſſe (§ 20)
— dieſer Unterſchied iſt in der That nichts Anderes, als die
Anwendung des hier entwickelten Grundſatzes. Die fal-
ſche Theorie iſt ein errore, non ratione obtentum, und
daher unfähig, als Gewohnheitsrecht zu gelten und zu
wirken: die aus dem Bedürfniß unſerer Verhältniſſe her-
vorgegangene Praxis dagegen hat die ratio, die nesessi-
tatis opinio, zur Grundlage, und muß daher als wahres
Gewohnheitsrecht gelten, ſelbſt wenn in die Verſuche einer
theoretiſchen Rechtfertigung derſelben auch mancher hiſto-
riſche Irrthum eingemiſcht ſeyn ſollte.
8) Endlich ſtellen Manche noch als eine beſondere,
ſelbſtſtändige Bedingung, die Publicität der einzelnen Hand-
lungen auf. Allerdings kann manche einzelne Handlung
durch ihre Öffentlichkeit zur Darlegung eines Gewohn-
heitsrechts beſonders tauglich, manche andere durch ihre
Verſtecktheit dazu ungeſchickt werden, wie es eben an eini-
gen Beyſpielen nachgewieſen worden iſt. Das liegt darin,
daß die Handlung durch dieſe Umſtände mehr oder weniger
|0237 : 181|
§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.
fähig wird, Kennzeichen einer zum Grund liegenden Rechts-
überzeugung zu ſeyn. Diejenigen aber, welche der Pu-
blicität eine eigenthümliche Wichtigkeit beylegen, gehen
dabey entweder von dem consensus populi oder dem con-
sensus principis aus, alſo von einem Grundirrthum über
das Weſen des Gewohnheitsrechts (§ 28). Nach dieſer
Auffaſſung kann daher die allgemeine Forderung der Pu-
blicität der Handlungen gar nicht eingeräumt werden (m).
§. 30.
Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen.
Fortſetzung.
Wenn wir von dem Beweiſe eines Gewohnheitsrechts
in praktiſcher Beziehung reden, ſo denken wir dabey an
einen Rechtsſtreit, worin eine Partey jenes Recht für ſich
geltend macht; wir fragen, wie der Richter zur Überzeu-
gung von demſelben gelange. Eine befriedigende Antwort
auf dieſe Frage iſt aber nur möglich, wenn wir zuvor
die allgemeinere Frage unterſuchen, wie überhaupt (ohne
Rückſicht auf einen Richter) die Erkenntniß von dem Da-
ſeyn und Inhalt eines Gewohnheitsrechts entſtehe (a).
Denken wir zunächſt an die Mitglieder derjenigen Ge-
noſſenſchaft, in welcher das Gewohnheitsrecht entſtanden
iſt, und fortdauernd lebt und wirkt (§ 7. 8.), ſo beant-
wortet ſich die Frage von ſelbſt; ihre Erkenntniß iſt eine
(m) Puchta II. S. 40 fg.
(a) Vgl. überhaupt Puchta Gewohnheitsrecht II. Buch 3 Kap. 3.4.
|0238 : 182|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
unmittelbare, da das Weſen jenes Rechts eben auf
dem gemeinſamen Rechtsbewußtſeyn dieſer Mitglieder be-
ruht. Inſofern kann man ſagen, daß jedes Gewohnheits-
recht auf Notorietät beruht (b). Man wende nicht ein,
daß dieſes zu viel beweiſe, indem nun niemals über ein
Gewohnheitsrecht geſtritten und Beweis verlangt werden
könne. Alles kommt darauf an, für wen und in welchem
Kreiſe Etwas notoriſch iſt. Nichts iſt notoriſcher in jedem
Volk, als ſeine geſammte Sprache; und doch wird der
Fremde, der ein Land betritt, von dieſer Sprache viel-
leicht kein Wort verſtehen. Eben ſo iſt es mit dem Ge-
wohnheitsrecht für Diejenigen, die außer dem Kreiſe jenes
gemeinſamen Rechtsbewußtſeyns ſtehen, und deren Erkennt-
niß des Gewohnheitsrechts daher nur eine mittelbare
oder künſtliche ſeyn kann. Nur dürfen wir dabey nicht
blos an Fremdlinge denken, denn es gehören dahin gewiß
auch alle Unmündige, und für viele Rechtsſätze auch die
Frauen. Alſo auch innerhalb des Volks, in welchem das
Gewohnheitsrecht beſteht, müſſen wir die Wiſſenden oder
Kundigen von denjenigen unterſcheiden, die an dem gemein-
ſamen Rechtsbewußtſeyn nicht wirklichen Antheil nehmen,
deren Rechtsverhältniſſe aber nicht minder unter dem Ge-
wohnheitsrecht ſtehen. Ja die Anzahl dieſer Kundigen
wird ſehr verſchieden ſeyn können je nach dem Inhalt
(b) L. 36 de leg. (1. 3.)
„Immo magnae auctoritatis hoc
jus habetur, quod in tantum
probatum est, ut non fuerit
necesse scripto id comprehen-
dere.”
|0239 : 183|
§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.
der einzelnen Rechtsregeln, und je nach der Sinnesart
und Bildungsſtufe des Volks; für eigentliche Juriſten ſind
ſolche des Gewohnheitsrechts Kundige in keinem Fall zu
halten. Auf einem ſolchen Zuſtand unmittelbarer Erkennt-
niß des Gewohnheitsrechts beruhte das altgermaniſche In-
ſtitut der Schöffengerichte, die aus Kundigen zuſammen-
geſetzt waren.
Es iſt nun ferner anzugeben, wie für Diejenigen, die
außer dem Kreiſe der Kundigen ſtehen, die ihnen allein
zugängliche mittelbare Erkenntniß des Gewohnheitsrechts
entſtehen könne, zu deren Erwerb ſie bald durch das eigene
Intereſſe an ihren Rechtsverhältniſſen, bald durch das
uneigennützige Bedürfniß der Belehrung, angetrieben wer-
den können. Sie können dieſe Erkenntniß erlangen erſtlich
durch einzelne Fälle der Übung, und wie dieſe beſchaffen
ſeyn müſſen, um zu einem ſolchen Zweck tauglich zu ſeyn,
iſt bereits beſtimmt worden (§ 29). Zweytens durch das
Zeugniß Derjenigen, die als Kundige eine unmittelbare
Erkenntniß haben. Ein ſolches Zeugniß kann geſucht und
gegeben werden für das vorübergehende Bedürfniß einer
einzelnen, in der Gegenwart wichtigen Rechtsfrage; es
kann aber auch in Aufzeichnungen niedergelegt ſeyn, deren
Wirkſamkeit eine größere Ausdehnung und Dauer hat.
Solche Zeugniſſe für ein einzelnes Vedürfniß der Ge-
genwart waren die von den alten Schöffen ausgeſtellten
Weisthümer (c). Auch den Römern war ein ſolches Ver-
(c) Eichhorn deutſches Privatrecht §. 5. 14. 26. — Manche
|0240 : 184|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
fahren nicht fremd, welches ſich aus folgendem merkwür-
digen Fall ergiebt. Juſtinian war gebeten worden, über
das foenus nauticum (bey uns Bodmerey genannt), ein
neues Geſetz zu geben. Er befahl einem Beamten, ſolche
Perſonen, die dieſes Gewerbe betrieben, über die darin
beobachteten Rechtsregeln eidlich als Zeugen zu verneh-
men, und in Gemäßheit dieſer Ausſagen erließ er ein Ge-
ſetz, wodurch der Inhalt der erkundeten Gewohnheiten
beſtätigt wurde (d). Wie ſelbſt in unſrer Zeit eine ſolche
Erforſchung des Gewohnheitsrechts durch das Bedürfniß
einzelner Fälle veranlaßt werden könne, wird ſogleich be-
merkt werden, da wo von dem Verhalten des Richters in
Beziehung auf ein zweifelhaftes Gewohnheitsrecht die
Rede ſeyn wird.
Unter die Aufzeichnungen, die ein Gewohnheitsrecht
auch für weitere Kreiſe und für künftige Zeiten bezeugen,
gehören zuerſt auch viele Weisthümer, die nicht durch das
Bedürfniß eines einzelnen Falles veranlaßt waren. Fer-
ner gehören dahin größtentheils die alten Völkergeſetze,
die ſpäteren Rechtsbücher, die Deutſchen Stadt- und Land-
rechte, die Statuten Italieniſcher Städte, und die Franzö-
möchten glauben, ein ſolches Ver-
fahren ſey nur in ſo einfachen
Zeiten, wie die der alten Schöf-
fen waren, möglich, nicht in un-
ſrer Zeit. Zur Widerlegung dient
England, wo man noch in un-
ſren Tagen ſehr geübt iſt in der
Erforſchung von Volkszuſtänden
aller Art, durch Vernehmung
von Sachkundigen der verſchie-
denſten Stände. Die dort übli-
chen Formen könnten theilweiſe
auch bey uns angewendet werden,
da wo es auf die Feſtſtellung ei-
nes Gewohnheitsrechts ankommt.
(d) Nov. 106. Vgl. Puchta
I. S. 116. II. S. 133.
|0241 : 185|
§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.
ſiſchen Coutumes. Allerdings findet ſich in dieſen ver-
ſchiedenartigen Sammlungen nicht ſelten geſetzliches Recht
zur Ergänzung eingemiſcht; ganz beſonders aber haben
ſie ſpäter in ähnlicher Art wie eigentliche Geſetze gewirkt,
ſo daß darüber ihre urſprüngliche Beſtimmung, als auf-
gezeichnetes Gewohnheitsrecht zu gelten, großentheils in
Vergeſſenheit gerathen iſt.
Es wäre zu wünſchen, daß in dem Geiſt dieſer Samm-
lungen früherer Zeit auch noch jetzt für die Verbreitung
und Erhaltung des beſtehenden Gewohnheitsrechts geſorgt
würde. Dieſes iſt die wahre Aufgabe der ſogenannten
Provinzialgeſetzbücher, die ſich von allgemeinen Geſetzbü-
chern beſonders dadurch unterſcheiden, daß ſie nicht, wie
dieſe, über das ganze Rechtsſyſtem Rede zu ſtehen haben,
ſondern nur über ſolche Gegenſtände, worüber die Ver-
faſſer gerade jetzt Etwas wiſſen, ſo daß ſie den Stoff mit
ihrem Denken völlig beherrſchen. Bedenklich aber iſt es,
eine ſolche Arbeit als etwas Augenblickliches, Abgeſchloſſe-
nes zu behandeln, ſo wie ein gewöhnliches Geſchäft, das
jetzt fertig werden muß; beſſer, wenn ſie als etwas all-
mälig Fortſchreitendes, in ſich Wachſendes, mit höheren
Gerichten in Verbindung gebracht wird. Aller Erfolg
beruht dabey auf der rechten Auswahl der Arbeiter, in
welchen zwey mögliche Einſeitigkeiten verderblich werden
können: die Vorliebe für die Centraliſation und Unifor-
mität des Rechts, wodurch allerdings die Bequemlichkeit
der Richter, und die Aufſicht auf die Geſchäftsmaſchine
|0242 : 186|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
ſehr befördert wird; auf der andern Seite aber die Lieb-
haberey an dem Eigenthümlichen und Alterthümlichen als
ſolchem. Dieſe Liebhaberey iſt ſchön und gut, aber die
eigentliche Wahrhaft iſt doch ſchöner, und die Sorge für
das Bedürfniß der lebendigen Gegenwart iſt doch beſſer. —
Soll nun eine ſolche Arbeit wahrhaft gelingen, ſo muß
ſie in derſelben Weiſe unternommen werden, wie vormals
die Weisthümer abgefaßt wurden; insbeſondere iſt dabey
die ſorgfältige Erkundigung auch bey Nichtjuriſten nicht
zu verſchmähen, bey welchen oft, neben dem Mangel an
wiſſenſchaftlicher Bildung, die anſchaulichſte Kenntniß von
dem Weſen der Rechtsverhältniſſe ſelbſt anzutreffen ſeyn
wird (Note c).
Von dieſer allgemeinen Betrachtung über die verſchie-
denen Arten, zur Erkenntniß eines Gewohnheitsrechts zu
gelangen, gehen wir jetzt über zu der beſondern Lage eines
Richters, der nach einem ſolchen Recht zu urtheilen hat.
Hierüber iſt folgende Anſicht ſehr verbreitet. Das Ge-
wohnheitsrecht ſey eine Thatſache, wie jede andere, die
zur Begründung eines Rechts gehöre, z. B. das Daſeyn
eines Vertrags oder Teſtaments. Der Richter nehme
keine Thatſache an, die ihm nicht von einer Partey ange-
führt und bewieſen werde; daher gelte über die Beweis-
laſt, und über die Führung des Beweiſes, in Beziehung
auf das Daſeyn eines Gewohnheitsrechts, alles Dasje-
nige, was in Beziehung auf andere Thatſachen, wie Ver-
träge und Teſtamente, von Keinem bezweifelt werden
|0243 : 187|
§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.
könne. — Allerdings haben Manche dieſe Anſicht in der
Anwendung gemildert, und dadurch das Bedenkliche der-
ſelben vermindert; ſie muß aber vielmehr von Grund aus
verworfen werden (e).
Jedes Rechtsverhältniß hat eine zwiefache Grundlage,
eine allgemeine und eine beſondere: jene iſt die Rechtsre-
gel, dieſe beſteht in den Thatſachen, wodurch die Anwen-
dung der Regel auf den einzelnen Fall vermittelt wird
(§ 5). Die Rechtsregel kann und ſoll der Richter kennen
(jus novit curia), von den Thatſachen kann und darf er
Nichts wiſſen, ſo lange nicht eine Partey ſie ihm ange-
führt und zur Überzeugung gebracht hat. Dieſer Gegen-
ſatz bleibt derſelbe, die Rechtsregel mag nun aus Geſetzen,
aus dem Gewohnheitsrecht, oder der Wiſſenſchaft hervor-
gegangen ſeyn. Jene Lehre alſo beruht auf einer Ver-
wechslung beider Grundlagen des Rechtsverhältniſſes,
indem ſie auf die Erkenntniß der Rechtsregel Dasjenige
überträgt, was nur von der Erkenntniß der beſonderen
Thatſachen des einzelnen Falles wahr iſt; denn von die-
ſen allein gilt die bemerkte Nothwendigkeit des Beweiſes
nach beſtimmten Prozeßregeln, und eben um dieſe wich-
tige Eigenthümlichkeit derſelben zu bezeichnen, nennen wir
ſie allein Thatſachen, wenn wir dieſen Ausdruck im
techniſchen Sinn gebrauchen. Dadurch erhält dieſer Aus-
druck, wie es bey jeder techniſchen Beſchränkung geſchieht,
(e) Puchta I. S. 105. II. S.
151 fg. Vgl. auch Lange Begrün-
dungslehre des Rechts, Erlangen
1821. § 16.
|0244 : 188|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
eine zweydeutige Natur, und dieſe Zweydeutigkeit hat die
erwähnte Verwechslung erzeugt oder doch befeſtigt. Denn
in einem allgemeineren Sinn kann man allerdings auch
die Entſtehung des Gewohnheitsrechts eine Thatſache nen-
nen, und das geſchieht eben von den Vertheidigern jener
Lehre. Wollten ſie aber hierin conſequent bleiben, ſo
müßten ſie daſſelbe Verfahren auch auf die Geſetze anwen-
den; denn auch das Geſetz beruht auf der Thatſache der
Promulgation, und der Richter dürfte alſo kein Geſetz
zur Anwendung bringen, deſſen Daſeyn und Inhalt ihm
nicht von einer Partey angegeben und bewieſen wäre.
Dieſes aber iſt wohl noch von Keinem behauptet worden,
obgleich hierin Geſetz und Gewohnheitsrecht, von dem
Standpunkt allgemeiner Betrachtung aus, vollkommen
gleiche Natur haben. Wollte man insbeſondere die hier
dargeſtellte Lehre (welches auch ihre innere Wahrheit ſeyn
möchte) aus dem Römiſchen Recht zu begründen verſu-
chen (f), ſo könnte auch dieſes nicht zugegeben werden, da
in der That das Römiſche Recht über den Beweis des
Gewohnheitsrechts keine Vorſchriften aufſtellt.
Dennoch iſt in dieſer, der Hauptſache nach irrigen, Lehre
ein wahres Element enthalten, und nur indem wir dieſes aner-
kennen, und in ſeine wahren Gränzen einſchließen, dürfen wir
hoffen, den damit vermiſchten Irrthum völlig zu beſeitigen (g).
(f) So ſcheint es anzuſehen
Eichhorn deutſches Privatrecht
§ 26.
(g) Vgl. Puchta Gewohnheits-
recht II. S. 165 fg.
|0245 : 189|
§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.
Unſer Rechtszuſtand iſt ein künſtlicher geworden; wir for-
dern von dem Richter ein wiſſenſchaftliches Rechtsſtudium,
über welches er ſich durch beſtimmte Prüfungen ausweiſen
muß, und dadurch wird ſeine Stellung eine ganz an-
dere als die der alten Schöffen war. Dieſe legten
bey jedem Rechtsſtreit Zeugniß ab von dem im Volk
lebenden Recht, deſſen unmittelbares Bewußtſeyn ihnen
beywohnte wie allen Übrigen, nur vielleicht durch größere
Übung reiner und vollſtändiger als Anderen. Indem wir
von dem heutigen Richter auf einer Seite weit mehr for-
dern, als von jenen gefordert wurde, müſſen wir auf der
anderen Seite unſere Forderungen herabſtimmen. Er ſoll
urtheilen mit Hülfe der nicht ohne Aufwand vieler Kräfte
erworbenen Wiſſenſchaft, daher können wir nicht erwar-
ten, daß er auch durch das Leben im Volke ein unmit-
telbares Rechtsbewußtſeyn, gleich den alten Schöffen,
erworben haben werde (h). Daraus folgt nun, daß unſer
heutiger Richter ſich anders verhalten muß zu dem Theil
des Rechts, welcher aus Geſetz oder Wiſſenſchaft, anders
zu dem, welcher aus Gewohnheitsrecht hervorgegangen
(h) Theilweiſe gründet ſich
dieſe Verſchiedenheit allerdings
auf den Umſtand, daß wir ein
fremdes Recht angenommen ha-
ben, welches ſeiner Natur nach
ſtets ein gelehrtes Studium nö-
thig macht; dennoch wäre es ir-
rig, hierin auch nur den Haupt-
grund zu ſuchen. Die Engländer
haben kein fremdes Recht, aber
die Maſſe ihrer Parlamentsacte
und Präjudicien iſt ſo ungeheuer,
daß die nothwendige Kenntniß
derſelben dem heutigen Engli-
ſchen Richter, eben ſo wie bey
uns das Studium des Römiſchen
Rechts, einen’ völlig verſchiedenen
Character von dem der alten
Schöffen giebt.
|0246 : 190|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
iſt. Das geſetzliche und wiſſenſchaftliche Recht kann und
ſoll er kennen, und er verletzt ſeine Amtspflicht, wenn er
aus Unkenntniß deſſelben unrichtig urtheilt; mit dem Ge-
wohnheitsrecht ſteht es für ihn nicht alſo. Die Partey
folglich, die ſicher ſeyn will, daß nicht zu ihrem Schaden
eine Regel des Gewohnheitsrechts überſehen werde, muß
dieſe Regel dem Richter anzeigen, und zugleich zur Über-
zeugung bringen; verſäumt ſie jenes, oder mislingt ihr
dieſes, ſo hat ſie ſich ſelbſt den Nachtheil zuzuſchreiben,
und den Richter trifft im Allgemeinen kein Vorwurf.
Hierin alſo liegt die unverkennbare praktiſche Ähnlich-
keit zwiſchen dem Gewohnheitsrecht und den eigentlichen,
wahren Thatſachen; denn auch dieſe müſſen allegirt und
bewieſen werden. Dennoch iſt dieſe Ähnlichkeit ſehr ver-
ſchieden von gänzlicher Übereinſtimmung, indem nämlich
folgende ſehr wichtige praktiſche Verſchiedenheiten daneben
beſtehen (i). Die Thatſache darf der Richter niemals ſup-
pliren, wenn nicht eine Partey ſie vorbringt; das Ge-
wohnheitsrecht darf und ſoll er beachten, wenn er auch
nur zufällig Kenntniß davon hat. Die Thatſache muß
in beſtimmten Zeitpunkten des Rechtsſtreits vorgebracht,
und nach beſtimmten Regeln und Formen des Prozeſſes
bewieſen werden; das Gewohnheitsrecht kann in jeder
Lage des Rechtsſtreits auf die Beurtheilung Einfluß be-
kommen, und über die Art der Beweisführung hat dabey
der Richter ganz freye Macht. Das Gewohnheitsrecht
(i) Puchta Gewohnheitsrecht II. S. 169. 176. 187 fg.
|0247 : 191|
§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.
iſt alſo hierin völlig ähnlich den ausländiſchen Geſetzen,
von welchen die Entſcheidung manches Rechtsſtreits ab-
hängig ſeyn kann. Ihre Kenntniß wird von dem Richter
nicht gefordert, und die Partey muß ſie angeben und
beweiſen, ganz wie es hier von dem Gewohnheitsrecht
bemerkt worden iſt, alſo auch ohne daß ſie dadurch mit
eigentlichen Thatſachen völlig auf gleiche Linie treten.
Kommt es alſo in einem Rechtsſtreit auf ein Gewohn-
heitsrecht an, ſo wird der Richter, um darüber Gewiß-
heit zu erlangen, nach freyer Erwägung der Umſtände
zu verfahren haben. Er kann ſeine Überzeugung ſchöpfen
aus einzelnen Fällen der Übung einer Rechtsregel, und
die nothwendige Beſchaffenheit ſolcher Fälle iſt ſchon oben
feſtgeſtellt worden (§ 29). Er kann aber auch ſolche Per-
ſonen, die des Gewohnheitsrechts unmittelbar kundig ſind,
über deſſen Inhalt vernehmen, die dann nicht ſowohl als
Zeugen, denn als Sachverſtändige betrachtet werden müſ-
ſen, da ſie nicht über einen Gegenſtand ſinnlicher Wahr-
nehmung befragt werden (k). Es wäre nicht richtig, die-
ſes Verfahren als unmittelbare Anwendung des Juſtinia-
niſchen Geſetzes, welches davon redet, zu betrachten
(Note d); denn Juſtinian ſagt nicht, was der Richter
thun ſolle, um ein Gewohnheitsrecht zu erfahren, ſondern
was er ſelbſt gethan habe, um in einem beſtimmten Fall
(k) Puchta II. S. 125 fg. S.
135 fg. Er führt auch frühere
Schriftſteller an, die dieſes Ver-
fahren billigen. — Vgl. oben
Note c.
|0248 : 192|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
ein dem Gewohnheitsrecht entſprechendes Geſetz vorzube-
reiten. Indem aber der Richter dieſes Beyſpiel befolgt,
handelt er gewiß im Geiſt unſrer Geſetze, und inſofern
kann auch die angeführte Novelle als Rechtfertigung dieſes
Verfahrens dienen. — Geſetzt, dieſelbe Regel des Ge-
wohnheitsrechts, die jetzt in einem Rechtsſtreit angeführt
und beſtritten wird, wäre ſchon in einem früheren Rechts-
ſtreit geltend gemacht worden, und es hätte ſie derſelbe
oder ein anderer Richter, nach ſorgfältiger Prüfung, als
wahr anerkannt, ſo wäre dieſes frühere Urtheil eine wich-
tige Autorität, gleichſam ein amtliches Zeugniß, wodurch
die gegenwärtige neue Erforſchung erleichtert oder ganz
entbehrlich gemacht werden könnte; um ſo mehr, als in
jenem früheren Rechtsſtreit der Widerſpruch des Gegners
die Aufmerkſamkeit des prüfenden Richters geſchärft haben
muß. Daher giebt Ulpian mit Recht dem Richter den
Rath, vor Allem nach ſolchen früheren Präjudicien über
das gegenwärtig beſtrittene Gewohnheitsrecht Erkundigung
anzuſtellen (l).
Wir dürfen jedoch nicht vergeſſen, daß dieſe etwas
abweichende Behandlung des Gewohnheitsrechts, in Ver-
gleichung mit anderen Rechtsquellen, nicht in dem Weſen
(l) L. 34 de leg. (1. 3.) „Cum
de consuetudine civitatis vel
provinciae confidere quis vide-
tur: primum quidem illud ex-
plorandum arbitror, an etiam
contradicto aliquando judicio
consuetudo firmata sit.” Vgl.
Puchta I. S. 96. II. S. 129 fg.
— Mit Unrecht haben Manche
hieraus die Nothwendigkeit
richterlicher Urtheile zur Begrün-
dung eines Gewohnheitsrechts
herleiten wollen (§ 29).
|0249 : 193|
§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.
jenes Rechts ſelbſt ihren Grund hat, ſondern in den un-
vermeidlichen Unvollkommenheiten unſres Rechtszuſtandes,
die wir nicht zu verantworten haben, wohl aber ausglei-
chen müſſen, ſo gut wir können. Daher iſt es nöthig,
den Fall dieſer Abweichungen, die ſtets als Nothhülfe an-
zuſehen ſind, in ſo enge Gränzen als möglich einzuſchlie-
ßen. Es kann nun davon nicht die Rede ſeyn, zuvörderſt
bey den dem gemeinen Recht angehörenden Gewohnheiten.
Denn dieſe ſind ohne Ausnahme durch das Medium wiſ-
ſenſchaftlicher Verarbeitung und Anerkennung hindurch
gegangen, und tragen alſo den volksmäßigen Character
nicht an ſich, der den Grund der hier dargeſtellten Schwie-
rigkeit ausmacht. Wenn alſo eine Partey, mit dem Wi-
derſpruch des Gegners, behauptet, daß das nudum pactum
eine Klage bewirke, oder daß die leges restitutae im Co-
dex, imgleichen die publiciſtiſchen Sätze des Römiſchen
Rechts, keine praktiſche Geltung haben, ſo ſind dieſes
zwar Sätze des allgemeinen Gewohnheitsrechts; aber kein
Richter wird darüber ein Beweisverfahren anſtellen, durch
Aufſuchung einzelner Fälle der Übung jener Sätze, oder
durch Abhörung kundiger Zeugen über dieſelben. — Da-
durch beſchränkt ſich alſo die Anwendung jener Abwei-
chungen auf das partikuläre Gewohnheitsrecht. Aber
auch in dieſem wird ſie wegfallen, wenn durch die oben
als wünſchenswerth dargeſtellten Maaßregeln für die
Sammlung und Aufzeichnung des beſtehenden Gewohn-
heitsrechts im Allgemeinen vorgeſorgt iſt. Werden in
13
|0250 : 194|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
unſren Tagen ſolche Sammlungen veranſtaltet, ſo wird
darüber ohnehin nicht leicht ein Zweifel entſtehen können,
weil die Sammlungen ſelbſt meiſt eine geſetzliche Beſtäti-
gung erhalten werden.
Was endlich die Wirkungen des Gewohnheitsrechts
betrifft, ſo mußte daſſelbe im Allgemeinen wohl den Ge-
ſetzen gleich geſtellt werden, da dieſe Gleichheit im Rö-
miſchen Recht, das man hierin als Norm anerkannte,
ganz ausdrücklich vorgeſchrieben war. In jedem einzelnen
Fall eines Gewohnheitsrechts aber konnte ſich dieſe Wir-
kung auf zweyerley Weiſe äußern, je nachdem für die-
ſelbe Rechtsfrage auch ſchon ein Geſetz vorhanden war,
oder nicht. Im letzten Fall entſtand keine Schwierigkeit,
indem nun das Gewohnheitsrecht unſtreitig in dieſem
Punkt die unvollſtändige Geſetzgebung ergänzte. Im
erſten Fall (wenn das Gewohnheitsrecht mit einem Geſetz
im Widerſtreit ſtand) führte das Princip der Gleichheit
dahin, jederzeit dem neueren unter dieſen beiden Rechten
den Vorzug zu geben, ohne Unterſchied, ob es das Geſetz
war oder das Gewohnheitsrecht. Einigen Zweifel hieran
erregte allerdings die L. 2 C. quae sit longa consu. Den-
noch haben ſtets die Meiſten dem Gewohnheitsrecht die
Kraft der Abänderung früherer Geſetze eingeräumt, und
nur für gewiſſe Fälle, wegen jener Stelle des Codex,
eine Ausnahme behauptet (m). — In neuerer Zeit aber
iſt von Mehreren folgender Unterſchied geltend gemacht
(m) Vgl. die Beylage II.
|0251 : 195|
§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.
worden. Es ſoll entweder die Rede ſeyn von der bloßen
Abſchaffung eines Geſetzes durch Nichtgebrauch (desuetudo),
oder von der Verdrängung deſſelben durch ein Gewohn-
heitsrecht, welches eine andere Regel an die Stelle ſetze
(consuetudo obrogatoria). Die letzte ſey immer unbedenk-
lich erlaubt, die erſte aber gänzlich zu verwerfen (n). —
Dieſer Unterſchied jedoch iſt zuerſt durch die angeführte
Stelle des Codex auch nicht einmal ſcheinbar begründet,
da dieſe, wenn man ſie buchſtäblich nehmen will, beide
Fälle gleichmäßig verwirft: denn eine Gewohnheit, die
eine neue Regel aufſtellt, z. B. die Strafe des Geſetzes
erhöht oder vermindert, überwindet ja eben ſo gut das
Geſetz als eine ſolche, die das Strafgeſetz blos aufhebt,
indem ſie die bisher ſtrafbare Handlung ſtraflos macht.
Auch in dem Weſen des Gewohnheitsrechts liegt kein
Grund für dieſe Unterſcheidung. Freylich kann ſich hinter
den Ausdruck desuetudo Etwas verſtecken, das gar nicht
Gewohnheitsrecht iſt, nämlich die Nichtanwendung eines
Geſetzes einen langen Zeitraum hindurch, weil gerade kein
Fall der Anwendung vorgekommen war. In einer ſolchen
Unterlaſſung kann ſich keine Rechtsüberzeugung offenbart
haben, alſo kann auch darin kein Gewohnheitsrecht liegen.
Dieſes kann vielmehr nur dann angenommen werden, wenn
(n) Die ausführliche Verthei-
digung dieſer Meynung iſt der
Zweck von: Schweitzer de de-
suetudine Lips. 1801. Für die-
ſelbe Anſicht erklärt ſich: (Hüb-
ner) Berichtigungen und Zuſätze
zu Höpfner S. 159. — Die rich-
tige Anſicht iſt ſehr befriedigend
dargeſtellt von Puchta Gewohn-
heitsrecht II. S. 199 fg.
13*
|0252 : 196|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
wirklich ſolche Fälle vorgekommen ſind, und man dennoch
die Anwendung des Geſetzes unterlaſſen hat. Dann aber
iſt in der That kein Grund vorhanden, der wahren,
eigentlichen Gewohnheit jener Nichtanwendung weniger
Kraft gegen das Geſetz einzuräumen, als derjenigen
Gewohnheit, welche eine andere poſitive Regel anſtatt
des Geſetzes aufſtellt. Ja eigentlich kann man jede
desuetudo auch zugleich ſo auffaſſen, daß dadurch eine
andere Regel ſubſtituirt wird. Denn wenn z. B. das Ver-
bot der Zinſeszinſen für die laufenden Rechnungen des
Handelsſtandes abgeſchafft wird, ſo iſt das allerdings
zunächſt eine desuetndo; allein dieſe hat zugleich die Folge,
daß in ſolchen Fällen die allgemeinere Rechtsregel an-
wendbar wird, wodurch alle nicht beſonders verbotene
Zinsverträge für gültig erklärt werden.
Eine Modification der Wirkung tritt ein, wenn eine
partikuläre Gewohnheit entweder mit dem Staatsintereſſe,
oder mit einem abſoluten allgemeinen Landesgeſetz in Wi-
derſtreit iſt. Hier muß der Gewohnheit, ſelbſt wenn ſie
neuer iſt als das Geſetz, jede Kraft abgeſprochen werden,
und dieſer Satz folgt nicht nur aus der richtigen Erklä-
rung der angeführten Stelle des Codex, ſondern auch aus
der Natur des Verhältniſſes eines einzelnen Theils des
Staates zum Ganzen (o). So würde z. B. ein neues
Wuchergeſetz allgemein angewendet werden müſſen, und
keine partikuläre Gewohnheit, möchte ſie vor oder nach
(o) Vgl. die angeführte Beylage II.
|0253 : 197|
§. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechtsq.
jenem Geſetz entſtanden ſeyn, dürfte dieſe Anwendung
hindern.
§. 31.
Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die
Rechtsquellen.
Die hier dargeſtellten Anſichten neuerer Schriftſteller
konnten nicht ohne Einfluß auf die in unſrer Zeit entſtan-
denen Geſetzbücher bleiben, und es ſoll nun noch angege-
ben werden, wie, von dem Standpunkt dieſer Geſetzbücher
aus, die Rechtsquellen zu betrachten ſind.
Das Preußiſche Landrecht (das älteſte unter ihnen)
hebt zuerſt das ganze bis dahin geltende gemeine Recht
auf, ſetzt ſich alſo allein an deſſen Stelle: und dieſe Auf-
hebung war ganz conſequent, indem alles Brauchbare aus
dem früheren Recht hier aufgenommen ſeyn ſollte (a). —
Für die Zukunft beſtimmt es zuerſt die Art, wie die Ge-
ſetze abgefaßt, und wie ſie bekannt gemacht werden ſoll-
ten (b). Auch das war nicht inconſequent, da ja über-
haupt das Landrecht viele Stücke des Staatsrechts in
ſich aufnahm; nur wurden einige Zeit nachher dieſe Be-
ſtimmungen ganz unzureichend befunden, und durch andere
erſetzt. — Das bisher geltende allgemeine Gewohnheits-
recht war in der Aufhebung des gemeinen Rechts mitbe-
griffen. Das partikuläre Gewohnheitsrecht ſollte geſam-
melt, und binnen zwey Jahren, ſoweit es brauchbar wäre,
(a) Publikationspatent § 1.
(b) L. R. Einleitung § 7—11.
|0254 : 198|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
neben den provinziellen Geſetzen, in Provinzialgeſetzbüchern
zuſammengeſtellt werden. Was hier nicht aufgenommen
wäre, ſollte nur gelten, inſoferne das Landrecht entweder
in einzelnen Stellen auf Ortsgewohnheiten verwieſe, oder
dadurch ergänzt würde (c). Über die künftige Entſtehung
eines neuen Gewohnheitsrechts iſt Nichts beſtimmt; ohne
Zweifel ſollte auch dieſes nur unter den zwey erwähnten
alternativen Vorausſetzungen, alſo auch nur als partiku-
läres Recht zuläſſig ſeyn. — Endlich über das wiſſen-
ſchaftliche Recht wird geſagt: „Auf Meynungen der Rechts-
lehrer, oder ältere Ausſprüche der Richter, ſoll, bey künf-
tigen Entſcheidungen, keine Rückſicht genommen wer-
den (d).“ Unter den Ausſprüchen der Richter ſind hier
gewiß die Präjudicien, nicht die rechtskräftigen Urtheile
gemeynt, obgleich der Ausdruck auf beide Arten der Ein-
wirkung bezogen werden könnte. Daß darauf, ſo wie
auf die Meynungen der Rechtslehrer, keine Rückſicht ge-
nommen werden ſoll, hat gewiß nur den Sinn, daß ihnen
keine bindende, den Geſetzen ähnliche Kraft beyzulegen iſt;
denn den Einfluß auf die Anſicht und Überzeugung des
künftigen Richters, alſo die (vielleicht unbewußte) Rück-
ſicht darauf kann ja kein Geſetz verhindern.
Das Franzöſiſche Geſetzbuch enthält, eben ſo con-
ſequent, über dieſe Gegenſtände keine directe Beſtimmung,
da es ſich überhaupt nicht auf das öffentliche Recht
(c) Publikationspatent § 7. — L. R. Einleitung § 3. 4.
(d) L. R. Einleitung § 6.
|0255 : 199|
§. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechtsq.
erſtreckt. Die Aufhebung des bisher geltenden fremden
Rechts, der königlichen Ordonnanzen, ſo wie der provin-
ziellen und örtlichen Rechte, inſofern deren Gegenſtand
in dem Code berührt wäre, wurde in einem beſondern
Geſetze ausgeſprochen (e). Der Code ſelbſt enthält nur
die wichtige indirecte Beſtimmung, daß kein Richter we-
gen der Dunkelheit oder Unzulänglichkeit der Geſetze ſein
Urtheil verweigern dürfe (f). Darin liegt die Berechtigung
des Richters, ſich in ſolchen Fällen ſelbſt zu helfen, wie
er kann; gegen den Misbrauch dieſes Rechts ſchützt der
Caſſationshof, ſo daß alſo hierin ein conſequent durchge-
führtes Syſtem wahrzunehmen iſt. Außerdem verweiſt
der Code in einigen wenigen Lehren (Servituten und
Miethvertrag) auf örtliche Gewohnheiten und Regle-
ments (g). Von der künftigen Rechtserzeugung wird
Nichts geſagt: ohne Zweifel aber iſt es ſo gemeynt, daß
ein allgemeines Gewohnheitsrecht künftig nicht entſtehen
ſoll, ein partikuläres aber nur in den wenigen Fällen,
(e) Loi du 21. Mars 1804 „à
compter du jour ou les lois
composant le code civil sont
exécutoires, les lois romaines,
les ordonnances, les coutumes
générales ou locales, les sta-
tuts et reglements ont cessé
d’avoir force de loi générale
ou particulière dans les ma-
tieres qui sont l’objet de ces
lois.” Coutumes générales ou
locales heißt nicht etwa allge-
meines oder partikuläres Gewohn-
heitsrecht, ſondern: Provinzial-
recht oder Stadtrecht (ohne Un-
terſchied, ob geſchrieben oder un-
geſchrieben). Gewohnheitsrecht
heißt usage.
(f) Code civil art. 4.
(g) Code civil art. 645. 650.
663. 671. 674. 1736. 1754. 1758.
1777. — Nur ſcheinbar gehören
dahin art. 1135. 1159. 1160.
|0256 : 200|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
worin der Code auch ſchon jetzt auf Ortsgewohnheiten
verweiſt.
Das Öſterreichiſche Geſetzbuch enthält die Auf-
hebung des gemeinen Rechts, und namentlich auch der
Gewohnheiten, im Einführungspatent von 1811. Im
Geſetzbuch ſelbſt wird über die Geſetzgebung Nichts be-
ſtimmt, wie es ſich denn überhaupt auf das Privatrecht
beſchränkt. Gewohnheiten ſollen nur bey den Gegenſtän-
den gelten, wobey ein Geſetz auf dieſelben verweiſt. Von
richterlichen Urtheilen wird nur geſagt, daß ſie nie die
Kraft eines Geſetzes haben, und daß ſie auf andere Fälle
oder andere Perſonen nicht ausgedehnt werden können (h).
Unter allen dieſen Beſtimmungen ſind minder wichtig
die, welche die Geſetzgebung betreffen, indem, was hierin
wichtig iſt, doch anderwärts, und nicht in dem allgemeinen
Geſetzbuch, ſeine Erledigung findet: eben ſo was das Ge-
wohnheitsrecht angeht, indem ohnehin dieſe Art der Rechts-
bildung, inſofern ſie als rein volksmäßig, und von dem
wiſſenſchaftlichen Recht unabhängig gedacht wird, in neue-
ren Zeiten weniger vorkommt. Wichtig dagegen iſt das
Verhältniß, in welches in jedem dieſer Staaten das Par-
tikularrecht zu dem allgemeinen Recht geſtellt iſt: dieſes
jedoch liegt außer dem Kreiſe unſrer Betrachtung. Das
allerwichtigſte aber iſt das Verhältniß der Geſetzbücher
zu dem wiſſenſchaftlichen Recht, das heißt einestheils der
fortwährende Einfluß der Literatur und des Gerichtsge-
(h) Öſterreichiſches Geſetzbuch § 10. 12.
|0257 : 201|
§. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechtsq.
brauchs auf die wirkliche Rechtspflege, anderntheils die
Art, wie das neue Recht von dem Richterſtand geiſtig
aufgenommen und verarbeitet werden ſollte: und zwar
nicht wie dieſes Verhältniß in den Geſetzbüchern ausdrück-
lich beſtimmt iſt (denn das iſt wenig oder Nichts), ſon-
dern wie man daſſelbe gedacht, erwartet, vorbereitet hat,
und wie es in der That geworden iſt. Hierin nun zeigt
ſich ein merkwürdiger Unterſchied (§ 21). In Preußen
hatte die ganze Reform keine politiſche Veranlaſſung, ſondern
lediglich den reinen, wohlwollenden Zweck, einen mangel-
haften Zuſtand zu verbeſſern, und etwas recht Gutes an
die Stelle zu ſetzen. Die fühlbarſten Übel aber hiengen
mit dem Zuſtand der juriſtiſchen Literatur zuſammen. In
dieſer fand ſich wohl Gelehrſamkeit und Forſchungsgeiſt,
alſo mancher gute Stoff, aber wenig Zuſammenhang,
und beſonders war der praktiſche Theil der Rechtswiſſen-
ſchaft hinter der allgemeinen Zeitbildung zurück geblieben,
und außer Anſehen gekommen. Daß der Zuſammenhang
mit dieſer Literatur ganz abſterbe, ſchien ein Vortheil, ja
nothwendig. Es iſt alſo augenſcheinlich, daß bey der
ganzen Unternehmung ähnliche Gedanken zum Grund
lagen, wie ſie einſt Juſtinian hegte (§ 26), nur mit den
Unterſchieden, die aus dem freyeren und geiſtigeren Zu-
ſtand unſrer Zeit hervorgehen mußten. Darum wurde
zu einer ähnlichen Unterdrückung aller Wiſſenſchaft über-
haupt kein Verſuch gemacht. Auf der Baſis des neuen
Geſetzbuchs ſollte vielmehr eine neue Rechtswiſſenſchaft
|0258 : 202|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
entſtehen, darauf war die große Ausführlichkeit des Ge-
ſetzbuchs, und ſelbſt deſſen lehrender Ton eingerichtet.
Der negative Theil dieſer Erwartung iſt unmittelbar in
Erfüllung gegangen, denn der Zuſammenhang mit der
früheren Rechtswiſſenſchaft hat größtentheils aufgehört.
Eine neue Rechtswiſſenſchaft aber ſchien beynahe Vierzig
Jahre lang auch nicht entſtehen zu wollen. Erſt ſeit Kur-
zem hat ſich hierin eine bedeutende Regſamkeit entwickelt,
welche zu den günſtigſten Erwartungen berechtigt. — In-
wieferne der eigentliche Zweck der neuen Geſetzgebung,
die Praxis ausſchließend und vollſtändig zu beherrſchen
und dadurch gleichförmig zu machen, erreicht worden iſt,
das würde ſich nur durch Vergleichung der in den einzel-
nen Gerichten herrſchenden Anſichten beurtheilen laſſen,
wozu es jedoch an literariſchem Material lange gefehlt
hat. Indeſſen iſt auch zur Förderung dieſes Zwecks nun-
mehr ein trefflicher Anfang gemacht worden (i).
Faſt Alles war anders in Frankreich (§ 21). Nicht
daß man den Zuſtand des Rechts ſchlecht, oder gar uner-
träglich gefunden hätte, war hier die Urſache der neuen
Geſetzgebung, ſondern dieſe gehörte zur natürlichen Ent-
wicklung der Revolution. Das Streben derſelben war
vorzüglich auf die Zerſtörung der hiſtoriſchen Verhältniſſe,
beſonders auch der Verſchiedenheit der Provinzen, gerich-
tet, und dieſe gleichſtellende Auflöſung alles örtlich Ver-
(i) Simon und Strampff Rechtsſprüche preußiſcher Gerichts-
höfe. Berlin 1828. fg. 8.
|0259 : 203|
§. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechtsq.
ſchiedenen in einem einfachen Frankreich ſollte nun auch
von Seiten des Privatrechts vollzogen werden; das war
der Hauptzweck des Code. Nun hatte vor der Revolu-
tion zwar die gelehrte Seite der Rechtswiſſenſchaft weit
niedriger geſtanden als in Deutſchland, die praktiſche Seite
dagegen höher. Die gerichtliche Beredſamkeit, die Ver-
bindung mit der geſelligen Bildung der großen Haupt-
ſtadt, der Glanz und Einfluß der Parlamente — Alles
hatte zuſammen gewirkt, um dem Stand und der Thä-
tigkeit der Richter und Advokaten höhere Vildung, und
durch dieſe auch bedeutendes Anſehen zu erhalten. Die
ſo entſtandene Jurisprudence zu verdrängen, dachte man
bey der Abfaſſung des Code nicht, man rechnete vielmehr
auf ihre ungeſtörte Fortdauer, und eben in dieſer Vor-
ausſetzung konnte man oft die wichtigſten Rechtsinſtitute
ſo kurz abfertigen. Der wirkliche Erfolg ſtimmt damit
ganz überein. Die neuere juriſtiſche Literatur ſteht mit
der früheren in ſo ununterbrochenem Zuſammenhang, daß
man kaum glauben ſollte, es liege zwiſchen ihnen eine ſo
wichtige Thatſache, wie die Erſcheinung des Code. Ja
es iſt vielleicht keine Seite des öffentlichen Lebens in
Frankreich, die durch die Revolution ſo wenig von Grund
aus erſchüttert und verändert worden wäre, als die bür-
gerliche Rechtspflege.
So hat ſich alſo auch hierin der verſchiedene Geiſt
der Nationen, mit ihren eigenthümlichen Vorzügen und
Schwächen, bewährt. Gewiß alſo werden Diejenigen,
|0260 : 204|
Buch I. Quellen. Kap. III. Quellen des heutigen R. R.
denen die höhere Leitung einer jeden obliegt, wohl thun,
deren beſonderes Bedürfniß zu bedenken, und zugleich die
Kräfte zu beachten, auf welche in ihr vorzugsweiſe zu
rechnen iſt, um Großes zu bewirken. Namentlich in
Deutſchland würde es nicht räthlich ſeyn, die Entwicklung
des Rechts in ähnlicher Art, wie es im Mittelalter und
noch ſpäterhin geſchah, ſich ſelbſt zu überlaſſen, woraus
eben die moderne Praxis entſtanden iſt. Auf der andern
Seite aber wäre es eben ſo wenig räthlich, wenn für
dieſen Zweck durch die höchſten Staatsbehörden (zunächſt
die Juſtizminiſterien) im gewöhnlichen Geſchäftsmechanis-
mus geſorgt würde, ſo wie für jedes laufende Geſchäft,
das eben, ſo gut es gelingen will, fertig gemacht werden
muß. Vielmehr iſt anzuerkennen, daß der Zweck nicht
erreicht werden kann durch Wiſſenſchaft allein, eben ſo
wenig aber durch Praxis allein, ſondern nur dadurch,
daß beide verbunden werden und ſich durchdringen. Die-
ſes aber könnte in jedem größeren Staate geſchehen durch
eine aus gründlichen Gelehrten und erfahrnen Geſchäfts-
männern gebildete Geſetzkommiſſion, die in fortgeſetzter
lebendiger Verbindung mit den höheren Gerichten ſtehen,
und durch dieſe die Erfahrungen des im Leben vorkom-
menden Rechts einſammeln müßte. Durch eine ſolche
Einrichtung würde mit Bewußtſeyn, und daher mit ſichre-
rem Erfolg, geſchehen, was in den früheren Jahrhunder-
ten bewußtlos geſchah. Zugleich wäre dieſe Einrichtung,
bey gänzlicher Verſchiedenheit der äußeren Form, dem
|0261 : 205|
§. 31. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die Rechtsq.
inneren Weſen nach ähnlich derjenigen Fortbildung, die
im Römiſchen Recht durch das jährlich revidirte präto-
riſche Edict bewirkt wurde. — Jedoch iſt dieſe Bemerkung
nur zu beziehen auf diejenige Fortbildung des Rechts,
welche durch die demſelben inwohnende organiſche Kraft,
alſo durch innere Entwicklung, bewirkt wird (§ 7). Dann
kann in dieſer Form Vieles von demjenigen zweckmäßig
und befriedigend geleiſtet werden, was außerdem der Ge-
ſetzgebung anheim fallen müßte (§ 13). Daß dieſer Ge-
genſatz nicht hier willkührlich erſonnen, ſondern durch Er-
fahrung bewährt, und im Großen (wenngleich vielleicht
nicht mit klarem Bewußtſeyn) anerkannt iſt, zeigt beſon-
ders das Beyſpiel ſolcher Staaten, worin das Recht der
Geſetzgebung durch künſtliches Zuſammenwirken verſchie-
dener Gewalten ausgeübt wird, wie in England und
Frankreich. Denn wie ſehr auch dieſe einzelnen Gewalten
ſich gegen jede Beſchränkung ihrer Theilnahme an jenem
wichtigen Recht eiferſüchtig zeigen, ſo liegt ihnen doch
jene innere, ſtille Rechtsbildung ſo ſehr außer dem Ge-
biet eines möglichen Streites, daß ſie dieſelbe ungeſtört
ſich ſelbſt überlaſſen. Nur wo zuweilen eine neue Rechts-
beſtimmung beſondere politiſche Beziehungen darbietet, fällt
ſie nothwendig der ſtrengen Form der Geſetzgebung an-
heim: noch mehr aber, wo das Recht auf eine ſo um-
faſſende und durchgreifende Weiſe umgebildet wird, wie
es in dem Geſetzbuch Napoleons geſchehen iſt.
|0262 : 206|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
Viertes Kapitel.
Auslegung der Geſetze.
§. 32.
Begriff der Auslegung.
Eintheilung in legale und doctrinelle.
Bis hierher wurde der Inhalt der Rechtsquellen als
die ſelbſtſtändige Regel des Rechts, mithin als ein Ge-
gebenes, betrachtet. Soll dieſe Regel in das Leben über-
gehen, ſo iſt es nöthig, daß wir von unſrer Seite etwas
dazu thun, daß wir ſie auf beſtimmte Weiſe in uns auf-
nehmen. Dieſe Aufnahme kann zu den verſchiedenſten
Anwendungen führen: in dem Gelehrten zur Ausbildung
der Wiſſenſchaft in vielartigen Formen; in dem Richter
zu Urtheilen und deren Ausführung; in den Einzelnen
zur Einrichtung ihrer Lebensverhältniſſe in beſtimmter Ge-
ſtalt. Die Eigenthümlichkeit ſolcher beſonderen Entwick-
lungen iſt unſrer Aufgabe fremd; ihnen Allen aber liegt als
Gemeinſames zum Grunde eine beſtimmte Weiſe, den In-
halt der Rechtsquellen aufzunehmen, und dieſes Gemein-
ſame ſoll in dem gegenwärtigen Abſchnitte dargeſtellt werden.
Das, was von unſrer Seite gefordert wird, iſt eine
geiſtige Thätigkeit, alſo, wie einfach es auch oft ausſehe,
ein wiſſenſchaftliches Geſchäft, Anfang und Grundlage
der Rechtswiſſenſchaft. Von dieſer war oben die Rede,
als von einem zur Rechtserzeugung mitwirkenden Princip;
|0263 : 207|
§. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle.
hier aber erſcheint ſie auf umgekehrte Weiſe, inſoferne ſie
das unabhängig von ihr entſtandene Recht aufnimmt und
zum beſtimmten Bewußtſeyn bringt.
Eine ſolche Aufnahme des Rechts iſt denkbar und
nothwendig bey allen Arten der Rechtsquellen. Jedoch
bey dem Gewohnheitsrecht und bey dem wiſſenſchaftlichen
Recht iſt das Geſchäft einfacherer Natur. Zwar über
das Weſen dieſer Arten der Rechtserzeugung kommen ſehr
einflußreiche Irrthümer vor, wovon ſchon oben gehandelt
worden iſt. Sind aber dieſe erkannt und vermieden, ſo
iſt das Geſchäft ſelbſt einer ins Einzelne gehenden Anwei-
ſung nicht bedürftig. Anders verhält es ſich mit den Ge-
ſetzen, bey welchen gerade dieſes Geſchäft oft eine ſehr
verwickelte Natur hat. Aus dieſem Grunde hat der ge-
genwärtige Abſchnitt die ſpecielle Bezeichnung von der
Auslegung der Geſetze erhalten.
Die hierin enthaltene freye Geiſtesthätigkeit läßt ſich
dahin beſtimmen, daß wir das Geſetz in ſeiner Wahr-
heit erkennen, das heißt ſo wie uns deſſen Wahrheit durch
Anwendung eines regelmäßigen Verfahrens erkennbar wird.
Sie iſt bey jedem Geſetze, wenn es in das Leben eingrei-
fen ſoll, nothwendig, und in dieſer ihrer allgemeinen Noth-
wendigkeit liegt zugleich ihre Rechtfertigung. — Ihre
Anwendbarkeit iſt alſo nicht etwa, wie Viele annehmen,
bedingt durch den ganz zufälligen Umſtand der Dunkelheit
eines Geſetzes (§ 50). Allerdings kann ſie dadurch beſon-
ders wichtig und erfolgreich werden. Allein jene Eigen-
|0264 : 208|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
ſchaft des Gefetzes iſt eine Unvollkommenheit, und es iſt
nöthig von der Betrachtung des geſunden Zuſtandes aus-
zugehen, um für den mangelhaften Zuſtand ſicheren Rath
zu finden. — Eben ſo aber iſt auf der anderen Seite
jene Thätigkeit nicht etwa ausgeſchloſſen durch einen hohen
Grad der Dunkelheit (a). Vielmehr müſſen wir behaup-
ten, daß namentlich den Richter, nach der allgemeinen
Natur ſeines Amtes, die Dunkelheit eines Geſetzes niemals
abhalten darf, eine beſtimmte Meynung über deſſen In-
halt zu faſſen, und darnach ein Urtheil zu ſprechen. Denn
auch die Thatſachen können in einem Rechtsſtreit höchſt
zweifelhaft ſeyn, ohne daß deshalb der Richter ſein Urtheil
verweigern darf. Zwiſchen beiden Elementen des Urtheils
(Rechtsregel und Thatſachen) iſt aber in dieſer Hinſicht
kein weſentlicher Unterſchied. Die ausdrückliche Vorſchrift
des Franzöſiſchen Rechts alſo, welche dem Richter verbie-
tet, wegen eines mangelnden, dunklen, oder unzulänglichen
Geſetzes ſein Urtheil zu verweigern (b), iſt der allgemeinen
Natur des Richteramts völlig angemeſſen.
In Einem Fall jedoch iſt jene freye Thätigkeit aller-
dings ausgeſchloſſen: wenn nämlich die Auffaſſung eines
Geſetzes ſelbſt wieder Gegenſtand einer neuen Rechtsregel
geworden iſt. Iſt alſo durch ein neues Geſetz, oder auch
durch ein wahres Gewohnheitsrecht beſtimmt worden, wie
(a) Der Zuſammenhang dieſer
Meynung mit den Vorſchriften
des Juſtinianiſchen Rechts kann
erſt weiter unten klar gemacht
werden. Vgl. § 48.
(b) Code civil art. 4.
|0265 : 209|
§. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle.
ein älteres Geſetz verſtanden werden ſoll, ſo iſt dadurch
jene freye Thätigkeit gänzlich ausgeſchloſſen, und das
ältere Geſetz muß in dem nunmehr vorgeſchriebenen Sinn
auch von Denjenigen aufgefaßt und angewendet werden,
welche etwa für ſich von der Unrichtigkeit dieſer Ausle-
gung überzeugt ſeyn mögen. Die Neueren nennen dieſes,
je nachdem es auf Geſetz oder Gewohnheitsrecht (c) be-
ruht, die authentiſche und uſuelle Interpretation,
beide zuſammen die legale, welche ſie nun der doctri-
nellen, das heißt der oben beſchriebenen freyen oder wiſ-
ſenſchaftlichen Thätigkeit entgegenſetzen. — Die Vorſtel-
lungsweiſe, welche dieſen Kunſtausdrücken zum Grunde
liegt, iſt inſoferne richtig, als man blos das letzte Ziel,
nämlich den anzuerkennenden Inhalt des Geſetzes, ins
Auge faßt. Dann heißt Auslegung jedes Mittel zu die-
ſem Zweck, und dieſer Begriff unterliegt ferner der eben
erwähnten Eintheilung. Wenn man dagegen auf das
Weſen des Verfahrens ſieht, ſo muß man nothwen-
dig von dem oben aufgeſtellten Begriff der Auslegung als
einer freyen Thätigkeit ausgehen, weil dieſe durch die Be-
ſtimmung eines jeden Geſetzes ſelbſt, als das allgemeine
und nothwendige gegeben iſt. Denn jedes Geſetz ſoll ins
Leben treten, was zunächſt nur durch geiſtige Auffaſſung
(c) Dieſes interpretirende Ge-
wohnheitsrecht wird immer zu-
gleich die Natur des wiſſenſchaft-
lichen Rechts an ſich tragen
(§ 14. 20.). Denn ein allgemei-
nes Volksbewußtſeyn, welches
die Auffaſſung eines einzelnen
Geſetzes zum Gegenſtand hätte,
iſt nur in den ſeltenſten Fällen
denkbar.
14
|0266 : 210|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
möglich iſt, und es kann gewiß nicht als der natürliche
Zuſtand angeſehen werden, daß jedem Geſetze ein anderes,
ſeinen Sinn beſtimmendes, nachfolge; ja ſelbſt wenn dieſer
Hergang der natürliche wäre, ſo würde dennoch zunächſt,
bis zur Erſcheinung des neuen Geſetzes, jene freye Thä-
tigkeit unentbehrlich ſeyn. Geht man nun von dem
Grundbegriff der Auslegung als einer freyen Thätigkeit
aus, ſo erſcheint dann die ſogenannte legale Interpretation
nicht als eine ihr coordinirte Art derſelben Gattung, ſon-
dern vielmehr als reiner Gegenſatz, als Ausſchließung
oder Verbot jener freyen Thätigkeit überhaupt. Und dieſe
Auffaſſung bewährt ſich auch dadurch als die richtige,
daß in derſelben das wahre und unläugbare Verhältniß
von Regel und Ausnahme am deutlichſten hervortritt.
Es wird daher von jetzt an unter Auslegung überhaupt
nur allein die ſogenannte doctrinelle Interpretation ver-
ſtanden werden. — Neuere Schriftſteller freylich haben
hierin das Verhältniß von Regel und Ausnahme gerade
umgekehrt. Es iſt behauptet worden, alle Auslegung ſey
ihrer Natur nach eigentlich eine Art der Geſetzgebung,
und ſie könne nur durch Delegation von Seiten der höch-
ſten Gewalt an einzelne Behörden oder gar in Privat-
hände gerathen (d). Dieſe Behauptung hängt aber zuſam-
men mit anderen Vorſtellungen neuerer Schriftſteller, nach
welchen die Auslegung nicht in den Gränzen einer reinen,
(d) Zachariä Hermeneutik des Rechts, Meiſſen 1805. S. 161
—165.
|0267 : 211|
§. 32. Begriff der Auslegung. Legale und doctrinelle.
wahren Auffaſſung bleibt, ſondern in der That zu einer
Umbildung des Geſetzes wird; davon kann jedoch erſt
weiter unten geredet werden.
Die Auslegung iſt eine Kunſt, und die Bildung zu
derſelben wird durch die trefflichen Muſter aus alter
und neuer Zeit, die wir in reichem Maaße beſitzen, geför-
dert. Ungleich mangelhafter iſt Dasjenige, was bis jetzt
als Theorie derſelben aufgeſtellt worden iſt. Dieſe Un-
zulänglichkeit der bisherigen Theorie iſt eine zufällige:
allein es iſt wichtig, daß man ſich über den Werth einer
ſolchen Theorie überhaupt, auch der beſten, nicht täuſche.
Denn dieſe Kunſt läßt ſich eben ſo wenig, als irgend eine
andere, durch Regeln mittheilen oder erwerben. Allein
wir können durch die Betrachtung vorzüglicher Muſter
ergründen, worin die Trefflichkeit derſelben liegt; dadurch
aber werden wir unſren Sinn ſchärfen für das, worauf
es bey jeder Auslegung ankommt, und unſer Streben auf
die rechten Punkte richten lernen. Dieſes, und die Ver-
meidung der mancherley möglichen Abwege, iſt es, was
wir hier, wie in jeder Kunſt, durch die Theorie zu gewin-
nen hoffen dürfen.
Auch hier müſſen wir wieder auf die wichtige Frage
eingehen, ob die Vorſchriften des Römiſchen Rechts über
die Auslegung, da wo dieſes Recht gilt, bindende Kraft
haben. Dieſe Frage wurde oben (§ 27) für die Fortbil-
dung des Rechts ſelbſt, aufgeworfen und verneint; hier
betrifft ſie das Verhalten der Einzelnen zu den Quellen
14*
|0268 : 212|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
des Rechts, und es könnten daher beide Fragen, obgleich
unverkennbar verwandt, dennoch verſchieden beantwortet
werden. An dieſer Stelle jedoch iſt eine erſchöpfende Be-
antwortung der erwähnten Frage noch nicht möglich.
Daher werden bey der Darſtellung dieſer Lehre die Aus-
ſprüche des Römiſchen Rechts zwar vorläufig benutzt wer-
den, es wird aber einſtweilen dahin geſtellt bleiben, ob
ſie als bindende Geſetze, oder nur als eine wichtige Au-
torität, gelten ſollen.
Die Aufgabe dieſes Kapitels hat zwey Theile: zu-
nächſt die Auslegung der einzelnen Geſetze für ſich betrach-
tet, dann die des Quellenkreiſes im Ganzen. Da nämlich
dieſer zur vollſtändigen Beherrſchung des Rechts beſtimmt
iſt, ſo muß in ihm ſowohl Einheit gefunden werden, als
ein erſchöpfendes Ganze. Die erſte Forderung macht es
nothwendig, alle Widerſprüche zu entfernen, die zweyte,
alle Lücken auszufüllen.
§. 33.
A. Auslegung einzelner Geſetze.
Grundregeln der Auslegung.
Jedes Geſetz iſt dazu beſtimmt, die Natur eines Rechts-
verhältniſſes feſtzuſtellen, alſo irgend einen Gedanken (ſey
er einfach oder zuſammengeſetzt) auszuſprechen, wodurch
das Daſeyn jenes Rechtsverhältniſſes gegen Irrthum und
Willkühr geſichert werde. Soll dieſer Zweck erreicht wer-
den, ſo müſſen Die, welche mit dem Rechtsverhältniß in
|0269 : 213|
§. 33. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln.
Berührung kommen, jenen Gedanken rein und vollſtändig
auffaſſen. Dieſes geſchieht, indem ſie ſich in Gedanken
auf den Standpunkt des Geſetzgebers verſetzen, und deſſen
Thätigkeit in ſich künſtlich wiederholen, alſo das Geſetz
in ihrem Denken von Neuem entſtehen laſſen. Das iſt
das Geſchäft der Auslegung, die wir daher beſtimmen
können als die Reconſtruction des dem Geſetze inwohnen-
den Gedankens (a). Nur auf dieſe Weiſe iſt es möglich,
eine ſichere und vollſtändige Einſicht in den Inhalt des
Geſetzes zu erlangen, und nur ſo iſt daher der Zweck des
Geſetzes zu erreichen.
Soweit iſt die Auslegung der Geſetze von der Ausle-
gung jedes anderen ausgedrückten Gedankens (wie ſie z. B.
in der Philologie geübt wird) nicht verſchieden. Das
Eigenthümliche derſelben zeigt ſich aber, wenn wir ſie in
ihre Beſtandtheile zerlegen. So müſſen wir in ihr Vier
Elemente unterſcheiden: ein grammatiſches, logiſches, hiſto-
riſches und ſyſtematiſches.
Das grammatiſche Element der Auslegung hat zum
Gegenſtand das Wort, welches den Übergang aus dem
Denken des Geſetzgebers in unſer Denken vermittelt. Es
(a) Ich gebrauche den Aus-
druck Gedanke, weil ich durch
ihn den geiſtigen Inhalt des Ge-
ſetzes am beſtimmteſten bezeich-
net finde. Andere gebrauchen,
nicht weniger richtig, den Aus-
druck Sinn. Dagegen iſt Ab-
ſicht zu vermeiden, weil es zwey-
deutig iſt: denn es kann auch
auf das außer dem Inhalt des
Geſetzes liegende Ziel bezogen
werden, worauf das Geſetz mit-
telbar einwirken will. Die Rö-
mer gebrauchen abwechſelnd die
Ausdrücke mens und sententia.
|0270 : 214|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
beſteht daher in der Darlegung der von dem Geſetzgeber
angewendeten Sprachgeſetze.
Das logiſche Element geht auf die Gliederung des
Gedankens, alſo auf das logiſche Verhältniß, in welchem
die einzelnen Theile deſſelben zu einander ſtehen.
Das hiſtoriſche Element hat zum Gegenſtand den
zur Zeit des gegebenen Geſetzes für das vorliegende Rechts-
verhältniß durch Rechtsregeln beſtimmten Zuſtand. In
dieſen Zuſtand ſollte das Geſetz auf beſtimmte Weiſe ein-
greifen, und die Art dieſes Eingreifens, das was dem
Recht durch dieſes Geſetz neu eingefügt worden iſt, ſoll
jenes Element zur Anſchauung bringen.
Das ſyſtematiſche Element endlich bezieht ſich auf
den inneren Zuſammenhang, welcher alle Rechtsinſtitute
und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpft (§ 5).
Dieſer Zuſammenhang, ſo gut als der hiſtoriſche, hat dem
Geſetzgeber gleichfalls vorgeſchwebt, und wir werden alſo
ſeinen Gedanken nur dann vollſtändig erkennen, wenn wir
uns klar machen, in welchem Verhältniß dieſes Geſetz zu
dem ganzen Rechtsſyſtem ſteht, und wie es in das Syſtem
wirkſam eingreifen ſoll (b).
(b) Auch das ſyſtematiſche Ele-
ment iſt ein weſentliches, unent-
behrliches Stück der Auslegung.
Nur iſt freylich in den vorhan-
denen zahlreichen Commentaren
über die Juſtinianiſchen Rechts-
bücher (in welchen man daſſelbe
vorzugsweiſe erwarten möchte)
bey weitem der kleinſte Theil als
wahre Auslegung zu betrachten.
Es ſind meiſt Abhandlungen do-
gmatiſcher, zuweilen auch hiſtori-
ſcher Art, die nur von dem com-
mentirten Text Gelegenheit neh-
men, ſich über die darin berühr-
ten Rechtsſätze zu verbreiten.
|0271 : 215|
§. 33. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln.
Mit dieſen vier Elementen iſt die Einſicht in den In-
halt des Geſetzes vollendet. Es ſind alſo nicht vier Arten
der Auslegung, unter denen man nach Geſchmack und
Belieben wählen könnte, ſondern es ſind verſchiedene Thä-
tigkeiten, die vereinigt wirken müſſen, wenn die Auslegung
gelingen ſoll. Nur wird freylich bald die eine, bald die
andere wichtiger ſeyn und ſichtbarer hervortreten, ſo daß
nur die ſtete Richtung der Aufmerkſamkeit nach allen die-
ſen Seiten unerläßlich iſt, wenngleich in vielen einzelnen
Fällen die ausdrückliche Erwähnung eines jeden dieſer
Elemente als unnütz und ſchwerfällig unterlaſſen werden
kann, ohne Gefahr für die Gründlichkeit der Auslegung.
Von zwey Bedingungen aber hängt der Erfolg jeder Aus-
legung ab, und darin laſſen ſich jene vier Elemente kurz
zuſammen faſſen: erſtlich daß wir uns die geiſtige Thätigkeit,
woraus der vor uns liegende einzelne Ausdruck von Gedanken
hervorgegangen iſt, lebendig vergegenwärtigen: zweytens,
daß wir die Anſchauung des hiſtoriſch-dogmatiſchen Gan-
zen, woraus dieſes Einzelne allein Licht erhalten kann, in
hinlänglicher Bereitſchaft haben, um die Beziehungen deſ-
ſelben in dem vorliegenden Text ſogleich wahrzunehmen.
Erwägen wir dieſe Bedingungen, ſo vermindert ſich da-
durch das Auffallende mancher Erſcheinung, die uns leicht
an der Richtigkeit unſres Urtheils irre machen könnte.
Wir finden nämlich nicht ſelten bey gelehrten und berühm-
ten Schriftſtellern Interpretationen von faſt unbegreiflicher
Verkehrtheit, während talentvolle Schüler, denen wir denſel-
|0272 : 216|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
ben Text vorlegen, vielleicht das Rechte treffen. Solche Er-
fahrungen laſſen ſich beſonders an den zahlreichen Rechtsfäl-
len machen, woraus ein ſo großer und lehrreicher Theil
der Digeſten beſteht.
Das Ziel der Auslegung geht bey jedem Geſetze dahin,
gerade aus ihm ſo viel als möglich an wirklicher Rechts-
kenntniß zu gewinnen; die Auslegung alſo ſoll von der
einen Seite individuell, von der andern reichhaltig in Re-
ſultaten ſeyn (c). Dieſer Erfolg kann in verſchiedenen
Graden erreicht werden, und es iſt dieſe Verſchiedenheit
abhängig theils von der Kunſt des Auslegers, theils aber
auch von der Kunſt des Geſetzgebers, in dem Geſetze viel
von ſicherer Rechtskenntniß niederzulegen, alſo von dieſem
Punkte aus das Recht ſo viel als möglich zu beherrſchen.
Es beſteht alſo hierin eine Wechſelwirkung zwiſchen treff-
licher Geſetzgebung und trefflicher Auslegung, indem der
Erfolg einer jeden durch die andere bedingt und ge-
ſichert iſt.
§. 34.
Grund des Geſetzes.
Iſt es nun die Aufgabe der Auslegung, uns den In-
(c) Dieſes Ziel des Verfahrens
auszudrücken, iſt der Name Aus-
legung (explicatio) beſonders
geeignet, indem er darauf geht,
daß das in dem Wort Einge-
ſchloſſene an das Licht gezogen
und dadurch öffenbar gemacht
werde. Der Name Erklärung
dagegen deutet mehr darauf hin,
daß der (zufällige) Zuſtand der
Unklarheit aufgehoben und in
Klarheit verwandelt werde, be-
zeichnet alſo weniger die allge-
meine Natur des Geſchäfts.
|0273 : 217|
§. 34. Grund des Geſetzes.
halt des Geſetzes zum Bewußtſeyn zu bringen, ſo liegt
Alles, was nicht Theil dieſes Inhalts iſt, wie verwandt
es ihm auch ſeyn möge, ſtreng genommen außer den Grän-
zen jener Aufgabe. Dahin gehört alſo auch die Einſicht
in den Grund des Geſetzes (ratio legis). Der Begriff
dieſes Grundes iſt auf ſehr verſchiedene Weiſe aufgefaßt
worden, indem man ihn bald in die Vergangenheit geſetzt
hat, bald in die Zukunft. Nach der erſten Anſicht gilt
als Grund die ſchon vorhandene höhere Rechtsregel, deren
conſequente Durchführung das gegenwärtige Geſetz her-
beygeführt hat. Nach der zweyten Anſicht gilt als Grund
die Wirkung, die durch das Geſetz hervorgebracht werden
ſoll, ſo daß der Grund, von dieſem Standpunkt aus, auch
als Zweck oder als Abſicht des Geſetzes bezeichnet wird.
Es würde irrig ſeyn, dieſe beiden Anſichten in einem ab-
ſoluten Gegenſatz zu denken. Vielmehr iſt anzunehmen,
daß dem Geſetzgeber ſtets beide Beziehungen ſeines Ge-
dankens gegenwärtig geweſen ſind. Eine relative Ver-
ſchiedenheit aber liegt allerdings darin, daß bald die eine,
bald die andere derſelben bey einzelnen Geſetzen überwie-
gend ſeyn kann. Hierin iſt beſonders von Einfluß der
oben erklärte Unterſchied des regelmäßigen und anomali-
ſchen Rechts (§ 16). Bey dem regelmäßigen Recht (Jus
commune) wird meiſt vorherrſchend ſeyn die Beziehung
auf ſchon beſtehende Rechtsregeln, die hier zur vollſtändi-
geren Entwicklung kommen ſollen; der Zweck iſt blos der
allgemeine, daß das Recht beſtimmter erkannt und ſicherer
|0274 : 218|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
angewendet werde. Bey dem anomaliſchen Recht (Jus
singulare) iſt dagegen vorherrſchend die Beziehung auf
das, was in der Zukunft erreicht werden ſoll; ſo z. B.
ſoll durch die Wuchergeſetze die Bedrückung armer Schuld-
ner verhütet werden, und das Vorhergehende iſt blos die
allgemeine Maxime, durch eine Art vormundſchaftlicher
Aufſicht einzugreifen, wenn durch gewiſſe Rechtsgeſchäfte
der Wohlſtand ganzer Klaſſen in Gefahr kommt.
Die Kenntniß des Geſetzgrundes kann mehr oder we-
niger gewiß ſeyn. Die höchſte Sicherheit erhält ſie da-
durch, daß der Grund in dem Geſetze ſelbſt ausgeſprochen
wird. Aber ſelbſt in dieſem Fall bleibt der Grund von
dem das Recht beſtimmenden Inhalt des Geſetzes getrennt,
und darf nicht etwa als Beſtandtheil deſſelben angeſehen
werden. Eben ſo wird auf der anderen Seite der Kraft
des Geſetzes durch den gänzlichen Mangel eines uns be-
kannten Grundes Nichts entzogen; ja ſelbſt wenn wir
beſtimmt wiſſen, daß das Geſetz gar keinen eigentlichen
Grund je gehabt hat (von welchem Fall ſogleich weiter
die Rede ſeyn wird), vermindert ſich dadurch deſſen bin-
dende Kraft nicht. — Eine beſondere Art der Ungewiß-
heit entſteht aus dem Daſeyn mehrerer, neben einander
beſtehender Gründe, deren Verhältniß zu einander zweifel-
haft ſeyn kann; ferner, bey einem an ſich gewiſſen (viel-
leicht im Geſetz ausgeſprochenen) Grund, aus der Mög-
lichkeit nicht ausgeſprochener Mittelglieder zwiſchen dem
Grund und dem Inhalt des Geſetzes, durch welche viel-
|0275 : 219|
§. 34. Grund des Geſetzes.
leicht eine ſcheinbare Verſchiedenheit zwiſchen beiden erklärt
und gerechtfertigt werden kann (a).
Eben ſo giebt es auch verſchiedene Grade in der Ver-
wandtſchaft des Grundes mit dem Inhalt des Geſetzes.
Sie können zu einander ſtehen in dem einfachen, rein logi-
ſchen Verhältniß des Grundes zur Folge: dann erſcheint
der Geſetzgrund als identiſch mit dem Inhalt (b). In
anderen Fällen dagegen werden beide ſehr entfernt von
einander ſtehen (c). Beide Fälle ſollen hier durch die Na-
men ſpecieller und genereller Gründe unterſchieden
werden. Dieſe Begriffe aber ſind relativ, eine ſcharfe
Gränze beſteht zwiſchen denſelben nicht, und es laſſen ſich
vielmehr ſehr allmälige Übergänge denken.
(a) Das Sc. Macedonianum
hatte zum Zweck, wucherliche, die
Familienverhältniſſe gefährdende
Geſchäfte mit Kindern in väter-
licher Gewalt zu verhindern. Das
Verbot wurde aber viel weiter
gefaßt, ſo daß auch ganz unſchul-
dige Fälle darunter fielen, weil
es außerdem unmöglich war, die
wirklich gemeynten Fälle ſicher
zu treffen.
(b) L. 13 § 1 de pign. act.
(13. 7.) beſtimmt den Grad der
Culpa für den Pfandcontract;
dieſe Beſtimmung iſt eine reine
Folgerung aus der allgemeineren
in L. 5 § 2 commodati (13. 6.)
enthaltenen Rechtsregel. Eben
ſo bey mehreren anderen daſelbſt
erwähnten Contracten, z. B. dem
Depoſitum. Eine gleiche Anwen-
dung, wie bey dem Depoſitum,
wäre bey der Tutel denkbar ge-
weſen, weil auch der Vormund
keinen Vortheil aus ſeiner Ver-
waltung zieht. Allein hier wird
das rein logiſche Verhältniß ge-
ſtört durch die Einwirkung an-
derer Gründe, ſo daß alſo hier
das vorher erwähnte Verhältniß
concurrirender Gründe eintritt;
und zwar iſt hier dieſes Verhält-
niß der verſchiedenen Gründe zu
einander ſo beſchaffen, daß ſie
einander durchkreuzen.
(c) Die allgemeinere Rechts-
regel über die Culpa (L. 5 § 2
comm.) beruht auf einem Grund-
ſatz der aequitas, deſſen Aner-
kennung und Begränzung an ſich
ſchwankend iſt, und dieſer einzel-
nen Anwendung ſehr entfernt liegt.
|0276 : 220|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
Der Gebrauch des Geſetzgrundes iſt zuerſt unbedenk-
lich und wichtig, wo es darauf ankommt, die Natur der
in dem Geſetz enthaltenen Rechtsregel zu beſtimmen: näm-
lich, ob ſie eine abſolute oder vermittelnde iſt, desgleichen,
ob ſie als Jus commune oder singulare angeſehen werden
muß (§ 16). — Ungleich bedenklicher, und nur mit großer
Vorſicht zuläſſig, iſt der Gebrauch des Geſetzgrundes zur
Auslegung der Geſetze; insbeſondere iſt dieſer Gebrauch
auch abhängig von den verſchiedenen Graden der Gewiß-
heit und der Verwandtſchaft des Grundes, wie dieſe
Verſchiedenheiten ſo eben genauer erklärt worden ſind.
Die beſonderen Beſtimmungen hierüber können erſt weiter
unten gegeben werden.
Es ſind alſo hier bey den Geſetzgründen mancherley Ver-
ſchiedenheiten bemerkt worden: in der Art der Beziehung auf
den Inhalt, in der Gewißheit, in der Verwandtſchaft mit
dem Inhalt, und in der Anwendbarkeit. Allein neben
dieſen Verſchiedenheiten beſteht das Gemeinſame, daß ſie
ſtets ein Verhältniß haben zu dem Weſen des Geſetzin-
haltes ſelbſt, oder mit anderen Worten eine objective, aus
dem Denken des Geſetzgebers heraustretende Natur. Die-
ſer ihrer Natur nach ſind ſie an ſich für Jeden erkenn-
bar, und wir können es nur für zufällig anſehen, wenn
ſie uns in einzelnen Fällen verborgen bleiben. Sie ſtehen
daher in einem ſcharfen Gegenſatz zu denjenigen That-
ſachen, welche ein blos ſubjectives Verhältniß zu dem
Denken des Geſetzgebers haben, und bey denen die Erkenn-
|0277 : 221|
§. 34. Grund des Geſetzes.
barkeit für Andere eben ſo zufällig eintritt, wie ſie bey
den Geſetzgründen natürlich iſt und nur zufällig fehlen
kann. Dahin gehören ſolche Begebenheiten, welche zu
einem Geſetz den Anſtoß gegeben haben, die aber eben ſo
auch zu ganz anderen Maaßregeln hätten führen kön-
nen (d). Eben dahin gehören die zuweilen ganz indivi-
duellen und vorübergehenden Wirkungen, um deren Wil-
len der Geſetzgeber die bleibende und ins Allgemeine wir-
kende Regel aufgeſtellt hat (e). — Solchen ſubjectiven
Beziehungen müſſen wir ſelbſt den beſchränkten Gebrauch
gänzlich abſprechen, welcher den Geſetzgründen ſo eben
eingeräumt worden iſt. Nur der negative Gebrauch
kann von ihnen gemacht werden, daß vielleicht aus ihnen
die Abweſenheit irgend eines wahren Geſetzgrundes erhellt:
dann werden ſie dazu dienen, uns gegen die irrige An-
nahme eines ſolchen zu verwahren (f).
(d) So z. B. das Verbrechen,
welches zu dem Sc. Macedonia-
num Veranlaſſung gegeben hat.
L. 1 pr. de Sc. Maced. (14. 6.).
(e) So z. B. unter K. Clau-
dius das Geſetz, welches die Ehe
mit des Bruders Tochter allge-
mein frey gab, nur damit der
Kaiſer die Agrippina, Tochter des
Germanicus, zur Gemahlin neh-
men konnte. Suetonii Claud.
C. 26. Taciti annal. XII. 5—7.
(f) Gewöhnlich werden dieſe
ſubjective Beziehungen von dem
Grund des Geſetzes nicht hin-
reichend geſondert, wozu denn
die ſchwankenden Ausdrücke Be-
weggrund, Veranlaſſung,
Abſicht des Geſetzes nicht we-
nig beytragen. Am wenigſten
ungenau ſcheint hierin Hufe-
land Geiſt des Römiſchen Rechts
Th. 1. Gieſſen 1813. S. 13—19.
|0278 : 222|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
§. 35.
Auslegung mangelhafter Geſetze. Arten derſelben,
und Hülfsmittel dagegen.
Die aufgeſtellten Grundſätze der Auslegung (§ 33) kön-
nen genügen für den geſunden Zuſtand des Geſetzes, da
der Ausdruck einen in ſich vollendeten Gedanken darſtellt,
und kein Umſtand vorhanden iſt, der uns hindert, dieſen
Gedanken als wahren Inhalt des Geſetzes anzuerkennen.
Es ſind aber nun noch die ſchwierigeren Fälle mangel-
hafter Geſetze darzuſtellen, und zugleich die Hülfsmittel
anzugeben, wodurch dieſe Schwierigkeiten beſeitigt werden
können. Die an ſich denkbaren Fälle ſolcher mangelhaften
Geſetze ſind folgende:
I. Unbeſtimmter Ausdruck, der alſo überhaupt auf
keinen vollendeten Gedanken führt.
II. Unrichtiger Ausdruck, indem der von ihm unmittel-
bar bezeichnete Gedanke von dem wirklichen Gedanken des
Geſetzes verſchieden iſt.
In dieſen Fällen iſt eine Stufenfolge des Bedürfniſſes
ſichtbar. Denn die Beſeitigung des erſten Mangels, wo
er vorkommt, iſt eben ſo unbedenklich als ſchlechthin noth-
wendig. Der zweyte führt ſchon größere Bedenken mit
ſich, und macht wenigſtens beſondere Vorſicht nöthig.
Ehe aber dieſe Fälle im Einzelnen dargeſtellt werden,
iſt es nöthig, auch die Hülfsmittel zu erwägen, die bey
ihrer Behandlung angewendet werden können.
|0279 : 223|
§. 35. Auslegung mangelhafter Geſetze.
Das erſte Hülfsmittel beſteht in dem inneren Zuſam-
menhang der Geſetzgebung; ein zweytes in dem Zuſam-
menhang des Geſetzes mit ſeinem Grunde; ein drittes in
dem innern Werthe des aus der Auslegung hervorgehen-
den Inhalts.
A. Innerer Zuſammenhang der Geſetzgebung. Dieſer
kann auf zweyerley Weiſe als Hülfsmittel der Auslegung
bey mangelhaften Geſetzen benutzt werden. Erſtlich inſo-
ferne der mangelhafte Theil eines Geſetzes aus einem an-
dern Theil deſſelben Geſetzes erklärt wird, welches die ſicherſte
unter allen Erklärungsweiſen iſt (a): zweytens durch Erklä-
rung des mangelhaften Geſetzes aus anderen Geſetzen (b).
Dieſe letzte Art der Auslegung wird um ſo gewiſſer ſeyn,
je näher die beiden Geſetze einander ſtehen, alſo am ge-
wiſſeſten, wenn ſie von einem und demſelben Geſetzgeber
herrühren. Jedoch können auch die anderen (zur Erklä-
rung benutzten) Geſetze älter ſeyn, als das aus ihnen
erklärte, wobey alſo die richtige Vorausſetzung zum Grunde
liegt, der Urheber des jetzt auszulegenden Geſetzes habe
dieſe älteren vor Augen gehabt, und ſie ſeyen alſo ein
ergänzendes Stück ſeines Gedankens geweſen (c). Die
(a) L. 24 de legibus (1. 3.)
„Incivile est, nisi tota lege
perspecta, una aliqua particula
ejus proposita, judicare vel
respondere.”
(b) Dieſe Art der Auslegung
des einzelnen mangelhaften Ge-
ſetzes mit Hülfe eines andern iſt
nicht zu verwechſeln mit der Aus-
gleichung der Widerſprüche, die
zur Behandlung des Quellenkrei-
ſes als eines Ganzen gehört. Da-
von wird erſt weiter unten die
Rede ſeyn (§ 42—45).
(c) L. 26. 27 de leg. (1. 3.)
„Non est novum, ut priores
leges ad posteriores trahan-
tur. — Ideo, quia antiquiores
|0280 : 224|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
zur Erklärung benutzten Geſetze können endlich auch neuere
ſeyn: nur wird dieſer Fall ſeltener in das Gebiet der
reinen Auslegung gehören. Denn in den meiſten Fällen
werden ſolche neuere Geſetze zu dem mangelhaften in dem
Verhältniß einer Abänderung ſtehen, oder wenigſtens einer
authentiſchen Auslegung (§ 32), welche nicht mehr wahre
Auslegung iſt. Wo dieſes Verfahren als reine Ausle-
gung vorkommt, beruht es auf der Vorausſetzung, daß
die Denkweiſe des früheren Geſetzgebers auch in der ſpä-
teren Geſetzgebung ſich erhalten habe (d).
B. Der Grund des Geſetzes kann gleichfalls ein Hülfs-
mittel zur Auslegung des mangelhaften Geſetzes ſeyn,
jedoch nicht ſo unbedingt, als der Zuſammenhang der
Geſetzgebung. Vielmehr wird ſeine Anwendbarkeit abhän-
gen von dem Grade der Gewißheit, womit wir ihn
erkennen, und von dem Grade ſeiner Verwandtſchaft
zu dem Inhalt (§ 34). Steht eine dieſer Rückſichten
entgegen, ſo wird er zwar noch immer auf die Beſeiti-
gung der erſten Art von Mängeln (der Unbeſtimmtheit)
leges ad posteriores trahi usi-
tatum est, et semper quasi hoc
legibus inesse credi oportet,
ut ad eas quoque personas et
ad eas res pertinerent, quae
quandoque similes erunt.”
(d) L. 28 de leg. (1. 3.) „Sed
et posteriores leges ad prio-
res pertinent, nisi contrariae
sint.” Hier iſt blos der Fall
der Abänderung, als den Ge-
brauch zur Auslegung ausſchlie-
ßend, bezeichnet. Aber auch im
Fall der authentiſchen Auslegung
iſt es einleuchtend, daß wir den
durch das ſpätere Geſetz angege-
benen Sinn des früheren nicht
deswegen annehmen, weil wir ihn
für wahr halten, ſondern weil
ihn das ſpätere vorſchreibt.
|0281 : 225|
§. 36. Mangelhafte Geſetze. Unbeſtimmter Ausdruck.
angewendet werden können, aber weniger auf die der
zweyten (des unrichtigen Ausdrucks).
C. Der innere Werth des Reſultats endlich iſt unter
allen Hülfsmitteln das gefährlichſte, indem dadurch am
leichteſten der Ausleger die Gränzen ſeines Geſchäfts über-
ſchreiten und in das Gebiet des Geſetzgebers hinüber grei-
fen wird. Daher kann dieſes Hülfsmittel lediglich bey
der Unbeſtimmtheit des Ausdrucks (der erſten Art von
Mängeln) angewendet werden, nicht zur Ausgleichung des
Ausdrucks mit dem Gedanken.
Auch unter dieſen Hülfsmitteln iſt alſo wieder eine
ähnliche Stufenfolge ſichtbar, wie unter den Mängeln
ſelbſt. Das erſte iſt unbedenklich überall anzuwenden:
das zweyte macht ſchon größere Vorſicht nöthig: das
dritte endlich kann nur in den engſten Gränzen zugelaſ-
ſen werden.
§. 36.
Auslegung mangelhafter Geſetze. Fortſetzung.
(Unbeſtimmter Ausdruck.)
Die Unbeſtimmtheit des Ausdrucks, welche es unmög-
lich macht, durch ihn allein irgend einen vollendeten Ge-
danken zu erkennen, kann zunächſt auf zweyerlei Weiſe
gedacht werden: als Unvollſtändigkeit, oder als Viel-
deutigkeit.
Die Unvollſtändigkeit des geſetzlichen Ausdrucks
hat eine ähnliche Natur, wie wenn eine angefangene Rede
unterbrochen wird, ſo daß für den vollſtändigen Gedanken
15
|0282 : 226|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
die Bezeichnung unvollendet geblieben iſt. Dieſer Fall
tritt z. B. ein, wenn ein Geſetz zu einem Geſchäfte Zeu-
gen erfordert, ohne die Zahl derſelben zu beſtimmen (a).
Häufiger und wichtiger iſt der Fall der Vieldeutig-
keit, welcher wieder in verſchiedenen Geſtalten vorkom-
men kann: als Vieldeutigkeit des einzelnen Ausdrucks,
oder der Conſtruction.
Der einzelne Ausdruck kann einen individuellen Gegen-
ſtand betreffen, und dazu eine Bezeichnung gebrauchen,
welche auf mehrere Individuen paßt: ein Fall, der in
Rechtsgeſchäften häufiger vorkommen wird als in Ge-
ſetzen (b). Er kann aber auch einen abſtracten Begriff
zum Gegenſtand haben, und hier wieder kann die Zwey-
deutigkeit darin liegen, daß der gewählte Ausdruck ganz
verſchiedene Bedeutungen (c), oder daß er eine engere und
eine weitere Bedeutung hat (d).
(a) So in Nov. 107. C. 1. —
Eben ſo wenn eine Geldſumme
beſtimmt werden ſollte, und ent-
weder die Zahl oder die Geldart
nicht ausgedrückt iſt. Dieſer Fall
wird (nicht bey Geſetzen, ſondern
bey Teſtamenten) erwähnt in L.
21 § 1 qui test. (28. 1.).
(b) Beyſpiele: L. 21 § 1 qui
test. (28. 1.): der Sclave Sti-
chus iſt legirt, Titius als Lega-
tar ernannt, da Mehrere dieſe
Namen führen. L. 39 § 6 de leg.
1 (30 un.) Fundus Cornelianus
iſt legirt, da der Teſtator meh-
rere unter dieſem Namen in ſei-
nem Vermögen hatte.
(c) So haben ganz verſchie-
dene Bedeutungen die Ausdrücke
familia, puer, potestas. L. 195.
204. 215 de V. S. (50. 16.). —
Merkwürdige Anwendungen die-
ſer Zweydeutigkeit finden ſich in
L. 5 C. fin. reg. (3. 39.) und
L. 30 C. de j. dot. (5. 12.).
In der erſten kann praescriptio
heißen: Einrede, oder Vorſchrift,
nach Manchen auch Verjährung.
In der zweyten können die
Worte: si tamen extant heißen:
wenn ſie nicht vernichtet, oder
auch: wenn ſie nicht veräußert
ſind (extant apud maritum).
(d) Solche engere und weitere
|0283 : 227|
§. 36. Mangelhafte Geſetze. Unbeſtimmter Ausdruck.
Auch die Vieldeutigkeit der Conſtruction kann den Sinn
eines Geſetzes zweifelhaft machen, und obgleich dieſelbe
in Rechtsgeſchäften häufiger vorkommt, als in Geſetzen,
ſo iſt ſie doch in dieſen nicht ohne Beyſpiel (e).
So verſchieden nun dieſe Geſtalten des hier darge-
ſtellten Mangels ſeyn mögen, ſo haben ſie doch das mit
einander gemein, daß jede derſelben uns hindert, irgend
einen vollſtändigen Gedanken mit Sicherheit in dem ſo
beſchaffenen Geſetze zu erkennen. — Die Entſtehung dieſes
Mangels kann gegründet ſeyn in einem unklaren Gedan-
ken, oder in einer unvollkommenen Herrſchaft über den
Ausdruck, oder auch in beiden Umſtänden zugleich. Für
den Ausleger iſt dieſe Entſtehung gleichgültig, denn für
ihn iſt das Bedürfniß der Abhülfe ſtets gleich dringend
und unabweislich, da das Geſetz in dieſer Geſtalt zur
Feſtſtellung einer Rechtsregel untauglich iſt. Die Erkennt-
niß dieſes Bedürfniſſes iſt auch vollkommen gewiß, da ſie
Bedeutungen kommen vor bey
den Ausdrücken cognatio, pi-
gnus, hypotheca, adoptio (L.
1 § 1 de adopt. 1. 7.), familia
(L. 195 de V. S. 50. 16.). —
Eben ſo kann der Vertrag ne
luminibus officiatur ſowohl auf
den gegenwärtigen Zuſtand allein,
als auf den gegenwärtigen und
künftigen zugleich gehen. L. 23
pr. de S. P. U. (8. 2.). — Die
Auslegung nach der weiteren
oder engeren Bedeutung nennt
man gewöhnlich lata oder stri-
cta: jede Auslegung zu Entfer-
nung einer Zweydeutigkeit de-
clarativa. Thibaut Pandekten
§ 48. 50. 53.
(e) Die Erklärung der ſchwie-
rigen L. 2 de div. temp. prae-
scr. (44. 3.) hängt lediglich da-
von ab, ob die Schlußworte mihi
contra videtur mit der ganzen
Stelle in Verbindung gedacht
werden ſollen, oder nur mit ei-
nem Theile derſelben. — Bey-
ſpiele von vieldeutiger Conſtruc-
tion in Rechtsgeſchäften finden
ſich bey Mühlenbruch I. § 59
not. 1.
15*
|0284 : 228|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
durch ein rein logiſches Verfahren erlangt wird. Eben
darum aber endigt ſie mit der deutlichen Einſicht in die
Natur des vorliegenden Zweifels, und ſchließt nicht zu-
gleich deſſen Auflöſung in ſich. Dieſe muß vielmehr an-
derwärts aufgeſucht werden, und dazu dienen die bereits
aufgeſtellten drey Klaſſen der Hülfsmittel (§ 35). Sie
alle ſind dazu anwendbar, und ihr verſchiedener Werth
kommt nur inſoferne in Betracht, als eine Klaſſe vor der
andern anzuwenden iſt.
Zuerſt alſo iſt wo möglich die Unbeſtimmtheit aufzu-
heben durch den Zuſammenhang der Geſetzgebung, und
wo dieſes Mittel ausreicht, wird jedes andere als weni-
ger ſicher, und zugleich als überflüſſig, ausgeſchloſſen.
Zweytens iſt zu dieſem Zweck anzuwenden der Grund
des Geſetzes, und zwar wo möglich der ſpecielle, mit dem
Inhalt des Geſetzes unmittelbar verwandte Grund (§ 35),
wenn wir einen ſolchen nachzuweiſen vermögen. Verläßt
uns dieſer, ſo iſt auch ſchon ein allgemeinerer Grund zu-
läſſig. So z. B. wenn der Inhalt des Geſetzes nur über-
haupt auf aequitas beruht, was bey dem regelmäßigen
Recht (§ 16) der neueren Zeit durchaus angenommen wer-
den muß, ſo iſt unter zwey an ſich möglichen Erklärun-
gen diejenige vorzuziehen, welche durch dieſe aequitas ge-
rechtfertigt wird (f).
(f) So iſt zu verſtehen L. 8.
C. de jud. (3. 1.) vom J. 314:
„Placuit, in omnibus rebus
praecipuam esse justitiae aequi-
tatisque [scriptae], quam stricti
juris rationem.” Das heißt:
wenn bey einem zweydeutigen
Geſetze die eine Erklärung dem
|0285 : 229|
§. 36. Mangelhafte Geſetze. Unbeſtimmter Ausdruck.
Drittens endlich kann die Unbeſtimmtheit aufgehoben
werden durch die Vergleichung des innern Werthes des-
jenigen Inhalts, der durch die eine und die andre an ſich
mögliche Erklärung dem Geſetze zugeſchrieben wird. So
z. B. wenn die eine Erklärung auf einen leeren, zwecklo-
ſen Inhalt führt, die andere nicht (g). Eben ſo wenn
das Reſultat der einen Erklärung dem vorliegenden Zweck
angemeſſener iſt, als das der anderen (h). Endlich wenn
ſtrengen Recht, die andere der
aequitas entſpricht, ſo ſoll dieſe
letzte vorgehen (praecipuam esse
rationem). Scheinbar wider-
ſpricht L. 1 C. de leg. (1. 14.)
vom J. 316: „Inter aequitatem
jusque interpositam interpre-
tationem nobis solis et opor-
tet et licet inspicere.” Die
Annahme, daß L. 8 cit. älteres,
L. 1 cit. neueres Recht darſtelle,
jene alſo durch dieſe antiquirt
ſey, iſt höchſt unwahrſcheinlich,
da beide in Conſtantin’s Regie-
rung fallen, und nur zwey Jahre
aus einander liegen. Um den
Widerſpruch zu heben, hat man in
L. 8 cit. die Leſeart scriptae an-
genommen (eine durch Geſetz an-
erkannte aequitas), die zwar die
alten Ausgaben von Chevallon
(Paris. 1526. 8.) und von Ha-
loander für ſich hat, aber aus
inneren Gründen ganz verwerf-
lich iſt. Donellus (I. 13) erklärt
L. 8 von einer bloßen Einſchrän-
kung, L. 1 von gänzlicher Auf-
hebung des ſtrengen Rechts durch
aequitas: für dieſen Unterſchied
iſt aber in den Stellen ſelbſt gar
keine Andeutung. — Der Wi-
derſpruch wäre ſchon entfernt,
wenn man nur die L. 1 cit. auf
die Correction des Ausdrucks
durch den Gedanken (§ 37) be-
zöge, die wegen der bloßen ae-
quitas dem Richter nicht geſtat-
tet ſeyn ſoll. Allein ich glaube
vielmehr, daß die Stelle gar
nicht von Auslegung, ſondern
von Fortbildung des Rechts
(§ 47) zu verſtehen iſt, wodurch
denn jeder Widerſpruch mit L. 8
cit. völlig verſchwindet; der Aus-
druck interpretationem ſteht da-
bey nicht im Wege.
(g) L. 19 de leg. (1. 3.) „In
ambigua voce legis ea potius
accipienda est significatio, quae
vitio caret” …
(h) L. 67 de R. J. (50. 17.)
„Quotiens idem sermo duas
sententias exprimit, ea potis-
simum excipiatur, quae rei ge-
rendae aptior est.” Eine An-
wendung dieſer Regel enthält
L. 3 de constit. (1. 4.) „Bene-
ficium Imperatoris, quod a di-
|0286 : 230|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
die eine Erklärung auf ein milderes, wohlwollenderes Ziel
führt als die andere (i).
§. 37.
Auslegung mangelhafter Geſetze. Fortſetzung.
(Unrichtiger Ausdruck.)
Der zweyte denkbare Mangel eines Geſetzes beſteht
in der Unrichtigkeit des Ausdrucks, indem dieſer zwar
unmittelbar einen beſtimmten und anwendbaren Gedanken
bezeichnet, aber einen ſolchen, der von dem wirklichen
Gedanken des Geſetzes verſchieden iſt. Bey dieſem inne-
ren Widerſpruch der Elemente des Geſetzes entſteht die
Frage, welchem derſelben wir den Vorzug geben ſollen.
Da nun der Ausdruck bloßes Mittel iſt, der Gedanke aber
der Zweck, ſo iſt es unbedenklich, daß der Gedanke vor-
gezogen, der Ausdruck alſo nach ihm berichtigt werden
vina scilicet ejus indulgentia
proficiscitur, quam plenissime
interpretari debemus.”
(i) L. 192 § 1 de R. J. (50. 17.):
„In re dubia benigniorem in-
terpretationem sequi non mi-
nus justum est quam tutius.”
L. 56. 168 pr. eod. — L. 18 de
leg. (1. 3.) „Benignius leges in-
terpretandae sunt, quo volun-
tas earum conservetur.” Die
Schlußworte können heißen: weil
das der allgemeine Wille der
Geſetzgeber iſt. Richtiger aber
ſcheint mir dieſe Erklärung: in-
ſofern das nicht ihrem beſtimmt
ausgeſprochenen Inhalt wider-
ſpricht (alſo quo für quatenus).
— Einzelne Anwendungen dieſer
Regel: Bey zweydeutigen Straf-
geſetzen geht die mildere Strafe
vor (L. 42 de poenis 48. 19.).
Bey Teſtamenten iſt durch Aus-
legung die Erbeinſetzung zu be-
günſtigen, die Enterbung nicht zu
begünſtigen (L. 19 de lib. et
posth. 28. 2.). — Dieſe Anwen-
dungen zeigen, daß die Regel ei-
nen anderen Sinn hat, als die,
welche der aequitas den Vorzug
einräumt (Note f), womit man
ſie gewöhnlich, aber irrig, iden-
tificirt.
|0287 : 231|
§. 37. Mangelhafte Geſetze. Unrichtiger Ausdruck.
muß (a). Die Annahme dieſer Regel macht keine Schwie-
rigkeit, dagegen kann ihre Anwendung ſehr ſchwierig ſeyn,
indem Alles darauf ankommt, daß die hier vorausgeſetzte
Thatſache zur Gewißheit erhoben werde.
Die Fälle dieſer Art bieten eine weit geringere Man-
nichfaltigkeit dar, als die des unbeſtimmten Ausdrucks
(§ 36). Ihre Verſchiedenheit bezieht ſich nur auf das
logiſche Verhältniß des Ausdrucks zum Gedanken, indem
jener entweder weniger oder mehr enthalten kann als der
Gedanke. Im erſten Fall geſchieht die Berichtigung des
Ausdrucks durch eine ausdehnende Auslegung, im zwey-
ten durch eine einſchränkende (b). Beide gehen ledig-
lich darauf aus, den Ausdruck mit dem wirklichen Ge-
danken in Übereinſtimmung zu bringen.
Dieſe Behandlung des unrichtigen Ausdrucks iſt von
der des unbeſtimmten in den wichtigſten Beziehungen ver-
ſchieden. — Zum Grunde liegt die Vorausſetzung, es ſey
vorhanden ein beſtimmter Gedanke, in Verbindung mit
einem unvollkommenen Ausdruck. Dieſes Verhältniß kön-
nen wir nicht, wie die Unbeſtimmtheit, auf logiſchem,
ſondern nur auf hiſtoriſchem Wege erkennen, weshalb die
(a) L. 17 de leg. (1. 3.) „Scire
leges non est verba earum te-
nere, sed vim ac potestatem.”
L. 6 § 1 de V. S. (50. 16.). L.
13 § 2 de excus. (27. 1.). L. 19
ad exhib. (10. 4.).
(b) Die Neueren nennen es
mit nichtrömiſchen Ausdrücken
interpfetatio extensiva, restri-
ctiva, und ſetzen dann wohl bei-
den entgegen die declarativa,
die weder ausdehnt noch ein-
ſchränkt, indem ſie ſich gar nicht
auf ein in dieſer Art mangelhaf-
tes Geſetz bezieht (§ 36 d).
|0288 : 232|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
Erkenntniß deſſelben ſchon an ſich unſicherer, und zugleich
verſchiedener Grade der Gewißheit empfänglich iſt. Dieſe
Schwierigkeit aber wird noch erhöht durch den Umſtand,
daß uns das nächſte und natürlichſte Erkenntnißmittel für
den Gedanken entzogen iſt: denn dieſes beſteht eben in
dem Ausdruck, und der Ausdruck iſt es gerade, dem wir
hier den Glauben verſagen. — Ferner war bey der Un-
beſtimmtheit das Bedürfniß einer künſtlichen Abhülfe un-
abweislich, indem ohne ſie gar Nichts vorhanden war,
das wir als Geſetz hätten betrachten und anwenden kön-
nen. Hier iſt es anders, indem uns auch ſchon der un-
berichtigte Ausdruck einen verſtändlichen und anwendbaren
Gedanken darbietet. — Endlich war bey der Unbeſtimmtheit
die Erkenntniß des Mangels gänzlich verſchieden von der
Abhülfe, hier fallen beide zuſammen. Denn wir erkennen
die Unrichtigkeit des Ausdrucks nur durch deſſen Verglei-
chung mit dem wahren Gedanken: iſt aber dieſer von uns
erkannt, ſo iſt damit auch zugleich die Abhülfe für jenen
Mangel gefunden.
Es ſollen nunmehr die drey oben angegebenen Hülfs-
mittel (§ 35) in ihrer Anwendbarkeit auf den hier darge-
ſtellten Mangel, der in dem unrichtigen Ausdruck beſteht,
einzeln geprüft werden.
Am unbedenklichſten erſcheint auch hier wieder der
innere Zuſammenhang der Geſetzgebung als Mittel der
Abhülfe. Ein Beyſpiel findet ſich bey dem Senatuscon-
ſult, welches die hereditatis petitio näher beſtimmte. Nach
|0289 : 233|
§. 37. Mangelhafte Geſetze. Unrichtiger Ausdruck.
dieſem ſollte der redliche Beſitzer, welcher Erbſchaftsſachen
verkauft hatte, den erlangten Kaufpreis herausgeben
(pretia quae pervenissent). Unter dieſem Ausdruck war
auch der Fall begriffen, da er denſelben Kaufpreis wieder
verloren hatte, denn er war doch einmal erlangt geweſen.
Allein aus den nachfolgenden Worten deſſelben Senatus-
conſults wurde gefolgert, daß dieſer Fall ausgenommen
ſey. Es wurde alſo der gebrauchte Ausdruck in der Art
einſchränkend erklärt, als wenn nicht von jedem erlang-
ten, ſondern nur von dem erlangten und nicht wieder ver-
lorenen Kaufpreis die Rede geweſen wäre (c). — Ein
anderes Beyſpiel findet ſich bey Strafgeſetzen. Wenn ein
ſolches am Schluß eine allgemeine Strafe für ein gewiſſes
Verbrechen ausſpricht, nachdem es vorher für einen ein-
zelnen Fall deſſelben Verbrechens eine andere Strafe be-
ſtimmt hatte, ſo iſt der allgemeine Schluß durch die Aus-
nahme dieſes beſonderen Falles einſchränkend zu erklären (d).
Wichtiger, aber auch bedenklicher, iſt die Anwendung
des zweyten Hülfsmittels, welches darin beſteht, daß der
wirkliche Gedanke des Geſetzes aus ſeinem Grunde er-
kannt, und darnach der Ausdruck berichtigt wird. In
dieſer Beziehung nun iſt vorzüglich wichtig die Unterſchei-
dung der ſpeciellen und generellen Gründe (§ 34).
Ein ſpecieller Grund kann in der That zu dem ange-
gebenen Zweck angewendet werden. Am unbedenklichſten
(c) L. 20 § 6. L. 23 de her. pet. (5. 3.).
(d) L. 41 de poenis (48. 19.).
|0290 : 234|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
geſchieht dieſes, wenn die buchſtäbliche Auslegung des
Ausdrucks auf einen Widerſpruch mit dem anerkannten
Grunde führen würde. Iſt alſo z. B. ein Rechtsſatz ein-
geführt zur Begünſtigung gewiſſer Perſonen, ſo würde
jede einzelne Anwendung zu ihrem Schaden mit dem
Grunde im Widerſpruch ſtehen, und dieſes muß verhütet
werden durch eine einſchränkende Auslegung des zu allge-
meinen Ausdrucks (e). Wenn daher ein durch Betrug
veranlaßter Vertrag zufällig dem Betrogenen vortheilhaft
iſt, ſo bleibt er gültig, obgleich der Ausdruck des Edicts
alle ſolche Verträge für ungültig erklärt (f). Wenn der
Minderjährige ohne Curator Prozeß führt und gewinnt,
ſo bleibt das Verfahren gültig (g). Eben ſo iſt ein Ver-
gleich über Alimente auch ohne Prätor gültig, wenn da-
durch die Lage des Berechtigten unbedingt verbeſſert
wird (h). — Häufiger aber, und zugleich ſchwieriger ſind
die Fälle, da wir den Ausdruck berichtigen, nicht gerade
um einen Widerſpruch mit dem Grunde zu verhüten, ſondern
nur um die wahre Gränze der Anwendung zu finden,
alſo damit nicht die Anwendung auf eine unvollſtändige
oder überflüſſige Weiſe geſchehe. Für dieſe Art der Be-
richtigung müſſen wir beſonders darin die Beſtätigung
ſuchen, daß wir die Veranlaſſung des ungenauen Aus-
(e) L. 25 de leg. (1. 3.). L.
6 C. eod. (1. 14.).
(f) L. 7 § 7 de pactis (2. 14.).
L. 30 C. de transact. (2. 4.).
(g) L. 2 C. qui legit. pers.
(3. 6.). L. 14 C. de proc. (2.
13.).
(h) L. 8 § 6 de transact. (2.
15.).
|0291 : 235|
§. 37. Mangelhafte Geſetze. Unrichtiger Ausdruck.
drucks auf wahrſcheinliche Weiſe erklären: etwa indem
ein concreter Ausdruck gebraucht iſt, weil es an einem
entſprechenden abſtracten fehlte, oder wegen der größeren
Anſchaulichkeit, die jener mit ſich führt. Dadurch allein
kann der Zweifel ſicher entfernt werden, ob in der That
der Gedanke, der aus unſrer Auslegung hervorgeht, der
wirkliche Gedanke des Geſetzgebers iſt, oder ob er es nur
hätte conſequenterweiſe ſeyn ſollen. In dieſem letzten
Falle aber würden wir durch unſre Auslegung nicht mehr
den Ausdruck berichtigen, ſondern den Gedanken ſelbſt,
und daß dieſes nicht in der Befugniß des Auslegers ent-
halten iſt, wird weiter unten gezeigt werden (§ 50). —
Folgende Beyſpiele werden das hier Geſagte anſchaulich
machen. Das Edict drohte die Infamie für den Fall,
da eine Wittwe noch in der Trauerzeit wieder heirathen
würde. Der Zweck war lediglich Verhütung aller Zwei-
fel über die Paternität eines nachher gebornen Kindes.
Hätte man dieſes unmittelbar ausſprechen und zugleich
genau begränzen wollen, ſo wäre eine weitläufige, ab-
ſtracte Beſtimmung, und zugleich eine Entſcheidung ſchwie-
riger Fragen (über die mögliche Dauer der Schwanger-
ſchaft) nöthig geweſen. Das wurde vermieden durch die
völlig anſchauliche Angabe der Trauerzeit, die auch für
die allermeiſten Fälle ganz zutreffend war, und zugleich
jene ſchwierige Fragen durch weites Hinausgreifen beſei-
tigte. Nun kamen aber Fälle vor, da die Wittwe bald
nach des Mannes Tod ein Kind geboren hatte; dadurch
|0292 : 236|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
war jeder Zweifel über künftige Kinder unbedingt geho-
ben, und nun wurde die Ehe, vermittelſt einer einſchrän-
kenden Auslegung des Edicts, zugelaſſen. Auf der andern
Seite kamen Fälle vor, worin gar keine Trauer für den
Verſtorbenen, alſo auch keine Trauerzeit, ſtatt fand; den-
noch war die Ehe verboten, und das Edict wurde hier
ausdehnend ausgelegt (i). — Die actio ad exhibendum
hat jeder bey der Exhibition Intereſſirte (cujus interest),
und wahrſcheinlich ſtand dieſes ſo in dem Edict. Dieſer
Ausdruck paßte auf Jeden, dem es Vortheil bringen
konnte, eine Sache zu ſehen. Allein der anerkannte Zweck
ging dahin, Rechtsanſprüche von der Hemmung zu be-
freyen, die ihnen aus den zufälligen und räumlichen Ver-
hältniſſen einer Sache entſtehen konnte. Daher wurde
jener Ausdruck durch Auslegung auf dasjenige Intereſſe
eingeſchränkt, welches mit einem Rechtsanſpruch in
Verbindung ſteht (k). — Die zwölf Tafeln forderten für
die Uſucapion zwey Jahre Beſitz bey dem fundus, ein
Jahr bey allen anderen Sachen. Wohin ſollten nun Häu-
ſer gehören? Wörtlich waren ſie freylich nicht unter dem
Ausdruck fundus enthalten. Da aber die Uſucapion alle
Sachen überhaupt umfaßte, und da zu dieſem Zweck alle
Sachen in zwey große Maſſen abgetheilt werden ſollten,
ſo war ohne Zweifel die Meynung des Geſetzes, alle un-
bewegliche Sachen wegen ihrer völligen Gleichartigkeit
(i) L. 1 L. 11 § 1. 2. 3 de his qui not. (3. 2.).
(k) L. 19 ad exhib. (10. 4.).
|0293 : 237|
§. 37. Mangelhafte Geſetze. Unrichtiger Ausdruck.
zuſammen zu ſtellen, und es wurde blos deswegen der
concrete Ausdruck fundus gebraucht, weil es an einem
entſprechenden abſtracten Ausdruck fehlte. Daher wurde
jenes Wort ausdehnend auf alle unbewegliche Sachen,
alſo auch auf Häuſer, bezogen, und dieſe Auslegung
ſcheint auch niemals beſtritten geweſen zu ſeyn (l). — In
manchen Geſetzen freylich, welche von concreten Fällen
handeln, wird ausdrücklich hinzugefügt, daß dieſelben nicht
als bloßer Ausdruck abſtracterer Regeln angeſehen wer-
den ſollen: durch eine ſolche Vorſchrift iſt dieſe Art aus-
dehnender Erklärung ausdrücklich ausgeſchloſſen (m). —
Endlich gehört zu dieſer Art ausdehnender Auslegung auch
die Annahme eines indirecten Ausdrucks, welche man das
argumentum a contrario nennt. Es kann nämlich eine
Regel bis zu einer beſtimmten Gränze dergeſtalt ausge-
ſprochen ſeyn, daß darin der beſtimmte Gedanle enthalten
iſt, jenſeits dieſer Gränze ſolle das Entgegengeſetzte gelten.
So z. B. wenn der Prätor eine Klage einführte mit dem
gewöhnlichen Ausdruck: intra annum judicium dabo, ſo
lag darin zugleich der Sinn: post annum non dabo, und
die Beziehung des Ausdrucks hierauf iſt eine unzweifel-
hafte ausdehnende Auslegung (n). So ſagte die L. Julia
(l) Cicero, top. § 4.
(m) Beyſpiele ſind L. 10 C.
de revoc. don. (8. 56.) und Nov.
115. C. 3 pr.
(n) L. 22 de leg. (1. 3.) „Cum
lex in praeteritum quid indul-
get, in futurum vetat.” Donel-
lus (I. 14.) erklärt dieſe ſchwie-
rige Stelle mit vieler Wahr-
ſcheinlichkeit von Fällen der hier
beſchriebenen Art, ſo daß das
praeteritum und futurum nicht
auf den Zeitpunkt des erlaſſenen
Geſetzes zu beziehen iſt (da ja
|0294 : 238|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
de vi, der für dieſes Verbrechen angeordnete Prätor könne
ſeine Gerichtsbarkeit übertragen „si proficiscatur”; darin
lag der umgekehrte Satz, daß er es außerdem nicht
könne (o). Eben ſo deutet jede geſetzliche Ausnahme auf
das Daſeyn einer Regel, ohne welche dieſe Ausnahme
keinen Sinn hätte, iſt alſo ein indirecter Ausdruck dieſer
Regel. Wenn alſo die L. Julia de adulteriis den crimi-
nell verurtheilten Frauen die Fähigkeit des gerichtlichen
Zeugniſſes entzog, ſo folgte daraus von ſelbſt, daß ande-
ren Frauen dieſe Fähigkeit zuſtand (p).
Dagegen kann der generelle Grund eines Geſetzes (z.
B. die aequitas, worauf es beruht) nicht zu einer Ausle-
gung führen, wodurch der Ausdruck als unrichtig ange-
nommen und einer Berichtigung unterworfen werden ſoll.
Denn dieſe Behandlung trägt ſchon ganz den Character
einer von der Auslegung verſchiedenen Fortbildung des
Rechts an ſich, da wir nicht fragen, was in dem Gedan-
ken des Geſetzes enthalten iſt, ſondern was in denſelben
conſequenterweiſe hätte aufgenommen werden müſſen, wenn
ſich der Geſetzgeber dieſes klar gemacht hätte. Es kommt
aber noch hinzu die bey dieſer letzten Behauptung ſtets
zurück bleibende Ungewißheit, indem bey der Entfernung
dieſes nicht wohl über ſchon ver-
gangene Handlungen verfügen
kann), ſondern auf den in der
Zukunft liegenden Zeitpunkt, hier
alſo auf den Ablauf des Jahres
nach entſtandenem Klagrecht. Vor
dieſem Ablauf ſoll die Klage er-
laubt ſeyn (in praeteritum in-
dulget), alſo nachher verboten
(in futurum vetat).
(o) L. 1 pr. de off. ejus cui
mand. (1. 21.).
(p) L. 18 de testibus (22. 5.).
|0295 : 239|
§. 37. Mangelhafte Geſetze. Unrichtiger Ausdruck.
des Geſetzes von dieſem ſeinem generellen Grunde viele
entgegenwirkende Mittelglieder gedacht werden können,
durch die der Geſetzgeber ſelbſt bey deutlicher Einſicht in
das ganze Verhältniß, dennoch abgehalten werden mochte,
dem Geſetze die von uns verlangte Modification zu geben
(§ 34). Wenn wir nicht ſelten Auslegungen dieſer Art
bey den Römiſchen Juriſten finden, ſo können uns dieſe
hierin nicht als Muſter dienen, da die Römer, wie ſich
unten zeigen wird, Auslegung und Fortbildung nicht ſcharf
unterſchieden haben (q). Dahin gehört unter andern auch
die Regel, daß in jedes blos verbietende Geſetz ſtets die
Nichtigkeit des darin verbotenen Rechtsgeſchäfts hinein
gedacht werden müſſe (r). Wollten wir dieſes als eine
für unſre Auslegung gültige Regel betrachten, ſo würde
es mit der eben aufgeſtellten Behauptung im Widerſpruch
ſtehen, da hier dem Ausdruck des bloßen Verbots, aus
dem generellen Grunde der Zweckmäßigkeit und Wirkſam-
keit, eine große Ausdehnung beygelegt würde. Es iſt
aber in der That jene Vorſchrift ein ganz poſitives Ge-
ſetz, und, in Verbindung gedacht mit anderen, ein bloßes
Verbot ausſprechenden Stellen unſrer Rechtsbücher, eine
authentiſche Auslegung dieſer Stellen ſelbſt: alſo nicht An-
weiſung und Muſter für unſere eigene Auslegung.
(q) Beyſpiele dieſer Art finde
ich in folgenden Stellen: L. 40
pr. de her. pet. (5. 3.), L. 2
§ 1. 3 ad Sc. Vell. (16. 1.), L.
1 § 6 de aedil. ed. (21. 1.), L.
15. L. 6 § 2 de j. patr. (37. 14.),
L. 2 pr. § 1 de cust. (48. 3.). —
Vgl. unten § 47 und § 50 am
Ende.
(r) L. 5 C. de leg. (1. 14.).
|0296 : 240|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
Iſt nun alſo der ſpecielle Geſetzgrund zur Berichtigung
des Ausdrucks zuläſſig, der generelle unzuläſſig, ſo muß
zugleich daran erinnert werden, daß es zwiſchen dieſen
beiden Arten von Gründen keine ſcharfe Gränze giebt
(§ 34). Durch die mancherley allmäligen Übergänge, die
ſich hierin bilden, wird oft die Möglichkeit wahrer Aus-
legung zweifelhaft, und die Unterſcheidung derſelben von
Fortbildung des Rechts ſchwierig werden.
Dagegen iſt es durchaus keinem Zweifel unterworfen,
daß das dritte oben angegebene Hülfsmittel, der innere
Werth des Reſultats (§ 35), auf die Erkenntniß und Ver-
beſſerung des unrichtigen Ausdrucks niemals angewendet
werden darf. Denn es iſt einleuchtend, daß darin nicht
eine Ausgleichung des Ausdrucks mit dem Gedanken, ſon-
dern eine verſuchte Verbeſſerung des Gedankens ſelbſt,
enthalten ſeyn würde. Dieſes kann als Fortbildung des
Rechts heilſam ſeyn, von einer Auslegung kann es nur
den Namen an ſich tragen.
§. 38.
Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze (Kritik).
Die aufgeſtellten allgemeinen Grundſätze der Ausle-
gung ſollen nunmehr auf die Juſtinianiſche Geſetzgebung
insbeſondere angewendet werden, deren Auslegung wieder
neue Schwierigkeiten mit ſich führt, und neue Regeln
des Verfahrens nöthig macht. Dabey wird hier die
geſchichtliche Kenntniß dieſer Geſetzgebung vollſtändig
|0297 : 241|
§. 38. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik.
vorausgeſetzt, ſo daß nur von der Anwendung dieſer
Kenntniß auf das Geſchäft der Auslegung die Rede
ſeyn wird (a).
Die ganz eigenthümliche Lage des Auslegers gründet
ſich hier auf die große Entfernung zwiſchen ihm und der
Entſtehung der auszulegenden Geſetze. Dieſe giebt dem
Studium des Römiſchen Rechts einen vorzugsweiſe ge-
lehrten Character. Wir entbehren darin alle Vortheile
der Anſchaulichkeit und unmittelbaren Gewißheit, die aus
dem Mitleben mit dem Volke, worin ein Recht entſtand,
hervorgehen können, und wir müſſen ſuchen dieſe Vortheile
durch geiſtige Anſtrengung ſo viel als möglich zu erſetzen.
Dadurch erhält insbeſondere die Auslegung noch ein an-
deres Ziel, als das der Erwerbung eines reinen Reſul-
tates an ſicheren Rechtsregeln. Wir müſſen ſuchen, die
überlieferten Rechtsquellen in ihrer ganzen Eigenthümlich-
keit ſo vollſtändig in uns aufzunehmen, daß ſie uns die
Stelle des Mitlebens vertreten. So ſchwierig dieſe Auf-
gabe an ſich iſt, ſo wird ſie doch durch die hohe literari-
ſche Vortrefflichkeit erleichtert, die wir in den wichtigſten
Theilen jener Rechtsquellen wahrnehmen.
Die Grundlage aller Auslegung iſt ein auszulegender
Text, und die Feſtſtellung dieſes Textes heißt Kritik.
Dieſe geht alſo der Auslegung vorher, jedoch darf dieſes
(a) Ganz abſichtlich alſo wird
hier nicht geſprochen von der
Entſtehung der Juſtinianiſchen
Rechtsquellen, von ihren Be-
ſtandtheilen, von ihrer Sprache,
und den Hülfsmitteln, die wir
dabey benutzen, von den Hand-
ſchriften und Ausgaben des Textes.
16
|0298 : 242|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
Vorhergehen nur von dem Verfahren im Ganzen verſtan-
den werden, nicht von jeder einzelnen Anwendung: denn
im Einzelnen wird oft das Geſchäft der Kritik nur ge-
meinſchaftlich mit dem der Auslegung vollzogen werden
können. — Die Kritik kommt vor in zwey Stufen: als
diplomatiſche (oder niedere), und als höhere Kritik.
Die Aufgabe der erſten geht darauf, das Material ſicher
und vollſtändig herbeyzuſchaffen, die der zweyten auf die
Beſtimmung des wahren Textes aus dem gegebenen
Material.
An ſich iſt das Geſchäft der Kritik ein eben ſo allge-
meines, als das der Auslegung, und keinesweges auf das
Römiſche Recht beſchränkt. Da es jedoch hier größere
Wichtigkeit und Schwierigkeit als bey anderen Geſetzge-
bungen hat, ſo habe ich es vorgezogen, erſt an dieſer
Stelle davon zu reden, wo es im vollſtändigen Zuſam-
menhang, und ohne läſtige Wiederholungen, dargeſtellt
werden kann.
In Beziehung auf Kritik iſt zuerſt der einfachſte Fall
zu erwägen, da uns der Geſetzgeber den Text des Ge-
ſetzes in einer ſolchen Geſtalt unmittelbar übergiebt, wel-
cher er ſelbſt öffentlichen Glauben beylegt. In dieſem
Fall, der durch die Erfindung der Buchdruckerkunſt nicht
nur möglich, ſondern auch ſehr gewöhnlich geworden iſt,
fällt die diplomatiſche Kritik von ſelbſt weg; es ſcheint
aber, daß auch die höhere Kritik, wenn ſie etwa einen
Druckfehler behaupten wollte, als Auflehnung gegen den
|0299 : 243|
§. 38. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik.
Willen des Geſetzgebers abgewehrt werden müßte. Allein
es iſt oben gezeigt worden, daß ſelbſt der wirkliche Aus-
druck des Geſetzes aus dem Gedanken deſſelben durch
Auslegung berichtigt werden darf (§ 37), welches Verfah-
ren auf dem Vorzug des Geiſtes vor dem Buchſtaben
beruht. Nun iſt aber der gedruckte Text, im Verhältniß
zu dem wirklichen Ausdruck, doch nur als der Buchſtab
des Buchſtabs anzuſehen, ſo daß er tiefer ſteht als
jener; daher wird auch er einer gleichen Berichtigung ſich
nicht entziehen können. Freylich aber wird dieſer Fall
ſehr ſelten vorkommen, und er hat daher in der allgemei-
nen Betrachtung der Kritik geringe Erheblichkeit (b).
Allein der hier beſchriebene Fall iſt auch keinesweges
der, in welchem wir uns befinden im Verhältniß zu den
Quellen des Juſtinianiſchen Rechts. Daß wir keinen ge-
ſetzlich überlieferten Text haben, giebt wohl Jeder zu.
(b) Ein merkwürdiges Bey-
ſpiel aus neuerer Zeit iſt folgen-
des. Das Königlich Weſtphäli-
ſche Dekret vom 18. Jan. 1813
Art. 3, legte dem Zehentherrn
eines Gutes den zehenten Theil
der Grundſteuer auf „wenn der
Zehentherr den zehnten Theil des
reinen Ertrages bezieht:“
außer dieſem Fall, nach Verhält-
niß, mehr oder weniger als ein
Zehentheil (Bülletin N. 3 von
1813. S. 45). In einem ſpäte-
ren Stück des Geſetzbülletins
aber ſteht: „Bülletin Nr. 3 …
des reinen Ertrags, lies:
des rohen Ertrags.“ Dieſe
Berichtigung, die gleichzeitig im
Moniteur vom 3. Febr. ſtand,
war jedoch ohne Unterſchrift oder
andere Beglaubigung, und ſtand
überdem im Widerſpruch mit der
ſchriftlichen Originalurkunde. Das
praktiſche Reſultat beider Leſe-
arten iſt höchſt verſchieden, und
es fragte ſich nun, welche vor-
gehen ſollte. Nach der erſten
Leſeart war das Geſetz in conſe-
quentem Zuſammenhang mit den
allgemeinen Steuergrundſätzen,
aber ſehr ſchwer auszuführen:
nach der zweyten Leſeart verhielt
ſich Beides gerade umgekehrt.
16*
|0300 : 244|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
Wäre in Bologna das kritiſche Streben der Gloſſatoren
zu einem abgeſchloſſenen Ziel gekommen, ſo würde die
Reception dieſer Vulgata die Stelle eines geſetzlichen Tex-
tes vertreten, obgleich auch dadurch, wie ſo eben gezeigt
worden iſt, das Geſchäft der höheren Kritik nicht ausge-
ſchloſſen wäre. Allein eine fertige Vulgata in dieſem
Sinn hat nie beſtanden, und eine Reception derſelben war
alſo unmöglich (§ 17). Wir haben folglich Nichts vor
uns als eine bedeutende Anzahl Handſchriften, die an
Alter und Werth ſehr verſchieden ſind. Selbſt die gänz-
liche Übereinſtimmung derſelben in einer Leſeart kann der
geſetzlichen Mittheilung nur durch eine Art von Fiction
gleichgeſtellt werden. In Wahrheit entſteht aus einer
ſolchen Übereinſtimmung doch nur ein höherer Grad von
Wahrſcheinlichkeit daß wir den urſprünglichen Text vor
uns haben, keine Gewißheit. Neuere Schriftſteller haben
befürchtet, es würde um alle Sicherheit der Praxis ge-
ſchehen ſeyn, wenn man die Kritik walten ließe, und ſie
haben daher dieſelbe entweder gänzlich verworfen, oder
doch in willkührliche enge Gränzen eingeſchloſſen (c).
Dieſe Ängſtlichkeit will einen gegebenen Text gegen die
Gefahr willkührlicher Abweichungen bewahren. Sie iſt
aber dadurch nichtig, daß das Gegebene, welches ſie
(c) Thibaut verwarf den
praktiſchen Gebrauch der Kritik
gänzlich (Verſuche Bd. 1 Num.
16), gab aber ſpäterhin dieſe
Meynung auf (Logiſche Ausle-
gung § 44). — Feuerbach will
die freye Conjecturalkritik nur
zulaſſen, um Unſinn oder Wi-
derſpruch auszurotten (civiliſti-
ſche Verſuche Th. 1 Num. 3).
Eben ſo Glück I. § 35 Num. 5.
|0301 : 245|
§. 38. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik.
bewachen will, gar nicht exiſtirt. Sieht man zu, was ſie
ſich als ein ſolches denken, ſo entdeckt man eben ſo ver-
ſchiedene als unklare Vorſtellungen. Die Vulgata, oder Bo-
logneſiſche Recenſion, könnte dafür gelten, wenn ſie zu Stande
gekommen wäre. Die Ubereinſtimmung aller erhaltenen Hand-
ſchriften giebt wieder einen beſtimmten Begriff, wenngleich
kein Recht zu Abweiſung der Kritik: allein dieſe meynen
ſie auch nicht. Denn theils war bis jetzt in Fällen ſtrei-
tiger Kritik faſt niemals auch nur ein Anfang dazu ge-
macht worden, jene Übereinſtimmung zu erfahren, theils
beruhte der Kampf gegen die Kritik hauptſächlich auf der
Furcht, die in Gerichten hergebrachten Meynungen könn-
ten durch tiefer gehende Unterſuchung geſtört werden,
wobey ja gerade die Vergleichung von Handſchriften be-
ſonders gefährlich war. Giebt man aber dieſe Beſtim-
mungen des gegebenen Textes (welcher unantaſtbar ſeyn
ſoll) auf, ſo bleibt faſt Nichts übrig, als denjenigen Text
dafür zu nehmen, der den Meiſten vor Augen liegt, weil
er gerade in den verbreitetſten Ausgaben ſteht, wofür
vielleicht die Gothofrediſchen gelten dürften (d). Allein
ein ſo ſchwankender und ſo willkührlich angenommener
Begriff darf doch gewiß nicht auf ernſthafte Rückſicht An-
ſpruch machen.
(d) Die meiſten Widerſacher
der Kritik denken dergleichen,
ohne es ſich klar zu machen oder
auszuſprechen. Deutlich ausge-
ſprochen, unter vielem Verworre-
nen, iſt es bey Dabelow Hand-
buch des Pandectenrechts Th. 1
S. 204 (Halle 1816), der aber
gerade keinen Gebrauch davon
macht, ſondern der Kritik große
Freyheit einräumt.
|0302 : 246|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
§. 39.
Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. (Kritik.)
Fortſetzung.
Iſt nun durch dieſe Gründe das Recht der Kritik gel-
tend gemacht, ſo müſſen ferner die Regeln ihres Verfah-
rens aufgeſtellt werden. — Die diplomatiſche Kritik hat
das handſchriftliche Material zu ſammeln, und, durch
Prüfung der Handſchriften nach ihrem Alter und Werth,
äußerlich zu ordnen. Sie hat ferner den recipirten Ca-
non durch Ausſcheidung aller fremdartigen Theile (§ 17)
rein zu erhalten, die demſelben, nach der Einrichtung der
meiſten neueren Ausgaben, aus Verſehen leicht zugezählt
werden können (a). — Das Geſchäft der höheren Kritik
zerfällt in zwey Theile: Verarbeitung des durch die diplo-
matiſche Kritik überlieferten handſchriftlichen Vorraths,
und Verbeſſerung deſſelben. Sie hat alſo zunächſt, dem
erſten Theile nach, durch freye Auswahl aus dem hand-
ſchriftlichen Vorrath einen Text zu bilden. Allerdings
(a) Noch ſchlimmer, als die
irrige Anwendung des nicht
gloſſirten aber ächten Textes, iſt
es freylich, wenn hie und da die
ſeit dem vierzehnten Jahrhundert
verfaßten und ſpäter in die Aus-
gaben aufgenommenen Summa-
rien als Beſtandtheile des Rö-
miſchen Rechts angeſehen wor-
den ſind, welcher ſtarke Misgriff
jedoch leicht zu erklären iſt. Denn
die Gloſſe und die neueren An-
merkungen ſtehen ſtets am Rande
der Ausgaben, dieſe Summa-
rien aber als Überſchriften mit-
ten im Text, daher ſie der Un-
kundige leicht für Text halten
kann. Vgl. hierüber Savigny
Beruf unſrer Zeit S. 62, und:
Geſchichte des R. R. im Mittel-
alter B. 6 S. 162.
|0303 : 247|
§. 39. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik. Fortſetzung.
muß ſie diejenige Wahrſcheinlichkeit mit in Anſchlag brin-
gen, die aus der Zahl und dem Werth der Handſchriften
für eine unter mehreren Leſearten hervorgehen kann. Aber
frey bleibt ſie darum dennoch in der Auswahl, ohne durch
die Rückſicht auf irgend eine Klaſſe von Handſchriften
(z. B. die Vulgata) gebunden zu ſeyn: ja dieſe Freyheit
iſt ſogar in ſehr wichtigen Anwendungen ſtets allgemein
anerkannt worden, ſelbſt von Solchen, die ſich in der
allgemeinen Theorie entſchieden gegen den Gebrauch der
Kritik ausſprachen. Es giebt nämlich in den Digeſten
eine anſehnliche Zahl von Stellen, worin der Florentini-
ſche Text durch Lücken ſinnlos iſt, andere Handſchriften
aber einen vollſtändigen Text von unzweifelhafter Ächt-
heit darbieten: eben ſo giebt es viele Stellen, worin der
umgekehrte Fall eintritt (b). Nun weiß ich auch keinen
einzigen Schriftſteller, der in ſeinem kritiſchen Rigorismus
ſo weit gienge, dieſe zwiefachen Verbeſſerungen abzuwei-
ſen: und doch hat die Meynung, welche etwa dem Bo-
logneſiſchen Text die ausſchließende Herrſchaft zuſchreiben
möchte, unter allen oben dargeſtellten willkührlichen Be-
ſchränkungen noch am meiſten hiſtoriſchen Schein für ſich.
(b) Savigny Geſchichte des
R. R. im Mittelalter B. 3 § 167.
171. Allerdings könnte man ſa-
gen, die hier angeführten Er-
gänzungen aus der Florentina
ſeyen ja ſchon ſelbſt Beſtandtheile
der Vulgata geworden. Allein
die Bologneſer haben uns nicht
wenige ganz ähnliche Verbeſſe-
rungen zu machen übrig gelaſſen,
die erſt in ſpäterer Zeit aus der
Florentina hinzugefügt worden
ſind, und woran dennoch nie-
mals Anſtoß genommen wor-
den iſt.
|0304 : 248|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
In unſren gangbaren Ausgaben freylich merken wir jene
zwiefache Noth gar nicht, indem darin überall die erwähn-
ten Verbeſſerungen ſchon aufgenommen ſind. Und in dieſer
Anwendung wird es recht anſchaulich, daß in der Aner-
kennung eines beſtimmten Textes zu keiner Zeit eine ähn-
liche allgemeine Meynung feſt geworden iſt, wie es von
ſo vielen und wichtigen praktiſchen Rechtsſätzen nicht ge-
läugnet werden kann (§ 20). — Zu dieſem erſten Theile
des Geſchäfts der höheren Kritik gehört endlich auch noch
die Interpunktion, durch welche die logiſche Gliederung
einer Stelle beſtimmt wird, und die daher ihrer innern
Natur nach als Auslegung angeſehen werden könnte, ob-
gleich ſie in ihrer Form mit dem Geſchäft des Kritikers
zuſammenfällt. Merkwürdigerweiſe haben Manche auch
ſchon die Veränderung der gewöhnlichen Interpunktion
als eine Art von Emendation angeſehen (c). Allein die
Vorſtellung von einer gewöhnlichen Interpunktion iſt,
eben ſo wie die von einem gewöhnlichen Text überhaupt,
eine ganz leere und nichtige. In der That liefern uns
die Handſchriften faſt Nichts als ununterbrochene Reihen
von Buchſtaben: wie wir dieſe in Worte ſondern, und
dieſe Worte zu Sätzen gliedern wollen, das iſt ganz un-
frer Einſicht überlaſſen. Die geringen und unſicheren An-
fänge von Interpunktion in einigen Handſchriften können
gar nicht in Betracht kommen.
Es bleibt nun noch übrig, den zweyten Theil des Ge-
(c) Feuerbach a. a. O., S. 93.
|0305 : 249|
§. 39. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik. Fortſetzung.
ſchäfts der höheren Kritik zu betrachten, der in der Ver-
beſſerung des handſchriftlichen Textes, alſo in der Emen-
dation durch Conjecturen (d) beſteht. Dieſe Conjectural-
kritik iſt es eigentlich, welche eine ſo große Aufregung
gegen die kritiſche Behandlung unſrer Quellentexte über-
haupt hervorgebracht hat. Auch iſt nicht zu läugnen, daß
dieſelbe ſeit dem ſechszehnten Jahrhundert von Manchen,
beſonders Franzoſen und Holländern, auf eine willkühr-
liche, ja leichtſinnige Weiſe geübt worden iſt. Dieſem
Misbrauch das Wort zu reden, iſt gewiß nicht meine Ab-
ſicht, aber das wichtige, ja unentbehrliche Recht auf ihren
richtigen Gebrauch dürfen wir darum weder aufgeben, noch
durch willkührliche Bedingungen einſchränken laſſen (e).
Die beiden hier angegebenen Anwendungen der höhe-
ren Kritik, zur Auswahl unter handſchriftlichen Texten,
und zu deren Berichtigung, haben unverkennbare Ähnlich-
keit mit den beiden Auslegungsarten mangelhafter Geſetze,
im Fall des unbeſtimmten und des unrichtigen Ansdrucks
(§ 35 — 37). Fragen wir alſo auch hier nach den Er-
(d) Emendation iſt ganz rela-
tiv, und bezieht ſich ſtets auf ir-
gend einen, willkührlich voraus-
geſetzten, Text, der gerade jetzt
verbeſſert werden ſoll. Daher
kann auch ſchon die bloße Be-
richtigung von Druckfehlern als
eine ſolche gelten; doch beſchränkt
man gewöhnlich den Ausdruck
auf die Verbeſſerungen von wiſ-
ſenſchaftlichem Character, d. h.
auf ſolche, die den Text beſtimm-
ter Handſchriften, oder der auf
Handſchriften gebauten Ausga-
ben, zum Gegenſtand haben.
(e) Eine ſolche unzuläſſige Ein-
ſchränkung iſt es, wenn man
Conjecturen nur als letztes Mit-
tel gegen Sinnloſigkeit des Tex-
tes oder innern Widerſpruch der
Geſetzgebung zulaſſen will, ſ. o.
§ 38 Note c.
|0306 : 250|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
kenntnißmitteln für den wahren Text, den wir feſtzuſtellen
haben, ſo finden wir, als das erſte und wichtigſte Mittel,
die aus dem Zuſammenhang einer Stelle ſelbſt hervorge-
hende innere Nothwendigkeit. Dieſe aber darf nicht nach
allgemeinen Begriffen angenommen werden, ſondern nach
dem beſonderen literariſchen Character der Stelle, worauf
ſich die Kritik eben bezieht, oder der Klaſſe von Stellen,
wozu dieſe einzelne gehört. Daher iſt denn bey dieſer
Art der Kritik mit Regeln wenig auszurichten: die Haupt-
ſache beruht auf einem durch anhaltendes Quellenſtudium
ausgebildeten kritiſchen Blick, und auf einem behutſamen,
ſich ſelbſt mistrauenden Wahrheitsſinn. — Ein ähnliches
Mittel beſteht in der Vergleichung der zweifelhaften Ge-
ſetzſtelle mit anderen Stellen; dieſe Vergleichung kann
jedoch der Verbeſſerung nur in dem Maaße Sicherheit
geben, in welchem zwiſchen beiden Stellen eine nähere
Verwandtſchaft obwaltet. — Die auf dieſe Weiſe begrün-
dete Verbeſſerung aber kann noch eine mehr äußere Be-
kräftigung dadurch erhalten, wenn es uns gelingt auf
eine wahrſcheinliche Weiſe zu erklären, wie der Text,
den wir für den unrichtigen erklären, aus dem wahren
Texte bey den Abſchreibern entſtanden iſt. Dieſes kann
geſchehen erſtens durch die Analogie. Es giebt nämlich
gewiſſe Fehler, die ſehr häufig und gleichförmig wieder-
kehren, und deren Vorausſetzung daher von ſelbſt eine
gewiſſe Wahrſcheinlichkeit mit ſich führt. Dahin gehört
die häufige Verwechslung beſtimmter Buchſtaben unter
|0307 : 251|
§. 39. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik. Fortſetzung.
einander: ferner die Auslaſſung eines Buchſtabs, wenn
derſelbe Buchſtab unmittelbar vorhergieng, wobey wir
alſo den ausgefallenen wiederherſtellen wollen (Gemina-
tion): endlich das Überſpringen oder Verſetzen ganzer Zeilen
in der dem Abſchreiber vorliegenden Urhandſchrift, welche
Annahme freylich ſchon weit bedenklicher iſt. — Die wahr-
ſcheinliche Erklärung der Entſtehung des irrigen Textes kann
zweytens geſchehen dadurch, daß eine von mehreren Leſe-
arten ſchwerer als andere zu verſtehen iſt, ſo daß die
Abſchreiber den wahren Text verwarfen, blos weil ſie
ihn nicht verſtanden. — Sie kann endlich auch geſchehen
dadurch, daß zu der Zeit, worin die Abſchriften entſtan-
den, das Recht ſelbſt ſich verändert hatte, ſo daß das
damals geltende Recht in die Abſchriften hinein corrigirt
wurde (f). — Dagegen iſt zu verwerfen diejenige Erklä-
rung des Fehlers, welche auf der Vorausſetzung von
Siglen in den Urhandſchriften beruht, die dann von den
Abſchreibern unrichtig aufgelöſt ſeyn möchten. Denn da
Juſtinian den Gebrauch der Siglen bey den Abſchriften
(f) Dahin gehört § 4 J. de
nupt. (1. 10): „Duorum autem
fratrum vel sororum liberi,
vel fratris et sororis, jungi
non possunt.” Viele Hand-
ſchriften haben das non, viele
andere haben es nicht. Die an
ſich unbedenkliche Verwerfung
des non wird nun dadurch be-
ſtärkt, daß zur Zeit der Entſte-
ſtehung unſrer Handſchriften ge-
wiß jeder Abſchreiber wußte, daß
die Ehe unter Geſchwiſterkindern
(durch das canoniſche Recht) ver-
boten ſey. Solche Fälle ſind
nun freylich ſelten. Dagegen
liegt es viel näher und ſcheint
viel fruchtbarer, die vorjuſtinia-
niſche Rechtsgeſchichte zur Emen-
dation zu benutzen; aber gerade
dieſe Benutzung iſt meiſt ganz
unzuläſſig, wie weiter unten ge-
zeigt werden wird.
|0308 : 252|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
ſeiner Geſetze unbedingt verboten hat (g), ſo können ſich
gewiß nur wenige aus Verſehen eingeſchlichen haben, und
dieſe können nicht hinreichen, um irgend eine Wahrſchein-
lichkeit in einzelnen Fällen zu begründen.
§. 40.
Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. Fortſetzung.
(Einzelne Stellen für ſich.)
Bey der Auslegung ſelbſt beziehen ſich die der Juſti-
nianiſchen Geſetzgebung eigenthümlichen Regeln nur auf
die zwey größten und wichtigſten Theile derſelben, die
Digeſten und den Codex. Jedes dieſer beiden Rechtsbü-
cher bildet ein großes Ganze, zuſammengeſetzt aus einer
Menge von hiſtoriſch verſchiedenen und erkennbaren ein-
zelnen Beſtandtheilen. Wie dieſe Beſtandtheile einzeln für
ſich, und wie ſie im Verhältniß zu dem Ganzen, dem ſie
angehören, zu behandeln ſind, ſoll nunmehr angegeben
werden.
Zur Auslegung der einzelnen Stellen für ſich ſind zu-
vörderſt alle hiſtoriſche Charactere derſelben zu benutzen,
alſo Alles, was wir aus den Überſchriften und Unter-
ſchriften über Zeitalter, Verfaſſer, Veranlaſſung der Stellen
wiſſen, ſo wie über das völlig verſchiedene Ganze, dem
ſie vielleicht urſprünglich angehört haben mögen (a). Dann
(g) Const. Omnem § 8. L. 1
§ 13 C. de vet j. enucl. (1. 17).
L. 2 § 22 eod. Const. Cordi § 5.
(a) Dieſes Letzte gilt haupt-
ſächlich von den Digeſten, worin
jede Stelle als urſprünglicher
Theil eines juriſtiſchen Buchs
betrachtet werden muß. Hie und
|0309 : 253|
§. 40. Juſtinianiſche Geſetze. Einzelne Stellen für ſich.
aber iſt uns zu dieſer Auslegung das reichſte Material
gegeben durch die Vergleichung, nicht nur mit allen an-
deren Stellen der Juſtinianiſchen Geſetzgebung, ſondern
auch mit den geſammten früheren und ſpäteren Rechts-
quellen; denn durch die oben feſtgeſtellten Gränzen des
aufgenommenen Canons (§ 17) kann uns der wiſſenſchaft-
liche Gebrauch jenes reichen Schatzes auf keine Weiſe
beſchränkt werden.
Ferner iſt in dieſer Beziehung wichtig die große Ver-
ſchiedenheit jener Beſtandtheile, nach welcher wir zwey
Klaſſen derſelben annehmen können. Die erſte und zahl-
reichſte Klaſſe umfaßt die ganzen Digeſten, und im Codex
die Reſcripte. Dieſe ſind, ihrer Hauptbeſtimmung nach,
Zeugniſſe für das damals beſtehende Recht, ſie haben
inſoferne einen wiſſenſchaftlichen Character, und das ſyſte-
matiſche Element der Auslegung iſt in ihnen vorherrſchend
(§ 33). Jedoch muß hier gegen einen zweyfachen Mis-
brauch gewarnt werden, der von der Anerkennung dieſes
Characters gemacht werden könnte. Zuerſt nämlich haben
ſich die Reſcripte keinesweges ſtrenge in dieſen Gränzen
gehalten, vielmehr iſt in einem nicht unbedeutenden Um-
fang auch die Fortbildung des Rechts durch ſie bewirkt
worden (§ 24); ja auch den wiſſenſchaftlichen Arbeiten
da iſt es aber auch auf Stellen
des Codex anzuwenden, wenn
mehrere derſelben urſprünglich
nur Eine Conſtitution gebildet
haben (Coaſſation). Dieſer Fall
kommt häufiger im Theodoſiſchen
Codex vor, doch iſt er auch dem
Juſtinianiſchen nicht fremd. Als
Beyſpiel kann dienen L. 5 C. de
act. emti (4. 49.) verbunden mit
L. 3 C. in quib. causis (2. 41).
|0310 : 254|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
der alten Juriſten iſt dieſe Fortbildung, wenngleich in
geringerem Maaße als bey den Reſcripten, nicht fremd
(§ 14. 19.), welches noch deutlicher bey der Characteriſtik
ihrer Weiſe der Auslegung hervortreten wird. Zweytens
wäre es ganz irrig, wenn man die oben dargeſtellten all-
gemeinen Grundſätze der Geſetzauslegung auf die Re-
ſcripte im Codex, und auf die geſammten Digeſten, darum
weniger anwenden wollte, weil dieſe Stücke der Quellen
urſprünglich keine Geſetze waren; denn jene Grundſätze
ſind ihrem innern Weſen nach auf jede andere Form juri-
ſtiſcher Gedankenbildung eben ſo anwendbar, als auf Ge-
ſetze, obgleich die Entwicklung derſelben zunächſt um der
Geſetze willen nothwendig war. Auch habe ich deshalb
bisher die erläuternden Beyſpiele der Auslegung ohne
Rückſicht darauf gewählt, ob die auszulegenden Stellen
urſprünglich die Natur von Geſetzen an ſich trugen oder
nicht. — Die zweyte Klaſſe von Beſtandtheilen der gro-
ßen Rechtsbücher iſt die der urſprünglichen Geſetze, wohin
alſo nur die Edicte im Codex gehören. Bey dieſen iſt
das hiſtoriſche Element der Auslegung (§ 33) eben ſo vor-
herrſchend, wie es dort das ſyſtematiſche war (b). Eine
ganz gleiche Natur aber haben auch die Novellen, welche
überhaupt nicht Beſtandtheile eines größeren Ganzen, ſon-
dern nur einzeln ſtehende Geſetze ſind.
(b) So z. B. iſt bey der Aus-
legung der L. un. C. de nudo
j. quir. toll. (7. 25.) die Haupt-
frage dieſe: welches Recht galt
hierin im Anfang der Regierung
Juſtinians, und was wurde alſo
durch jenes Geſetz wahrhaft ge-
ändert?
|0311 : 255|
§. 41. Juſtinianiſche Geſetze. Verhältniß zur Compilation.
§. 41.
Auslegung der Juſtinianiſchen Geſetze. Fortſetzung.
(Einzelne Stellen im Verhältniß zur Compilation.)
Es iſt nun ferner zu beſtimmen, was für die Ausle-
gung einzelner Stellen folgt aus ihrem Verhältniß zu der
Compilation, welcher ſie als einem Ganzen angehören.
Zunächſt bekommt durch dieſes Verhältniß eine ganz
neue Bedeutung und Wichtigkeit dasjenige Hülfsmittel der
Auslegung mangelhafter Geſetze, welches in dem Zuſam-
menhang dieſes Geſetzes mit ſich ſelbſt beſteht (§ 35).
Denn indem jetzt die ganzen Digeſten als Ein großes
Geſetz von Juſtinian zu betrachten ſind, und eben ſo der
ganze Codex, ſo bekommt dadurch jenes Hülfsmittel eine
ungemein große und wohlbegründete Ausdehnung (a).
Ferner entſteht ein neues Mittel der Auslegung da-
durch, daß eine einzelne Stelle gerade in dieſen beſtimm-
ten Titel eingerückt iſt. Denn da jeder Titel der Dige-
ſten und des Codex durch das beſondere Rechtsinſtitut,
worauf er ſich bezieht, von allen übrigen Titeln unter-
ſchieden iſt, ſo läßt ſich aus dieſem eigenthümlichen Ge-
genſtand deſſelben auf den zweifelhaften Sinn einer ein-
(a) Die Vergleichung zweyer
Stellen in den Digeſten kann
zu ganz verſchiedenen Zwecken
angeſtellt werden. Erſtlich um
dem unbeſtimmten oder unrich-
tigen Ausdruck der einen durch
die andere abzuhelfen: davon iſt
hier die Rede. Zweytens um
einen Widerſpruch zwiſchen bei-
den Stellen wegzuräumen: da-
von kann erſt weiter unten ge-
handelt werden.
|0312 : 256|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
zelnen darin enthaltenen Stelle ein wohlbegründeter Schluß
ziehen. Nur darf dabey nicht überſehen werden, daß
manche Stellen aus Verſehen, und nur nach dem äußeren
Schein einer Verwandtſchaft, in einen ganz unpaſſenden
Titel eingerückt worden ſind, in welchem Fall jene Aus-
legungsregel gar nicht gelten darf (b). Aber auch in den
gewöhnlichen Fällen würde man jener Regel eine über-
triebene Ausdehnung geben, wenn man jede Stelle auf
den beſonderen Gegenſtand ihres Titels beſchränken wollte,
da ſie neben demſelben, auch ohne Verſehen der Compila-
toren, noch ganz Anderes, ja viel Wichtigeres, wirklich
enthalten kann. — Ein ähnliches Mittel der Auslegung
könnte man verſucht ſeyn, in der Ordnung zu ſuchen,
worin die einzelnen Stellen eines Titels gegen einander
ſtehen, wenn dieſe Ordnung durch ihren Inhalt beſtimmt
würde. Allein im Codex ſtehen die Stellen jedes Titels
augenſcheinlich in chronologiſcher Ordnung. In den Di-
geſten herrſcht zwar nicht die chronologiſche, wohl aber
in der Regel gleichfalls eine ganz äußerliche Ordnung,
wodurch jener Gebrauch zur Auslegung eben ſo ausge-
ſchloſſen wird. Nur ausnahmsweiſe wird der Ort, den
eine Stelle in dem Titel einnimmt, durch den Inhalt
(b) Man nennt das leges
fugitivae. Ein Beyſpiel giebt
L. 6 de transact. (2. 15.), die
blos zufällig und irrig, wegen
des darin vorkommenden Wortes
transigi, in den Titel de trans-
actionibus gekommen iſt, da ſie
gar keine die Transactionen be-
treffende Regel enthält, wie die
Vergleichung mit L. 1 § 1 testam.
quemadm. aper. (29. 3.) deut-
lich zeigt.
|0313 : 257|
§. 41. Juſtinianiſche Geſetze. Verhältniß zur Compilation.
beſtimmt, und dann kann derſelbe auch zur Auslegung
benutzt werden (c).
Endlich aber ſind ganz beſonders wichtig die Ände-
rungen, die an unzähligen Stellen bey ihrer Aufnahme
in die Compilationen vorgenommen worden ſind. Und
zwar ſind dieſe Änderungen von dreyerley Art.
Die erſte und unmittelbarſte Art beſteht darin, wenn
manche Stellen, bey der Aufnahme in die Compilationen,
theilweiſe umgeſchrieben worden ſind, welches Verfahren
eine Interpolation oder Emblema Triboniani genannt
zu werden pflegt. Manche dieſer Interpolationen laſſen
ſich mit großer Sicherheit nachweiſen (d), eine weit grö-
ßere Zahl kann nur mit einiger Wahrſcheinlichkeit behaup-
tet werden, oder bleibt uns auch gänzlich verborgen. Die
Erlaubniß zu ſolchen Interpolationen, ja die Anweiſung
dazu, hat Juſtinian den Verfaſſern der Compilationen
ausdrücklich gegeben, und der ſehr natürliche Zweck lag
darin, daß ältere Stellen, wenn darin einzelne Ausdrücke
zu dem gegenwärtigen Recht nicht mehr paßten, durch
(c) Bluhme Ordnung der
Fragmente in den Pandectenti-
teln, Zeitſchrift f. geſchichtl. Rwiſſ.
B. 4. S. 290. 366. 414.
(d) So z. B. dauerte die Uſu-
capion der Grundſtücke bis auf
Juſtinian zwey Jahre, er aber
ſetzte ſie auf zehen, zuweilen
zwanzig Jahre, was nach einem
alten Sprachgebrauch longum
tempus hieß. Daher wurden
nun in den Stellen der alten
Juriſten, welche von Grundſtük-
ken handelten, die Ausdrücke usu-
capio und usucapere ganz ge-
wöhnlich (obgleich unnöthiger-
weiſe) in longi temporis capio
und longo tempore capere ver-
wandelt. Vgl. L. 10 § 1. L. 17.
L. 26. L. 33 § 3 de usurp. (41.
3.), und manche ähnliche Stellen.
17
|0314 : 258|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
deren Änderung zur Aufnahme in die Rechtsbücher taug-
lich gemacht werden ſollten (e). Hieraus folgt aber die
wichtige Regel, daß zur Textkritik die Vergleichung mit
den vorjuſtinianiſchen Rechtsquellen nur auf die beſchränk-
teſte Weiſe zuläſſig iſt, nämlich nur etwa in ſolchen Fäl-
len, worin ſich darthun läßt, daß eine Änderung des
Rechts, alſo eine Veranlaſſung zur Interpolation, gewiß
nicht ſtatt gefunden hat.
Eine zweyte, weniger ſichtbare, Art der Änderungen
beſteht darin, daß einzelne Ausdrücke mancher Stellen,
im Zuſammenhang der Compilation, eine andere Bedeu-
tung angenommen haben, als die, worin ſie von den
urſprünglichen Verfaſſern niedergeſchrieben worden waren.
Dadurch wurden die Stellen für die Compilation paſſend,
ohne daß man nöthig hatte etwas umzuſchreiben. Ein
unzweifelhaftes Beyſpiel findet ſich in der Lehre von den
Servituten. Dieſe wurden nach altem Recht regelmäßig
durch in jure cessio erworben, weshalb die alten Juriſten
ſehr häufig von einer cessio bey Servituten ſprachen. Zu
Juſtinians Zeit war die in jure cessio gänzlich verſchwun-
den: allein der Ausdruck cessio konnte überall auch in
der allgemeinen Bedeutung einer Übertragung überhaupt,
ohne Rückſicht auf die dabey angewendete Form, gebraucht
werden, und ſo ließ man in vielen Stellen jenen Ausdruck
unverändert ſtehen, in der ganz richtigen Erwartung, er
(e) L. 1 § 7. L. 2 § 10 C. de
vet. j. enucl. (1. 17.), Const.
Haec quae necess. § 2, Const.
Summa § 3, Const. Cordi § 3.
|0315 : 259|
§. 41. Juſtinianiſche Geſetze. Verhältniß zur Compilation.
werden nunmehr von Jedem in dieſer allgemeinen Bedeu-
tung verſtanden werden (f). — Noch häufiger und wichti-
ger iſt der Fall, da nicht ein einzelner Ausdruck, ſondern
ſelbſt die Entſcheidung einer Rechtsfrage, unverändert
geblieben iſt, aber in der Compilation in einem andern
Zuſammenhang gedacht, und auf einen andern Grund
zurück geführt werden muß, als bey dem alten Juriſten:
ſo daß die Entſcheidung zwar hier und dort gleich richtig
iſt, aber auf verſchiedene Weiſe (g). — Die Auslegung,
(f) Dahin gehören L. 63 de
usufructu (7. 1.), L. 20 § 1. L.
39 de S. P. U. (8. 2.), L. 3 § 3.
L. 10. L. 11. L. 14 de S. P. R.
(8. 3.), L. 15. L. 18 comm.
praed. (8. 4.). Es iſt möglich,
daß in manchen dieſer Stellen
urſprünglich ſtand in jure ces-
sio, und daß die Worte in jure
weggeſtrichen wurden. Dann ge-
hörten dieſelben theilweiſe zur
erſten Art von Änderungen, theil-
weiſe noch immer hierher, indem
doch wenigſtens das beybehaltene
Wort cessio eine andere Bedeu-
tung angenommen hätte. Allein
nothwendig iſt auch jene Annahme
nicht; freylich pflegen Gajus und
Ulpian die Worte in jure mei-
ſtens hinzu zu ſetzen, doch wer-
den ſie auch von ihnen zuweilen
weggelaſſen. Gajus I. § 168 —
172. II. § 30. 35. Ulpian. XI.
§ 7.
(g) So z. B. ſagt L. 11 pr. de
public. (6. 2.): „Si de usu-
fructu agatur tradito, Publi-
ciana datur.” (Eben ſo nachher
von den Prädialſervituten). Da-
bey dachte Ulpian ohne Zweifel
dieſes: wenn ein Uſusfructus
nicht förmlich (durch in jure
cessio), aber doch mit Tradition
beſtellt iſt, ſo kann zwar nicht die
wahre confessoria (die vindicatio
ususfructus) gelten, wohl aber
die publiciana, zu deren Be-
gründung überall die Tradition
hinreicht. Für das Juſtinianiſche
Recht hat die Stelle nur dadurch
Sinn, daß man hinzudenkt, der
Uſusfructus ſey von einem Nicht-
eigenthümer beſtellt worden: denn
das iſt ja der einzige Fall über-
haupt, worin jetzt noch von jener
Klage die Rede ſeyn kann. —
Wenn meines Nachbars Haus
baufällig iſt, und ich erſt eine
missio, dann noch ein zweytes
Decret erhalte, ſo ſoll ich die
publiciana und die Fähigkeit zur
Uſucapion erlangen. L. 5 pr.
L. 18 § 15 de damno infecto
(39. 2.). Das hatte urſprünglich
den Sinn, daß der Prätor durch
das zweyte Decret das Eigen-
17*
|0316 : 260|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
welche auf einer vorausgeſetzten Änderung dieſer zweyten
Art beruht, wird paſſend eine duplex interpretatio genannt.
Endlich giebt es noch eine dritte Art der Änderungen,
die der zweyten ähnlich iſt, jedoch mit dem Unterſchied,
daß ſie ſich nicht auf einzelne abgeänderte Rechtsſätze,
ſondern auf den ganzen innern Bau der Compilationen
bezieht. Dahin rechne ich die ganz neue und ſehr wich-
tige Stellung, welche die zahlreichen Reſcripte durch ihre
Aufnahme in den Codex erhalten haben. Die Reſcripte
ſollten gleich Anfangs Geſetzeskraft haben, aber nur für
den einzelnen Fall, worin ſie erlaſſen waren, nicht für
andere gleiche Fälle (§ 24). In der Compilation haben
ſie eine gerade umgekehrte Wirkſamkeit erhalten. Für
den einzelnen Rechtsfall, der ſie veranlaßte, ſind ſie gar
Nichts mehr, denn dieſer war ſchon zu Juſtinians Zeit
gänzlich verſchollen: dagegen ſind die Rechtsregeln, die
ſie in concreter Form ausgedrückt enthalten, jetzt zu all-
gemeinen Geſetzen erhoben. Dieſe neue Bedeutung der
Reſcripte würden wir ſchon aus ihrer bloßen Aufnahme
in den Codex folgern dürfen, da dieſe keinen andern denk-
baren Zweck haben konnte: Juſtinian aber hat ihnen die-
ſelbe auch noch durch ausdrückliche Erklärungen beyge-
legt (h). — Die Aufgabe beſteht alſo hier darin, aus der
Entſcheidung des einzelnen Falles die darin ausgedrückte
thum geben wollte, aber nicht
mehr als das bonitariſche geben
konnte: jetzt muß es von dem
Fall verſtanden werden, da der
Nachbar kein (erweisliches) Ei-
genthum hat.
(h) Const. Haec quae necess.
§ 2, Const. Summa § 3.
|0317 : 261|
§. 41. Juſtinianiſche Geſetze. Verhältniß zur Compilation.
allgemeine Regel heraus zu finden, welches dadurch ge-
ſchieht, daß in der Abſonderung der concreten Umgebung
das rechte Maas gehalten wird, indem darin leicht zu
viel oder zu wenig geſchehen kann (i). Zuweilen wird
es auch nicht gelingen, mit völliger Gewißheit zu beſtim-
men, wie Vieles unter die zufälligen, der Rechtsregel
fremden, Umſtände des vorgelegten einzelnen Falles zu
rechnen iſt. — Dieſes Verfahren iſt weſentlich verſchieden
von der ausdehnenden Auslegung eines Geſetzes durch
Vergleichung mit ſeinem Grunde (§ 37). Denn durch
dieſe ſoll der zu enge, alſo mangelhafte, Ausdruck berich-
tigt werden: bey jener Behandlung der Reſcripte iſt
Nichts zu berichtigen, ſondern nur die in individueller
Anwendung ausgeſprochene Regel richtig zu erkennen (k). —
Bey dieſer Auslegung der Reſcripte nun iſt das oben
dargeſtellte argumentum a contrario (§ 37) gefährlicher,
als in jedem andern Falle der Auslegung, indem es nicht
(i) Ein Beyſpiel, wie in die-
ſer Hinſicht die Reſcripte ſchon
von den Römiſchen Juriſten be-
handelt wurden, findet ſich in
L. 9 § 5 de j. et f. ignor. (22.
6.). Sie waren zu dieſem Ver-
fahren dadurch veranlaßt, daß
auch ſchon bey ihnen die in den
Reſcripten enthaltenen Regeln
als große Autoritäten galten,
wenngleich nicht als Geſetze (§ 24).
(k) Es iſt alſo hier vor einer
zweyfachen Verwechslung der
ausdehnenden Auslegung zu war-
nen: 1) Verwechslung mit der
hier beſchriebenen Verwandlung
der concreten Entſcheidung in die
darin enthaltene, bald offenbare,
bald verborgene, allgemeine Re-
gel. 2) Verwechslung mit der
Anwendung der im Reſcripte
enthaltenen Regel auf gleiche
einzelne Fälle. Dieſe Anwen-
dung war (als eine mit Geſetzes-
kraft verſehene) im alten Recht
verboten (§ 24); für die in den
Codex aufgenommenen Reſcripte
iſt ſie vorgeſchrieben. Mit beiden
Verfahrungsarten hat die ausdeh-
nende Auslegung Nichts zu ſchaffen.
|0318 : 262|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
leicht gelingen wird, den Zweifel gänzlich zu beſeitigen,
ob nicht der Theil des Reſcripts, worin man den ver-
ſteckten Gegenſatz wahrzunehmen glaubt, doch nur zu
den zufälligen Bedingungen des einzelnen Rechtsfalls
gehört hat (l).
§. 42.
B. Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen.
(Widerſpruch.)
Bisher iſt von der Auslegung der einzelnen Geſetze
die Rede geweſen. Allein die Geſammtheit der oben an-
gegebenen Rechtsquellen (§ 17—21) bildet ein Ganzes,
welches zur Löſung jeder vorkommenden Aufgabe im Ge-
biete des Rechts beſtimmt iſt. Damit es zu dieſem Zweck
tauglich ſey, müſſen wir daran zwey Anforderungen ma-
chen: Einheit und Vollſtändigkeit. — Hierin aber
können wir uns nicht auf die Geſetze allein beſchränken,
ſondern es müſſen vielmehr alle Arten der Rechtsquellen
berückſichtigt werden. — Dagegen ſind auch hier (wie bey
der Auslegung der einzelnen Geſetze) zuerſt die Grund-
ſätze des regelmäßigen Verfahrens, dann die Hülfsmittel
für mangelhafte Zuſtände anzugeben.
Das regelmäßige Verfahren beſteht in der Bildung
eines Rechtsſyſtems aus der Geſammtheit der Quellen.
Dieſe iſt ihrem Weſen nach ähnlich der Conſtruction der
einzelnen Rechtsverhältniſſe und Rechtsinſtitute (§ 4. 5.),
nur daß dieſe Conſtruction hier mehr im Großen durch-
(l) Mühlenbruch, Archiv für civil. Praxis II. S. 427.
|0319 : 263|
§. 42. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch.
geführt wird. In dieſem großen Zuſammenhang erhält
der Geſetzgrund, der oben in Beziehung auf einzelne Ge-
ſetze betrachtet worden iſt (§ 34), eine wichtigere Bedeu-
tung und Wirkſamkeit, und die organiſch bildende Kraft
der Rechtswiſſenſchaft (§ 14) erſcheint hier in der größten
Ausdehnung. Der geſammte Quellenkreis, und insbeſon-
dere der Theil deſſelben, welchen wir das Juſtinianiſche
Corpus Juris nennen, kann von dieſem Standpunkt aus
als Ein Geſetz betrachtet werden, ſo daß die Regel der
Auslegung eines einzelnen Geſetzes aus ſich ſelbſt (§ 35)
darauf in gewiſſem Grade anwendbar wird. Es iſt alſo
hier von beſonderer Wichtigkeit der Parallelismus der
einzelnen Stellen, deſſen vollſtändiger Beſitz durch den
Umfang, wie durch die Mannichfaltigkeit jener Quellen
beſonderen Schwierigkeiten unterliegt (a).
Die mangelhaften Zuſtände jenes Ganzen, die mit den
Mängeln der einzelnen Geſetze verglichen werden können
(§ 35), beziehen ſich auf die zwey oben gemachten Anfor-
derungen. Fehlt die Einheit, ſo haben wir einen Wider-
ſpruch zu entfernen, fehlt die Vollſtändigkeit, ſo haben
wir eine Lücke auszufüllen. Eigentlich aber läßt ſich
Beides auf einen gemeinſamen Grundbegriff zurückführen.
Denn überall iſt es Herſtellung der Einheit, was wir
(a) Eine ſehr brauchbare und
dankenswerthe Grundlage für die
Sammlung der Parallelſtellen
liefert die Gloſſe. Für den er-
ſten Anlauf ſind auch ſchon die
Noten des D. Gothofredus zu
brauchen, die in dieſer Hinſicht,
als Auszug aus der Gloſſe, eine
Art von Werth haben.
|0320 : 264|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
ſuchen: der negativen, durch Entfernung von Widerſprü-
chen, der poſitiven, durch die Ausfüllung von Lücken.
Der Fall des inneren Widerſpruchs unter einzelnen
Stücken des Quellenkreiſes hat Verwandtſchaft mit dem
unbeſtimmten Ausdruck in einzelnen Geſetzen (§ 35. 36.).
Beide Mängel kommen darin überein, daß die Erkenntniß
derſelben auf rein logiſchem Wege erlangt wird, daß die
Abhülfe ſchlechthin nothwendig iſt, und daß dieſelbe an-
ders, als auf logiſchem Wege (hier durch hiſtoriſche Mit-
tel) zu ſuchen iſt. Der allgemeinſte Grundſatz führt da-
hin, den Widerſpruch wo möglich in bloßen Schein auf-
zulöſen, alſo die Vereinigung des ſcheinbar Widerſpre-
chenden zu ſuchen. Nur wo dieſe Vereinigung nicht
gelingt, finden die folgenden Regeln ihre Anwendung.
Der Widerſpruch kann vorkommen entweder innerhalb
unſres allgemeinen Quellenkreiſes (§ 17—20), oder nur
mit Rückſicht auf die demſelben hypothetiſch hinzutretenden
Quellen (§ 21).
Der allgemeine Quellenkreis beſteht in Deutſchland aus
den Juſtinianiſchen Geſetzen, dem canoniſchen Recht, den
Reichsgeſetzen, und dem wiſſenſchaftlich entſtandenen Ge-
wohnheitsrecht, oder dem Gerichtsgebrauch. Findet ſich
hierin ein unauflöslicher Widerſpruch, ſo gilt die Regel,
daß das neuere Quellenſtück dem älteren vorzuziehen iſt.
Der Grund dieſer Regel liegt darin, daß ein Widerſpruch
der hier beſchriebenen Art zu der fortſchreitenden Entwick-
lung des Rechts gehört, ſo daß mit der Gründung der
|0321 : 265|
§. 42. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch.
neuern Rechtsregel die wirkliche Vernichtung der ältern
verbunden war. Wenn wir nun eine Regel für den ge-
genwärtigen Rechtszuſtand ſuchen, ſo kann dieſe nur aus
den noch beſtehenden, nicht aus den bereits vernichteten,
hergenommen werden (b). Durch dieſen Grund aber iſt
zugleich eine natürliche Beſchränkung der erwähnten Re-
gel gegeben. Wenn nämlich neben der älteren Regel eine
Ausnahme derſelben beſtand, ſo iſt die Aufhebung nicht
nothwendig auch auf dieſe Ausnahme mit zu beziehen:
vielmehr beſteht die Ausnahme auch neben der neueren
Regel fort, wenn ſie nicht noch beſonders aufgehoben iſt (c).
Die Anwendung der Hauptregel geſchieht auf folgende
(b) Man kann daher dieſe Art
des Widerſpruchs nur inſoferne
zu den mangelhaften Zuſtänden
rechnen, als man das ältere Ge-
ſetz ſelbſt noch für einen Beſtand-
theil der Rechtsquellen (und zwar
nun nothwendig für einen abge-
ſtorbenen) anſieht; der Zuſtand
der noch gültigen Rechtsquellen
ſelbſt iſt darum nicht mangelhaft
zu nennen. Daher liegt auch in
der Behauptung eines ſolchen
Widerſpruchs kein Tadel des
Rechtszuſtandes, anſtatt daß die
Annahme mangelhafter einzelner
Geſetze (§ 35—37) ſtets einen
Tadel in ſich ſchließt.
(c) L. 80 de R. J. (50. 17.)
„In toto jure generi per spe-
ciem derogatur, et illud potis-
simum habetur quod ad spe-
ciem directum est.” L. 41 de
poenis (48. 19.) „… nec ambi-
gitur, in cetero omni jure spe-
ciem generi derogare …” (der
übrige Theil dieſer Stelle iſt ſchon
oben § 37 Note d benutzt wor-
den). — Ob die Aufhebung auch
auf die Ausnahme gehen ſoll, kann
nur aus dem Inhalt des neue-
ren Geſetzes erkannt werden. —
Man darf den hier als Beſchrän-
kung der Hauptregel aufgeſtellten
Grundſatz nicht auf alle ſpeci-
elle Beſtimmungen des früheren
Rechts beziehen, ſondern nur auf
diejenigen, die den Ausnahmecha-
racter an ſich tragen: alſo nicht
auf ſolche ſpecielle Beſtimmungen,
welche ſelbſt nur Folgerungen aus
der früheren Regel waren. —
Vgl. überhaupt Thibaut civiliſt.
Abhandlungen Num. 7, wo je-
ner Grundſatz befriedigend behan-
delt iſt.
|0322 : 266|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
Weiſe. Der wahre Gerichtsgebrauch, als die neueſte Ver-
arbeitung der früher vorhandenen Rechtsquellen, geht al-
lem Übrigen vor. Dann folgen in der Reihe der Anwen-
dung die Reichsgeſetze. Ferner das canoniſche Recht. Zu-
letzt das Römiſche Recht. — Nur die Rangordnung der
zwey letzten Stücke bedarf einer genaueren Erörterung.
Ob nämlich das canoniſche Recht (bey Fragen des Pri-
vatrechts) dem Römiſchen vorgehe, darüber wird ſehr ge-
ſtritten. Zwar das iſt unzweifelhaft, daß auch hier vor
Allem eine Vereinigung verſucht werden müſſe. Für den
Fall aber, da eine ſolche nicht gelingen will, da vielleicht
die Abſicht einer Abänderung klar vorliegt, iſt folgende
Behauptung aufgeſtellt worden. Beide Rechte, ſagt man,
gelten nicht aus eigener Kraft, ſondern vermittelſt der
Reception; dieſe hat bey uns für beide zu derſelben Zeit
ſtatt gefunden, alſo ſind ſie für uns gleichzeitig, keines
hat vor dem anderen einen regelmäßigen Vorzug, und in
jedem einzelnen Widerſpruch kann der Vorzug nur durch
einen beſonderen Gerichtsgebrauch beſtimmt werden (d). —
Allein das canoniſche Recht hat zu dem Römiſchen, bey
privatrechtlichen Gegenſtänden, ganz das Verhältniß von
Novellen: beſonders die Decretalen, in welchen der Con-
flict vorzugsweiſe ſeinen Sitz hat. In dieſem Verhältniß
(d) (Hübner) Berichtigun-
gen und Zuſätze zu Höpfner S.
14—22. Mühlenbruch I. § 70.
— Richtigere Anſichten finden ſich
bey Böhmer Jus eccl. prot. Lib. 1.
Tit. 2 § 70—73, der die Frage
ſehr ausführlich erörtert, ohne je-
doch zu einem klar beſtimmten
Reſultate zu kommen. Vgl. auch
Hofacker I. § 53.
|0323 : 267|
§. 42. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch.
wurden beide Rechte in Bologna wirklich recipirt, und
als die Decretalen, erſt einzeln, dann in unſeren Samm-
lungen, erſchienen, war die Reception ſchon geſchehen,
und jene Decretalen traten in der That als neue abän-
dernde Geſetze hinzu. In Deutſchland freylich geſchah die
Reception des canoniſchen Rechts, und zwar hier gleich
Anfangs des ganzen und vollſtändigen, gleichzeitig mit der
des Römiſchen; allein ſie geſchah doch in demſelben Sinn,
in welchem ſie in Bologna geſchehen war, ſo wie man ja
auch die Gränzen des Römiſchen Quellencanons von dort
empfangen hatte (§ 17). Dieſer vollſtändige Hergang
könnte höchſtens in dem Fall bezweifelt werden, wenn das
canoniſche Recht zwar in Italien als Geſetz Eingang ge-
funden hätte, in Deutſchland aber gar nicht aufgenom-
men worden wäre; allein in Deutſchland war zur Zeit
der Reception das Anſehen des Pabſtes und des von ihm
ausgehenden Rechts völlig eben ſo groß als in Italien,
ſo daß jenes Grundverhältniß beider Rechte in Deutſch-
land anerkannt wurde nicht blos auf die Autoritaͤt von
Bologna, ſondern aus denſelben Gründen wie in Bologna.
— Aus dieſer Betrachtung folgt, daß bey privatrechtli-
chen Gegenſtänden das canoniſche Recht vor dem Römi-
ſchen in der Regel den Vorzug hat. Eine Ausnahme die-
ſer Regel wird nur begründet werden können entweder
durch ſpeciellen Gerichtsgebrauch, oder (in evangeliſchen
Ländern) durch die einem canoniſchen Satz des Privat-
rechts widerſprechenden Grundſätze des evangeliſchen Kir-
|0324 : 268|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Quellen des heutigen R. R.
chenrechts. Außerdem kann dieſelbe Wirkung, wie durch
eine ſolche Ausnahme, auch hervorgebracht werden durch
den ſchon oben aufgeſtellten regelmäßigen Vorzug der
Reichsgeſetze vor dem canoniſchen Recht: wenn nämlich
die Reichsgeſetze einen einzelnen Satz des canoniſchen Rechts
mißbilligt, und dadurch der entgegenſtehenden Römiſchen
Regel wiederum Eingang verſchafft haben (e).
§. 43.
Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen.
(Widerſpruch). Fortſetzung.
Wichtiger aber, und ſchwieriger zu behandeln, iſt der
Widerſpruch zwiſchen einzelnen Stücken der Juſtiniani-
ſchen Geſetzgebung. Dieſer kommt in großer Ausdehnung
vor, und die Meynungen der neueren Schriftſteller ſind
darüber außerordentlich verſchieden (a).
Vor Allem iſt es nöthig, die Novellen von den drey
Rechtsbüchern zu unterſcheiden. Die Novellen waren dazu
beſtimmt, als einzelne Geſetze nach und nach das Recht
(e) So z. B. in der Lehre von
den Zinſen, worin wenigſtens das
allgemein anerkannt iſt, daß das
durchgreifende Zinſenverbot des
canoniſchen Rechts durch die
Reichsgeſetze beſeitigt, alſo die
Zuläſſigkeit der Zinſen überhaupt,
ſo wie im Römiſchen Recht, feſt-
geſtellt iſt. Die näheren Beſtim-
mungen freylich ſind ſehr be-
ſtritten.
(a) Vieles Gute findet ſich bey
Thibaut civiliſt. Abhandlungen
Num. 6 und bey Löhr Juſtini-
aus Campilation in: Grolman
und Löhr Magazin B. 3 Num. 7.
— Sehr reichhaltiges Verzeichniß
von Schriftſtellern bey Haubold
Inst. jur. Rom. hist. dogm. ed.
1826 § 300.
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§. 43. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.
abzuändern und fortzubilden; zu einer Sammlung ſind ſie
von dem Geſetzgeber niemals vereinigt worden. Daher
muß im Fall eines Widerſpruchs jede Novelle nicht nur
den drey Rechtsbüchern, ſondern auch jeder anderen älte-
ren Novelle, unbedingt vorgezogen werden (b). Auch iſt
hier die Vorausſetzung eines Widerſpruchs unbedenklicher,
alſo der Verſuch der Vereinigung weniger ſtrenge nöthig,
als bey den Rechtsbüchern, da es gerade die Beſtimmung
der Novellen war, das Recht abzuändern. — Zwar ſind
alle Novellen gleichzeitig mit den Rechtsbüchern bey uns
recipirt worden, und man könnte glauben, daß dadurch
der natürliche Vorzug, der ihnen als neueren Geſetzen
zukam, wieder vernichtet wäre (c). Allein jene Reception
geſchah doch im Sinne von Juſtinian, als eines von ihm
hinterlaſſenen Vermächtniſſes von Geſetzen, folglich ganz
in der Art, wie ſich die Gültigkeit derſelben am Ende
ſeiner langen Regierung von ſelbſt feſtgeſtellt hatte. Da-
mals nun hatten bereits die Novellen das ihnen entge-
(b) Für dieſen Zweck iſt daher
auch praktiſch wichtig, ja unent-
behrlich, das chronologiſche Ver-
zeichniß in Bieners Geſchichte
der Novellen Anhang Num. IV.
Man wende nicht ein, daß die
Gloſſatoren ein ſolches Verzeich-
niß nicht beſeſſen haben. Das
Princip haben ſie auch anerkannt
und nach ihrer Einſicht angewen-
det, eine andere, irrige, chrono-
logiſche Reihe aber haben ſie nicht
feſtgeſtellt; ſie haben alſo von die-
ſer Seite eben ſo wenig der beſ-
ſeren Einſicht den Weg verſperrt,
als von Seiten der Kritik des
Textes (§ 17. 38.).
(c) Überflüſſige Noth mit die-
ſem Einwurf macht ſich (Hüb-
ner) Berichtigungen und Zuſätze
zu Höpfner S. 8—14. Am Ende
läßt er zwar die hier angenom-
mene Auskunft auch zu, aber nur
als Nothbehelf, was ganz un-
richtig iſt.
|0326 : 270|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Quellen des heutigen R. R.
genſtehende frühere Recht vernichtet, und es iſt alſo für
uns ganz gleichgültig, daß wir die Novellen gleichzeitig
mit dem früheren Rechte recipirt haben.
Für die drey Rechtsbücher iſt zunächſt ein allgemeiner
Geſichtspunkt aufzuſtellen, von welchem aus die beſonde-
ren Regeln über den Fall von Widerſprüchen gefunden
werden können. Juſtinian ſelbſt wollte ſie unzweifelhaft
als Ein zuſammenhängendes Ganze betrachtet wiſſen, und
zwar als ein eigentliches Geſetzbuch, das heißt als ein
Werk, aus welchem ausſchließend die Entſcheidung jedes
Rechtsfalles genommen werden dürfe, welches aber auch
für dieſen Zweck völlig hinreiche (d). Dieſes Ziel ſollte
erreicht werden durch eine Auswahl aus dem in großem
Umfang vorhandenen Rechtsmaterial, dergeſtalt, daß die
ausgewählten Stücke, mit unzerſtörter hiſtoriſcher Geſtalt,
zu einem neuen Ganzen zuſammen gefügt wurden. — In
dieſem neuen Rechtsgebäude waren die Digeſten das
Hauptſtück, das einzige für ſich verſtändliche und zugleich
für die Anwendung nicht unzureichende, an welches ſich
die zwey anderen Stücke nur anſchließen als Auszug oder
(d) Constit. Omnem § 7.
Const. Summa § 3. L. 2 §. 12.
23 C. de vet. j enucl. (1. 17.).
— Hufeland Geiſt des R. R. I.
S. 143—145 läugnet dieſen Cha-
racter eines Geſetzbuchs, weil die
Rechtsbücher ſo viel blos Wiſſen-
ſchaftliches enthalten. Allein das
betrifft blos ihre Entſtehungsart
und ihre Form: über ihre Be-
ſtimmung, als Geſetzbuch zu die-
nen, laſſen die angeführten Stel-
len keinen Zweifel, und darauf
kann es allein ankommen. Es
kann damit ganz wohl beſtehen,
daß viele einzelne Stellen nicht
Geſetz, ſondern nur hiſtoriſches
Material ſeyn ſollen, von wel-
cher Annahme ſogleich noch Ge-
brauch gemacht werden wird.
|0327 : 271|
§. 43. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.
als Ergänzung. In dieſer ihrer Stellung liegt jedoch
kein Grund, ihren Inhalt dem Inhalt der anderen Stücke
gerade vorzuziehen. — Von den Inſtitutionen haben
Manche behauptet, ſie müßten dem Übrigen vorgehen als
eigenes von Juſtiman herrührendes Werk: Andere, ſie
müßten nachſtehen als bloßer Auszug der Digeſten; beides
unrichtig. Ihre Beſtimmung zu einem Lehrbuch in den
Rechtsſchulen kommt hier nicht in Betracht. Als Beſtand-
theil der Geſetzgebung bilden ſie eine einzelne Juſtinia-
niſche Conſtitution (e), und ſie ſind in dieſer Beziehung
den größeren Rechtsbüchern weder vorzuziehen, noch nach-
zuſetzen. Einige beſondere Rückſichten für den Fall eines
Conflicts werden noch geltend gemacht werden. — Für
den Codex endlich iſt von Manchen nicht ohne Schein
ein allgemeiner Vorzug vor den übrigen Stücken, ähnlich
dem Vorzug der Novellen, deswegen behauptet worden,
weil dieſer unſer gegenwärtiger Codex um ein Jahr ſpä-
ter als die Inſtitutionen und Digeſten Geſetzeskraft erhal-
ten hat. Deswegen ſollte im Conflict einzelner Stellen
ſtets der Codex den Vorzug haben. Aus dieſer Annahme
aber würde folgendes ſeltſame Reſultat hervorgehen. Der
ältere Codex (mit unſerm neueren, dem allergrößten Theile
nach, ſicher übereinſtimmend) erſchien 529. Als nachher
533 die Inſtitutionen und Digeſten publicirt wurden, de-
rogirten ſie dem Codex in allen widerſprechenden Stellen.
Zuletzt erſchien 534 der neue Codex, der alſo wiederum
(e) Prooem. Inst. § 6. L. 2 § 11 C. de vet. j. enucl. (1. 17.).
|0328 : 272|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Quellen des heutigen R. R.
den Inſtitutionen und Digeſten derogiren mußte, und da-
durch gerade die Stellen des erſten Codex wiederherſtellte,
die ein Jahr zuvor aufgehoben worden waren. Einen ſo
leichtſinnigen Wechſel des Rechts konnte Juſtinian unmög-
lich herbeyführen wollen (f). Ja er konnte gar nicht an
ein Derogiren dieſer Art denken, weil er zwiſchen den
Rechtsbüchern keine Widerſprüche, ſondern nur gänzliche
Übereinſtimmung annahm. Die einzigen Stellen des neuen
Codex, welche wir als derogirend betrachten könnten, ohne
zur Annahme jener widerſinnigen Abwechslung genöthigt
zu ſeyn, und ohne der von Juſtinian angenommenen Har-
monie zu widerſprechen, ſind die wenigen, welche zwiſchen
der Geſetzeskraft der Digeſten (30. Dec. 533), und der
Promulgation des Codex (17. Dec. 534), alſo in dem
Zeitraum von weniger als einem Jahre, erſchienen ſind (g).
Daß dieſe dem Recht der Digeſten vorgehen müſſen, iſt
unzweifelhaft, dieſer Vorzug aber folgt ſchon aus einem
anderen, durchgreifenderen Grunde, von welchem ſogleich
ein ausgedehnter Gebrauch gemacht werden wird, und es
iſt um ihretwillen nicht nöthig, die ſpätere Promulgation
(f) Dieſer Grund wird mit
Recht geltend gemacht von Thi-
baut a. a. O., S. 83.
(g) Solcher Conſtitutionen zählt
Reland Elf auf (fasti p. 710).
Darunter ſind aber mehrere, die
ihrem kirchlichen oder publiciſti-
ſchen Inhalte nach, mit den Di-
geſten gar nicht in Widerſpruch
kommen können. Es bleiben da-
her nur folgende Sechs übrig,
die das Privatrecht betreffen, und
neues Recht einführen wollen:
L. 2 C. de jur.propt. cal. (2.59.).
L. 29 C. de nupt. (5. 4.). L. 31
C. de test. (6. 23.). L. un. C.
de cad. toll. (6. 51.). L. 15
C. de leg. her. (6. 58.). L. un.
C. de lat. lib. toll. (7. 6.).
|0329 : 273|
§. 44. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.
des neuen Codex, worin ſie enthalten ſind, geltend zu
machen. — Faſſen wir alſo nochmals den allgemeinen
Grundſatz über die Behandlung der drey Rechtsbücher
kurz zuſammen, ſo iſt es dieſer: Sie ſind beſtimmt zu
gelten als Ein großes, zuſammenhängendes Werk, ihre
nicht völlig gleichzeitige Promulgation iſt ohne Einfluß,
und wir können ſie, ohne Gefahr eines Irrthums, ſo be-
handeln, als ob ſie gleichzeitig promulgirt worden wä-
ren (h). Aus dieſem Grundſatz ſind nun beſondere Re-
geln abzuleiten für die Behandlung einzelner Widerſprüche,
die uns innerhalb der drey Rechtsbücher vorkommen moͤgen.
§. 44.
Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen.
(Widerſpruch.) Fortſetzung.
Zuvörderſt gewinnt in dieſem Fall die allgemeine Re-
gel, den Widerſpruch wo möglich durch Vereinigung in
bloßen Schein aufzulöſen (§ 42), eine ganz beſondere
Kraft und Bedeutung. Einmal weil die drey Rechtsbü-
cher ein einziges Werk darſtellen, worin alſo die Einheit
des Gedankens ſchon an ſich als der natürliche Zuſtand
anzuſehen iſt; dann aber weil Juſtinian ausdrücklich ver-
ſichert, es ſeyen hier keine Widerſprüche vorhanden, und
wo wir ſolche wahrzunehmen glaubten, ſollten wir nur
recht genau (subtili animo) zuſehen, ſo würden wir ſchon
(h) Löhr a. a. O., S. 201.
18
|0330 : 274|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
einen verborgenen Grund der Vereinigung finden (a). Dieſe
Anweiſung iſt außerordentlich wichtig, indem dadurch auch
ein etwas künſtliches Verfahren der Vereinigung völlig ge-
rechtfertigt wird: nur freylich nicht ein völlig willkührli-
ches, indem wir ganz von außen Unterſcheidungen hinein
tragen, wozu weder in den widerſprechenden Stellen ſelbſt,
noch in anderen Theilen der Geſetzgebung, irgend ein An-
laß vorhanden iſt (b).
Eine ſolche Vereinigung aber iſt auf zwey verſchiede-
nen Wegen möglich: auf dem ſyſtematiſchen und auf
dem hiſtoriſchen. Beide Wege ſind an ſich zuläſſig,
jedoch iſt der zweyte nur da einzuſchlagen, wo nicht ſchon
der erſte zum Ziele führt.
Die ſyſtematiſche Vereinigung kann geſchehen da-
durch, daß jede der widerſprechenden Stellen beſondere
Bedingungen der Anwendung, alſo ein eigenthümliches Ge-
biet der Herrſchaft erhält: entweder indem wir das Ge-
biet einer Regel, je nach verſchiedenen Bedingungen, in
zwey gleiche Hälften zerlegen, oder indem wir die eine
Stelle als Regel behandeln, wozu ſich die andere blos
als Ausnahme verhalten ſoll. Sie kann aber auch da-
durch geſchehen, daß beide Stellen als ein Ganzes ge-
dacht werden, ſo daß die eine Stelle durch die andere er-
gänzt, alſo die ſcheinbare Allgemeinheit der einen durch
(a) L. 2 § 15. L. 3 § 15 C.
de vet. j. enucl. (1. 17.).
(b) L. 2 § 15 cit. „… sed est
aliquid novum inventum vel oc-
culte positum, quod dissonan-
tiae querelam dissolvit, et ali-
am naturam inducit discordiae
fines effugientem.”
|0331 : 275|
§. 44. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.
die andere näher beſtimmt und eingeſchränkt wird (c). Fol-
gende Anwendungen werden dieſes Verfahren anſchaulich
machen. Mehrere Stellen erklären die Uſucapion für mög-
lich, wenn ein Titel zwar nicht vorhanden, aber doch von
dem Beſitzer als vorhanden angenommen ſey (d); andere
Stellen erklären in dieſem Fall die Uſucapion für unmög-
lich (e). Die Vermittlung liegt darin, daß die Uſucapion
möglich iſt, wenn ein wahrſcheinlicher Grund jenes Irr-
thums nachgewieſen werden kann, außerdem nicht (f). —
Eben ſo ſagen mehrere Stellen, zwiſchen Ehegatten ſey
ein Kauf ſchlechthin ungültig, wenn der Kaufpreis ab-
ſichtlich höher oder niedriger, als der wahre Werth be-
trägt, beſtimmt werde (g); andere Stellen beſchränken
dieſe gänzliche Ungültigkeit auf den Fall, worin ein ſol-
cher Kauf lediglich geſchloſſen wird, um die Schenkung
zu bewirken: würde dagegen der Kauf auch unabhängig
von dieſer Nebenabſicht geſchloſſen worden ſeyn, ſo iſt der
Kauf gültig, und nur die in der Preisbeſtimmung liegende
(c) So ſagt L. 1 § 9 C. de
vet. j. en. (1. 17), für diejeni-
gen Sätze, die ſchon im Codex
ſtänden, ſeyen in der Regel keine
Stellen in die Digeſten aufge-
nommen worden „nisi forte
vel propter divisionem, vel
propter repletionem, vel pro-
pter pleniorem indaginem hoc
contigerit.” Das kann auch auf
die ſyſtematiſche Auflöſung von
Widerſprüchen angewendet wer-
den. — Ein Beyſpiel ſyſtemati-
ſcher Vereinigung für zwey Stel-
len des Codex giebt Juſtinian
ſelbſt in der Nov. 158.
(d) L. 3 L. 4 § 2 pro suo
(41. 10.).
(e) L. 27 de usurp. (41. 3.),
§ 11 J. de usuc. (2. 6.).
(f) L. 11 pro emt. (41. 4.),
L. 4 pro leg. (41. 8.), L. 5 § 1
pro suo (41. 10.).
(g) L. 38 de contr. emt. (18.
1.), L. 17 pr. ad Sc. Vell.
(16. 1.).
18*
|0332 : 276|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
Geldſchenkung ungültig (h). — Bey dieſem Verfahren liegt
alſo die richtige Anſicht zum Grunde, daß eine Regel die
Beſchränkung vermittelſt näherer Beſtimmungen oder Aus-
nahmen, durch die bloße unbeſtimmte Allgemeinheit ihres
Ausdrucks nicht ausſchließt, ſondern nur durch die aus-
drückliche Verneinung einer ſolchen Beſchränkung. In den
hier angeführten vermittlenden Stellen haben die alten
Juriſten ſelbſt ein ſolches Verfahren angedeutet. — Jus-
beſondere iſt dabey Rückſicht zu nehmen auf die eigen-
thümliche Natur der von den Juriſten auf wiſſenſchaftli-
chem Wege gebildeten Regeln oder Formeln (§ 14). Wo
alſo zwey widerſprechende Stellen den Gegenſatz einer ſol-
chen Formel mit einer concreten Beſtimmung darbieten,
werden wir faſt immer dieſer letzten den Vorzug zu ge-
ben haben. Ganz in dieſem Sinn verfährt Afrikanus
(Note f); eine noch wichtigere und anſchaulichere Anwen-
dung dieſes Grundſatzes iſt an einem andern Orte ge-
macht worden (Beilage VIII. Num. VIII.).
Die hiſtoriſche Vereinigung geſchieht durch die An-
nahme, daß die eine der widerſprechenden Stellen den
wahren und bleibenden Ausſpruch der Geſetzgebung, die
andere blos hiſtoriſches Material enthalte. Dieſes Ver-
fahren iſt durch Manche in üblen Ruf gekommen, indem
ſie es auf etwas rohe Weiſe aufgefaßt und angewendet
haben. Sie nahmen die bloße Zeitfolge als entſcheidend
(h) L. 5 § 5 L. 32 § 26 de don. int. vir. (24. 1.). — Vgl.
unten § 154 Note b. c.
|0333 : 277|
§. 44. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.
an, und ließen überall die neuere Stelle (eines Kaiſers
oder eines Juriſten) der älteren vorgehen. Dieſe, aller-
dings einfache und bequeme, Behandlung läßt ſich ſchon
nach dem allgemeinen Plane der Rechtsbücher nicht recht-
fertigen: ganz beſtimmt aber widerſpricht ihr Juſtinian
ſelbſt, indem er namentlich für die Digeſten erklärt, daß
jede aufgenommene Stelle als von ihm ausgegangen, als
Kaiſergeſetz, betrachtet werden ſolle (i). — Dagegen läßt
ſich die hiſtoriſche Vereinigung völlig rechtfertigen, ſobald
für die Aufnahme der älteren Stelle ein hiſtoriſcher Zweck
wahrſcheinlich gemacht werden kann: ſie wird dann der
neueren nachgeſetzt, nicht weil ſie älter iſt, ſondern weil
ſie gar nicht die Beſtimmung hatte, unmittelbar angewen-
det zu werden (k). Ein ſolcher hiſtoriſcher Zweck aber
kann auf zweyerley Weiſe vorkommen. Erſtlich wegen der
zur Zeit der Compilation ſchon beſtehenden Rechtsverhält-
niſſe, indem dieſe noch nach den älteren Geſetzen entſchie-
den werden mußten (l). Zweytens, was wichtiger iſt, und
(i) L. 1 § 5. 6. L. 2 § 10. 20.
C. de vet. j. en. (1. 17.). — L. 1.
§ 6 cit. ſagt: „omnia enim me-
rito nostra facimus;” ähnlich
reden die anderen Stellen. —
Allerdings ſollen dieſe Äußerun-
gen zunächſt den ſcharfen Gegen-
ſatz gegen das bis dahin geltende
Geſetz von Valentinian III. (§ 26)
ausdrücken, damit man nicht etwa
Stellen des Julian in den Dige-
ſten geringer achte, als Stellen
des Ulpian: allein die Regel ſelbſt
iſt ſo allgemein, daß ſie eben ſo
gut den Vorzug der neueren Stel-
len vor den älteren, gegründet
auf dieſe bloße Zeitverſchieden-
heit, ausſchließt.
(k) Sehr befriedigend iſt die-
ſer Punkt ausgeführt von Löhr
a. a. O., S. 180. 189 — 197.
(l) An ſich war es für dieſen
Zweck nicht eben nothwendig, äl-
tere Stücke, die auf künftige
Fälle nicht mehr angewendet wer-
den ſollten, in die Rechtsbücher
|0334 : 278|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
eine weit ausgedehntere Anwendung zuläßt, weil die neuere,
allein gültige Stelle durch aufgenommene Stellen aus dem
älteren Recht deutlicher werden ſollte. Dabey alſo wird
vorausgeſetzt, daß die älteren Stellen dazu aufgenommen
wurden, um ein Stück der Rechtsgeſchichte mitzutheilen,
welches zur Erläuterung der neueſten Stelle nöthig ſchien.
Die Richtigkeit dieſer letzten Vorausſetzung wird aber
durch folgende Umſtände vollkommen beſtätigt. Erſtlich
durch die Zuſammenſetzung der Rechtsbücher aus einem
ſeit Jahrhunderten allmälig entſtandenen hiſtoriſchen Ma-
terial, wobey die Entwicklung der Rechtsſätze durchaus
ſichtbar werden mußte, anſtatt daß ſie bey einem neu ge-
ſchriebenen Werk wohl hätte verwiſcht werden können.
Zweytens durch die ſorgfältige Beybehaltung der hiſtori-
ſchen Bezeichnung jeder Stelle, wobey kein anderer Zweck
gedacht werden kann, als die Erklärung des Geltenden
aus dem Früheren möglich zu machen. Drittens durch ſo
viele neue, abändernde Conſtitutionen, welche faſt gar
nicht zu verſtehen ſind, wenn man ſie nicht mit dem frü-
heren Recht, das ſie abändern ſollen, vergleicht. Endlich
durch die Beſchaffenheit der Inſtitutionen insbeſondere.
Dieſe ſollten nichts Veraltetes enthalten (m), und dennoch
aufzunehmen, da ja die alten
Conſtitutionen und Bücher nicht
zerſtört wurden. Daß es aber
in der That geſchehen iſt, ſagt
ausdrücklich Juſtinian ſelbſt. Nov.
89. C. 7.
(m) Prooem. Inst. § 3 „ut ..
nihil inutile, nihil perperam
positum, sed quod in ipsis re-
rum obtinet argumentis, ac-
cipiant.”
|0335 : 279|
§. 44. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.
die geſchichtliche Entwicklung darſtellen (n), was ſie auch
in manchen Lehren mit großer Vollſtändigkeit leiſten (o).
Dadurch wird Alles klar: die verſchwundenen Inſtitute,
wie die Mancipation und die ſtrenge Ehe, ſollten nicht
berührt werden, aber die geſchichtliche Ausbildung der
noch beſtehenden ſollte nicht fehlen, weil ohne dieſe auch
deren neueſte Geſtalt nicht verſtanden werden konnte. Was
nun hier bey den Inſtitutionen ſo klar vor unſern Augen
liegt, ja was auch an ſich ſo natürlich iſt, wie ſollten
wir zweifeln, es auch auf die Digeſten und den Codex,
ſo wie auf das Verhältniß der drey Rechtsbücher zu ein-
ander, anzuwenden? — Von dieſem Standpunkt aus ver-
ſchwinden zugleich alle Einwürfe, die nicht ohne Schein
gegen unſre Vorausſetzung verſucht worden ſind. Juſti-
nian, ſagt man, hat erklärt, jede Stelle ſolle angeſehen
werden, als ob ſie von ihm ausgienge (Note i); damit
kann aber wohl beſtehen, daß Einiges nicht unmittelbar
zur Anwendung, ſondern zur geſchichtlichen Erläuterung,
beſtimmt iſt. Ferner: es ſolle nichts Veraltetes aufge-
nommen werden (p); wie das zu verſtehen iſt, wurde ſo
eben bey Gelegenheit der Inſtitutionen erklärt. Endlich:
es fänden ſich in den Rechtsbüchern keine Widerſprüche (q);
allein ein Widerſpruch iſt es ja nicht, wenn zwey Stellen
(n) Prooem. Inst. § 5 „In
quibus breviter expositum est
et quod antea obtinebat, et
quod postea desuetudine inum-
bratum ab Imperiali remedio
illuminatum est.”
(o) So z. B. § 4 — 7 J. de fid.
hered. (2. 23.).
(p) Const. Haee quae necess.
§ 2 L. 1 § 10 C. de vet. j.
enucl. (1. 17.).
(q) Const. Haec quae necess.
|0336 : 280|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
von abweichendem Inhalt deswegen aufgenommen wer-
den, damit die eine aus der anderen hiſtoriſches Licht em-
pfange. — So unbedenklich nun, nach dieſen Gründen,
die hiſtoriſche Vereinigung iſt, ſo darf ſie dennoch nur da
angewendet werden, wo die ſyſtematiſche nicht anwendbar
iſt (r). Dieſer Vorrang der ſyſtematiſchen Vereinigung iſt
eine natürliche Folge davon, daß die Rechtsbücher für
den praktiſchen Zweck gegeben ſind, weshalb auch von je-
dem ihrer Beſtandtheile angenommen werden muß, er ſey
zur unmittelbaren Anwendung beſtimmt, wenn nicht dieſe
Annahme durch beſondere Gründe widerlegt wird, welches
hier durch den ſonſt unvermeidlichen Widerſpruch mit an-
deren Stellen geſchieht.
Das wichtigſte aber und zugleich das ſchwierigſte iſt
die Feſtſtellung der Bedingungen für die hiſtoriſche Verei-
nigung. Der Fall nämlich iſt der allerſeltenſte, worin
uns geradezu ein Stück Rechtsgeſchichte im Zuſammen-
hang vorgetragen wird, ſo wie oben ein Beyſpiel aus den
Inſtitutionen nachgewieſen worden iſt (Note o). Faſt im-
mer muß vielmehr jene Art der Vereinigung erſt durch
ein künſtliches Verfahren herbeygeführt werden. Woran
können wir nun mit Sicherheit erkennen, daß der Fall
derſelben wirklich vorhanden iſt? darüber mag folgende
§ 2. Const. Summa § 1. L. 1
§ 4. 8 C. de vet. j. enucl. (1. 17.).
L. 2 pr. § 15 eod. Nov. 158.
(r) Eine Beſtätigung liegt dar-
in, daß Juſtinian ſelbſt nur auf
die ſyſtematiſche Vereinigung aus-
drücklich hinweiſt, offenbar, in-
dem er ſie als die regelmäßige
und natürliche, als die welche
vor Allem verſucht werden ſoll,
anſieht. L. 2 § 15 C. de vet. j.
enucl. (1. 17.). Nov. 158.
|0337 : 281|
§. 44. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.
Regel gelten. Finden ſich zwey widerſprechende Stellen
aus verſchiedener Zeit, ſo kann es geſchehen, daß die Ver-
ſchiedenheit des Inhalts erweislich gerade durch dieſes ver-
ſchiedene Alter bewirkt worden iſt, indem in der That
eine Abänderung des Rechts eingetreten iſt, entweder in
der Zwiſchenzeit zwiſchen beiden Stellen (s), oder, was
noch häufiger iſt, gerade durch die neuere Stelle ſelbſt,
wenn dieſe den Charakter eines abändernden Geſetzes an
ſich trägt. In ſolchen Fällen iſt die hiſtoriſche Vereini-
gung wirklich begründet, da wir beſtimmt behaupten kön-
nen, daß die Urheber beider Stellen, wenn ſie gleichzeitig
geſchrieben hätten, mit einander übereinſtimmen würden.
Nun alſo dürfen wir die ältere Stelle als bloßes Mate-
rial zur rechtsgeſchichtlichen Erläuterung der neueren an-
ſehen (t). Dabey kann es auch ganz gleichgültig ſeyn, ob
(s) Dieſes iſt denkbar durch ein
in die Zwiſchenzeit fallendes neues
Geſetz; aber auch (und noch häu-
figer) durch die fortſchreitende
wiſſenſchaftliche Entwicklung ei-
ner Rechtsregel. So galt z. B.
in der Lehre vom Darlehen zu-
erſt die ſtrenge Regel, daß nur
durch unmittelbares Hingeben des
Geldes eine Klage gegen den Em-
pfänger erworben werden könne.
Als aber die Lehre vom Beſitzer-
werb eine freyere Ausbildung er-
hielt, wirkte dieſe auch auf die
zuläſſige Form des Darlehens zu-
rück. Zur Zeit des Africanus
war, wie es ſcheint, dieſe Ent-
wicklung noch nicht vollendet (L. 31
pr. mand. 17. 1.), zur Zeit des
Ulpian war ſie vollendet (L. 15
de R. C. 12. 1.). Hier iſt alſo
die Stelle des Africanus blos hi-
ſtoriſches Material, wodurch die all-
mälige Ausbildung dieſes Rechts-
ſatzes erkennbar wird. — Ein da-
mit verwandter Fall kommt vor
in der Beylage X. Ein anderer
Fall (L. 23 de don. int. vir. 24.
1.) im § 161.
(t) Ein ſehr erläuternder Fall
findet ſich bey dem Int. de vi.
Hier wird in den Digeſten der
Satz des älteren Rechts, welcher
das Interdict auf Grundſtücke ein-
ſchränkt, ausführlich dargeſtellt.
(L. 1 § 3 — 8 de vi). Der Co-
|0338 : 282|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
die Compilatoren dieſes mit Abſicht ſo eingerichtet haben
(was freylich niemals ſtreng erweislich ſeyn wird), oder
ob die ältere Stelle nur aus Verſehen aufgenommen wor-
den iſt. Denn auch in dieſem letzten Fall geſchieht eine
ſolche Vereinigung ganz im Sinn der Compilation, und
unſer Verfahren iſt durch die Natur und Beſtimmung der-
ſelben völlig gerechtfertigt (u). — Im Gegenſatz des hier
beſchriebenen Falles wäre demnach die hiſtoriſche Vereini-
gung zu verwerfen in folgenden Fällen. Erſtens wenn
beide Stellen, ſo viel wir wiſſen, gleichzeitig ſind, wel-
ches faſt immer wird angenommen werden müſſen, wenn
zwey Pandektenſtellen von demſelben Schriftſteller, oder
von zwey gleichzeitig lebenden, herrühren, da wir über
die Chronologie der einzelnen Werke wenig wiſſen. Zwey-
tens, wenn jene Stellen zwar ungleichzeitig ſind, aber ſo,
daß dieſes Zeitverhältniß nicht der Grund des abweichen-
den Inhalts iſt, indem ſie eben ſo verſchieden lauten könn-
dex und die Inſtitutionen behan-
deln es als anwendbar auf Sa-
chen aller Art. Ich ſetze dabey
freylich voraus die Richtigkeit der
Anſicht, welche in meinem Buch
über den Beſitz § 40 aufgeſtellt
iſt, denn allerdings iſt dieſe Frage
ſehr ſtreitig. — Ein anderer Fall
findet ſich in der Lehre vom ca-
strense peculium. Starb ein
filius familias, der ein ſolches
beſaß, ohne darüber zu teſtiren,
ſo fiel es an den Vater, nicht
als Erbſchaft, ſondern jure pri-
stino. Dieſer Rechtsſatz iſt noch
in den Digeſten ausführlich dar-
geſtellt, und kommt ſelbſt noch
im Codex vor. (L. 1. 2. 9. 19
§ 3 de castr. pec. 49. 17., L. 5.
C. eod. 12. 37.). Allein ſeit der
Ausbildung der ſogenannten Ad-
ventitien paßte dieſer Grundſatz
nicht mehr, und ſo ſagen die In-
ſtitutionen, freylich nur beiläufig,
jenes Recht des Vaters gelte nur,
wenn der Sohn weder Kinder
noch Geſchwiſter hinterlaſſe. pr.
J. quib. non est permissum. 2. 12.
(u) Löhr a. a. O., S. 212.
|0339 : 283|
§. 45. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.
ten, wenn ſie gleichzeitig verfaßt wären. Dieſes iſt z. B.
anzunehmen bey ſolchen Streitfragen, die ſich Jahrhun-
derte lang bey den Römiſchen Juriſten fortgepflanzt ha-
ben; wenn ſich eine ſolche noch in die Digeſten verloren
hat, ſo iſt es ja ganz gleichgültig, daß vielleicht die eine
Stelle von Julian, die andere von Modeſtin herrührt, in-
dem auch Gleichzeitige ganz auf dieſelbe Weiſe gegen ein-
ander ſtritten. In ſolchen Fällen iſt die ältere Stelle
kein Zeugniß für das ältere Recht, alſo konnte auch ihre
Aufnahme keinen hiſtoriſchen Zweck haben, und es muß
daher die hiſtoriſche Vereinigung unterbleiben, weil dieſe
überhaupt nicht durch das verſchiedene Alter an ſich, ſon-
dern allein durch den hiſtoriſchen Zweck begründet werden
kann, welcher nur aus der erweislichen Fortbildung des
Rechts zu folgern iſt. Eben daher muß aber die hiſtori-
ſche Vereinigung auch bey denjenigen ungleichzeitigen Stel-
len unterbleiben, bey welchen es nur unentſchieden iſt, wel-
ches der beiden Verhältniſſe zum Grunde liegen möge: in-
dem nur der erweisliche hiſtoriſche Zweck jene Vereini-
gungsart zu rechtfertigen vermag.
§. 45.
Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen.
(Widerſpruch). Fortſetzung.
Wenden wir dieſe Regeln auf die einzelnen Rechtsbü-
cher an, ſo ergiebt ſich zunächſt für den Codex eine ſehr
ausgedehnte Zuläſſigkeit der hiſtoriſchen Vereinigung. Iſt
|0340 : 284|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
nämlich die neuere Stelle ein Edict, ſo wird es meiſt un-
zweifelhaft ſeyn, daß daſſelbe geradezu beſtimmt war,
neues Recht einzuführen: beſonders wenn ein ſolches von
Juſtinian herrührt, und ganz vorzüglich wenn es unter
die kleine Zahl derjenigen gehört, die erſt nach der Ge-
ſetzeskraft der Digeſten erſchienen ſind (a). Ja ſelbſt bey
dem größten Theil der ſpäteren Reſcripte, namentlich bey
den ſehr zahlreichen Diocletianiſchen, darf ein ähnliches
Verhältniß angenommen werden, da dieſe wenigſtens ſehr
häufig von einer wirklichen Fortbildung des Rechts Zeug-
niß geben. Allein ein allgemeiner Vorzug des Codex vor
den Digeſten darf darum dennoch nicht behauptet werden,
indem viele ältere Reſcripte des Codex mit Pandektenſtel-
len in einem ſolchen Verhältniſſe ſtehen werden, worin
nach den aufgeſtellten Regeln die hiſtoriſche Vereinigung
unzuläſſig iſt (b). — Bey ungleichzeitigen Stellen der Di-
geſten wird die hiſtoriſche Vereinigung ſeltner gerechtfer-
tigt werden können: daß ſie aber auch hier vorkommen
kann, iſt bereits an einem Beyſpiele gezeigt worden (c).
— Wenn endlich die Inſtitutionen mit den größeren
Rechtsbüchern im Widerſpruch ſtehen, ſo werden ſich meiſt
(a) Vgl. §. 13 Note g. — Für
dieſe Stellen alſo wird hier der
Vorrang wirklich geltend gemacht,
aber aus einem andern Grunde
als aus der ſpäteren Promulga-
tion des neuen Codex, welche
oben als ein nicht entſcheidender
Grund abgewieſen wurde.
(b) Einen unbedingten Vorzug
des Codex vor den Digeſten be-
haupten Thibaut S. 93 und
Löhr S. 213, womit ich alſo
nicht einſtimmen kann.
(c) § 44 Note s.
|0341 : 285|
§. 45. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.
folgende Fälle mit hinreichender Sicherheit feſtſtellen laſ-
ſen. Zuweilen iſt augenſcheinlich eine Übereilung bey der
Abfaſſung der Inſtitutionen begangen worden, etwa da-
durch veranlaßt, daß man in die Inſtitutionen des Gajus
die Stelle eines andern Juriſten ungeſchickt eingefügt hat:
dann ſind unbedenklich die Inſtitutionen nachzuſetzen (d).
Manche andere Stelle der Inſtitutionen enthält gerade
(d) Ein ganz unzweifelhafter
Fall dieſer Art iſt in der erſten
Beylage dieſes Bandes nachge-
wieſen worden: jedoch hat dieſer
keinen Satz des praktiſchen Rechts
zum Gegenſtand. — Eben ſo iſt
§ 16 J. de L. Aquilia (4. 3.)
zuſammengeſetzt aus Gajus III.
219, und der Stelle des Ulpia-
nus ad ed., die wir als L. 7
§ 7 de dolo (4. 3.) beſitzen. Durch
die Zuſammenfügung aber ent-
ſteht der Schein, als könnte in
Fällen wie dieſer letzte die a. uti-
lis L. Aquiliae nicht gelten, da
ſie doch in L. 27 § 19. 20. 21 ad
L. Aquil. (9. 2.) zugelaſſen wird.
— In § 3 J. de emt. (3. 24.)
wird geſagt, für die custodia
eines Sklaven ſey der Verkäufer
nur durch beſonderes Verſprechen
verpflichtet, außerdem nicht Das
hängt damit zuſammen, daß Skla-
ven auch bey anderen Rechtsge-
ſchäften nicht cuſtodirt zu werden
brauchten. L. 5 § 6. 13 commod.
(13. 6.). Nun ſetzt aber der an-
geführte § der Inſtitutionen, nach
Erwähnung des Sklaven, noch
hinzu: „Idem et in ceteris ani-
malibus ceterisque rebus intel-
ligimus.” Durch dieſen Zuſatz
wollten die Compilatoren ſagen,
es ſey in der zuerſt vorgetrage-
nen Regel (die ſie ohne Zweifel
wörtlich aus einem alten Juri-
ſten entnommen hatten) nur zu-
fällig ein Sklave genannt, wo-
durch alſo der Satz noch prakti-
ſcher werden ſollte: ſie überſahen
aber dabey, daß es nicht zufällig
war, ſondern daß in der That
bey anderen beweglichen Sachen
die entgegengeſetzte Regel gilt,
und zwar aus gutem Grunde.
L. 35 § 4 de contr. emt. (18. 1.).
L. 3 L. 4 § 1. 2 de peric. (18. 6.).
— Der § 39 J. de action. (4. 6.)
läßt die Compenſation nur zu für
das „quod invicem actorem ex
eadem causa praestare opor-
tet.” Dieſe Beſchränkung paßt
nicht zu dem geſammten übrigen
Juſtinianiſchen Recht, und na-
mentlich nicht zu § 30 J. eod.
Sie war ſchon aufgegeben zur
Zeit des Paulus Paul, II 5 § 3.
Ja ſie konnte nicht mehr fort-
dauern ſeitdem Marc Aurel die
Compenſation auf die (ſtets ein-
ſeitige) Stipulationsklage ange-
wendet hatte. § 30 J. cit. Wir
|0342 : 286|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
umgekehrt eine beſonnene eigene Erklärung des Geſetzge-
bers: eine ſolche aber iſt wie ein Juſtinianiſches Edict
anzuſehen, und jeder anderen widerſprechenden Stelle vor-
zuziehen (e). Meiſtens aber wird weder der eine noch der
andere Fall angenommen werden können, vielmehr werden
beide Stellen, die der Inſtitutionen und die der Digeſten,
als einander ergänzend anzuſehen ſeyn: dieſes aber ge-
hört zu der ſyſtematiſchen Vereinigung (§ 44), wodurch
jedes andere Verfahren überflüſſig wird (f).
Was ſoll endlich geſchehen in den Fällen, in welchen
beide Arten der Vereinigung nicht anwendbar ſind (§ 44),
obgleich ein Widerſpruch durchaus eingeräumt werden
muß? Es bleibt Nichts übrig, als unter beiden wider-
ſprechenden Stellen diejenige vorzuziehen, welche den übri-
gen unzweifelhaften Grundſätzen der Juſtinianiſchen Ge-
ſetzgebung am meiſten entſpricht. Dieſe Regel beruht auf
der Vorausſetzung der organiſchen Einheit der Römiſchen
Geſetzgebung, welche wiederum in der allgemeinen Natur
des poſitiven Rechts überhaupt (§ 5) ihre tiefere Begrün-
wiſſen nun jetzt, daß jene un-
paſſenden Worte blos unbedacht-
ſamerweiſe abgeſchrieben ſind aus
Gajus IV. § 61, zu deſſen Zeit
alſo die Beſchränkung noch Gül-
tigkeit hatte.
(e) Thibaut a. a. O., S. 96.
(f) Dahin rechne ich folgende
Fälle. § 25 J. de rer. div. (2. 1.)
und L. 7 § 7 de a. rer. dom.
(41. 1.) ergänzen ſich gegenſeitig.
Die Inſtitutionenſtelle iſt voll-
ſtändiger durch die Regel wegen
des gemiſchten Eigenthums: die
Pandektenſtelle dagegen durch die
genauere Erwägung und Berich-
tigung des Falles vom gedroſche-
nen Getraide. Beide Stellen
müſſen daher in Gedanken ver-
ſchmolzen werden. — Eben ſo
wird L. 2 § 6 mand. (17. 1.) nur
noch ergänzt durch den Schluß
von § 6 J. de mand. (3. 27.).
|0343 : 287|
§. 45. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.
dung findet. Eine Beſtätigung ihrer Richtigkeit liegt noch
in dem völlig analogen Verfahren, welches bey zweydeu-
tigen Ausdrücken einzelner Geſetze anzuwenden iſt (§ 35. 36),
und an deſſen Richtigkeit ohnehin Niemand zweifelt. Wie
dort aus zwey Bedeutungen deſſelben Ausdrucks ein Zweifel
entſteht, ſo hier aus zwey widerſprechenden Stellen der-
ſelben Geſetzgebung. Wie dort der ſprachliche Zweifel
am ſicherſten gehoben wird durch Vergleichung mit ande-
ren Theilen deſſelben Geſetzes oder mit anderen Geſetzen,
ſo hier der ſachliche Zweifel durch Vergleichung mit an-
deren unzweifelhaften Grundſätzen derſelben Geſetzgebung.
Die Ähnlichkeit iſt vollſtändig und unwiderſprechlich. —
Eine bloße Anwendung dieſer Regel liegt darin, wenn wir
einen Widerſtreit wahrnehmen zwiſchen einem ganz iſolir-
ten Ausſpruch auf der einen Seite, und mehreren über-
einſtimmenden, etwa aus verſchiedenen Zeiten herrührenden,
Ausſprüchen auf der anderen Seite. Wir haben dann
Grund, den Ausdruck des wahren Sinnes der Geſetzge-
bung vielmehr in dieſer Übereinſtimmung voraus zu ſetzen,
als in jener iſolirten Äußerung (g). — Eben ſo wenn
unter zwey widerſprechenden Stellen die eine an dem Ort
(g) Dahin gehört der Fall der
L. 5 § 3 de praescr. verb. (19.
5), die mit ſo vielen Stellen ver-
ſchiedener Zeiten im Widerſpruch
ſteht. Ferner der Fall der L. 23
de don. int. vir. (24. 1.), welcher
viele ganz klare, unzweifelhafte
Stellen gegenüber ſtehen (§ 164).
Dieſer Fall gehört zugleich in das
Gebiet des § 44; denn eben aus
den widerſprechenden Stellen über-
zeugen wir uns, daß jene Stelle
eine blos hiſtoriſche Bedeutung
haben kann, welches aus ihr, für
ſich allein betrachtet, keinesweges
zu erſehen ſeyn würde.
|0344 : 288|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
ſteht, wohin die ſtreitige Regel unmittelbar gehört, die
andere an einem davon entfernten Ort. Denn von der
erſten kann nun angenommen werden, daß die Compila-
toren von dem Sinn und Einfluß derſelben, bey ihrer
Aufnahme, ein deutliches Bewußtſeyn hatten, anſtatt daß
bey der zweyten das, was den Widerſpruch begründet,
leichter überſehen werden konnte. Daher drückt alſo jene
Stelle den Sinn der Geſetzgebung im Ganzen zuverläſſiger
aus als dieſe (h).
Zwar iſt nicht weg zu läugnen Juſtinians beſtimmte
Verſicherung, daß Widerſprüche nicht vorkommen (§ 44. a.);
allein was vermag dieſe Verſicherung gegen die augen-
ſcheinliche Wirklichkeit, und gegen das unabweisliche Be-
dürfniß einer Aufhebung des Widerſpruchs wo er uns be-
gegnet? Ja man könnte ſelbſt bezweifeln, ob es mit jener
Verſicherung ſo gründlicher Ernſt geweſen ſey. In dem
Plane freylich lag die Verhütung von Widerſprüchen: aber
eben ſo auch die Verhütung von Wiederholungen und von
Auslaſſung wichtiger Stellen des älteren Rechts (similia
und praetermissa). Nun wird ausdrücklich erklärt, es
möchten doch wohl Verſehen dieſer zwey letzten Arten vor-
gefallen ſeyn, und dieſe werden ſehr richtig entſchuldigt
mit der Schwäche der menſchlichen Natur (i). Allein dieſe
Entſchuldigung, und alſo auch das Bekenntniß, worauf
(h) Aus dieſem Grund wird
der § 3 J. de usufr. (2. 4.) vor-
gezogen werden müſſen der L. 66
de j. dot. (23. 3).
(i) L. 2 § 14. 16 C. de vet. j.
enucl. (1. 17.)
|0345 : 289|
§. 45. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.
ſie ſich bezieht, paßt völlig eben ſo auf die Widerſprüche,
und es ſcheint ganz zufällig, daß es dabey nicht auf gleiche
Weiſe ausgedrückt iſt.
Bisher war die Rede von einem Widerſpruch inner-
halb unſres allgemeinen Quellenkreiſes (§ 42 fg.); es iſt
nun noch der Widerſpruch in Anwendung auf die hypo-
thetiſch hinzutretenden Rechtsquellen (§ 21) zu erwägen.
Im Allgemeinen gelten für dieſen zweyten Fall dieſel-
ben Regeln, wie für den erſten. Insbeſondere muß auch
hier das neuere Geſetz dem älteren vorgehen, wodurch
der regelmäßige Vorzug des Landesrechts vor dem gemeinen
Recht beſtimmt wird. Eben ſo wird auch hier dieſe Re-
gel beſchränkt durch die Rückſicht auf Ausnahmen der
älteren Regel, welche durch die neuere, abändernde Regel
nicht nothwendig berührt werden. — Es tritt aber hier
noch eine eigenthümliche zweyte Ausnahme hinzu. Wenn
nämlich das neuere Geſetz für ein weiteres Gebiet gilt,
als das ältere, ſo iſt dadurch das ältere in der Regel
nur dann aufgehoben, wenn das neuere eine abſolute
Natur hat (§ 16), außerdem dauert das ältere fort (k).
(k) L. 3 § 5 de sepulchro viol.
(47. 12.). In einer Stadt war
durch die lex municipalis die Be-
erdigung innerhalb der Mauern
erlaubt, Hadrian verbot ſie ſpäter
allgemein, man zweifelte welches
vorgehe: dennoch wurde in dieſem
Fall die allgemeine, aber abſolute,
ſpätere Vorſchrift vorgezogen. —
C. 1 de const. in VI. (1. 2.). „.. Ro-
manus pontifex … quia … lo-
corum specialium … consuetu-
dines et statuta … potest pro-
babiliter ignorare: ipsis … per
constitutionem a se noviter
editam, nisi expresse caveatur
in ipsa, non intelligitur in ali-
quo derogare.“
19
|0346 : 290|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
Dafür findet ſich dieſer alte Ausdruck: Willkühr bricht
Stadtrecht, Stadtrecht bricht Landrecht, Landrecht bricht
gemein Recht (l).
§. 46.
Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen.
(Lücken. Analogie.)
Finden wir unſre Rechtsquellen zur Entſcheidung einer
Rechtsfrage nicht zureichend, ſo haben wir dieſe Lücke
auszufüllen, da die Forderung der Vollſtändigkeit ein
eben ſo unbedingtes Recht für ſich hat, als die der Ein-
heit (§ 42). Es fragt ſich nur, wo wir dieſe Ergänzung
zu ſuchen haben. So mannichfaltig über dieſe Frage der
Ausdruck unſrer Schriftſteller erſcheint, laſſen ſie ſich doch
dem Weſen nach auf zwey Meynungen zurückführen. Nach
der erſten Meynung wird ein allgemeines Normalrecht
(das Naturrecht) angenommen, welches neben jedem poſi-
tiven Recht als ein ſubſidiariſches ſtehen ſoll, in ähnlicher
Weiſe wie in Deutſchland neben den einzelnen Landes-
rechten das Römiſche. Dieſe beſondere Anwendung einer
ſchon oben im Allgemeinen verworfenen Anſicht (§ 15)
bedarf hier keiner neuen Widerlegung. — Nach der zwey-
ten Meynung wird unſer poſitives Recht aus ſich ſelbſt
ergänzt, indem wir in demſelben eine organiſch bildende
Kraft annehmen. Dieſes Verfahren müſſen wir nach un-
frer Grundanſicht des poſitiven Rechts (§ 5) als das rich-
(l) Eichhorn deutſches Privatrecht § 30.
|0347 : 291|
§. 46. Rechtsquellen als Ganzes. Lücken. Analogie.
tige und nothwendige anerkennen, und es iſt weſentlich
daſſelbe, welches auch ſchon zur Herſtellung der Einheit
durch Beſeitigung von Widerſprüchen angewendet worden
iſt (§ 45). Das Verhältniß der durch dieſes Verfahren
gefundenen Rechtsſätze zu dem gegebenen poſitiven Recht
nennen wir die Analogie (a), und ſie iſt es daher wo-
durch wir jede wahrgenommene Lücke auszufüllen haben.
Es kommt aber dieſe Rechtsfindung durch Analogie
in zwey Stufen vor. Erſtlich wenn ein neues, bisher
unbekanntes, Rechtsverhältniß erſcheint, für welches da-
her ein Rechtsinſtitut, als Urbild, in dem bisher ausge-
bildeten poſitiven Recht nicht enthalten iſt. Hier wird
ein ſolches urbildliches Rechtsinſtitut, nach dem Geſetze
innerer Verwandtſchaft mit ſchon bekannten, neu geſtaltet
werden. Zweytens, und viel häufiger, wenn in einem
ſchon bekannten Rechtsinſtitut eine einzelne Rechtsfrage
neu entſteht. Dieſe wird zu beantworten ſeyn nach der
inneren Verwandtſchaft der dieſem Inſtitute angehörenden
Rechtsſätze, zu welchem Zweck die richtige Einſicht in die
Gründe der einzelnen Geſetze (§ 34) ſehr wichtig ſeyn
wird. — Die analogiſche Rechtsfindung kann in beiden
Stufen vorkommen als Anſtoß zur Fortbildung des Rechts,
z. B. durch Geſetzgebung, in welchem Fall ſie mit größe-
(a) In demſelben Sinn nah-
men den Ausdruck die Römer:
Varro de lingua lat. Lib. 10
(in ältern Ausgaben 9) C. 3—6.
Quinctilian. I. C. 6. Gellius
II. C. 25. Isidor. I. C. 27. —
Über das eigentliche Weſen der
Analogie erklärt ſich ſehr gut
Stahl Philoſophie des Rechts
II. 1. S. 166.
19*
|0348 : 292|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
rer Freyheit geübt werden kann. Sie kann aber auch
vorkommen (ſo wie wir ſie hier betrachten) als eine Art
reiner Auslegung, etwa indem einem Richter zuerſt das
neue Rechtsverhältniß oder die neue Rechtsfrage zur Ent-
ſcheidung vorgelegt wird. Für dieſe Art der Anwendung
der Analogie ſollen nunmehr noch einige nähere Beſtim-
mungen gegeben werden.
Jede Anwendung der Analogie beruht auf der voraus-
geſetzten inneren Conſequenz des Rechts: nur iſt dieſe nicht
immer eine blos logiſche Conſequenz, wie das reine Ver-
hältniß zwiſchen Grund und Folge, ſondern zugleich eine
organiſche, die aus der Geſammtanſchauung der prakti-
ſchen Natur der Rechtsverhältniſſe und ihrer Urbilder her-
vorgeht (§ 4. 5.). Wir müſſen dabey ſtets ausgehen von
einem Gegebenen, welches wir zur Löſung der vorliegen-
den Aufgabe erweitern. Dieſes Gegebene kann ſeyn ein
beſtimmtes einzelnes Geſetz, in welchem Fall der Name
einer Entſcheidung ex argumento legis üblich iſt; weit
häufiger aber wird das Gegebene in ſolchen Beſtandthei-
len der Rechtstheorie enthalten ſeyn, die ſelbſt ſchon auf
dem künſtlichen Wege der Abſtraction entſtanden waren.
In allen Fällen aber iſt dieſes Verfahren weſentlich ver-
ſchieden von der oben erklärten ausdehnenden Auslegung
(§ 37), womit es ſehr häufig verwechſelt wird. Denn
dieſe ſoll nicht etwa eine Lücke des Rechts ausfüllen, ſon-
dern den unrichtig gewählten Ausdruck eines Geſetzes aus
deſſen wirklichem Gedanken berichtigen. Bey dem Verfah-
|0349 : 293|
§. 46. Rechtsquellen als Ganzes. Lücken. Analogie.
ren nach Analogie nehmen wir an, daß es an dem wirk-
lichen Gedanken irgend eines leitenden Geſetzes gänzlich
fehlt, und wir ſuchen uns über dieſen Mangel durch die
organiſche Einheit des Rechts hinweg zu helfen.
Die Auslegung vermittelſt der Analogie findet jedoch
gar keine Anwendung, wenn das Gegebene, von welchem
wir ausgehen, die Natur der Ausnahme von einer Regel
hat. In einem ſolchen Fall wird meiſtens die Anwendung
der Analogie ſchon deswegen verworfen werden müſſen,
weil die Grundbedingung derſelben, der Mangel einer
Regel, nicht vorhanden ſeyn wird. Wenn alſo z. B. ein
vorhandenes Geſetz durch ein neues Geſetz theilweiſe
aufgehoben wird, ſo beſtehen die nicht aufgehobenen Theile
fort (b). Wollten wir auch darauf die Aufhebung aus-
dehnen, ſo wäre das nicht Analogie, indem ja dafür eine
Regel gar nicht fehlt, ſondern vielmehr eine ausdehnende
Auslegung, und zwar eine willkührliche, grundloſe. —
Eben ſo wird es ſich verhalten mit der analogiſchen Er-
weiterung eigentlicher Privilegien (§ 16), neben welchen
es ja an einer eigentlichen Rechtsregel niemals fehlen
wird. — Und derſelbe Fall würde auch da eintreten, wo
ein anomaliſches Recht oder Jus singulare (§ 16) über
ſeine unmittelbaren Gränzen erweitert werden ſollte, in-
dem auch da eine Regel ſchon vorhanden iſt, die durch
die Erweiterung nur geſtört werden würde. Dieſer Fall
(b) Ein Beyſpiel kommt vor
in L. 32 § 6 C. de apell. (7. 62.).
— Vgl. auch Thibaut logiſche
Auslegung § 20.
|0350 : 294|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
indeſſen, der häufigſte und wichtigſte unter allen, bedarf
noch einer genaueren Erörterung. Ein ſolches anomali-
ſches Recht nämlich könnte man auch dazu benutzen wol-
len, nicht eben um die darin liegende Ausnahme zu er-
weitern, ſondern um eine ähnliche, wirklich unentſchiedene,
Rechtsfrage darnach zu entſcheiden. Dann wäre der Fall
der Analogie wirklich vorhanden, und der eben geltend
gemachte Grund der Verwerfung würde nicht mehr paſſen.
Und dennoch darf auch in einem ſolchen Fall gerade der
anomaliſche Rechtsſatz zur Entſcheidung nach Analogie
nicht benutzt werden, ſondern es iſt dazu ein verwandter
Satz des regelmäßigen Rechts aufzuſuchen. Denn das
ganze Verfahren nach Analogie beruht ja lediglich auf
dem inneren Zuſammenhang des Rechtsſyſtems; die ano-
maliſchen Rechtsſätze aber ſind aus fremdartigen Princi-
pien entſprungen, und dem Rechtsſyſtem blos eingefügt
(§ 16), weshalb ihnen die organiſch bildende Kraft des
regelmäßigen Rechts nicht zugeſchrieben werden kann.
Die Römer haben von der Ergänzung des Rechts
durch Analogie ſehr richtige Anſichten, nur unterſcheiden
ſie in der Anwendung derſelben nicht überall die Fortbil-
dung des Rechts von der reinen Auslegung; von dieſer
Vermiſchung werden die Gründe weiter unten angegeben
werden. Auch nach ihrer Lehre ſoll bei jeder unentſchie-
denen Rechtsfrage das gegebene Recht, nach dem Geſetz
der inneren Ähnlichkeit und Verwandtſchaft, zu der ge-
|0351 : 295|
§. 46. Rechtsquellen als Ganzes. Lücken. Analogie.
ſuchten Entſcheidung erweitert werden (c). Die Formen,
unter welchen dieſe organiſche Erweiterung des Rechts
bewirkt wird, ſind vorzüglich Fictionen (d) und utiles
actiones. Dadurch wird zugleich der innere Zuſammen-
hang des Neuen mit dem Alten geſichert, und ſo die
ſyſtematiſche Einheit des geſammten Rechts erhalten. Ein
Beyſpiel, worin dieſes Verfahren im Großen anſchaulich
wird, iſt die Bonorum possessio, die in ihrer völligen
Ausbildung ganz als eine Fiction der hereditas gedacht
werden muß (e). — Auf das Beſtimmteſte aber erklären
ſich die alten Juriſten gegen die analogiſche Erweiterung
bey jedem Jus singulare (f). Dieſe allgemeine Verwerfung
wird auch im Einzelnen durch mehrere merkwürdige An-
wendungen beſtätigt. Wer z. B. eine Sache von einem
Wahnſinnigen kauft, den er für vernünftig hält, hat ano-
maliſch das Recht der Uſucapion: man würde aber irren,
(c) L. 12 de Leg. (1. 3.) „ad
similia procedere“ L. 27 eod.
„quae quandoque similes erunt.“
L. 32 pr. eod. „quod proximum
et consequens ei est.“ L. 2
§ 18 C. de vet. j. enucl. (1. 17.),
wo K. Hadrian ſagt, die allmä-
lige Ergänzung des Edicts ſolle
geſchehen „ad ejus regulas, ejus-
que conjecturas et imitationes.“
— Juſtinian ſelbſt erwähnt dieſen
Fall, nicht unter dem praetermis-
sum in § 16 eod. (welches die weg-
gelaſſenen Stellen alter Juriſten
ſind), ſondern unter den neuen
negotia in § 18. Wie er ihn
behandelt wiſſen will, wird unten
gezeigt werden.
(d) Vgl. beſonders Gajus IV.
§ 10. § 33—38.
(e) Ulpian. XXVIII. § 12. L. 2
de B. P. (37. 1.). L. 117 de R.
J. (50. 17.)
(f) L. 14 de Leg. (1. 3.) „Quod
vero contra rationem juris re-
ceptum est, non est producen-
dum ad consequentias“ (wie-
derholt in L. 141 pr. de R. J.).
L. 162 de R. J. (50. 17.). „Quae
propter necessitatem recepta
sunt, non debent in argumen-
tum trahi.“
|0352 : 296|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
wenn man dieſen Kauf auch in anderen Beziehungen als
ein gültiges Geſchäft behandeln wollte (g). Wer eine Sache,
in deren Uſucapion er begriffen iſt, als Pfand weggiebt,
ſetzt dennoch anomaliſch die Uſucapion fort: es wäre aber
irrig, ihm der Conſequenz wegen nun auch noch irgend
andere Beſitzrechte zuſchreiben zu wollen, da dieſe vielmehr
insgeſammt dem Gläubiger zukommen (h). Wenn dage-
gen in manchen anderen Anwendungen dennoch eine ana-
logiſche Erweiterung anomaliſcher Rechtsſätze vorkommt,
ſo beruht dieſe auf der Vermiſchung der Auslegung mit
der Fortbildung des Rechts, wovon ſogleich weiter die
Rede ſeyn wird.
§. 47.
Ausſprüche des Römiſchen Rechts über die Auslegung.
Wenn das Römiſche Recht die entſcheidende Kraft der
authentiſchen Auslegung anerkennt (a), desgleichen auch
die der uſuellen (b), ſo liegt darin keine eigenthümliche
Rechtsanſicht, es iſt vielmehr eine einfache Folge davon,
daß überhaupt Geſetz und Gewohnheit als Rechtsquellen
anerkannt werden. Alles kommt darauf an, welche Stel-
lung die ſogenannte doctrinelle Auslegung (§ 32), die allein
wahre Auslegung iſt, erhalten ſoll, und darüber wird
(g) L 2 § 16 pro emtore
(41. 4).
(h) L. 16 de usurp. (41. 3.).
L. 36 de adqu. poss. (41. 2.) —
Ein ähnliches Verfahren findet
ſich in L. 23 § 1. L. 44 § 1 de
adqu. poss. (41. 2.). L. 43 § 3
de fid. lib. (40. 5.).
(a) L. 12 § 1 C. de Leg.
(1. 14.).
(b) L. 23. 37. 38. de legibus
(1. 3.).
|0353 : 297|
§. 47. Ausſprüche des Römiſchen Rechts.
durch die bloße Anerkennung einer authentiſchen und uſuel-
len noch gar Nichts entſchieden.
Über die eigentliche Auslegung nun geben die alten
Juriſten in den Digeſten Regeln, die größtentheils ſchon
oben, in Verbindung mit der von mir aufgeſtellten Aus-
legungslehre, benutzt worden ſind, indem dieſe Verbindung
zur gegenſeitigen Ergänzung und Erläuterung dienen konnte.
Dieſe Regeln ſind an ſich gut, wie man ſie von ihren
Urhebern erwarten kann, aber unzulänglich, und beſonders
auf den eigenthümlichen Fall der Juſtinianiſchen Rechts-
bücher, den Jene nicht ahnen konnten, nicht berechnet. —
Vergleicht man mit dieſer von ihnen aufgeſtellten Theorie
ihre eigene Praxis, ſo ſtimmt dieſelbe nicht völlig damit
überein. Sie geht oft weit über die Gränzen wahrer
Auslegung hinaus, und nimmt den Character einer wah-
ren Fortbildung des Rechts an. Insbeſondere geben ſie
ausdehnende Erklärungen aus dem Grund des Geſetzes,
die nicht blos den Ausdruck berichtigen, ſondern das Ge-
ſetz ſelbſt verbeſſern ſollen, was alſo nicht mehr Auslegung
iſt: ja ſie erweitern nach Analogie nicht ſelten auch ein
Jus singulare, obgleich dieſes mit ihrem eigenen beſtimmt
ausgeſprochenen Grundſatz (§ 46) in geradem Widerſpruch
ſteht (c). Dieſe Widerſprüche erklären ſich aus der eigen-
(c) So dehnten ſie das Ver-
äußerungsverbot des fundus do-
talis auf den Bräutigam aus.
L. 4 de fundo dot. (23. 5.). —
Desgleichen die freye Form des
Militärteſtaments auf Civilper-
ſonen in Feindes Land. L. un.
de B. P. ex test. mil. (37. 13.).
— Desgleichen die Competenz-
befugniß des Ehemannes auf die
|0354 : 298|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Quellen des heutigen R. R.
thümlichen Stellung der Römiſchen Juriſten, welche aller-
dings auch die Fortbildung des Rechts unmittelbarer in
ihre Hände legte, als dieſes bey uns angenommen wer-
den kann (§ 19). So heißt denn auch bey ihnen Inter-
pretatio keinesweges blos eigentliche Auslegung, ſondern
überhaupt Lehre, Überlieferung, alſo Alles was oben als
wiſſenſchaftliches Recht bezeichnet worden iſt (§ 14. 19.
20.), und zwar in der freyeren Vehandlung, wie ſie ge-
rade in Rom angenommen werden konnte (d). Indeſſen
mögen auch ſchon die alten Juriſten ſelbſt die unſichere
Gränze erkannt haben, die dadurch zwiſchen ihrem eigenen
Beruf, und den Befugniſſen des Prätors oder gar des
Kaiſers entſtehen mußte; ſo ſcheint es zu erklären, wenn
ſie es in manchen Stellen unbeſtimmt laſſen, ob eine Er-
weiterung des Rechts durch ſie ſelbſt, oder vielmehr durch
den Prätor oder Kaiſer zu bewirken ſey (e). — Aber ſelbſt
abgeſehen von dieſer größeren Freyheit, die den Römi-
ſchen Juriſten, in Vergleichung mit den unſrigen, einge-
räumt war, hatten ſie auch ausgedehntere Mittel der Aus-
legung, indem ſie der Entſtehung ihrer Rechtsquellen ſo
nahe ſtanden, alſo unmittelbar wiſſen konnten, wie man-
cher an ſich nicht hinreichend beſtimmte Ausdruck gemeynt
Ehefrau. L. 20 de re jud. (42.
1.). — In dieſen drey Fällen iſt
es ein Jus singulare, welches
erweitert wird.
(d) Über dieſe Bedeutung von
Interpretatio vgl. L. 2 § 5 de
O. J. (1. 2.). Hugo Rechtsge-
ſchichte S. 441 der 11. Ausg.
Puchta Gewohnheitsr. I. S. 16 fg.
(e) L. 11 de leg. (1. 3.) „aut
interpretatione aut constitu-
tione optimi principis“ … L. 13
eod. „vel interpretatione vel
certe jurisdictione suppleri.“
|0355 : 299|
§. 47. Ausſprüche des Römiſchen Rechts.
war, und in welchem Sinn er gleich von ſeinen Urhebern
angewendet wurde (f). — In allen dieſen Beziehungen
ſtehen wir anders als ſie, beſonders wenn wir nicht unſre
einheimiſchen Geſetze, ſondern die uns ſo fern ſtehenden
Juſtinianiſchen auszulegen haben. Unſere Lage iſt darin
ungleich ſchwieriger; aber hier, wie in vielen anderen
Fällen, iſt die durch die Schwierigkeit gebotene Anſtren-
gung nicht ohne Frucht geblieben. Der Begriff und die
Gränze wahrer Auslegung iſt dadurch unter uns zu einer
ſchärferen Ausbildung gelangt, als jemals bey den Rö-
mern, denen eine gleiche Nothwendigkeit nicht aufer-
legt war.
Unter den Kaiſern traten allmälig, beſonders ſeit der
Mitte des dritten Jahrhunderts unſrer Zeitrechnung, völlig
veränderte Verhältniſſe ein. Die Fortbildung des Rechts
durch Edicte der Obrigkeiten hörte auf, und die freye
Stellung des Juriſtenſtandes wäre kaum mehr mit der
völlig entwickelten Kaiſerlichen Gewalt vereinbar geweſen;
(f) So z. B. hatte der Prätor
für den Fall einer operis novi nun-
ciatio ein Interdict verſprochen
(L. 20 pr. de O. N. N. 39. 1.).
Das wurde ausgelegt blos von
einer Veränderung des Bodens,
und zwar blos von einer ſolchen,
die an einem Gebäude ſtatt fand
(L. 1 § 11. 12 eod.). — An einem
andern Orte ſagte das Edict:
quod vi aut clam factum est
(L. 1 pr. quod vi 43.24.). Auch das
wurde ausgelegt blos von einem
opus in solo, aber dieſesmal
nicht blos an Gebäuden, ſondern
auch an Aeckern, Bäumen u. ſ. w.
(L. 7 § 5 eod.). Dieſe Beſchrän-
kungen und Unterſchiede lagen
nicht in den Worten, noch we-
niger waren ſie willkührlich: ſie
gründeten ſich auf die traditio-
nelle Bekanntſchaft mit den Fällen
und Bedürfniſſen, wofür durch
das eine und das andere Edict
geſorgt werden ſollte.
|0356 : 300|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
doch konnte davon bald ſchon deswegen nicht mehr die
Rede ſeyn, weil die Rechtswiſſenſchaft nur noch in den
Büchern der alten Juriſten fortlebte, perſönliche Nachfol-
ger derſelben aber kaum noch vorhanden waren. Nun
wäre höchſtens noch eine Auslegung der Richter möglich
geweſen, und es kann weniger auffallen, wenn ſelbſt dieſe
unter ganz neue und willkührliche Beſtimmungen geſtellt
wurde. Vollendet wurden dieſe erſt durch Juſtinian aber
der Anfang dazu findet ſich ſchon weit früher. — So
verordnet Conſtantin (g): Inter aequitatem jusque in-
terpositam interpretationem nobis solis et oportet et
licet inspicere. Das heißt: „wenn durch Auslegung irgend
ein Satz der aequitas gegen das ſtrenge Recht neu einge-
führt werden ſoll, ſo darf das nur vom Kaiſer ſelbſt ge-
ſchehen.“ Offenbar iſt hier nicht von reiner Auslegung,
ſondern von Fortbildung, und zwar von einer Eroberung
der aequitas in dem Gebiet des bisher geltenden ſtrengen
Rechts die Rede. Dieſes Verfahren, welches ſonſt regel-
mäßig vom prätoriſchen Edict, ſehr oft auch von den
Juriſten, ausgegangen war, wird jetzt dem Kaiſer vorbe-
halten. Darin liegt Nichts, was man nicht nach der
veränderten Verfaſſung ohnehin ſchon erwarten möchte. —
Eine Verordnung von Valentinian und Martian ſagt,
der Kaiſer habe in den Geſetzen Dunkelheiten zu entfernen,
und Härten zu mildern. Theils wird aber hier dieſer
(g) L. 1 C. de leg. (1. 14.), oder
L. 3 C. Th. de div. rescr. (1. 2.)
(neu entdeckt). — Vgl. oben
§ 36 Note f.
|0357 : 301|
§. 47. Ausſprüche des Römiſchen Rechts.
Beruf des Kaiſers nicht als ganz ausſchließend bezeichnet,
ſondern nur auf das längſt übliche Verfahren durch Con-
ſultationen, als den ſicherſten Weg verwieſen, theils könnte
man, nach der Verbindung beider Sätze, wohl annehmen,
es ſey nur von ſolchen Geſetzerklärungen die Rede, die
zugleich eine Milderung, alſo eine wahre Änderung des
Rechts, in ſich ſchlöſſen (h). — Endlich wird verordnet,
Zweifel über ein neues, noch nicht durch Gewohnheit feſt-
gewordenes Recht müßten dem Kaiſer vorgelegt werden (i).
Es iſt aber dabey unbeſtimmt gelaſſen, ob von einem
Zweifel über Geſetzauslegung, oder etwa gerade über das
Daſeyn eines vollendeten Gewohnheitsrechts, die Rede
ſeyn ſoll.
Ungleich entſchiedener und durchgreifender ſind die Ver-
ordnungen, die über dieſen Gegenſtand Juſtinian ſelbſt
gegeben hat. Die erſte iſt erlaſſen im J. 529, bald nach
der Einführung des älteren Codex (k). Der Gang ihrer
Gedanken iſt kurz folgender: „Wir finden in alten Ge-
ſetzen (l) einen Zweifel darüber, ob die vom Kaiſer aus-
(h) L 9 C. de leg. (1. 14.)
„… Si quid vero in iisdem
legibus.. obscurius fuerit, opor-
tet id Imperiali interpretatione
patefieri, duritiamque legum
nostrae humanitati incongruam
emendari.“ Es iſt der etwas
umgebildete Anfang von Nov.
Martiani 4, worin freylich ge-
rade die letzten Worte (von du-
ritiamque an) nicht ſtehen.
(i) L. 11 C. de leg. (1. 14.),
von Leo und Zeno.
(k) L. 12 § 1 C. de leg.
(1. 14.).
(l) „In veteribus legibus in-
venimus dubitatum.“ Damit
können wohl nur Stellen alter
Juriſten gemeynt ſeyn: vielleicht
Stellen aus der erſten Zeit der
Kaiſerregierung, als die bin-
dende Kraft der Reſcripte noch
|0358 : 302|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
gehenden Geſetzauslegungen verbindliche Kraft haben.
Dieſer ſpitzfindige Zweifel iſt aber ganz lächerlich, und
wird durch gegenwärtige Vorſchrift beſeitigt. Jede vom
Kaiſer ausgehende Geſetzauslegung, ſie mag erfolgen in
einem Reſcript (sive in precibus), oder in einem Kaiſer-
lichen Urtheil (sive in judiciis) (m), oder auf irgend eine
andere Weiſe (alſo z. B. in einem authentiſch interpreti-
renden Geſetz) ſoll als bindend und unfehlbar gelten. Denn
da in der gegenwärtigen Verfaſſung der Kaiſer allein Ge-
ſetze geben kann, ſo kann auch nur er ſie auslegen. Warum
würde auch ſonſt von allen über ein Geſetz zweifelnden
Richterbehörden bey ihm angefragt, wenn nicht er allein
die Befugniß zur Auslegung hätte? (n). Oder wer könnte
die Dunkelheiten der Geſetze wegräumen, als der welcher
allein Geſetze geben kann? Hinfort mögen alſo alle lächer-
liche Zweifel ſchwinden, und es ſoll der Kaiſer als ein-
ziger Geſetzgeber nicht nur, ſondern auch als einziger In-
terpret anerkannt werden. Doch ſoll dieſe Vorſchrift dem
Recht keinen Abbruch thun, welches hierin den alten Ju-
nicht unzweifelhaft anerkannt war,
alſo gewiß älter als Gajus.
(m) Die Worte laſſen eine
zwiefache Deutung zu. Preces
kann alle Reſcripte bedeuten,
Judicia die Decrete, ſo daß für
die übrigen Arten die Edicte und
Mandate übrig bleiben. Man
kann aber auch Preces auf die
Privatreſcripte beſchränken, ſo
daß Judicia neben den Decreten
auch noch die Reſcripte im Con-
ſultationenproceß umfaßte. Die
erſte Erklärung ſcheint mir jedoch
einfacher und natürlicher, um ſo
mehr da das Principium der Stelle
blos von Decreten handelt, alſo
dieſe beſonders heraushebt.
(n) „Si non a nobis inter-
pretatio mera procedit?“
|0359 : 303|
§. 47. Ausſprüche des Römiſchen Rechts.
riſten von den Kaiſern verliehen worden iſt“ (o). — In
dieſer Verordnung liegen zwey ganz verſchiedene Sätze:
erſtlich die verbindliche Kraft der Kaiſerlichen Auslegung, in
welcher Form ſie auch geſchehe; zweytens das Verbot jeder
Privatauslegung. Dieſes letzte iſt nun eigentlich das Neue
und Wichtige; aber auch das erſte bedarf noch einiger
Erläuterung. In dieſer Hinſicht will hier Juſtinian au-
genſcheinlich nichts Neues vorſchreiben, ſondern nur das
einſchärfen und gegen nichtige Zweifel ſichern, was ſich
eigentlich ohnehin von ſelbſt verſtehe. Darum beſtimmt
er hier auch Nichts über die Art der Wirkſamkeit dieſer
Kaiſerlichen Auslegungen, ſondern er läßt es hierin ganz bey
der bisherigen Verfaſſung. Alſo die Auslegung in einem
Edict ſollte bindend ſeyn für Alle, ſo wie jedes Geſetz:
die in einem Decret, wenn es ein Endurtheil war, gleich-
falls für Alle, alſo auch für künftige andere Fälle, wie
es das Principium dieſer Stelle feſtſetzt: die in einem
Interlocut nur für dieſen einzelnen Fall: endlich die in
einem Reſcript (welches ja nie publicirt wurde) gleich-
falls nur für den einzelnen vorliegenden Fall. Es iſt alſo
durchaus unrichtig, wenn manche annehmen, die interpre-
tirenden Reſcripte ſollten nach dieſer Verordnung auch für
künftige andere Fälle Geſetzeskraft haben (§ 24), ſo wie
(o) Das heißt: „die in den
Schriften von Papinian u. ſ. w.
enthaltenen Auslegungen ſollen
noch ferner diejenige geſetzliche
Kraft haben, die ihnen die Ver-
ordnung von Valentinian III. bey-
legt.“ Dieſe Verordnung näm-
lich wurde erſt vier Jahre ſpäter,
durch die Promulgation der Di-
geſten, außer Kraft geſetzt.
|0360 : 304|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
es das Principium allerdings für die Decrete, wenn ſie
Endurtheile ſind, vorſchreibt: vergleicht man beide Theile
der Stelle mit einander, ſo kann man über die gänzliche
Verſchiedenheit des Ausdrucks, wie der Gründe der Be-
handlung beider Fälle, nicht zweifelhaft ſeyn.
Die zweyte Verordnung Juſtinians über die Auslegung
findet ſich mitten in dem Publicationspatent über die Di-
geſten vom J. 533, d. h. in L. 2 § 21 C. de vet. jure
enucl. (1. 17.). Sie ſteht in Verbindung mit dem Ver-
bot, juriſtiſche Bücher zu ſchreiben (§ 26), und ergänzt
daſſelbe auf folgende Weiſe: „Eigentliche Bücher, ins-
beſondere Commentare über die Geſetze, werden verboten.
Findet ſich aber irgend ein Zweifel über den Sinn eines
Geſetzes (p), ſo ſollen dieſen die Richter dem Kaiſer zur
Entſcheidung vortragen, denn dieſer iſt, wie der einzige
Geſetzgeber, ſo auch der einzige rechtmäßige Interpret (q).
§. 48.
Ausſprüche des Römiſchen Rechts über die Auslegung.
(Fortſetzung.)
Beide übereinſtimmende Geſetze ſind von ſo ſchroffem
Inhalt, daß man augenblicklich Bedenken haben könnte,
(p) „Si quid vero … ambi-
guum fuerit visum“ etc. Das
darf keinesweges blos von zwey-
deutigen Ausdrücken eines Ge-
ſetzes verſtanden werden, die ja
von Juſtinians Standpunkt aus
unmöglich als etwas Beſonderes
angeſehen werden konnten, ſon-
dern es bezeichnet Zweifel und
Schwierigkeiten jeder Art, alſo
alles Auslegungsbedürfniß über-
haupt, gerade wie die omnes
ambiguitates judicum in L. 12
§ 1 cit.
(q) „Cui soli concessum est le-
ges et condere et interpretari.“
|0361 : 305|
§. 48. Ausſprüche des Römiſchen Rechts. Fortſetzung.
ſie ganz buchſtäblich zu nehmen. Allein jeder Zweifel muß
verſchwinden vor der öfter wiederholten ausſchließenden
Befugniß des Kaiſers zur Auslegung, noch mehr aber
vor der ſtets wiederkehrenden Parallele zwiſchen Geſetzge-
bung und Auslegung: denn da gewiß Keiner als der Kaiſer
Geſetze geben konnte, ſo ſollte (wegen der völligen Gleich-
ſtellung beider Geſchäfte) auch Keiner als er ſie auslegen
dürfen. Und in der That lag darin nur eine conſequente
Durchführung deſſelben Grundſatzes, welcher auf das
Verbot jeder künftigen Rechtswiſſenſchaft führte (§. 26).
Zwar denken ließe ſich noch neben dieſem Verbot eine den
Richtern geſtattete freye Auslegung; daß es Juſtinian nicht
ſo gemeynt hat, iſt ganz klar aus der zweyten Verordnung,
welche gerade den Richtern für jeden Zweifel über den
Sinn eines Geſetzes die Anfrage bei dem Kaiſer ſchlecht-
hin zur Pflicht macht. Auch conſequenter war es ſo, wie
Juſtinian es wirklich einrichtete. Es ſollte nun Jedem,
der mit den Geſetzen in Berührung kam, Lehrer oder Rich-
ter, nur ein mechaniſches Verfahren erlaubt, jede freye
Geiſtesthätigkeit ſchlechthin verboten ſeyn. Alle dieſe Vor-
ſchriften waren ſichtbar aus Einem Stück. — Zwar könnte
man es für inconſequent halten, daß Juſtinian zugleich
vorſchreibt, bey ſcheinbaren Widerſprüchen subtili animo
eine Vereinigung zu ſuchen (§ 44); allein dieſes darf bei
ihm nicht als ſcharfſinnige Auslegung gedacht werden,
die gewiß nicht in ſeinem Sinne iſt, ſondern als ein Her-
umſuchen nach einem verſteckten Wort, worin die Ver-
20
|0362 : 306|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
ſchiedenheit der Fälle angedeutet werde, folglich wieder
als ein blos mechaniſches Geſchäft. Ferner könnte es
inconſequent ſcheinen, daß in die Digeſten ſo viele in einem
weit freyeren Sinn gedachte Anweiſungen zur Auslegung
aufgenommen ſind, wenn der Richter dieſe nicht ſollte au-
wenden dürfen. Allein ſtehen nicht neben dieſen Anwei-
ſungen auch Regeln über die Abfaſſung der Geſetze (a)?
Und doch wollte Juſtinian damit gewiß nicht ſeinen Un-
terthanen eine Theilnahme an der Geſetzgebung anbieten.
Jene und dieſe Regeln ſollten zunächſt ankündigen, in
welcher Weiſe der Kaiſer Geſetze geben und auslegen
werde: dann auch zugleich als Anweiſung dienen für die-
jenigen Beamten, die in dieſen Geſchäften von ihm ge-
braucht werden würden. Darin lag alſo keine Inconſequenz.
Unſere Schriftſteller freylich haben für dieſe Verord-
nungen folgende mildere Deutung verſucht. Die wahre,
auf hermeneutiſchen Regeln beruhende, Auslegung ſoll
völlig frey geblieben ſeyn. Nur bey ganz unverſtändli-
chen, verzweifelten Geſetzen, bey welchen alle Hermeneu-
tik nicht anſchlagen will, ſollen jene Verordnungen die
Auslegung für ein kaiſerliches Reſervat erklären (b). Allein
(a) L. 3. 4. 5. 6. 7. 8. de leg.
(1. 3.). L. 2 de const. princ.
(1. 4.).
(b) Thibaut logiſche Ausle-
gung S. 25. 47. 112. Hufeland
Geiſt des Römiſchen Rechts I.
S. 121. Mühlenbruch I. §. 54.
— Hufeland hat noch das Eigen-
thümliche, daß er dieſe Erklärung
auf L. 2 § 21 cit. beſchränkt; die
L. 12 § 1 cit. dagegen erklärt er
S. 46—51 ſo, daß das Verbot
nur für den Fall gelten ſoll, wenn
der Kaiſer bereits wirklich aus-
gelegt hat. Von dieſer Beſchrän-
kung enthält aber die Stelle keine
Spur, ja ſie wird völlig wider-
legt durch den Grund, wodurch
|0363 : 307|
§. 48. Ausſprüche des Römiſchen Rechts. Fortſetzung.
zuvörderſt glaube ich nicht, daß es Geſetze giebt, woran
die Auslegungskunſt gänzlich verzweifeln müßte. Beſon-
ders aber im Munde von Juſtinian iſt eine Verordnung
dieſes Inhalts ganz undenkbar. Juſtinian iſt von dem
Selbſtgefühl wegen des glänzenden Erfolgs ſeiner Unter-
nehmung ſo durchdrungen, daß er beſtimmt erklärt, ſeine
Geſetzbücher enthielten durchaus keine Widerſprüche, die
doch bey dem größten Fleiße ſchwer zu verhüten waren.
Und er ſollte daneben annehmen, in dieſen vollkommenen
Geſetzbüchern fänden ſich ganz unverſtändliche, alſo äu-
ßerſt ſchlechte Geſetze? Er ſollte dieſen Fall als ſo wich-
tig und häufig anſehen, daß er es nöthig fände, in zwey
verſchiedenen Jahren darüber Verordnungen zu erlaſſen?
Alle allgemeine Betrachtungen alſo machen dieſe Erklä-
rung ganz verwerflich: unglaublich ſchwach aber ſind die
ſpeciellen Gründe, die man zu ihrer Rechtfertigung ange-
führt hat. In L. 9 C. de leg., ſagt man, ſteht: si quid ..
obscurius fuerit; das bezeichne eine undurchdringliche Dun-
kelheit. Allein, abgeſehen davon, daß der Ausdruck ge-
rade nicht in Juſtinians eigenen Verordnungen vorkommt,
von deren Sinn hier allein die Rede iſt, hat auch dieſer
abſolut gebrauchte Comparativ vielmehr eine mildernde
Bedeutung; es heißt: einigermaßen dunkel, nicht ganz klar.
Ferner, ſagt man, nennt die ältere Verordnung das, was
die Vorſchrift außer Zweifel ge-
ſetzt werden ſoll: „wozu die An-
fragen, wenn nicht der Kaiſer
allein zur Auslegung berufen
wäre?“ Zur Zeit einer Anfrage
hatte der Kaiſer gewiß noch nicht
ausgelegt.
20*
|0364 : 308|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Quellen des heutigen R. R.
ſie dem Kaiſer vorbehält: legum aenigmata solvere; das
heiße: das unerklärliche erklären. Allein im Begriff des
Räthſels liegt ſo wenig die Unauflöslichkeit, daß vielmehr
die Räthſel nur zum Zweck der Auflöſung erfunden zu
werden pflegen. Auch iſt es aus anderen Stellen von
Juſtinian klar, daß in ſeiner etwas ſchwülſtigen Sprache
aenigma jede Schwierigkeit, keinesweges blos die unbe-
zwingliche, bezeichnet (c). Jene Erklärung der Juſtinia-
niſchen Verordnungen erſcheint alſo von allen Seiten ſo
ganz unhaltbar, daß deren treffliche Vertheidiger gewiß
nicht ihre Zuflucht dazu genommen hätten, wären ſie nicht
durch das Gefühl der äußerſten Noth dazu getrieben wor-
den; von dieſer Noth aber und von den Hülfsmitteln da-
gegen kann erſt in dem folgenden §. die Rede ſeyn.
Nachdem jetzt der Sinn von Juſtinians Vorſchriften
feſtgeſtellt worden iſt, muß noch hinzugefügt werden, wie
er ſich die Ausführung dachte, wodurch ſie ins Leben tre-
ten ſollten. Das iſt klar, daß bey jedem Zweifel über
(c) In L. un. C. de nudo j.
quir. (7. 25.) heißt es: nec jure
Quiritium nomen quod nihil ab
aenigmate discrepat. Wir ken-
nen den Sinn dieſes Kunſtaus-
drucks ſchon durch Ulpian ganz
leidlich, ſeit Gajus noch viel beſ-
ſer; in Juſtinians Zeit, wo man
ſo viele vollſtändige Institutiones
u. ſ. w. hatte, war die Schwie-
rigkeit noch weit geringer. —
Eben ſo verbietet L. 1 § 13 C.
de vet. j. enucl. (1. 17.) die
siglorum compendiosa aenig-
mata. Die Bedeutung der Siglen
aber konnte man von jedem Ab-
ſchreiber erfahren, auch gab es
ſchon damals Schriften, worin ſie
erklärt waren, namentlich die des
Valerius Probus. — In beiden
Stellen alſo heißt aenigma nicht
etwas Unerforſchliches, ſondern
etwas das man lernen muß, das
man nicht ſchon durch die tägli-
che Erfahrung, alſo nicht ohne
einige Anſtrengung, kennen lernt.
|0365 : 309|
§. 48. Ausſprüche des Römiſchen Rechts. Fortſetzung.
den Sinn eines Geſetzes angefragt werden ſollte. Dieſe
Anfragen aber ſollten nicht etwa zu authentiſchen Ausle-
gungen durch Edicte führen, ſondern nur zu Reſcripten,
die für den vorliegenden Fall bindende Kraft hatten, nicht
weiter. Und dieſer Zuſtand der Dinge ſcheint ſich auch
in der folgenden Zeit unverändert erhalten zu haben. Denn
als Juſtinian, Acht Jahre nach Einführung der Digeſten,
die Privatreſcripte in der Novelle 113 für unverbindlich
erklärte (§ 24), ſetzte er ausdrücklich hinzu, die Anfragen
und Reſcripte wegen Geſetzauslegung ſollten wie bisher
fortbeſtehen. Noch ſpäter (im J. 544) verbot die No-
velle 125 auch die Conſultationen (§ 24), und zwar ohne
jenen ausdrücklichen Vorbehalt. Dennoch muß derſelbe
ſtillſchweigend hinzugedacht werden. Denn es iſt völlig
undenkbar, daß Juſtinian die Privatauslegung, die er wie-
derholt und auf die feyerlichſte Art verboten hatte, nun-
mehr indirect und gleichſam verſtohlnerweiſe wieder frey
gegeben haben ſollte. Ohne Zweifel alſo gieng das Ver-
bot nur auf die eigentlichen Conſultationen, die den Kai-
ſer veranlaßten den Rechtsſtreit ſelbſt zu entſcheiden, alſo
anſtatt des Richters (ſo wie es unſre Facultäten thun)
ein Urtheil abzufaſſen. Die Anfragen wegen Geſetzausle-
gung ſollten dadurch nicht berührt ſeyn.
Indeſſen iſt dieſer von Juſtinian klar vorgeſchriebene
Geſchäftsgang nicht ohne praktiſche Schwierigkeit. Man
könnte denken, er hätte durch Anfragen ſo überhäuft wer-
den müſſen, daß an übriges Regieren kaum mehr zu den-
|0366 : 310|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
ken geweſen wäre. Täuſchen wir uns dabey nicht durch
die Wahrnehmung, daß auch die nicht beſonders gelehr-
ten unter unſern Richtern ſich dennoch mit Juſtinians Ge-
ſetzen leidlich genug zurecht finden. Ihnen ſteht zur Seite
die freundliche Hülfe irgend eines Collegienheftes oder Lehr-
buches, welches ihnen die genießbare Frucht einer ſieben-
hundertjährigen Arbeit und Überlieferung auf die gemäch-
lichſte Weiſe darbietet. Denken wir uns nun aber dieſe
Arbeit von Sieben Jahrhunderten hinweg, und dann dem
Corpus Juris gegenüber, blos auf eigene perſönliche Kraft
verwieſen, einen ungelehrten Richter, wie ſie alle ſeyn
würden, wenn Juſtinians Vorſchriften über die Rechts-
wiſſenſchaft bisher befolgt worden wären. Ich glaube,
bey einem ſolchen Richter, wenn er nur gewiſſenhaft wäre,
würden wenige Gerichtstage vergehen ohne Anfragen bey
dem Geſetzgeber, der aber dann in einem großen Lande
die Arbeit nicht mehr bezwingen könnte, die blos dazu er-
fordert würde, die Maſchine der Rechtspflege im täglichen
Gang zu erhalten. Dennoch muß ſich dieſer Erfolg in
Juſtinians Reich nicht gezeigt haben; ſonſt hätte er ſchwer-
lich noch Acht Jahre nach Einführung der Digeſten die
Vorſchrift der Anfragen zum Zweck der Auslegung wie-
derholen können (d), da man in dieſer Zeit doch hinrei-
chende Erfahrungen geſammelt haben konnte. Dieſe auf-
fallende Erſcheinung erklärt ſich daraus, daß nicht ſelten
ganz entgegengeſetzte Kräfte zu demſelben Ziele führen
(d) Nov. 113. C. 1 pr. von 541.
|0367 : 311|
§. 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Ausſprüche.
können. Geiſt und Kenntniß werden bey dem Richter,
dem die Auslegung geſtattet iſt, nicht einmal das Bedürf-
niß einer Anfrage entſtehen laſſen. In Juſtinians Reich
mögen ſich die Richter, denen er die Auslegung verboten
hatte, durch Gedankenloſigkeit und Willkühr geholfen ha-
ben, ohne zu häufigeren Anfragen zu ſchreiten, als der
Kaiſer zu erledigen im Stande war.
§. 49.
Praktiſcher Werth der Römiſchen Ausſprüche
über die Auslegung.
Nachdem die Beſtimmungen des Römiſchen Rechts über
die Auslegung dargeſtellt worden ſind (§ 47. 48), iſt nun
zu unterſuchen, welchen Werth dieſelben, da wo über-
haupt Römiſches Recht gilt, für uns haben. Dieſe Frage
iſt offenbar verwandt mit der gleichnamigen, ſchon oben
beantworteten, Frage über die Rechtsquellen (§ 27), aber
zugleich auch von ihr verſchieden. Denn dort war die
Rede von der Erzeugung des Rechts, die an ſich dem
öffentlichen Rechte angehört; hier iſt die Rede von der
Aufnahme deſſelben, alſo von dem Verhalten der Einzel-
nen ihm gegenüber, und warum ſollte nicht dafür, ſo gut
wie für alles Andere was die Einzelnen betrifft, das Rö-
miſche Recht die Regel darbieten können?
Nur müßte dabey ſchon aus formellen Gründen Eine Ju-
ſtinianiſche Conſtitution, die L. 3 C. de vet. jure enucleando,
ausgeſchloſſen bleiben, weil dieſe unter die reſtituirten Stel-
|0368 : 312|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Quellen des heutigen R. R.
len gehört (§ 17). Indeſſen iſt dieſe Ausſchließung ganz
unerheblich, da jene Stelle doch nur die griechiſche Ab-
faſſung der unmittelbar vorhergehenden (L. 2 eod.) iſt,
alſo keinen eigenen, von dieſer verſchiedenen Inhalt hat.
Ein Theil der Stellen nun, welche man hierher zu
rechnen pflegt, muß ohne allen Zweifel als entſcheidend
anerkannt werden; ich meyne diejenigen Verordnungen Ju-
ſtinians, worin er ſich über die Beſtimmung ſeiner Rechts-
bücher und ihrer einzelnen Beſtandtheile ausſpricht. Wenn
er z. B. ſagt, die Stellen der Juriſten in den Digeſten,
und die Reſcripte im Codex, ſollten nicht als bloße Be-
lehrungen, ſondern als wahre, von ihm ſelbſt ausgehende
Geſetze angeſehen werden, ſo iſt das weniger eine Ausle-
gungsregel, als vielmehr Stück des Publicationspatentes;
denn es betrifft nicht eigentlich das was wir zu thun ha-
ben, ſondern den Sinn deſſen was er ſelbſt thut. Etwas
ähnliches freylich, nur in viel entfernterer Weiſe, ließe
ſich auch von den eigentlichen Auslegungsregeln ſagen,
da dieſelben in der That folgenden Sinn haben: „alle
Stellen der Digeſten und des Codex ſollen verſtanden wer-
den nach den hier gegebenen Auslegungsregeln, denn un-
ter Vorausſetzung dieſer Regeln habe ich die Stellen ſelbſt
aufgenommen. Eben ſo ſollen verſtanden werden meine
künftigen Geſetze, und die Geſetze meiner Nachfolger, da
wir unſre geſetzgebende Gewalt ſtets in dieſer Voraus-
ſetzung ausüben werden.“ Dann wären die Auslegungs-
regeln in Beziehung auf jede einzelne Stelle gewiſſerma-
|0369 : 313|
§. 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Ausſprüche.
ßen ſelbſt ſchon eine Art authentiſcher Interpretation.
Dieſe Anſicht würde dann ferner zu folgender Unterſchei-
dung führen. Die Römiſchen Auslegungsregeln wären
anwendbar und geſetzlich bindend für Juſtinians Rechts-
bücher, für ſeine Novellen, und für die Geſetze der fol-
genden griechiſchen Kaiſer (wenn dieſe von uns recipirt
wären); ſie wären aber nicht anwendbar für das cano-
niſche Recht, die Reichsgeſetze, und unſere Landesgeſetze.
Denn Juſtinian konnte doch unmöglich, wie durch ein le-
gislatives Fideicommiß auf ewige Zeiten, beſtimmen wol-
len, in welchem Sinn künftig Päbſte, deutſche Kaiſer,
oder deutſche Landesfürſten, ihre geſetzgebende Gewalt
ausüben würden (a).
So ſteht die Sache nach einer allgemeinen, blos for-
mellen, Betrachtung, und den Römiſchen Auslegungsre-
geln wäre dadurch ein ſehr ausgedehntes Gebiet der Herr-
ſchaft geſichert, nämlich über Juſtinians Rechtsbücher, wel-
ches gerade der wichtigſte Fall der Anwendung iſt. Allein
ſehen wir auf den beſonderen Inhalt jener Regeln, ſo
kommen wir vielmehr zu der Überzeugung, daß ſie auch
ſelbſt in dieſer Anwendung eine geſetzlich bindende Kraft
(a) Die Vergleichung mit fol-
gendem Fall entgegengeſetzter Art
wird dieſes noch anſchaulicher ma-
chen. In das Preußiſche Land-
recht hat K. Friedrich Wilhelm II.
Regeln über die Auslegung auf-
nehmen laſſen. Dieſe gelten für
das Landrecht ſelbſt, für ſpätere
Geſetze deſſelben Königs, und für
alle Geſetze ſeiner Nachfolger.
Denn ſein Geſetz iſt auch für die
Ausübung der Regentengewalt
ſeiner Nachfolger ſo lange ver-
bindend, bis ſie es wieder auf-
gehoben haben. Auch hier alſo
iſt immer wieder entſcheidend der
Gegenſatz des öffentlichen Rechts
und des Privatrechts.
|0370 : 314|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
nicht haben. Die wichtigſte unter allen dieſen Regeln iſt
unſtreitig die, welche wir in beiden Verordnungen von
Juſtinian finden (§ 47. 48); ſie ſagt uns ganz deutlich,
wie wir auslegen ſollen, nämlich gar nicht. Gerade dieſe
wichtigſte Regel aber können wir als Geſetz aus zwey
Gründen nicht anerkennen.
Erſtens weil ſie in unzertrennlicher Verbindung ſteht
mit Juſtinians Verbot, juriſtiſche Bücher zu ſchreiben (§ 26).
Dieſe Verbindung erhellt nicht blos aus dem Inhalt und
Zweck beider Vorſchriften, ſondern auch aus ihrer Faſ-
ſung, indem ſie in der neueren Verordnung unmittelbar
neben einander ſtehen, und zwar ſo, daß die eine als
Folge und nähere Beſtimmung der anderen ausgedrückt
wird. Da nun das Verbot der rechtswiſſenſchaftlichen
Bücher als Geſetz für uns nicht gilt (§ 27), ſo kann
auch das der Auslegung nicht gelten; denn wollten wir
dieſes, herausgeriſſen aus ſeinem Zuſammenhang, einzeln
gelten laſſen, ſo wäre es ja in der That nicht mehr Ju-
ſtinians Vorſchrift, ſondern etwas das wir daraus will-
kührlich gemacht hätten, und worin ſich blos der wört-
liche Schein ſeiner Vorſchrift wiederfände.
Zweytens weil ihre Ausführung für uns nicht etwa
ſchwierig, ſondern völlig unmöglich iſt. Denn Juſtinian
macht die Auslegung der Richter entbehrlich durch kaiſer-
liche Reſcripte, eine ſolche Anſtalt aber findet ſich in kei-
nem neueren Staate. Man täuſche ſich nicht durch die
|0371 : 315|
§ 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Ausſprüche.
Aushülfe eines authentiſch erklärenden Geſetzes (b); ein
ſolches zu bewirken hat kein Richter die Macht, bis zu
ſeiner Erſcheinung mit dem Urtheil zu warten hat er
nicht das Recht, vor Allem aber wäre es nicht das was
Juſtinian will, ſondern etwas ganz Anderes. Eben ſo
täuſche man ſich nicht durch die Verweiſung auf eine Ge-
ſetzcommiſſion oder auf ein Juſtizminiſterium, welche aller-
dings in manchen Staaten ſolche Belehrungen zu ertheilen
pflegen (c); denn auch dieſes iſt etwas ganz Anderes, und
daß es bey Juſtinian mit der perſönlichen Einwirkung des
Kaiſers auf die Auslegung wahrer Ernſt war, geht aus
dem, was wir von ſeiner Perſon wiſſen, deutlich genug
hervor. Glauben wir aber einmal, uns über Juſtinians
wirkliche Vorſchrift durch irgend ein Surrogat wegſetzen
zu dürfen, warum wollten wir dann auf halbem Wege
ſtehen bleiben, und nicht lieber unſere natürliche Freyheit
der Auslegung geltend machen?
Das Gefühl dieſes Nothſtandes war es, was die oben
(§ 48) angegebene höchſt gewaltſame Erklärung von Ju-
ſtinians Verordnungen veranlaßte; allein eine Rechtferti-
(b) Thibaut Abhandlungen
S. 102. Vgl. dagegen Löhr,
Magazin III. S. 208, der nur
mit Unrecht daran Anſtoß nimmt,
daß die authentiſche Auslegung
dann eine rückwirkende Kraft er-
halten müßte. Dieſe hat ſie aber
jederzeit ohnehin, wie unten ge-
zeigt werden wird. Vgl. einſt-
weilen Nov. 143 pr.
(c) Eine ſolche, mit bindender
Kraft interpretirende, Geſetzcom-
miſſion beſtand vormals im Preu-
ßiſchen Staate, iſt aber ſpäter-
hin aufgehoben worden. Vergl.
unten § 51 Note c. Hier iſt
jedoch von Ländern des gemei-
nen Rechts die Rede.
|0372 : 316|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
gung für ein ſo ganz willkührliches Verfahren liegt darin
nicht. Beſſer war es unſtreitig zu ſagen, Juſtinian habe
die Privatauslegung in der That verboten, aber ein all-
gemeines Gewohnheitsrecht habe dieſes Verbot wieder auf-
gehoben (d). Wenigſtens kommt ſchwerlich in der ganzen
Rechtsgeſchichte ein Beyſpiel vor, worin eine allgemeine
Gewohnheit ſo unzweifelhaft wäre, als die der Privat-
auslegung von Irnerius an bis auf unſre Tage. Von
unſerm Standpunkt aus können wir freylich eine ſolche
derogirende Gewohnheit nicht annehmen, da wir der Rö-
miſchen Vorſchrift ſchon an ſich ſelbſt keine Anwendbarkeit
beylegen. Und eben dieſe Behauptung wird nun gerade
durch die nachgewieſene Unmöglichkeit der Ausführung voll-
kommen beſtätigt. Denn dieſe Unmöglichkeit gründet ſich
lediglich darauf, daß Juſtinian ſelbſt ſein Verbot in un-
zertrennliche Verbindung mit einer jetzt verſchwundenen
Staatsanſtalt, den kaiſerlichen Reſcripten, geſetzt hat.
Dadurch hat er daſſelbe zu einem Stück des öffentlichen
Rechts gemacht, und darum müſſen wir deſſen heutige
Anwendbarkeit ſchon nach allgemeinen Grundſätzen vernei-
nen (§ 1. 17.). — Vergleichen wir den letzten Erfolg der
hier aufgeſtellten Anſicht mit dem, welcher aus jener ge-
waltſamen Erklärung von Anderen hergeleitet wird, ſo
(d) Ungefähr in dieſer Art
nimmt es Zachariä Hermeneu-
tik S. 164, nur noch mit dem
unrichtigen Zuſatz, das Juſtinia-
niſche Recht ſelbſt ſey in dieſem
Punkt ſchwankend, indem einige
Stellen die Auslegung zuließen,
andere ſie unterſagten; dieſes
Schwanken ſey durch unſre Praxis
zu Gunſten der Zuläſſigkeit ent-
ſchieden.
|0373 : 317|
§. 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Ausſprüche.
ſind beide in der That nicht verſchieden. Jene laſſen Ju-
ſtinians Verbote als Geſetze gelten, beſchränken ſie aber
auf den gar nicht exiſtirenden Fall völlig ſinnloſer Ge-
ſetze. Hier iſt der Sinn der Verbote in ſeiner vollen Aus-
dehnung anerkannt, zugleich aber ihre heutige Anwendbar-
keit gänzlich geläugnet worden.
Alle dieſe Gründe betreffen nur Juſtinians Verbot der
Auslegung; die in den Digeſten enthaltenen Regeln könn-
ten an ſich auch für uns mit geſetzlicher Kraft beſtehen.
Doch halte ich es für conſequenter, auch ihnen dieſe Kraft
abzuſprechen, und alſo die verſchiedenen Beſtimmungen des
Juſtinianiſchen Rechts über die Auslegung als untrennbar
ſtehen und fallen zu laſſen. Jede Trennung dieſer Art
iſt ſtets eine halbe Maaßregel: ſcheinbare Aufrechthaltung
bey weſentlicher Umbildung; denn wer kann ſagen, welche
ganz andere Regeln Juſtinian gut gefunden hätte, wenn
ihm überhaupt die Privatauslegung als zuläſſig erſchienen
wäre? Von praktiſcher Wichtigkeit iſt dieſe Frage übri-
gens nicht. Denn ganz neue Vorſchriften über die Aus-
legung, wodurch unſre allgemeinen Anſichten poſitiv um-
gebildet würden, finden ſich in den Digeſten nicht; durch
unſre Behauptung aber ſoll weder ihnen das Anſehen ei-
ner Achtung gebietenden Autorität, noch uns die Beleh-
rung, die wir aus ihnen ſchöpfen können, entzogen wer-
den. Auch ſind ſie von mir auf ſolche Weiſe, neben der
hier verſuchten Theorie der Auslegung, ſchon bisher be-
nutzt worden.
|0374 : 318|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
§. 50.
Anſichten der Neueren von der Auslegung (a).
Von abweichenden Anſichten neuerer Schriftſteller iſt
ſchon neben meiner eigenen Darſtellung häufig die Rede
geweſen. Am Schluſſe ſollen dieſelben noch in einigen
Hauptpunkten zuſammengeſtellt werden, welche auf dieſe
Lehre im Ganzen beſonderen Einfluß ausüben.
Dahin gehört zuerſt der faſt allgemein herrſchende Be-
griff der Auslegung als einer Erklärung dunkler Ge-
ſetze (b). Indem hier ein zufälliger und zwar mangelhaf-
ter Zuſtand der Geſetze zur Bedingung ihres Daſeyns ge-
macht wird, erhält ſie ſelbſt die zufällige Natur einer blo-
ßen Abhülfe von einem Übel, woraus von ſelbſt folgt,
daß ſie in demſelben Verhältniß entbehrlicher werden muß,
als die Geſetze vollkommner werden (c). — Nun wird
Niemand läugnen, daß bey dunklen Geſetzen die Ausle-
(a) Ich führe hier folgende
Schriftſteller an, die theils be-
ſonders reichhaltiges Material dar-
bieten, theils als Repräſentanten
der gangbarſten Meynungen gel-
ten können: Chr. H. Eckhard
hermeneutica juris ed. C. W.
Walch Lips. 1802. 8. — Thi-
baut Theorie der logiſchen Aus-
legung des R. R. 2te Ausg. Al-
tona 1806. 8. — Mühlenbruch I.
§ 53—67. — Vorzüglich frey von
herrſchenden Vorſtellungen, und
reich an eigenen Gedanken, iſt
hier wie anderwärts Donellus I.
13. 14. 15.
(b) Forster de j. interpret.
I. 1. Hellfeld § 29. Hofacker I.
§ 149. 151. 152. (Hübner) Be-
richtigungen und Zuſätze zu Höpf-
ner S. 173. Hufeland Lehr-
buch des Civilrechts I. § 28. —
Die Römer ſahen die Sache an-
ders an. L. 1 § 11 de inspic.
ventre. (25. 4.). „Quamvis sit
manifestissimum Edictum Prae-
toris, attamen non est negli-
genda interpretatio ejus.”
(c) Wörtlich erklärt dieſes Za-
chariä Hermeneutik S. 160.
|0375 : 319|
§. 50. Anſichten der Neueren.
gung beſonders wichtig und nöthig iſt, und daß ſich bey
ihnen die Kunſt des Auslegers oft beſonders glänzend zei-
gen kann: auch beſchäftigt ſich aus dieſem Grunde der
größere Theil der hier aufgeſtellten Regeln mit dem Fall
mangelhafter Geſetze (§ 35 fg.). Allein zwey Betrach-
tungen laſſen uns dennoch jene Faſſung des Grundbegriffs
als zu beſchränkt und für die ganze Lehre nachtheilig er-
ſcheinen. Erſtens iſt eine gründliche und erſchöpfende Be-
handlung des kranken Zuſtandes unmöglich, wenn nicht
die Betrachtung des geſunden, auf welchen jener zurück
geführt werden ſoll, zum Grunde gelegt wird. Zweytens
verſchwindet uns durch jene Faſſung des Begriffs gerade
die edelſte und fruchtbarſte Anwendung der Auslegung,
welche darauf ausgeht, bey nicht mangelhaften, alſo nicht
dunklen Stellen den ganzen Reichthum ihres Inhalts und
ihrer Beziehungen zu enthüllen; ein Verfahren, welches
beſonders bey den Digeſten von ſo großer Wichtigkeit iſt.
— Wenn man übrigens dieſe willkührliche Beſchränkung
der Auslegung auf dunkle Geſetze zuſammenhält mit der
oben angeführten Meynung, nach welcher wiederum ſehr
dunkle Geſetze durch Juſtinian der Auslegung entzogen
ſeyn ſollen (§ 48), ſo ergiebt ſich daraus die ſonderbare
Folge, daß Geſetze weder zu klar noch zu dunkel ſeyn dür-
fen, daß ſie ſich vielmehr auf einem ſchmalen Raume mit-
telmäßiger Dunkelheit befinden müſſen, um als Gegen-
ſtände der Auslegung gelten zu können.
Zweytens gehört dahin die das ganze Gebiet beherr-
|0376 : 320|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
ſchende Eintheilung der Auslegung in grammatiſche und
logiſche (d). Dieſe werden nicht etwa gedacht als Ele-
mente jeder Auslegung, die überall zuſammen wirken müſ-
ſen, nur ſo, daß nach Umſtänden bald das eine, bald
das andere Element ergiebiger werden kann (§ 33), ſon-
dern vielmehr als entgegengeſetzt und einander ausſchlie-
ßend. Die grammatiſche ſoll nur nach dem Wortverſtand,
die logiſche nur nach der Abſicht oder dem Grunde des
Geſetzes verfahren: die grammatiſche ſoll als Regel gel-
ten, die logiſche nur ausnahmsweiſe zugelaſſen werden.
In dieſer Entgegenſetzung war nur das Eine deutlich ge-
dacht und allgemein angenommen, die logiſche Auslegung
ſey eine ſolche, die ſich nicht geringe Freyheiten heraus-
nehme, und die man daher ſehr unter Aufſicht halten
müſſe: im Überigen wurde das Verſchiedenartigſte unter
dieſem Ausdruck zuſammengeſtellt. So galt als logiſche
Auslegung die Berichtigung des Ausdrucks nach dem wirk-
lichen Gedanken des Geſetzes (§ 35 fg.): aber auch die
Ergänzung nach Analogie: und endlich noch ein drittes,
wovon ſogleich weiter die Rede ſeyn ſoll. — Iſt nun die
eben gegebene Darſtellung der in der Auslegung vorkom-
menden Aufgaben richtig und erſchöpfend, ſo muß jene
Eintheilung von ſelbſt aufgegeben werden, deren Aufſtel-
lung und Bezeichnung den Gegenſtand gewiß mehr ver-
dunkelt als gefördert hat.
(d) Eckhard § 17. 23. Thi-
baut Pandekten 8te Ausg. § 45.
46. 50—52. Thibaut logiſche
Auslegung § 3. 7. 17—29.
|0377 : 321|
§ 50. Anſichten der Neueren.
Drittens, was das wichtigſte iſt, hat man in das Ge-
biet der Auslegung eine Behandlung der Geſetze gezogen,
die in der That als eine Abänderung derſelben betrachtet
werden muß, und die dennoch unter dem Namen der lo-
giſchen Auslegung mit befaßt wurde. Es iſt oben die
Rede geweſen von einer Berichtigung des Ausdrucks durch
Zurückführung auf den wirklichen Gedanken; hier wird
eine Berichtigung des wirklichen Gedankens ſelbſt verſucht
durch Zurückführung auf denjenigen Gedanken, den das
Geſetz hätte enthalten ſollen. Man geht nämlich auf den
Grund des Geſetzes zurück, und wenn es ſich findet, daß
derſelbe in ſeiner logiſchen Entwicklung auf Mehr oder
Weniger führt, als das Geſetz enthält, ſo wird dieſes
durch eine neue Art von ausdehnender oder einſchrän-
kender Auslegung verbeſſert. Dabey iſt es gleichgültig,
ob der Geſetzgeber mit Bewußtſeyn einen logiſchen Fehler
gemacht hat, oder ob er nur verſäumte, an die conſe-
quenten Anwendungen des Grundes zu denken, wodurch
man ihn jetzt berichtigt; in welchem letzten Falle man
alſo vorausſetzt, er würde unfehlbar eben ſo verfügt ha-
ben, wenn man ihn nur auf dieſe Conſequenzen aufmerk-
ſam gemacht hätte. — So erſcheint wenigſtens dieſes Ver-
fahren in vollſtändiger Durchführung. Es iſt indeſſen auch
mit der Modification geltend gemacht worden, daß zwar
eine Ausdehnung nach dem Grund des Geſetzes geſchehen
dürfe, aber niemals eine Einſchränkung (e); ein überzeu-
(e) Thibaut Pandekten § 51. 52.
Er geſtattet die Ausdehnung
21
|0378 : 322|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
gender Grund jedoch für dieſe Unterſcheidung möchte ſchwer-
lich angegeben werden können.
Indem nun bey dieſem Verfahren der Ausleger nicht
den bloßen Buchſtaben, alſo den Schein des Geſetzes, ſon-
dern den wirklichen Inhalt deſſelben zu verbeſſern unter-
nimmt, ſtellt er ſich über den Geſetzgeber, und verkennt
alſo die Gränzen des eigenen Berufs; es iſt nicht mehr
Auslegung die er übt, ſondern wirkliche Fortbildung des
Rechts (f). Eine ſolche Gränzverwirrung zwiſchen we-
ſentlich verſchiedenen Thätigkeiten iſt ein hinreichender for-
meller Grund, dieſe Art der Auslegung gänzlich zu ver-
werfen, und dem Richter, nach dem reinen Begriff ſeines
Amtes, die Befugniß dazu abzuſprechen. Dazu kommen
aber noch zwey in die Sache ſelbſt eingehende Bedenken.
Das erſte liegt in der häufigen Ungewißheit des Geſetz-
grundes (§ 34); wo nun über deſſen Natur ein Irrthum
leicht möglich iſt, da muß jenes Verfahren in gänzliche
Willkühr ausarten, und alle Rechtsſicherheit, wodurch au-
ßerdem die Geſetze ſo wohlthätig werden können, zerſtört
werden (g). Das zweyte Bedenken liegt in der Möglich-
in zwey verſchiedenen Fällen, nach
Grund und nach Abſicht; die Ein-
ſchränkung nur allein nach der Ab-
ſicht. — Er nennt überhaupt Ab-
ſicht das was ich als den wirkli-
chen Gedanken des Geſetzes be-
zeichne.
(f) Die Wahrnehmung dieſes
unbefugten Verfahrens ſchlug
dann bey Manchen zu der wie-
derum einſeitigen Abſicht um, nach
welcher alle Auslegung überhaupt
nicht dem Richter, ſondern dem
Geſetzgeber zuſtehe, der ſie aber
freylich delegiren könne. S. o.
§ 32 Note d.
(g) Das iſt der wahre Sinn
von L. 20. 21 de leg. (1. 3.).
„Non omnium, quae a majori-
bus constituta sunt, ratio reddi
|0379 : 323|
§ 50. Anſichten der Neueren.
keit von Mittelgliedern in der Gedankenreihe (§ 34), wo-
durch der Geſetzgeber ohne Inconſequenz beſtimmt werden
konnte, dem Geſetze ein weiteres oder engeres Gebiet an-
zuweiſen, als worauf der Grund des Geſetzes zu führen
ſchien. Man muß daher vorſichtig ſeyn gegen den täu-
ſchenden Schein logiſcher Sicherheit, womit dieſes Ver-
fahren angewendet zu werden pflegt (h). Nur wo dieſe
materielle Bedenken durch gründliche Forſchung gehoben
werden können, darf eine ſolche Ausdehnung oder Ein-
ſchränkung nach dem Grund des Geſetzes als conſequente
Fortbildung des Rechts (nicht als Auslegung) für zuläſſig
und räthlich gehalten werden. Einer ſolchen Fortbildung
aber ſteht auch ſelbſt die Natur eines anomaliſchen Rechts
nicht im Wege, obgleich dadurch die Anwendung der Ana-
logie für den Richter ausgeſchloſſen werden mußte (§ 46).
Daß dennoch bey den neueren Schriftſtellern dieſes
Verfahren als eine wahre Auslegung, und daher (mit
mehr oder weniger Beſchränkungen) als zuläſſig für den
Richter angenommen zu werden pflegt, erklärt ſich aus
der ſehr gewöhnlichen Verwechslung dieſes Falles mit
ſolchen ſcheinbar ähnlichen Fällen, worin ein freyeres Ver-
fahren allerdings erlaubt und nothwendig iſt. Dahin ge-
potest. — Et ideo rationes eo-
rum, quae constituuntur, inquiri
non oportet: alioquin multa ex
his, quae certa sunt, subver-
tuntur.” — Das inquiri non
oportet iſt nicht zu verſtehen als
Einſpruch gegen die Erforſchung
des Grundes an ſich, ſondern nur
inſoferne ſie dazu angewendet wer-
den ſoll, den wirklichen Inhalt
zu modificiren.
(h) Treffende Bemerkungen
hierüber finden ſich bey Stahl
Rechtsphiloſophie II. S. 177.
21*
|0380 : 324|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
hört erſtlich die wahre ausdehnende und einſchränkende
Auslegung, wodurch der wirkliche Inhalt des Geſetzes
nicht (wie hier) verbeſſert, ſondern nur dem Schein des
Buchſtabens gegenüber behauptet und vertheidigt wird
(§ 37). Ein zweyter ähnlicher Fall, womit jenes unrich-
tige Verfahren verwechſelt wird, iſt der der Analogie
(§ 46). In dieſem Fall aber fehlt es überhaupt an einer
Rechtsregel, welche daher durch künſtliche Erweiterung
der vorhandenen Rechtsquellen ergänzt werden ſoll; bey
jenem unrichtigen Verfahren dagegen iſt eine Rechtsregel
wirklich vorhanden, dieſe ſoll aber durch künſtliche Aus-
dehnung eines anderen Geſetzes von der Anwendung auf
den gegebenen Fall verdrängt werden. Der dritte Fall
endlich, welcher zu einer ſolchen Verwechslung Gelegen-
heit zu geben pflegt, iſt bisher noch gar nicht erwähnt
worden. Er bezieht ſich auf ſolche Handlungen, welche
ein Geſetz zwar nicht dem Buchſtaben, wohl aber dem
Geiſt nach, verletzen (in fraudem Legis). Daß auf ſolche
Handlungen das Geſetz bezogen werden muß, iſt unzwei-
felhaft (i). Man pflegt dieſes ſo zu denken, als müſſe zu
dieſem Zweck das umgangene Geſetz durch Auslegung aus-
(i) L. 29 de leg. (1. 3.). „Con-
tra legem facit, qui id facit quod
lex prohibet: in fraudem vero,
qui salvis verbis legis senten-
tiam ejus circumvenit.” L. 5
C. de leg. (1. 14.). „Non du-
bium est, in legem committere
eum, qui verba legis amplexus
contra legis nititur voluntatem.
Nec poenas insertas legibus
evitabit, qui se contra juris sen-
tentiam saeva praerogativa ver-
borum fraudulenter excusat.”
— L. 21 de leg. (1. 3.). L. 64.
§ 1 de condit. (35. 1.).
|0381 : 325|
§. 50. Anſichten der Neueren.
gedehnt werden. Wenn z. B. wucherliche Zinſen unter
dem Schein eines Kaufcontracts oder einer Conventional-
ſtrafe verſprochen werden, ſo nimmt man an, der Geſetz-
geber habe dieſe Fälle nur nicht bedacht: wäre er darauf
aufmerkſam gemacht worden, ſo würde er in einem Zuſatz
zum Wuchergeſetz auch dieſe Verträge verboten haben,
und da er es unterlaſſen, müßten wir jetzt ſeiner Unbe-
dachtſamkeit durch ausdehnende Auslegung zu Hülfe kom-
men. In der That aber ſteht die Sache ganz anders.
Wir haben nicht das Geſetz zu interpretiren, welches ganz
deutlich und zureichend iſt, ſondern die einzelne Hand-
lung (k). Wenden wir auf dieſe den Grundſatz der Si-
mulation an, ſo müſſen wir den ſcheinbaren Kauf oder
Strafvertrag als einen wirklichen Zinsvertrag behandeln,
und wir berichtigen alſo in dieſer Handlung durch unſer
Urtheil den Buchſtaben nach dem wirklichen Gedanken.
Es iſt im Weſentlichen daſſelbe Verfahren, welches in an-
deren Fällen bey Geſetzen anzuwenden iſt (§ 37). Nur
wird dieſes Verfahren bey Rechtsgeſchäften oft noch einen
höheren Grad von Sicherheit mit ſich führen. Denn bey
Geſetzen haben wir mit einer Ungeſchicklichkeit im Ge-
brauch des Ausdrucks zu thun, bey Rechtsgeſchäften im
vorliegenden Fall mit einer unredlichen Abſicht; dieſe aber
(k) Man könnte einwenden,
die Römiſchen Juriſten hätten die
Behandlung dieſes Falles wirk-
lich als Geſetzauslegung angeſe-
hen, wegen L. 64 § 1 de condit.
(35. 1.), „Legem enim .. ad-
juvandam interpretatione.” Al-
lein ſie brauchen den Ausdruck
interpretatio überhaupt in einem
ausgedehnteren Sinn, für jedes
wiſſenſchaftliche Verfahren (§ 47
Note d).
|0382 : 326|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
wird oft weit ſicherer aus den Umſtänden erkannt werden
als jene. — Außer dieſen Verwechslungen aber hat noch
ein anderer Umſtand zur Begünſtigung der hier darge-
ſtellten unrichtigen Auslegungsart beygetragen: das Bey-
ſpiel der Römiſchen Juriſten, die in der That dieſes Ver-
fahren anwenden, und dabey kein Bedenken finden. Allein
eine Rechtfertigung für uns liegt darin auf keine Weiſe.
Denn bey den Römern hängt es zuſammen mit der ganz
eigenthümlichen Stellung der Juriſten, die ihnen einen ſo
unmittelbaren Einfluß auf die Fortbildung des Rechts ge-
währte, wie er den unſrigen (ſeyen ſie Schriftſteller oder
Richter) nicht eingeräumt werden kann (l).
§. 51.
Ausſprüche der neueren Geſetzbücher über die
Auslegung.
Die neueren Geſetzbücher enthalten über die Auslegung
noch weit weniger Beſtimmungen als über die Rechtsquel-
len (§ 31). Das Franzöſiſche Geſetzbuch ſagt darüber gar
Nichts; aber die dem Richter gegebene unbedingte Vor-
ſchrift, über jeden Rechtsſtreit zu urtheilen ungeachtet der
Dunkelheit eines Geſetzes, und die eigenthümliche Stellung
des Caſſationshofes, machen es unzweifelhaft wie dieſer
Gegenſtand im Franzöſiſchen Recht gedacht iſt. Der Rich-
ter hat daſelbſt volle Freyheit der Auslegung, daneben
aber wird die Gewißheit und Einheit des Rechts gegen
(l) Vgl. oben § 19 und § 37 Note. q.
|0383 : 327|
§ 51. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher.
die Gefahr willkührlicher Auslegungen geſchützt durch den
über allen Gerichten ſtehenden Caſſationshof, welcher ſei-
nen belehrenden und zügelnden Einfluß auch da noch aus-
üben kann, wo die Regeln des Prozeſſes eine wirkſame
Abänderung des einzelnen Urtheils nicht mehr geſtatten.
Dieſe Löſung der Aufgabe würde völlig genügen, wenn
der Caſſationshof das Recht hätte, anſtatt eines caſſirten
Urtheils ein eigenes Urtheil zu ſprechen. Er darf aber
nur, nachdem er caſſirt hat, die Entſcheidung an ein an-
deres Gericht verweiſen, ſo daß ſich ein auf irrige Rechts-
ſätze gebautes Urtheil und deſſen Caſſation in derſelben
Rechtsſache mehrmals wiederholen kann. Dieſes umſtänd-
liche und koſtſpielige Verfahren iſt dadurch entſtanden, daß
in der alten Verfaſſung das Caſſationsverfahren gar nicht
vor einem Gericht, ſondern vor einer hohen Verwaltungs-
behörde (dem conseil du Roi) Statt fand, welche nur die
Geſetzverletzung verhüten, nicht ſelbſt Recht ſprechen ſollte.
Dieſer Grund iſt ſeit der Revolution verſchwunden, indem
nun ein beſonderer Caſſationshof beſteht, der ein förmli-
ches Gericht bildet, und gleiche Unabhängigkeit mit allen
anderen Gerichten genießt. Man hat in neueren Zeiten
geſucht, dem erwähnten Übel abzuhelfen. Die erſten Ver-
ſuche dazu waren allerdings nicht genügend (a). Weit
wirkſamer iſt das neueſte Geſetz, welches nach der zwey-
ten Caſſation dasjenige Gericht, an welches nunmehr die
Sache verwieſen wird, geradezu verpflichtet, in ſeinem
(a) Loi du 16 Septembre 1807. — Loi du 30 Juillet 1828.
|0384 : 328|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
Urtheil den vom Caſſationshof ausgeſprochnen Rechtsſatz
zum Grund zu legen (b).
Das Preußiſche Landrecht verordnet, der Richter ſolle
den Geſetzen den Sinn beylegen, der aus den Worten
und ihrem Zuſammenhange, oder aus dem nächſten un-
zweifelhaften Grund des Geſetzes hervorgehe (c). Wich-
tiger war die, dem Juſtinianiſchen Geſetz ſich annähernde,
Beſtimmung, der Richter ſolle jeden Zweifel über die Aus-
legung der Geſetzcommiſſion anzeigen, und dann deren
Entſcheidung befolgen. Dieſe Vorſchrift iſt aber ſpäterhin
aufgehoben worden; nur ſoll der Richter, welcher jetzt
unabhängig auslegt und entſcheidet, ſeinen Zweifel dem
Chef der Juſtiz anzeigen, damit davon für die Geſetzge-
bung Gebrauch gemacht werden könne (d). Im Fall einer
Lücke der Geſetze iſt der Richter angewieſen, nach den all-
gemeinen Grundſätzen des Landrechts, oder nach Verord-
nungen für ähnliche Fälle zu entſcheiden; zugleich ſoll er
die wahrgenommene Lücke anzeigen, damit ſie durch ein
neues Geſetz ausgefüllt werde (e). — In der Rheinpro-
vinz, worin noch die Franzöſiſche Geſetzgebung beſteht, iſt
das Franzöſiſche Verfahren dahin umgebildet worden, daß
(b) Loi du 1. Avril 1837.
(Bulletin des lois IXe. Serie
T. 14 p. 223) art. 2. „Si le deux-
ième arrêt ou jugement est
cassé pour les mêmes motifs
que le prémier, la cour royale
ou le tribunal auquel l’affaire
est renvoyée se conformera à
la décision de la cour de cas-
sation sur le point de droit
jugé par cette cour.
(c) Allg. Landrecht Einleitung
§ 46.
(d) A. L. R. Einl. § 47. 48,
und Anhang § 2.
(e) A. L. R. Einl. § 49. 50.
|0385 : 329|
§. 51. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher.
der Caſſationshof, wenn er caſſirt, zugleich ſelbſt das neue
Urtheil ſpricht. Außerdem iſt aber auch für das ganze
übrige Land neuerlich ein Caſſationsverfahren unter dem
Namen der Nichtigkeitsbeſchwerde eingeführt worden, in
welchem gleichfalls der Richter, welcher darüber erkennt
(das Geheime Obertribunal), wenn er das vorige Urtheil
vernichtet, zu gleicher Zeit ſelbſt das Urtheil ſpricht (f).
Das Öſterreichiſche Geſetzbuch endlich verweiſt den
Richter auf die eigenthümliche Bedeutung der Worte des
Geſetzes in ihrem Zuſammenhang, und auf die klare Ab-
ſicht des Geſetzgebers. Fehlt ein Geſetz, ſo iſt zu entſchei-
den nach den Geſetzen für ähnliche Fälle, und nach den
Gründen verwandter Geſetze; reicht auch dieſes nicht aus,
nach den natürlichen Rechtsgrundſätzen. Das Römiſche
Verbot der Privatauslegung iſt hier in die unbedenkliche
Regel umgebildet, daß nur der Geſetzgeber ein Geſetz auf
eine allgemein verbindliche Art erklären könne (g).
Fragen wir endlich, was in unſrer Lage und für un-
ſer Bedürfniß räthlich ſey, ſo erſcheint es als unbedenk-
lich, jedem Richter die wahre Auslegung frey zu geben,
dasjenige aber, was nur aus Misverſtändniß für Ausle-
gung gehalten worden iſt, in der Regel zu verſagen. Da
jedoch im Einzelnen die Gränze zwiſchen reiner Auslegung
und eigentlicher Fortbildung des Rechts oft ſehr zweifel-
(f) Verordnung vom 14. Dec.
1833 § 17 (Geſetzſammlung 1833
S. 306).
(g) Öſterreich. Geſetzbuch Ein-
leit. § 6. 7. 8.
|0386 : 330|
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
haft ſeyn kann (§ 37), ſo iſt es wünſchenswerth, daß ir-
gend eine hoch ſtehende Gewalt vorhanden ſey, in welcher
beide Befugniſſe vereinigt angetroffen werden, und deren
Thätigkeit daher durch die Zweifel über jene Gränze nicht
gehemmt ſeyn möge. Beſteht eine zur Fortbildung des
Rechts überhaupt angeordnete Behörde (§ 31), ſo iſt es
ohnehin unzweifelhaft, daß ſie ihren Beruf auch da zu
üben hat, wo das Daſeyn einer zweifelhaften Geſetzaus-
legung dazu die Aufforderung giebt. Allein auch wo eine
ſolche Behörde nicht beſteht, oder auch außer und neben
derſelben, könnte das Recht dieſer freyer waltenden Aus-
legung einem Gerichtshof unbedenklich anvertraut werden,
der überhaupt eine ähnliche Stellung wie der Franzöſiſche
Caſſationshof einnähme. Dieſer würde dann einen ähnli-
chen Einfluß ausüben, und für die Rechtspflege ähnliche
Vortheile darbieten, wie im alten Rom der Prätor und
die Juriſten, ſo daß ihm diejenige ausdehnende und ein-
ſchränkende Auslegung beſonders verliehen wäre, welche
oben als ein dem reinen Richteramt nicht zukommendes
Verfahren aus dem Gebiete wahrer Auslegung verwieſen
werden mußte.
|0387 : [331]|
Zweytes Buch.
Die Rechtsverhältniſſe.
Erſtes Kapitel.
Weſen und Arten der Rechtsverhältniſſe.
§. 52.
Weſen der Rechtsverhältniſſe.
Die allgemeine Natur der Rechtsverhältniſſe überhaupt,
und wie ſich dieſelben in Verhältniſſe des Staatsrechts
und des Privatrechts gliedern, iſt oben dargelegt worden
(§ 4. 9). Das Weſen der dem Privatrecht angehörenden
ſoll nunmehr weiter entwickelt werden; ſie allein liegen in
unſrer Aufgabe, und ſie werden daher von nun an als
Rechtsverhältniſſe ſchlechthin, ohne beſchränkenden Zuſatz,
von uns bezeichnet werden.
Der Menſch ſteht inmitten der äußeren Welt, und das
wichtigſte Element in dieſer ſeiner Umgebung iſt ihm die
Berührung mit denen, die ihm gleich ſind durch ihre Na-
tur und Beſtimmung. Sollen nun in ſolcher Berührung
freye Weſen neben einander beſtehen, ſich gegenſeitig för-
dernd, nicht hemmend, in ihrer Entwicklung, ſo iſt die-
ſes nur möglich durch Anerkennung einer unſichtbaren
Gränze, innerhalb welcher das Daſeyn, und die Wirk-
|0388 : 332|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
ſamkeit jedes Einzelnen einen ſichern, freyen Raum ge-
winne. Die Regel, wodurch jene Gränze und durch ſie
dieſer freye Raum beſtimmt wird, iſt das Recht. Damit
iſt zugleich die Verwandtſchaft und die Verſchiedenheit zwi-
ſchen Recht und Sittlichkeit gegeben. Das Recht dient
der Sittlichkeit, aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht,
ſondern indem es die freye Entfaltung ihrer, jedem ein-
zelnen Willen inwohnenden, Kraft ſichert. Sein Daſeyn
aber iſt ein ſelbſtſtändiges, und darum iſt es kein Wider-
ſpruch, wenn im einzelnen Fall die Möglichkeit unſittli-
cher Ausübung eines wirklich vorhandenen Rechts behaup-
tet wird.
Das Bedürfniß und das Daſeyn des Rechts iſt eine
Folge der Unvollkommenheit unſres Zuſtandes, aber nicht
einer zufälligen, hiſtoriſchen Unvollkommenheit, ſondern ei-
ner ſolchen, die mit der gegenwärtigen Stufe unſres Da-
ſeyns unzertrennlich verbunden iſt.
Viele aber gehen, um den Begriff des Rechts zu fin-
den, von dem entgegengeſetzten Standpunkt aus, von dem
Begriff des Unrechts. Unrecht iſt ihnen Störung der Frey-
heit durch fremde Freyheit, die der menſchlichen Entwick-
lung hinderlich iſt, und daher als ein Übel abgewehrt
werden muß. Die Abwehr dieſes Übels iſt ihnen das
Recht. Daſſelbe ſoll hervorgebracht werden, nach Eini-
gen, durch verſtändige Übereinkunft, indem Jeder ein Stück
ſeiner Freyheit aufgebe, um das Übrige ſicher zu retten;
oder, nach Anderen, durch eine äußere Zwangsanſtalt,
|0389 : 333|
§. 52. Weſen.
welche allein der natürlichen Neigung der Menſchen zu
gegenſeitiger Zerſtörung Einhalt thun könne. Indem ſie
auf dieſe Weiſe das Negative an die Spitze ſtellen, ver-
fahren ſie ſo, als ob wir vom Zuſtand der Krankheit
ausgehen wollten, um die Geſetze des Lebens zu erkennen.
Der Staat erſcheint ihnen als eine Nothwehr, die unter
Vorausſetzung einer verbreiteten gerechten Geſinnung als
überflüſſig verſchwinden könnte, anſtatt daß er hier nach
unſrer Anſicht nur um ſo herrlicher und kräftiger hervor-
treten würde.
Von dem nunmehr gewonnenen Standpunkt aus er-
ſcheint uns jedes einzelne Rechtsverhältniß als eine Bezie-
hung zwiſchen Perſon und Perſon, durch eine Rechtsregel
beſtimmt. Dieſe Beſtimmung durch eine Rechtsregel be-
ſteht aber darin, daß dem individuellen Willen ein Gebiet
angewieſen iſt, in welchem er unabhängig von jedem frem-
den Willen zu herrſchen hat.
Daher laſſen ſich in jedem Rechtsverhältniß zwey
Stücke unterſcheiden: erſtlich ein Stoff, das heißt jene Be-
ziehung an ſich, und zweytens die rechtliche Beſtimmung
dieſes Stoffs. Das erſte Stück können wir als das ma-
terielle Element der Rechtsverhältniſſe, oder als die bloße
Thatſache in denſelben bezeichnen: das zweyte als ihr
formelles Element, das heißt als dasjenige, wodurch die
thatſächliche Beziehung zur Rechtsform erhoben wird.
Allein nicht alle Beziehungen des Menſchen zum Men-
ſchen gehören dem Rechtsgebiet an, indem ſie einer ſol-
|0390 : 334|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
chen Beſtimmung durch Rechtsregeln empfänglich und be-
dürftig ſind. Es laſſen ſich in dieſer Hinſicht dreyerley
Fälle unterſcheiden. Menſchliche Verhältniſſe, die ganz,
andere die gar nicht, noch andere die nur theilweiſe dem
Rechtsgebiet angehören, oder durch Rechtsregeln beherrſcht
werden. Als Beyſpiel für die erſte Klaſſe kann das Ei-
genthum, für die zweyte die Freundſchaft, für die dritte
die Ehe gelten, da die Ehe zum Theil in das Rechtsge-
biet fällt, theilweiſe aber außer demſelben liegt.
§. 53.
Arten der Rechtsverhältniſſe.
Das Weſen des Rechtsverhältniſſes wurde beſtimmt
als ein Gebiet unabhängiger Herrſchaft des individuellen
Willens (§ 52). Wir haben alſo zunächſt die Gegen-
ſtände aufzuſuchen, worauf möglicherweiſe der Wille ein-
wirken, alſo ſeine Herrſchaft erſtrecken kann; daraus wird
eine Überſicht der verſchiedenen Arten möglicher Rechts-
verhältniſſe von ſelbſt folgen.
Der Wille kann einwirken erſtlich auf die eigene Per-
ſon, zweytens nach außen, alſo auf dasjenige, was wir
in Beziehung auf den Wollenden die äußere Welt nennen
müſſen; dieſes iſt der allgemeinſte Gegenſatz unter den
denkbaren Gegenſtänden jener Einwirkung. Die äußere
Welt aber beſteht theils aus der unfreyen Natur, theils
aus den dem Wollenden gleichartigen freyen Weſen, das
heißt aus fremden Perſonen. Und ſo erſcheinen uns, in
|0391 : 335|
§. 53. Arten.
blos logiſcher Betrachtung der aufgeworfenen Frage, drey
Hauptgegenſtände der Willensherrſchaft: die eigene Per-
ſon, die unfreye Natur, fremde Perſonen; hiernach wür-
den, wie es ſcheint, drey Hauptarten aller Rechtsverhält-
niſſe angenommen werden müſſen. Wir haben alſo zu-
nächſt jene Gegenſtände einzeln zu betrachten, und zwar
zuerſt die eigene Perſon, als Gegenſtand eines beſonderen
Rechtsverhältniſſes.
Hierüber nun iſt folgende Anſicht ſehr verbreitet. Der
Menſch, ſagt man, hat ein Recht auf ſich ſelbſt, welches
mit ſeiner Geburt nothwendig entſteht und nie aufhören
kann, ſo lange er lebt, eben daher auch das Urrecht
genannt wird; im Gegenſatz aller anderen Rechte, welche
erſt ſpäter und zufällig an den Menſchen heran kommen,
auch vergänglicher Natur ſind, und daher erworbene
Rechte genannt werden. Manche ſind in dieſer Anſicht
ſo weit gegangen, dem Menſchen ein Eigenthumsrecht an
ſeinen Geiſteskräften zuzuſchreiben, und daraus das was
man Denkfreyheit nennt abzuleiten; es iſt aber gar nicht
die Möglichkeit zu begreifen, wie ein Menſch den andern
am Denken hindern, oder umgekehrt in ihm denken, und
durch Jenes oder Dieſes einen Eingriff in das angegebene
Eigenthumsrecht verüben könnte. Begiebt man ſich aber
auch auf ein verſtändlicheres Gebiet, indem man jenes
Eigenthumsrecht auf die ſichtbare Erſcheinung der Perſon,
den menſchlichen Leib und deſſen einzelne Glieder, beſchränkt,
ſo hat dieſes zwar Sinn, als Ausſchließung einer hierin
|0392 : 336|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
allerdings möglichen Verletzung, aber es iſt darum nicht
minder unnütz, ja verwerflich, indem es unter andern in
conſequenter Entwicklung auf die Anerkennung eines Rechts
zum Selbſtmord führt. Das wahre Element aber in je-
ner irrigen Annahme eines auf die eigene Perſon gerich-
teten Urrechts iſt folgendes. Erſtlich kann und ſoll frey-
lich die rechtmäßige Macht des Menſchen über ſich ſelbſt
und ſeine Kräfte nicht bezweifelt werden; noch mehr, dieſe
Macht iſt ſogar die Grundlage und Vorausſetzung aller
wahren Rechte, indem z. B. Eigenthum und Obligationen
nur Bedeutung und Werth für uns haben als künſtliche
Erweiterung unſrer eigenen perſönlichen Kräfte, als neue
Organe, die unſerm Naturweſen künſtlich hinzugefügt wer-
den. Allein für jene Macht über uns ſelbſt bedarf es der
Anerkennung und Begränzung durch poſitives Recht nicht,
und das Ungehörige der hier dargeſtellten Auffaſſung be-
ſteht darin, daß jene natürliche Macht mit dieſen künſtli-
chen Erweiterungen derſelben in eben ſo überflüſſiger als
verwirrender Weiſe auf Eine Linie geſtellt und als gleich-
artig behandelt werden ſoll. — Zweytens iſt für viele ein-
zelne wirkliche Rechtsinſtitute der Ausgangspunkt allerdings
in der Sicherung jener natürlichen Macht des Menſchen
über ſich ſelbſt gegen fremde Einmiſchungen zu ſuchen.
Dahin gehört ein großer Theil des Criminalrechts; ferner
im Civilrecht die bedeutende Zahl von Rechten, welche
auf den Schutz gegen Ehrverletzung, gegen Betrug, und
gegen Gewalt abzwecken, unter andern alſo auch die poſ-
|0393 : 337|
§. 53. Arten.
ſeſſoriſchen Rechtsmittel. Von allen dieſen Rechten iſt die
Unverletzlichkeit der Perſon allerdings der letzte Grund;
dennoch ſind ſie nicht als reine Entwicklungen dieſer Un-
verletzlichkeit anzuſehen, vielmehr bilden ſie ganz poſitive
Rechtsinſtitute, deren beſonderer Inhalt von jener Unver-
letzlichkeit ſelbſt völlig verſchieden iſt. Will man ſie den-
noch als Rechte an der eigenen Perſon darſtellen, ſo wird
durch dieſe Bezeichnung ihre wahre Natur nur verdunkelt.
Nicht einmal die Zuſammenſtellung derjenigen Rechtsin-
ſtitute, die dieſen gemeinſamen Ausgangspunkt haben, kann
als fruchtbar und belehrend angeſehen werden: es iſt hin-
reichend, dieſe ihre Verwandtſchaft im Allgemeinen anzu-
erkennen (a).
(a) Donellus II. 8 § 2. 3
nimmt zweyerley nostrum an:
in persona cujusque und in re-
bus externis. Zu dem erſten
rechnet er Vier Stücke: vita, in-
columitas corporis, libertas,
existimatio. Die incolumitas
animi ſtehe nicht unter dem
Rechtsſchutz, weil ſie deſſen nicht
bedürfe. — Puchta Syſtem des
gem. Civilrechts München 1832
ſetzt als erſte Klaſſe aller Rechte
die an der eigenen Perſon, und
er rechnet dahin das Recht der
Perſönlichkeit und den Beſitz; un-
ter der Perſönlichkeit begreift er
die Rechtsfähigkeit und die Ehre.
Allein die Rechtsfähigkeit iſt Be-
dingung aller Rechte, des Eigen-
thums und der Obligationen nicht
minder als der Rechte erſter
Klaſſe, wenn man eine ſolche an-
nimmt, z. B. des Beſitzes; ſie iſt
alſo ein Element aller Rechte, und
kann keiner Klaſſe vorzugsweiſe
angehören. Das, was man nach
der allgemeinen Bezeichnung zu-
nächſt erwarten möchte, das Recht
über die eigenen Gliedmaaßen,
fehlt ganz, und außerdem fehlt
ſehr vieles Andere, was da ſeyn
müßte, wenn zwiſchen B. 3 und
B. 5. Kap. 5. N. VI. ein wahrer
Zuſammenhang ſichtbar werden
ſollte. Hieraus erhellt eben die
Willkührlichkeit in der Bildung
der erſten Klaſſe von Rechten,
welche nun faſt blos angenom-
men zu ſeyn ſcheint, um dem Be-
ſitz eine angemeſſene Stellung zu
verſchaffen. — Hegel Naturrecht
§ 70 und Zuſatz zu § 70 ſpricht
22
|0394 : 338|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
Scheiden wir demnach die ſogenannten Urrechte gänz-
lich aus, und erkennen wir die erworbenen Rechte als die
einzigen an, worauf unſre fernere Unterſuchung zu rich-
ten iſt, ſo bleiben uns nur noch zwey Gegenſtände mög-
licher Willensherrſchaft übrig: die unfreye Natur, und
fremde Perſonen.
Die unfreye Natur kann von uns beherrſcht werden
nicht als Ganzes, ſondern nur in beſtimmter räumlicher
Begränzung; ein ſo begränztes Stück derſelben nennen wir
Sache, und auf dieſe bezieht ſich daher die erſte Art
möglicher Rechte: das Recht an einer Sache, welches
in ſeiner reinſten und vollſtändigſten Geſtalt Eigen-
thum heiſt.
Nicht ſo einfach ſind diejenigen Rechtsverhältniſſe, de-
ren Gegenſtände fremde Perſonen ſind, da wir zu ſolchen
in zwey ganz ungleichartigen Beziehungen ſtehen können.
— Die erſte mögliche Beziehung zu einer fremden Perſon
iſt die, worin dieſelbe, auf ähnliche Weiſe wie eine Sache,
in das Gebiet unſrer Willkühr herein gezogen, alſo unſrer
Herrſchaft unterworfen wird. Wäre nun dieſe Herrſchaft
eine abſolute, ſo würde dadurch in dem Andern der Be-
griff der Freyheit und Perſönlichkeit aufgehoben; wir wür-
den nicht über eine Perſon herrſchen, ſondern über eine
Sache, unſer Recht wäre Eigenthum an einem Menſchen,
ſich gegen dieſes Recht auf die
eigene Perſon aus, und macht
namentlich die ſonſt unvermeid-
liche Annahme eines Rechts zum
Selbſtmord geltend.
|0395 : 339|
§. 53. Arten.
ſo wie es das Römiſche Sklavenverhältniß in der That
iſt. Soll dieſes nicht ſeyn, wollen wir uns vielmehr ein
beſonderes Rechtsverhältniß denken, welches in der Herr-
ſchaft über eine fremde Perſon, ohne Zerſtörung ihrer
Freyheit, beſteht, ſo daß es dem Eigenthum ähnlich, und
doch von ihm verſchieden iſt, ſo muß die Herrſchaft nicht
auf die fremde Perſon im Ganzen, ſondern nur auf eine
einzelne Handlung derſelben bezogen werden; dieſe Hand-
lung wird dann, als aus der Freyheit des Handelnden
ausgeſchieden, und unſerm Willen unterworfen gedacht.
Ein ſolches Verhältniß der Herrſchaft über eine einzelne
Handlung der fremden Perſon nennen wir Obligation.
Dieſe hat mit dem Eigenthum nicht blos darin eine ähn-
liche Natur, daß in beiden eine erweiterte Herrſchaft un-
ſers Willens über ein Stück der äußeren Welt enthalten
iſt, ſondern ſie hat zu demſelben auch noch ſpeciellere Be-
ziehungen: erſtlich durch die mögliche Schätzung der Obli-
gationen in Geld, welche nichts Anderes iſt, als Ver-
wandlung in Geldeigenthum; zweytens dadurch, daß die
meiſten und wichtigſten Obligationen keinen anderen Zweck
haben, als zum Erwerb von Eigenthum, oder zum vor-
übergehenden Genuß deſſelben, zu führen. — Durch beide
Arten der Rechte alſo, das Eigenthum wie die Obliga-
tionen, wird die Macht der berechtigten Perſon nach au-
ßen, über die natürlichen Gränzen ihres Weſens hin, er-
weitert. Die Geſammtheit der Verhältniſſe nun, welche
auf dieſe Weiſe die Macht eines Einzelnen erweitern, nen-
22*
|0396 : 340|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
nen wir das Vermögen deſſelben, und die Geſammtheit
der darauf bezüglichen Rechtsinſtitute das Vermögens-
recht (b).
In der bisher betrachteten Beziehung der Perſon zu
einer fremden Perſon wurde jede derſelben aufgefaßt als
ein in ſich abgeſchloſſenes Ganze, ſo daß jede, in ihrer
abſtracten Perſönlichkeit, der anderen, als einem völlig
fremden (wiewohl gleichartigen) Weſen gegenüber ſtand.
Ganz verſchieden davon iſt die zweyte mögliche Beziehung
zu fremden Perſonen, die nunmehr dargeſtellt werden ſoll.
Hier betrachten wir den einzelnen Menſchen nicht als ein
für ſich beſtehendes Weſen, ſondern als Glied des orga-
niſchen Ganzen der geſammten Menſchheit. Indem nun
ſein Zuſammenhang mit dieſem großen Ganzen ſtets durch
beſtimmte Individuen vermittelt iſt, ſo iſt ſeine Beziehung
zu dieſen Individuen die Grundlage einer neuen, ganz ei-
genthümlichen Art von Rechtsverhältniſſen. In dieſen er-
ſcheint uns der Einzelne nicht, ſo wie in den Obligationen,
als ein ſelbſtſtaͤndiges Ganze, ſondern als ein unvollſtän-
diges, der Ergänzung in einem großen Naturzuſammen-
hang bedürftiges Weſen. Dieſe Unvollſtändigkeit des Ein-
(b) Die deutſche Bezeichnung
des angegebenen Rechtsbegriffs iſt
die treffendſte, die dafür gefunden
werden konnte. Denn es wird
dadurch unmittelbar das Weſen
der Sache ausgedrückt, die durch
das Daſeyn jener Rechte uns zu-
wachſende Macht, das was wir
durch ſie auszurichten im Stande
ſind oder vermögen. Weniger
das Weſen treffend iſt der Rö-
miſche Ausdruck bona, der in die
neueren romaniſchen Sprachen
übergegangen iſt, und der zu-
nächſt einen Nebenbegriff bezeich-
net, nämlich das durch jene Macht
begründete Wohlſeyn, oder die
Beglückung, die ſie uns gewährt.
|0397 : 341|
§. 53. Arten.
zelnen, ſo wie die darauf bezügliche Ergänzung, zeigt ſich
in zwey verſchiedenen Richtungen. Erſtlich in der Tren-
nung der Geſchlechter, deren jedes, einzeln für ſich be-
trachtet, die menſchliche Natur nur unvollſtändig in ſich
enthält; hierauf bezieht ſich die Ergänzung der Individuen
durch die Ehe (c). — Zweytens in dem zeitlich beſchränk-
ten Daſeyn des einzelnen Menſchen, welches wiederum
auf verſchiedene Weiſe zu dem Bedürfniß und der Aner-
kennung von ergänzenden Rechtsverhältniſſen führt. Zu-
nächſt, und am unmittelbarſten, durch das vergängliche
Leben des Einzelnen; hier liegt die Ergänzung in der
Fortpflanzung, wodurch nicht blos für die Gattung, ſon-
dern auf beſchränktere Weiſe auch für die Individualität,
eine ſtete Fortdauer vermittelt wird. Dann aber durch die
Einrichtung der menſchlichen Natur, nach welcher der Ein-
zelne im Anfang ſeines Lebens die Macht über ſich ſelbſt
völlig entbehrt, und erſt ganz allmälig erlangt; hier liegt
die Ergänzung in der Erziehung. Das Inſtitut des Rö-
miſchen Rechts, worin dieſe zwiefache Ergänzung ihre ge-
meinſchaftliche Anerkennung und Ausbildung findet, iſt die
väterliche Gewalt; an dieſe aber ſchließt ſich, theils
in weiterer Entwicklung, theils in blos natürlicher, oder
minder juriſtiſcher, Analogie die Verwandtſchaft an (d).
(c) Dieſe Anſicht drückt Fichte
Sittenlehre S. 449 etwas ener-
giſch alſo aus: „Es iſt die abſo-
lute Beſtimmung eines jeden In-
dividuum beider Geſchlechter, ſich
zu verehlichen .... Die unver-
heirathete Perſon iſt nur zur
Hälfte ein Menſch.“
(d) Als weitere Entwicklung
nämlich in der Agnation, die nur
das residuum einer früher vor-
handenen väterlichen Gewalt mit
|0398 : 342|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
— Die Geſammtheit aller dieſer ergänzenden Verhältniſſe
nun — Ehe, väterliche Gewalt, Verwandtſchaft — nen-
nen wir die Familie, und die hierauf bezüglichen Rechts-
inſtitute das Familienrecht (e).
Da das Familienverhältniß, eben ſo wie die Obliga-
tion, ein Verhältniß zu beſtimmten Individuen iſt, ſo liegt
es ſehr nahe, dieſe beiden Verhältniſſe entweder zu iden-
tificiren, das heißt die Familie unter die Obligationen zu
rechnen, oder doch beide als näher verwandt dem Eigen-
thum, welches eine ſolche individuelle Beziehung nicht in
ſtetiger Fortbildung iſt; als na-
türliche Analogie die Cognation,
in welcher das jus gentium die
auf der Abſtammung beruhende
Gemeinſchaft der Individuen an-
erkennt, wie das jus civile in
der Agnation.
(e) Es muß dabey ausdrück-
lich bemerkt werden, daß dieſe
Bezeichnung nicht aus dem Rö-
miſchen Recht hergenommen iſt.
Bey den Römern hat der Aus-
druck familia verſchiedene Bedeu-
tungen; die wichtigſte und am
meiſten techniſche iſt die, worin
es die Geſammtheit der Agnaten
bezeichnet, alſo nur einen Theil
der Verhältniſſe, die ich darun-
ter begreife. Wenn aber auch
nicht der hier gewählte Ausdruck
im Römiſchen Rechte begründet
iſt, ſo iſt doch die Zuſammenſtel-
lung der dadurch bezeichneten Ver-
hältniſſe, ſo wie der Grund die-
ſer Zuſammenſtellung, dem Sinn
der Römiſchen Juriſten völlig an-
gemeſſen. Es iſt nämlich genau
dasjenige, was ſie als jus natu-
rale bezeichnen. Ulpian ſagt
darüber in L. 1 § 3 de J. et J.
„Jus naturale est quod natura
omnia animalia docuit .... Hinc
descendit maris atque foeminae
conjunctio, quam nos matrimo-
nium appellamus: hinc libero-
rum procreatio, hinc educa-
tio.” (Vgl. Beylage I.). Daß die
alten Juriſten aus hiſtoriſchen
Gründen, in ihrer Abhandlung
der Rechtsinſtitute ſelbſt, andere
Geſichtspunkte ſichtbarer hervor-
treten ließen, wie wir es bey
Gajus ſehen, ſteht mit ihrer An-
erkennung jenes allgemeinen, na-
türlichen Zuſammenhangs gar
nicht im Widerſpruch. — Mit dem
heutigen Sprachgebrauch ſtimmt
die von mir gewählte Bezeichnung
gewiß überein, ſo wie auch zu
unſerm heutigen Rechtszuſtand
jene Zuſammenſtellung einzig und
allein paßt.
|0399 : 343|
§. 53. Arten.
ſich ſchließt, entgegen zu ſetzen. Dieſe Betrachtungsweiſe
findet ſich daher auch bey Vielen, wenngleich oft nicht in
ihrer vollen Ausdehnung, oder nicht mit klarem Bewußt-
ſeyn. Sie iſt aber durchaus zu verwerfen, und es iſt für
die richtige Einſicht in das Weſen der Familie von Wich-
tigkeit, daß ſie als irrig aufgegeben werden. Es ſollen
daher gleich hier diejenigen weſentlichen Verſchiedenheiten
angegeben werden, die auf dem bisher gewonnenen Stand-
punkt klar gemacht werden können; mit dem Vorbehalt,
das eigenthümliche, völlig unterſcheidende, Weſen der Fa-
milie weiter unten (§ 54) noch beſtimmter zur Anſchauung
zu bringen. Die Obligation hat zum Gegenſtand eine ein-
zelne Handlung, das Familienverhältniß die Perſon als
Ganzes, inſofern ſie ein Glied in dem organiſchen Zuſam-
menhang der geſammten Menſchheit iſt. Der Stoff der
Obligationen iſt willkührlicher Natur, indem bald dieſe
bald jene Handlung zum Inhalt einer Obligation gemacht
werden kann; der Stoff der Familienverhältniſſe iſt durch
die organiſche Natur des Menſchen beſtimmt, trägt alſo
den Character der Nothwendigkeit in ſich. Die Obliga-
tion iſt in der Regel vorübergehender Natur, das Fami-
lienverhältniß iſt zu einem fortdauernden Daſeyn beſtimmt.
Daher bilden ſich die einzelnen Familienverhältniſſe, wo
ſie vollſtändig erſcheinen, in zuſammengeſetzte Geſellſchaf-
ten aus, die eben den Geſammtnamen der Familien füh-
ren. In den Familien nun ſind die Keime des Staats
|0400 : 344|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
enthalten, und der ausgebildete Staat hat die Familien,
nicht die Individuen unmittelbar zu Beſtandtheilen.
Hiernach ſchließt ſich in der That die Obligation in
näherer Verwandtſchaft an das Eigenthum an, indem das
dieſe beyden Verhältniſſe umfaſſende Vermögen eine Er-
weiterung der individuellen Macht über ihre natürliche
Gränze bildet, anſtatt daß das Familienverhältniß zur Er-
gänzung des an ſich unvollſtändigen Selbſt beſtimmt iſt.
Das Familienrecht liegt daher näher als das Vermögens-
recht den ſogenannten Urrechten, und wie dieſe oben von
dem Gebiet des poſitiven Rechts gänzlich ausgeſchloſſen
worden ſind, ſo muß von der Familie behauptet werden,
daß ſie nur theilweiſe dem Rechtsgebiet angehört, anſtatt
daß das Vermögen ganz und ausſchließend in daſſelbe fällt.
Blicken wir nun zurück auf den Punkt, wovon dieſe
unſre Unterſuchung ausgieng, ſo finden wir drey Gegen-
ſtände, auf welche eine Herrſchaft unſers Willens denkbar
iſt, und, dieſen Gegenſtänden entſprechend, drey concen-
triſche Kreiſe, worin unſer Wille herrſchen kann:
1) Das urſprüngliche Selbſt. Ihm entſpricht das ſo-
genannte Urrecht, welches wir gar nicht als eigentliches
Recht behandeln.
2) Das in der Familie erweiterte Selbſt. Die hierin
mögliche Herrſchaft unſres Willens gehört nur theilweiſe
dem Rechtsgebiet an, und bildet hier das Familienrecht.
3) Die äußere Welt. Die Herrſchaft des Willens,
die ſich hierauf bezieht, fällt ganz in das Rechtsgebiet,
|0401 : 345|
§. 54. Familienrecht.
und bildet das Vermögensrecht, welches wieder in das
Sachenrecht und das Obligationenrecht zerfällt.
Hieraus ergeben ſich drey Hauptklaſſen der Rechte,
die wir von dieſem Standpunkt der Unterſuchung aus an-
zunehmen haben:
Familienrecht,
Sachenrecht,
Obligationenrecht.
Allein ſo abgeſondert beſtehen dieſe Klaſſen der Rechte
nur in unſrer Abſtraction, in der Wirklichkeit dagegen er-
ſcheinen ſie auf die mannichfaltigſte Weiſe verbunden, und
in dieſer ſteten Berührung ſind gegenſeitige Einwirkungen
und Modificationen unausbleiblich. Indem wir nunmehr
die einzelnen Rechtsinſtitute der angegebenen drey Klaſſen
näher zu betrachten haben, müſſen zugleich dieſe Modifi-
cationen berückſichtigt werden, ſo wie überhaupt die be-
ſondere Entwicklung, die jene Inſtitute in unſerm poſiti-
ven Recht erhalten haben.
§. 54.
Familienrecht.
Das Weſen der Familie, die nunmehr genauer betrach-
tet werden ſoll, iſt bereits angegeben worden (§ 53); ihre
Beſtandtheile waren die Ehe, die väterliche Gewalt, und
die Verwandtſchaft. Der Stoff eines jeden dieſer Ver-
hältniſſe iſt ein Naturverhältniß, welches als ſolches ſo-
gar über die Gränzen der menſchlichen Natur hinaus
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Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
reicht (jus naturale). Daher muß ihnen, ihrem allgemei-
nen Daſeyn nach, eine von dem poſitiven Recht unab-
hängige Nothwendigkeit zugeſchrieben werden, wenngleich
die beſondere Geſtalt, worin ſie zur Anerkennung kommen,
je nach dem poſitiven Recht verſchiedener Völker ſehr man-
nichfaltig iſt (a). Dieſes Naturverhältniß iſt aber für den
Menſchen nothwendig zugleich ein ſittliches Verhältniß;
und indem endlich noch die Rechtsform hinzutritt, erhält
die Familie drey unzertrennlich vereinigte Geſtalten, die
(a) So z. B. iſt alſo das Da-
ſeyn der Monogamie ein poſiti-
ves Rechtsinſtitut, während wir
der Ehe überhaupt (in welcher
Geſtalt ſie vorkommen möge) eine
allgemeine Nothwendigkeit zu-
ſchreiben; damit ſoll nun aber
nicht geſagt werden, daß zwiſchen
Polygamie und Monogamie eine
durch zufällige Umſtände beſtimmte
Wahl eintrete; vielmehr iſt jene
als eine niedere Stufe in der ſitt-
lichen Entwicklung der Völker zu
betrachten. — Allerdings wird nun
auch die Nothwendigkeit der Ehe
überhaupt (nicht blos der Mono-
gamie) beſtritten, z. B. von Hugo
Naturrecht § 210—214. Und in
der That kann von dem abſtrahi-
renden Verſtand das Weſen der-
ſelben zerſetzt, und durch freye
Phantaſie irgend ein anderer Zu-
ſtand an ihrer Stelle erdichtet
werden, z. B. eine regelloſe Ge-
ſchlechtsliebe, oder Fortpflanzung
als Staatsanſtalt. Aber der ge-
ſunde Lebensſinn aller Völker,
wie aller Zeiten und Bildungs-
ſtufen, würde unſre Behauptung
beſtätigen, ſelbſt wenn ſie nicht in
der chriſtlichen Lebensanſicht ihre
höchſte Bewährung gefunden hätte.
— Eben ſo gehört zu der poſiti-
ven Ausbildung der Familienin-
ſtitute die künſtliche Art, wodurch
ſie zuweilen entſtehen, z. B. die
väterliche Gewalt durch Adoption.
— Ferner hat das Verbot der
Ehe unter den nächſten Verwand-
ten ſeine Wurzel in dem ſittlichen
Gefühl aller Zeiten: aber der
Grad der Ausdehnung dieſes Ver-
bots iſt ganz poſitiver Natur. —
Es muß indeſſen noch hinzuge-
fügt werden, daß auch die poſi-
tive Geſtalt, worin dieſe Ver-
hältniſſe in einem einzelnen po-
ſitiven Recht auftreten, in die-
ſem Recht den abſoluten Charak-
ter an ſich trägt (§ 16), weil ſie
durch die ſittliche Lebensanſicht
eben dieſes Volks beſtimmt wird.
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§. 54. Familienrecht.
natürliche, ſittliche, und rechtliche (b). Hieraus folgt, daß
die Familienverhältniſſe nur zum Theil eine juriſtiſche Na-
tur an ſich tragen (§ 53); ja wir müſſen hinzu ſetzen,
daß die juriſtiſche Seite ihres Weſens gerade die gerin-
gere iſt, indem die wichtigere einem ganz anderen Gebiete
als dem des Rechts angehört.
Indem aber hier der Familie, außer dem rechtlichen
und ſittlichen Element, auch noch ein natürliches zuge-
ſchrieben wird, darf dieſes nicht ſo verſtanden werden,
als ob dieſes letzte mit jenem auf gleicher Linie ſtände,
und zu einer ſelbſtſtändigen Herrſchaft gelangen dürfte.
In dem Thier herrſcht der einem allgemeinen Naturzweck
dienende Trieb. Dieſer Trieb und jener Naturzweck fin-
det ſich in dem Menſchen völlig ſo wie in dem Thier; in
dem Menſchen aber ſteht über dem Naturtrieb das höhere
ſittliche Geſetz, welches alle Theile ſeines Weſens, alſo
auch dieſen Trieb, durchdringen und beherrſchen ſoll, wo-
durch das Natürliche in dem Menſchen nicht vernichtet
oder geſchwächt, ſondern zur Theilnahme an dem höheren
Element des menſchlichen Weſens empor gehoben wird. —
Hierin hat Kant gefehlt, welcher in der Ehe den blos
natürlichen Beſtandtheil (den Geſchlechtstrieb) zum Ge-
genſtand eines obligatoriſchen Rechtsverhältniſſes machen
(b) Dieſe dreyfache Natur der
Familienverhältniſſe iſt in An-
wendung auf die Ehe ſehr be-
ſtimmt ausgeſprochen von He-
gel Naturrecht § 161. Sehr
ſchön ſagt er von der Ehe, „daß
ſie die rechtlich ſittliche Liebe iſt.“
Nur der Ausdruck iſt noch dahin
zu ergänzen: rechtlich ſittliche Ge-
ſchlechtsliebe — was ohnehin in
dem Gedanken des Verfaſſers
unzweifelhaft liegt.
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Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
wollte, wodurch das Weſen derſelben gänzlich verkannt
und herabgewürdigt werden mußte (c).
Fragen wir nun nach dem eigentlichen Inhalt der zur
Familie gehörenden Rechtsverhältniſſe, ſo ſcheint derſelbe
zu liegen in dem Recht, welches wir gegen die andere
unſerm Willen unterworfene Perſon haben, nur daß dieſe
Unterwerfung nicht als eine totale, ſondern als eine be-
ſchränkte, lediglich die Familienbeziehung afficirende, ge-
dacht werden müßte (d). Und dieſe Annahme ſcheint ihre
Beſtätigung zu finden in den beſonderen Beſtimmungen des
Römiſchen Familienrechts, welches größtentheils auf ſtrenge
Herrſchaft des Hausvaters über die anderen Glieder der
Familie gegründet iſt. Dennoch müſſen wir dieſelbe, ge-
rade auch von dem Standpunkt des Römiſchen Rechts
aus, gänzlich verwerfen. Allerdings hat hier der Vater
unbedingte Herrſchaft über den Sohn, eine Herrſchaft die
für die älteſte Zeit von dem wahren Eigenthum kaum zu
unterſcheiden ſeyn dürfte. Allein dieſe Herrſchaft iſt nicht
der eigentliche Inhalt des Rechtsverhältniſſes. Sie iſt
der natürliche Character der väterlichen Gewalt, worin
ſich der Vater durch eigene Macht behauptet wie in der
Herrſchaft über den Sklaven oder über ſein Haus oder
ſein Pferd. Nirgend iſt von einer juriſtiſchen Verpflich-
tung des Sohnes zum Gehorſam die Rede, nirgend von
einer Klage des Vaters gegen den ungehorſamen Sohn,
(c) Vgl. hierüber unten § 141. d.
(d) So wird es in der That
aufgefaßt von Puchta, rhein.
Muſeum B. 3 S. 301. 302.
|0405 : 349|
§. 54. Familienrecht.
ſo wenig als gegen den ungehorſamen Sklaven. Nur erſt
wenn fremde Perſonen Eingriffe thun in die Herrſchaft
des Hausvaters, werden Klagen gegen dieſe gegeben.
Noch anſchaulicher aber wird unſre Behauptung bey der
freyen Ehe. In dieſer iſt von ſtrenger Herrſchaft und
Gehorſam gar nicht die Rede, und doch kennt das Rö-
miſche Recht auch keine einzelnen Rechtsanſprüche eines
Ehegatten gegen den andern, keine Klagen zum Schutz
ſolcher einzelnen Rechte für den Fall der Verweigerung.
Demnach iſt es nicht die partielle Unterwerfung einer
Perſon unter den Willen der andern, was den juriſtiſchen
Character der Familienverhältniſſe, alſo den eigentlichen
Inhalt dieſer Klaſſe von Rechtsverhältniſſen bildet. Auch
iſt nur, wenn man dieſe, an ſich ſo ſcheinbare, Anſicht
aufgiebt, eine ſcharfe Unterſcheidung der Familienverhält-
niſſe von den Obligationen möglich, indem die Vertheidi-
ger dieſer Anſicht unvermeidlich die Natur der Obligatio-
nen in die Familie hineintragen, ſo ſehr ſie ſich auch in
Worten dagegen verwahren mögen.
Was bleibt uns nun aber übrig als wahrer Inhalt
der zur Familie gehörenden Rechtsverhältniſſe? Wir be-
trachteten ſie zuerſt als Ergänzungen der für ſich unvoll-
ſtändigen Individualität (§ 53). Daher liegt das eigent-
liche Weſen derſelben in der Stellung, welche der Ein-
zelne in dieſen Verhältniſſen einnimmt, darin, daß er nicht
blos Menſch überhaupt, ſondern auch noch insbeſondere
Ehegatte, Vater, Sohn iſt, alſo in einer feſt beſtimmten,
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Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
von der individuellen Willkühr unabhängigen, in einem
großen Naturzuſammenhang begründeten Lebensform (e).
Es wird alſo hier keinesweges geläugnet, daß zum
Weſen der Ehe Treue und Hingebung, ſo wie zur väter-
lichen Gewalt Gehorſam und Ehrfurcht gehöre; allein
dieſe an ſich wichtigſten Elemente jener Verhältniſſe ſtehen
unter dem Schutz der Sitte, nicht des Rechts, gerade ſo
wie der edle und menſchliche Gebrauch, den der Hausva-
ter von ſeiner Familiengewalt machen ſoll, auch nur der
Sitte überlaſſen bleiben kann, für welchen letzten Fall die
irrige Auffaſſung, als ob es eine Rechtsregel wäre, nur
zufällig weniger möglich iſt. Daher werden wir von dem
Zuſtand des Familienverhältniſſes in einer Nation nur
eine ſehr unſichere Kenntniß haben, wenn wir lediglich
auf die in ihr geltende Rechtsregel ſehen, ohne die er-
gänzende Sitte zu berückſichtigen. Nicht ſelten haben
neuere Schriftſteller, welche dieſen Zuſammenhang über-
ſahen, einen grundloſen Tadel über das Römiſche Fami-
lienrecht, als über eine herzloſe Tyranney, ausgeſpro-
chen (f). Sie haben nicht erwogen, daß in keinem Volk
des Alterthums die Hausfrauen ſo hoch geehrt waren als
(e) Es gehören alſo die Fami-
lienverhältniſſe vorzugsweiſe dem
jus publicum, d. h. dem abſolu-
ten Rechte (§ 16) an. Vgl. oben
Note a. — Darum heißt auch jedes
Familienverhältniß eines Men-
ſchen vorzugsweiſe ein status deſ-
ſelben, das heißt ſeine Stellung
oder ſein Daſeyn im Verhältniß
zu beſtimmten anderen Menſchen.
Vgl. § 59 und Beylage VI.
(f) So Hegel Naturrecht § 175
„das Sklavenverhältniß der rö-
miſchen Kinder iſt eine der dieſe
Geſetzgebung befleckendſten Inſti-
tutionen, und dieſe Kränkung der
Sittlichkeit in ihrem innerſten und
zarteſten Leben iſt eins der wich-
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§. 54, Familienrecht.
in Rom (g), und daß eine wirklich knechtiſche, herabwür-
digende Behandlung der Söhne undenkbar war neben ei-
nem Staatsrecht, welches denſelben den Genuß aller politi-
ſchen Rechte, und ſelbſt die Fähigkeit zu den höchſten Ma-
giſtraturen, unbeſchadet der väterlichen Gewalt einräumte.
tigſten Momente, den weltge-
ſchichtlichen Charakter der Römer
und ihre Richtung auf den Rechts-
Formalismus zu verſtehen.“ Bey
ihm iſt das Misverſtändniß um
ſo unbegreiflicher, als er § 161
in der Ehe das nothwendige Zu-
ſammenwirken ſittlicher und recht-
licher Elemente ſehr wohl aner-
kennt, woraus von ſelbſt folgt,
daß bey jedem Volk das Ehe-
recht nur ein unvollſtändiges Bild
der Ehe ſelbſt giebt. Warum ſoll
denn aber nicht daſſelbe für die
väterliche Gewalt gelten? — Noch
weiter führt dieſen Irrthum Adam
H. Müller Elemente der Staats-
kunſt Th. 2 S. 59 — 65. Er
ſpricht von einer „väterlichen und
ehemännlichen Gewalt, ſo wie
ſie in unſern Geſetzbüchern nach
Römiſchem Zuſchnitt verordnet
wird,“ und vermißt deshalb in
den Römiſchen (und unſern) Fa-
milienverhältniſſen alle Gegenſei-
tigkeit. Nach ihm möchte man
glauben, wir ſchlöſſen noch unſre
Ehen durch Confarreation, da
doch ſchon in früher Zeit bey den
Römern die freye Ehe (ohne die
geringſte Spur von Gewalt) die
häufigſte war, und da dieſe allein
mit dem Römiſchen Recht zu uns
herüber gekommen iſt. Ferner
möchte man nach ihm glauben,
als ſpielten blos die Römiſchen
Geſetze eine traurige Rolle, „wenn
ſie ein unſichtbarer Geiſt der Liebe
oder des Zutrauens nicht ergän-
zen oder ſtützen will“ (S. 59).
Als ob je ein Geſetz in der Welt
dieſen unſichtbaren Geiſt entbehr-
lich gemacht oder hervorgebracht
hätte! Was alſo dieſer Schrift-
ſteller als eine Schwäche der Rö-
miſchen Geſetze mit Verachtung
darſtellt, iſt vielmehr eine Ein-
richtung, die Gott der menſchli-
chen Natur im Allgemeinen zu
geben gut gefunden hat.
(g) Dahin gehört auch die ſchöne
Beſchreibung des Familienlebens
früherer Zeiten bey Columella
de re rust. Lib. 12 praef. § 7. 8:
„Erat enim summa reverentia
cum concordia et diligentia mix-
ta .., Nihil conspiciebatur in
domo dividuum, nihil quod aut
maritus aut foemina proprium
esse juris sui diceret, sed in com-
mune conspicabatur ab utro-
que.” Und gerade in der guten
alten Zeit, die er ſchildert, kam
noch die in manum conventio,
alſo die ſtrenge Gewalt des Ehe-
mannes, häufiger vor, als in ſpä-
terer Zeit, worin ſie immer ſel-
tener wurde.
|0408 : 352|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
Dieſe allgemeine Characteriſtik des Familienrechts wird
nun noch anſchaulicher werden durch die Angabe des wah-
ren juriſtiſchen Inhalts ſeiner einzelnen Inſtitute. Er be-
ſteht bey jedem derſelben in den Bedingungen ſeines Da-
ſeyns und ſeiner Anerkennung, wozu folgende einzelne
Stücke gehören: die Vorausſetzungen der Möglichkeit ei-
nes ſolches Rechtsverhältniſſes, die Entſtehungsarten deſ-
ſelben, und die Gründe ſeiner Auflöſung. So bey der
Ehe, der väterlichen Gewalt, der Verwandtſchaft. Auch
beſchränkt ſich hierauf der juriſtiſche Inhalt, inſoweit er
dieſe Rechtsverhältniſſe für ſich ſelbſt betrifft. Es tritt
aber noch bey jedem hinzu der wichtige Einfluß, den daſ-
ſelbe außer ſeinen eigenen Gränzen auf andere Rechtsver-
hältniſſe ausübt; dieſer ſoll nunmehr für jedes der drey
Rechtsverhältniſſe beſonders angegeben werden.
Die Ehe hat folgende Wirkungen auf andere Rechts-
verhältniſſe:
1) Die Entſtehung der vaͤterlichen Gewalt über die in
der Ehe erzeugten Kinder. Dieſes iſt nämlich wiederum
ein ſelbſtſtändiges Familienverhältniß, worin durchaus keine
neue Beſtimmung für das wechſelſeitige Verhältniß der
Ehegatten ſelbſt enthalten iſt.
2) Schutz gegen Verletzung ihrer ſittlichen Würde durch
Anſtalten des Criminalrechts.
3) Mannichfaltige Beſtimmungen im Vermögensrecht,
als: dos, donatio propter nuptias u. ſ. w. Die meiſten
und wichtigſten dieſer Inſtitute ſind nicht unmittelbare und
|0409 : 353|
§. 54. Familienrecht.
nothwendige Folgen der Ehe ſelbſt, ſondern Folgen will-
kührlicher Handlungen, deren Möglichkeit aber durch das
Daſeyn der Ehe bedingt iſt.
Die väterliche Gewalt äußert ihren Einfluß auf
das Vermögen in folgender Weiſe. Das Kind iſt unfähig
für ſich ſelbſt Vermögen zu erwerben, alſo auch ſolches
zu haben; es iſt dagegen fähig, dem Vater zu erwerben,
ja dieſer Erwerb folgt nothwendig aus den Handlungen
des Kindes. Dieſe ſowohl mögliche als nothwendige Re-
präſentation des Vaters durch die erwerbenden Handlun-
gen des Kindes wird als Perſoneneinheit unter beyden
bezeichnet. Sie wird aber auf mancherley Weiſe einge-
ſchränkt durch die (zum Theil fälſchlich ſo genannten) Pe-
culien. — Vergleicht man dieſen vielfachen Einfluß der
väterlichen Gewalt mit den Naturverhältniſſen, welche
oben als Grundlage der Familie angegeben worden ſind,
ſo ergiebt ſich Folgendes. Das Erziehungsbedürfniß fin-
det ſeine Befriedigung allerdings in der väterlichen Ge-
walt, aber nicht eigentlich in der rechtlichen Seite derſel-
ben, ſondern in der rechtlich unbeſtimmten Macht, die der
Vater ohnehin über das Kind, auch ohne Rückſicht auf
deſſen Alter, hat. Alles Übrige aber, alſo gerade die
oben bemerkte rein juriſtiſche Einwirkung auf das Vermö-
gen, hat mit der Erziehung gar keinen Zuſammenhang.
Hierin zeigt ſich vielmehr unverkennbar die Anſicht, nach
welcher der Sohn die Perſönlichkeit des Vaters in ſich
aufnimmt und über des Vaters Leben hinaus fortführt,
23
|0410 : 354|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
um ſie dann auf die eigenen Kinder zu übertragen und in
ihnen weiter fortzuſetzen. Dieſe Anſicht zeigt ſich deutlich
in der Repräſentation des Vaters durch die Erwerbun-
gen des Kindes, ſo wie in der eigenthümlichen Art, wie
der Suus die väterliche Erbſchaft erwirbt. Sie zeigt ſich
auch in der Vermögensunfähigkeit des Kindes, wobey ohne
Zweifel die Anſicht zum Grunde liegt, daß dem Kinde ei-
genes Vermögen entbehrlich iſt, weil des Vaters Vermö-
gen faktiſch auch zugleich das ſeinige iſt (h). Daneben iſt
es durch dieſe Unfähigkeit von ſelbſt einleuchtend, warum
es nicht nöthig war, das Vermögen des in väterlicher Ge-
walt ſtehenden Kindes für die Jahre der Unmündigkeit be-
ſonders zu ſchützen; dieſe Bemerkung aber iſt hier nöthig,
weil in ihr der Ausgangspunkt liegt, aus welchem die
Tutel als ein künſtliches Surrogat hervorgeht (§ 55).
Die Verwandtſchaft endlich iſt das unbeſtimmteſte
unter jenen drey Verhältniſſen, ſchon deshalb weil es in
ſo verſchiedenen Abſtufungen erſcheint, und ſich zuletzt un-
merklich verliert. Ja es wird gewöhnlich nicht als ein
eigenes Familienverhältniß anerkannt, weil man den Cha-
racter eines ſolchen in gegenſeitige Rechtsanſprüche zu
(h) Ich ſage, es iſt faktiſch
zugleich das ſeinige, indem das
Kind bey einem natürlichen Zu-
ſtand des Familienlebens die Vor-
theile des Vermögens mit genießt.
Daneben beſteht ſehr wohl die
nur wenig beſchränkte rechtliche
Macht des Vaters, dem Kinde
jene Vortheile in der Gegenwart
zu verſagen, und für die Zukunft
zu entziehen. Es iſt alſo ein ähn-
liches Verhältniß wie bey der dos,
die juriſtiſch dem Manne gehört,
faktiſch der Frau; nur war bey
der dos mehr Veranlaſſung, die-
ſes Verhältniß auszubilden und in
beſtimmten Regeln auszuſprechen.
|0411 : 355|
§. 54. Familienrecht.
ſetzen pflegt, die Verwandten aber als ſolche, mit weni-
gen Ausnahmen, keine Rechte gegen einander haben. Nach
unſrer oben dargelegten Anſicht kann uns jedoch dieſer
Umſtand nicht hindern, auch die Verwandtſchaft als ein
eigenes Familienverhältniß zu behandeln. Denn auch bey
ihr ſind die rechtlichen Bedingungen ihres Daſeyns genau
beſtimmt. Eben ſo fehlt es ihr nicht an Einfluß auf an-
dere Rechtsverhältniſſe. Dieſer Einfluß zeigt ſich zunächſt
bey der Ehe, deren Möglichkeit durch gewiſſe Arten der
Verwandtſchaft ausgeſchloſſen wird. Ferner im Vermö-
gen, und zwar hier auf zweyerley Weiſe. Der wichtigſte
Einfluß iſt der auf das Erbrecht, wodurch allein ſchon die
genaueſte Feſtſtellung dieſes Verhältniſſes unentbehrlich
wird. Ein zweyter, minder wichtiger Einfluß zeigt ſich
in der Obligation auf Alimente, welche jedoch nur bey
einigen Arten der Verwandtſchaft eintritt; in dieſer liegt
der einzige gegenſeitige Rechtsanſpruch, der unter gleichzei-
tig lebenden Verwandten wahrzunehmen iſt.
Nach der hier dargelegten Anſicht iſt jedes Familien-
verhältniß, als ein natürlich-ſittliches betrachtet, ganz in-
dividuell, indem es in einer Wechſelbeziehung zwiſchen
zwey einzelnen Menſchen beſteht; als Rechtsverhältniß be-
trachtet aber iſt es ein Verhältniß Einer Perſon zu allen
übrigen Menſchen, indem es ſeinem eigenen Weſen nach
nur in dem Anſpruch auf allgemeine Anerkennung beſteht.
So z. B. hat ein Vater kraft der väterlichen Gewalt zu-
nächſt nur den Rechtsanſpruch, daß ihm das Daſeyn die-
23*
|0412 : 356|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
ſer Gewalt von Jedem, der es beſtreitet, anerkannt werde,
und dieſer Anſpruch geht gegen den Sohn ſelbſt nicht mehr
und nicht weniger, als gegen jeden Dritten. Daneben
aber kann ihm das einmal anerkannte Rechtsverhältniß
als Grundlage mannichfaltiger anderer Anſprüche (auf
Eigenthum, Erbfolge u. ſ. w.) dienen. Dieſe ganze An-
ſicht findet eine merkwürdige Beſtätigung in der Römiſchen
Klagform. Die Klage iſt hier ein praejudicium, das heißt
eine Klage, die nicht etwa eine condemnatio zur Folge
hat, ſondern nur den Ausſpruch über das Daſeyn eines
Verhältniſſes (i). Der Name dieſer Art von Klagen
kommt daher, daß ſie dazu dienen, andere, künftige Kla-
gen vorzubereiten. Alle dieſe Klagen endlich ſind in rem,
das heißt ſie gelten nicht ausſchließend gegen eine be-
ſtimmte verpflichtete Perſon, ſo wie die Klagen aus Obli-
gationen (k).
§. 55.
Familienrecht. Fortſetzung.
Bisher iſt die Familie in ihrem natürlichen Umfang
betrachtet worden. Nach dem Typus dieſer natürlichen
Familieninſtitute können aber durch das poſitive Recht
andere nachgebildet werden, die ſodann eine künſtliche Er-
weiterung des Familienrechts darbieten. Solche künſtliche
(i) Gajus IV. § 44. 94. Vgl.
L. 1 § 16 L. 3 § 3. 4 de agnosc,
(25. 3.). L. 1 § 4 de lib. exhi-
bendis (43. 30.).
(k) § 13 J. de act. (4. 6.).
|0413 : 357|
§. 55. Familienrecht. Fortſetzung.
Familienverhältniſſe unterſcheiden ſich von den natürlichen
darin, daß ſie nicht ſo wie dieſe auf einer natürlich-ſitt-
lichen Grundlage beruhen, weshalb ihr Daſeyn auch nicht
in einer allgemeinen Nothwendigkeit gegründet iſt. Nach
dem Römiſchen Kunſtausdruck alſo gehören ſie nicht zu
dem jus naturale.
Das Römiſche Recht kennt folgende Inſtitute dieſes
künſtlich erweiterten Familienrechts:
1) Manus. Sie beruht auf einer künſtlichen Verſchmel-
zung der beiden Hauptzweige der natürlichen Familie, der
Ehe mit der väterlichen Gewalt. Die Ehefrau wird da-
durch in das rechtliche Verhältniß einer Tochter des Ehe-
mannes verſetzt, worin alſo ein äußerer Zuſatz zu der
Ehe, und eine Modification derſelben, hauptſächlich in
Beziehung auf das Vermögen, enthalten iſt. — Allerdings
gilt aber dieſe Anſicht der manus nur von einer etwas
ſpäteren Zeit des Römiſchen Rechts, in welcher es der
Willkühr überlaſſen blieb, ob der Ehe noch dieſer beſon-
dere Zuſatz beygegeben werden ſollte. In der älteſten
Zeit war ſie die einzig mögliche Form der Ehe überhaupt.
2) Servitus. Das Verhältniß eines Sklaven zu ſei-
nem Gebieter hatte bey den Römern zwey ganz verſchie-
dene juriſtiſche Beziehungen, dominium und potestas, die
nur in der Wirklichkeit ſtets vereinigt waren. Nach der
einen war es reines, wahres Eigenthum, der Sklave ſtand
hierin jeder anderen Sache völlig gleich, er konnte veräu-
ßert werden, nicht nur dem vollen Eigenthum nach, ſon-
|0414 : 358|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
dern auch indem ein Uſusfructus, ein Uſus, oder ein
Pfandrecht an ihm beſtellt wurde; endlich galten gegen
jeden Verletzer dieſes Rechts dieſelben Klagen, wie gegen
den Verletzer eines andern Eigenthums, vor allen alſo
die Vindication. — Nach der andern Beziehung war es
ein Beſtandtheil der Familie, der väterlichen Gewalt nach-
gebildet und ſehr ähnlich gemacht. Dieſe Zuſammenſtel-
lung bewährt ſich durch das Eigenthum, welches urſprüng-
lich auch der Vater an den Kindern hatte, durch den ge-
meinſchaftlichen Namen potestas, und endlich darin, daß
die Sklaven den Kindern gleich ſtanden in der Unfähigkeit
zum Vermögen, in der möglichen und nothwendigen Re-
präſentation des Herrn durch die erwerbenden Handlun-
gen des Sklaven, und in dem Peculium. Wenn ſich un-
ſer Gefühl durch dieſe Gleichſtellung der Kinder mit den
Sklaven verletzt findet, ſo dürfen wir nicht vergeſſen, daß
der Sklave in der älteſten Zeit, worin dieſes Inſtitut feſt-
geſtellt wurde, der Ackerknecht des Herrn, alſo der Ge-
hülfe ſeiner Arbeit, und wohl meiſt auch ſein Tiſchge-
noſſe war. Bey der völlig veränderten Lebensweiſe der
ſpäteren Zeit, als die Sklaven Gegenſtände des Luxus
und der gewerblichen Speculation in der übertriebenſten
Ausdehnung wurden, hatte freylich jene Gleichſtellung al-
len Sinn und alle Schicklichkeit verloren. Es iſt aber
überhaupt eine der wichtigſten Krankheitsurſachen des Rö-
miſchen Zuſtandes, daß man nicht frühe und nicht gründ-
lich genug bedacht war, das Verhältniß der Sklaven und
|0415 : 359|
§. 55. Familienrecht. Fortſetzung.
der Freygelaſſenen nach den völlig veränderten Bedürfniſ-
ſen zu modificiren. — Zu dieſer zweyten Beziehung ge-
hört endlich auch noch die Manumiſſion, das heißt die
Fähigkeit des Herrn, dem Sklaven die Freyheit und in
der Regel ſelbſt die Civität zu ertheilen: endlich auch das
liberale judicium, oder die vindicatio in servitutem und
in libertatem, welche der potestas denſelben Schutz ge-
währt, wie die gewöhnliche vindicatio dem dominium. —
Noch etwas verſchieden von dieſem Allen iſt die dem Skla-
ven faſt gänzlich fehlende Rechtsfähigkeit. Denn dieſe
kann ſich auch bey ſolchen finden, über welche jetzt domi-
nium und potestas zufällig nicht beſteht, den servis sine
domino. Denn obgleich das ganze Rechtsinſtitut der Skla-
verey nur um der Gewalt des Herrn willen eingeführt
und ausgebildet worden war, ſo hatte man doch daraus
den allgemeinen Begriff des Sklavenſtandes, als ei-
nes Zuſtandes an ſich, gebildet, der nun auch in den Fäl-
len der zufällig herrenloſen Sklaven ſollte Daſeyn und
Wirkſamkeit haben können (a).
(a) Dahin gehören folgende
Fälle: 1) der servus poenae,
welcher keinesweges im Eigen-
thum des Staats war. L. 17
pr. de poenis (48. 19.). L. 3 pr.
de his q. pro non scr. (34. 8.).
L. 12 de j. fisci (49. 14.). L. 25
§ 3 de adqu. hered. (29. 2.). —
2) Der Nömer, der in Gefan-
genſchaft des Feindes kam; denn
der Feind war rechtlos, konnte
alſo auch keine potestas und kein
dominium haben. — 3) Der Frey-
gelaſſene, an welchem vor der
Freylaſſung ein Anderer den Nies-
brauch erworben hatte. Ulpian I.
§ 19 (L 1 C. comm. de manu-
miss. 7. 15.). — 4) Der von ſei-
nem Herrn derelinquirte Sklave.
L. 38 § 1 de nox. act. (9. 4.).
L. 36 de stip. serv. (45. 3.).
L. 8 pro derelicto (41. 7.). Es
war etwas ganz Specielles und
rein Poſitives, daß nach einem
|0416 : 360|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
3) Patronatus. Die Freylaſſung macht den Sklaven
zu einem Freyen, und ertheilt ihm nach Umſtänden bald
einen höheren, bald einen niederen Stand unter den Freyen.
Daneben ſteht aber ein perſönliches Verhältniß zwiſchen
dem Patron und dem Freygelaſſenen, welches auch ſelbſt
wieder die Natur eines Familienverhältniſſes annimmt, ſo
wie das Sklavenverhältniß dieſe Natur hatte, aus wel-
chem es durch Umwandlung hervorgieng. Das Patronat
hat bedeutenden Einfluß auf das Vermögensrecht, indem
ſich daran auf mannichfaltige Weiſe theils Erbfolge, theils
Obligationen anknüpfen. Dazu kommen noch Inſtitute
des Criminalrechts, welche zum Schutz der hohen Stel-
lung des Patrons, gegenüber dem Freygelaſſenen, be-
ſtimmt ſind.
4) Mancipii causa. Da die Herrſchaft des Vaters
über die Kinder in der älteſten Zeit vom Eigenthum in
der That kaum verſchieden war, ſo konnte er ſie auch
veräußern, und daſſelbe galt für den Ehemann, der die
Frau gleich einer Tochter in manu hatte. Allein dieſe
Edict des K. Claudius die hart-
herzige Dereliction eines kran-
ken Sklaven dieſem die Latini-
tät geben ſollte. L. 2 qui sine
manum. (40. 8.). L. un. § 3
C. de lat. libert. (7. 6.). Die
Regel blieb daneben unverändert.
— Der Zuſtand des servus poe-
nae war härter, als der des ser-
vus fisci: daher wurde der Ver-
urtheilte durch Begnadigung ser-
vus fisci, und das Kind der zu den
Bergwerken verurtheilten Frau
galt als servus fisci. L. 24 § 5.
6. de fideic. lib. (40. 5.). Auf
der andern Seite aber konnten
die herrenloſen Sklaven niemals
in Libertinität gerathen: wurden
ſie alſo frey (durch Reſtitution
des Verurtheilten, oder durch
Poſtliminium des Gefangenen),
ſo wurden ſie wieder Ingenui.
Paulus IV. 8. § 24.
|0417 : 361|
§. 55. Familienrecht. Fortſetzung.
veräußerten Freyen ſollten doch zu dem neuen Herrn in
einem anderen und milderen Verhältniß ſtehen als eigent-
liche Sklaven. Dieſes war die Mancipii causa, ein Mit-
telzuſtand zwiſchen Freyen und Sklaven, woraus ferner
durch Freylaſſung ein Patronat, ähnlich dem über wahre
Sklaven, entſtehen konnte. Nur in der Unfähigkeit zum
Vermögen, und in dem Erwerb für den Herrn, ſteht die-
ſer Abhängige dem Sklaven ganz gleich. — Dieſe Rechts-
verhältniſſe haben ſich, als blos juriſtiſche Formen bey
Auflöſung der väterlichen Gewalt, in ausgedehnter Übung
erhalten, nachdem ein ernſtlicher Verkauf der Kinder ſchon
längſt ungewöhnlich, ja ſelbſt ſtrafbar geworden war.
5) Tutela und Curatio. Der Kern dieſes Rechtsin-
ſtituts iſt unſtreitig die Tutel über die Unmündigen, und
dieſe muß als Surrogat der väterlichen Gewalt, wo eine
ſolche zufällig fehlt, betrachtet werden. Es fragt ſich nur,
in welchem Sinn ſie ein ſolches Surrogat iſt. Gewiß
nicht inſofern, als in der väterlichen Gewalt eine Perſo-
neneinheit liegt, denn dieſe iſt in der Tutel ſicher nicht
vorhanden. Eher könnte man an das Erziehungsverhält-
niß denken, aber auch dieſes liegt außer den Gränzen der
Tutel und kann nur ganz zufällig mit ihr verbunden ſeyn.
Der wahre Zuſammenhang aber iſt dieſer. Wenn der
Inhaber eines Vermögens unmündig iſt, ſo kann er ſein
Vermögen nicht vertreten, das heißt er iſt handlungsun-
fähig. Die meiſten Unmündigen nun ſtehen in väterlicher
Gewalt, und für ſie beſteht jene Schwierigkeit nicht, da
|0418 : 362|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
Alles was ihnen zufällt ohnehin in des Vaters Vermögen
ſich verliert, ſie ſelbſt alſo kein Vermögen haben können
(§ 54). Mit anderen Worten: ihre Handlungsunfähig-
keit wird unſchädlich durch ihre Rechtsunfähigkeit. An-
ders wenn der Unmündige zufällig ohne Vater iſt, alſo
ſelbſt Vermögen haben kann. Hier entſteht ein Misver-
hältniß zwiſchen der vorhandenen Rechtsfähigkeit und der
fehlenden Handlungsfähigkeit, welches einer künſtlichen po-
ſitiven Nachhülfe bedarf. Darauf allein gründet ſich die
urſprüngliche Tutel, denn in dieſem Fall allein iſt ein all-
gemeines, wichtiges, häufiges Naturbedürfniß vorhanden.
Die übrigen Fälle der Tutel, ſo wie die ganze Curatel,
beruhen wohl auf allmäligen Nachbildungen bey ähnlichem
Bedürfniß: das aber haben ſie alle mit jenem Hauptfall
gemein, daß ſie nur da vorkommen, wo nicht ſchon das
ſtreng juriſtiſche Verhältniß einer potestas oder manus
jede künſtlichere Nachhülfe überflüſſig macht. — Der ju-
riſtiſche Inhalt dieſer Verhältniſſe iſt ein zwiefacher. Erſt-
lich erſetzen ſie zunächſt die fehlende Handlungsfähigkeit
eines Rechtsfähigen. Zweytens verwandeln ſie ſich ſpä-
terhin in Obligationen zwiſchen dem, welcher Tutor oder
Curator war, und dem Pflegebefohlnen.
Auf die Fünf hier dargeſtellten Inſtitute des Familien-
rechts beſchränkte ſich deſſen künſtliche Erweiterung zur
Zeit der klaſſiſchen Juriſten. In Juſtinians Zeit hätte
noch ein ſechſtes hinzugefügt werden müſſen, das Colo-
nat, welches damals ſchon längſt eben ſo verbreitet als
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§. 55. Familienrecht. Fortſetzung.
wichtig war. Das Weſen deſſelben beſtand in einer erb-
lichen, unauflöslichen obligatio zum Bau eines beſtimmten
Bauergutes; es war der servitus verwandt, und doch da-
von weſentlich verſchieden (b). Daß dieſes Verhältniß im
erſten Buch unſrer Inſtitutionen nicht erwähnt wird, er-
klärt ſich nicht aus inneren Gründen, ſondern nur aus
der geringeren geiſtigen Selbſtthätigkeit des Juſtinianiſchen
Zeitalters. Man begnügte ſich die Bücher der klaſſiſchen
Zeit etwas zu modificiren, anſtatt das lebendige Recht der
Gegenwart ſelbſtthätig darzuſtellen, wodurch man in den
Kreis der Gegenſtände jener Bücher, mit wenigen Aus-
nahmen, gebannt blieb.
Die künſtlichen Familienverhältniſſe haben übrigens in
den wichtigſten Beziehungen eine ähnliche Beſchaffenheit
wie die natürlichen (§ 54); auch ſie ſind Rechtsverhält-
niſſe gegen Jeden, der ihre Anerkennung verweigert, und
auch ſie werden durch praejudicia geſchützt (c).
Ich habe die Benennung natürlicher und künſtlicher
Familienverhältniſſe gebraucht, um dadurch diejenigen Theile
des Familienrechts, welche juris naturalis ſind, von denen
welche es nicht ſind, ſcharf zu unterſcheiden. Zur Ver-
hütung jedes Misverſtändniſſes iſt aber zu bemerken, daß
die Römer den von mir als künſtlich bezeichneten Inſtituten
eine ſehr verſchiedene Natur zugeſchrieben haben. Bey der
manus und der mancipii causa konnte nicht verkannt wer-
(b) Savigny über den Rö-
miſchen Colonat, Zeitſchrift für
geſchichtl. Rechtsw. B. 6. Num. IV.
(c) § 13 J. de act. (4. 6.).
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Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
den, daß ſie dem Römiſchen Recht ganz eigenthümlich
ſeyen, alſo zum jus civile gehörten; dieſelbe Anſicht mag
man auch von dem Patronat gehabt haben. Dagegen
rechneten ſie die Tutel, ſo weit ſie ſich auf Unmündige
bezieht, zu dem jus gentium (d); eben ſo auch die Skla-
verey, die ja bey allen anderen Völkern eben ſowohl vor-
kam, als bey den Römern (e). In Beziehung auf dieſe
letzte iſt ſehr merkwürdig die Entwicklung der Rechtsan-
ſicht, welche in Folge des Chriſtenthums eingetreten iſt.
Kein Philoſoph des Alterthums hielt das Daſeyn eines
Staates ohne Sklaven für möglich. In allen chriſtlich-
europäiſchen Staaten dagegen gilt die Sklaverey für un-
möglich; und in den chriſtlichen Staaten außer Europa
gehört der Kampf um die Fortdauer oder Vernichtung der-
ſelben unter die wichtigſten Aufgaben, welche dem künfti-
gen Zeitalter vorbehalten ſind.
Mit den bisher dargeſtellten Familienverhältniſſen ſte-
hen noch zwey andere Rechtslehren in enger Verbindung:
die Repräſentation im Erwerb des Vermögens, und die
Rechtsfähigkeit in verſchiedenen Abſtufungen.
Die Repräſentation im Vermögens-Erwerb (§ 113)
iſt geknüpft an potestas, manus, mancipium, alſo an Drey,
oder eigentlich Vier, unter den oben dargeſtellten Fami-
lienverhältniſſen. Allein nicht alle Familienverhältniſſe ha-
(d) Gajus I. § 189.
(e) L. 1 § 1 de his qui sui (1. 6.), § 1 J. eod. (1. 8.).
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§. 55. Familienrecht. Fortſetzung.
ben dieſen wichtigen Einfluß: namentlich findet er ſich nicht
bey der Ehe als ſolcher, der Verwandtſchaft, dem Pa-
tronat, und der Vormundſchaft. Das Familienrecht geht
alſo viel weiter als dieſe Lehre, und darf mit ihr nicht
für identiſch gehalten werden.
Die Rechtsfähigkeit (welche in den §§ 64 fg. ausführ-
lich dargeſtellt werden wird) beruht auf drey Klaſſifica-
tionen der Menſchen, womit drey Stufen der capitis de-
minutio zuſammenhängen. Die Unterſchiede der liberi und
servi, der sui juris und alieni juris, ſind voͤllig in eini-
gen der oben angegebenen Familienverhältniſſe begründet;
dagegen liegt der dritte Unterſchied (cives, latini, pere-
grini) ganz außer den Gränzen des Familienrechts, ja des
Privatrechts überhaupt; auf der andern Seite aber haben
mehrere Familienverhältniſſe — Ehe als ſolche, Verwandt-
ſchaft, Patronat, Vormundſchaft — gar keinen Einfluß
auf die Rechtsfähigkeit. Alſo iſt auch die Lehre von der
Rechtsfähigkeit durchaus nicht identiſch mit dem Familien-
recht, vielmehr haben beide ganz verſchiedene Gränzen.
Zuletzt iſt noch die hiſtoriſche Entwicklung der zum Fa-
milienrecht gehörenden Inſtitute zu erwähnen. Schon zu
Juſtinians Zeit waren gänzlich verſchwunden die manus
und die mancipii causa. Bey dem Übergang des Römi-
ſchen Rechts nach dem neueren Europa ſind ferner ver-
ſchwunden die Sklaverey und das Patronat. Eben ſo
konnte das Römiſche Colonat im neueren Europa nicht
bleibende Anerkennung finden, weil die ihm ſehr ähnliche
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Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
Germaniſche Leibeigenſchaft die Stelle deſſelben völlig ein-
nahm. So iſt es durch dieſe in Italien und Frankreich
verdrängt, im größeren Theil von Deutſchland aber nie-
mals mit dem Römiſchen Recht aufgenommen worden.
Demnach ſind von allen jenen Inſtituten im heutigen Recht
nur noch folgende übrig geblieben: Ehe, väterliche Gewalt,
Verwandtſchaft, Vormundſchaft.
Dagegen ſind vom Mittelalter her gar manche Rechts-
inſtitute auf dem Boden des Germaniſchen Rechts neu ent-
ſtanden, in welchen, eben ſo wie in den ſchon bey den Römern
vorhandenen Familienverhältniſſen, ein ſittliches Element
als vorzugsweiſe einflußreich anerkannt werden muß, und
die theils in das Familienrecht, theils in das Staatsrecht,
wenigſtens theilweiſe aufzunehmen ſind, wenn ihre Natur
richtig aufgefaßt werden ſoll. Dahin gehört das ganze
Lehenverhältniß, die höchſt mannichfaltigen gutsherrlich-
bäuerlichen Verhältniſſe, und insbeſondere die ſchon er-
wähnte Germaniſche Leibeigenſchaft. Wir müſſen alſo ver-
meiden, die Gränzen des Familienrechts für alle Zeiten
und Völker feſtſtellen zu wollen, und vielmehr die Mög-
lichkeit freyer Entwicklung für jedes poſitive Recht aner-
kennen. — Auf beſonders merkwürdige Weiſe zeigt ſich
dieſe fortgehende Rechtsentwicklung in einem der verbrei-
tetſten Verhältniſſe unſers heutigen Zuſtandes, dem Dienſt-
botenrecht. Vom Standpunkt des Römiſchen Rechts aus
läßt ſich daſſelbe nur als ein Contract (operae locatae)
auffaſſen, und für die Römer war dieſe beſchränkte Be-
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§. 56. Vermögensrecht.
handlung hinreichend, da wegen des äußerſt zahlreichen
Sklavenſtandes das Bedürfniß freyer Dienſtboten faſt gar
nicht wahrgenommen wurde. Anders bey uns, die wir
keine Sklaven haben, weshalb jenes Verhältniß zu einem
höchſt wichtigen und verbreiteten Bedürfniß geworden iſt.
Nun reichen wir mit der beſchränkten Behandlung gleich
jedem anderen Arbeitsvertrag nicht aus, und ſo iſt im
Preußiſchen Landrecht auf ganz richtige Weiſe das Dienſt-
botenrecht nicht unter die Contracte, ſondern in das Per-
ſonenrecht aufgenommen worden (f).
§. 56.
Vermögensrecht.
Für das Vermögensrecht wurden oben (§ 53) zwey
Gegenſtände angegeben, Sachen und Handlungen. Darauf
gründen ſich die beyden Haupttheile deſſelben: Sachen-
recht und Obligationenrecht. Das erſte hat zum
Stoff den Beſitz, oder die faktiſche Herrſchaft über Sa-
chen. Als Recht erſcheint es einfach und vollſtändig in
der Geſtalt des Eigenthums, oder der unbeſchränkten
und ausſchließenden Herrſchaft einer Perſon über eine
Sache. Um uns aber das Weſen des Eigenthums klar
zu machen, müſſen wir von folgender allgemeinen Be-
trachtung ausgehen. Jeder Menſch hat den Beruf zur
Herrſchaft über die unfreye Natur; denſelben Beruf
aber muß er eben ſo in jedem andern Menſchen anerken-
(f) A. L. R. II. 5.
|0424 : 368|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I Weſen und Arten.
nen, und aus dieſer gegenſeitigen Anerkennung entſteht,
bey räumlicher Berührung der Individuen, ein Bedürfniß
der Ausgleichung, welches zunächſt als ein unbeſtimmtes
erſcheint, und nur in beſtimmter Begränzung ſeine Befrie-
digung finden kann. Dieſe Befriedigung nun erfolgt, ver-
mittelſt der Gemeinſchaft im Staate, durch poſitives Recht.
Wenn wir hier dem Staat die Geſammtherrſchaft über
die unfreye Natur innerhalb ſeiner Gränzen beylegen, ſo
erſcheinen die Einzelnen als Theilhaber dieſer gemeinſa-
men Macht, und die Aufgabe beſteht darin, eine beſtimmte
Regel zu finden, nach welcher die Vertheilung unter die
Einzelnen ausgeführt werde. Für eine ſolche Vertheilung
giebt es drey Wege, die nur nicht in einem ausſchließen-
den Verhältniß zu einander gedacht werden müſſen, ſon-
dern vielmehr in gewiſſem Maaße gleichzeitig zur Anwen-
dung kommen können. Wir können dieſe drey Wege fol-
gendergeſtalt bezeichnen:
1) Gemeingut und Gemeingenuß. Dieſes Verhältniß
findet ſich bey dem ganzen Staatsvermögen, mag nun
dieſes im Ertrag von Steuern, Regalien, oder Domänen
beſtehen, indem die aus dieſem Ertrag erhaltenen öffentli-
chen Anſtalten in der That von jedem Einzelnen (wenn-
gleich oft in verſchiedenen Graden) benutzt und genoſ-
ſen werden.
2) Gemeingut und Privatgenuß. Dieſe Art der Ver-
theilung (die ſeltenſte) findet ſich bey dem Römiſchen ager
|0425 : 369|
§. 56. Vermögensrecht.
publicus der älteſten Zeit; eben ſo, in heutigen Corpora-
tionen, bey dem was wir Bürgervermögen nennen.
3) Privatgut und Privatgenuß, abhängig von den im
poſitiven Recht anerkannten freyen Handlungen oder Na-
turereigniſſen. Dieſe, überall vorherrſchende, Form iſt die
einzige, mit welcher wir im Privatrecht zu thun haben.
Hierin liegt der Begriff des Eigenthums, deſſen vollſtän-
dige Anerkennung auf die Möglichkeit des Reichthums und
der Armuth, beides ohne alle Einſchränkung, führt.
Eine noch außer dem Eigenthum liegende Herrſchaft
des einzelnen Menſchen über die unfreye Natur iſt nicht
denkbar; wohl aber läßt ſich eine mannichfaltig begränzte
Herrſchaft innerhalb des Eigenthums denken, woraus dann,
je nach den Beſtimmungen jedes poſitiven Rechts, meh-
rere einzelne jura in re, als beſondere Rechtsinſtitute, ge-
bildet werden können. Alle mögliche Rechte an Sachen —
Eigenthum und jura in re — faſſen wir unter dem gemein-
ſamen Namen der dinglichen Rechte zuſammen (a).
Das Obligationenrecht hat zum Stoff die partielle
Herrſchaft über fremde Handlungen, wodurch dasje-
nige bedingt iſt und gebildet wird, was wir, im Gan-
zen zuſammen faſſend, als den Verkehr bezeichnen. Je-
doch eignen ſich nicht alle Handlungen zu Gegenſtänden
von Obligationen, ſondern nur diejenigen, welche durch
(a) Dieſe Terminologie iſt hier
nur im allgemeinen, um Misver-
ſtändniſſen vorzubeugen, angege-
ben worden. Die genauere Feſt-
ſtellung derſelben, eben ſo wie die
Angabe der einzelnen jura in re,
bleibt der beſonderen Lehre des
Sachenrechts vorbehalten.
24
|0426 : 370|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
ihre materielle Natur als aus der Perſon heraustretend
und den Sachen ähnlich betrachtet werden können.
Faſſen wir dieſes zuſammen, ſo zeigt ſich hier ein durch-
gehender Gegenſatz gegen das Familienrecht. In beiden
Theilen des Vermögensrechts beſteht der Stoff nicht ſo,
wie bey der Familie, in einem natürlich-ſittlichen Ver-
hältniß; ſie haben alſo keine gemiſchte Natur, ſondern
ſind vielmehr reine, bloße Rechtsverhältniſſe; ſie gehören
nicht dem jus naturale an, und die Anerkennung ihres
Daſeyns erſcheint minder nothwendig, mehr willkührlich
und poſitiv, als bey den Inſtituten des Familienrechts.
Auf der anderen Seite kann hier der Zweifel gar nicht
vorkommen, worin ihr wahrer rechtlicher Gehalt beſtehe.
Denn da in ihnen eine Erweiterung der individuellen Frey-
heit enthalten ſeyn ſoll (§ 53), ſo iſt eben dieſe Macht,
dieſe Herrſchaft die ſie uns gewähren, das was ihnen als
Rechtsinſtituten ihren Inhalt giebt.
Gegen die hier aufgeſtellte Behauptung, daß das Ver-
mögensrecht nicht, ſo wie das Familienrecht, ein ſittliches
Element in ſich ſchließe, könnte man einwenden, daß das
ſittliche Geſetz jede Art des menſchlichen Handelns zu be-
herrſchen habe, und daß alſo auch die Vermögensverhält-
niſſe eine ſittliche Grundlage haben müßten. Allerdings
haben ſie eine ſolche, indem der Reiche ſeinen Reichthum
nur als ein ſeiner Verwaltung anvertrautes Gut betrach-
ten ſoll, nur bleibt der Rechtsordnung dieſe Anſicht völlig
fremd. Der Unterſchied liegt alſo darin, daß das Fami-
|0427 : 371|
§. 56. Vermögensrecht.
lienverhältniß von Rechtsgeſetzen nur unvollſtändig be-
herrſcht wird, ſo daß ein großer Theil deſſelben den ſitt-
lichen Einflüſſen ausſchließend überlaſſen bleibt. Dagegen
wird in den Vermögensverhältniſſen die Herrſchaft des
Rechtsgeſetzes vollſtändig durchgeführt, und zwar ohne Rück-
ſicht auf die ſittliche oder unſittliche Ausübung eines Rechts.
Daher kann der Reiche den Armen untergehen laſſen durch
verſagte Unterſtützung oder harte Ausübung des Schuld-
rechts, und die Hülfe, die dagegen Statt findet, entſpringt
nicht auf dem Boden des Privatrechts, ſondern auf dem
des öffentlichen Rechts; ſie liegt in den Armenanſtalten,
wozu allerdings der Reiche beyzutragen gezwungen wer-
den kann, wenngleich ſein Beytrag vielleicht nicht unmit-
telbar merklich iſt. Es bleibt alſo dennoch wahr, daß dem
Vermögensrecht als einem privatrechtlichen Inſtitut kein
ſittlicher Beſtandtheil zuzuſchreiben iſt, und es wird durch
dieſe Behauptung weder die unbedingte Herrſchaft ſittli-
cher Geſetze verkannt, noch die Natur des Privatrechts in
ein zweydeutiges Licht geſetzt (vgl. § 52).
Auf den erſten Blick ſcheint das Verhältniß der ange-
gebenen beiden Theile des Vermögensrechts zu einander
ſchon durch ihren bloßen Gegenſtand ſo unabänderlich be-
ſtimmt, daß es überall in derſelben Weiſe gefunden wer-
den müßte. Bey genauerer Betrachtung aber zeigt ſich
hierin vielmehr ein ſehr freyer Spielraum für mannichfal-
tige Beſtimmungen des poſitiven Rechts verſchiedener Völ-
ker. Und zwar finden wir dieſe Verſchiedenheit theils in
24*
|0428 : 372|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
der Gränzſcheidung zwiſchen Sachenrecht und Obligatio-
nen, theils in der Beziehung worin beide Rechtstheile zu
einander gedacht werden. — Was die Gränzſcheidung be-
trifft, ſo giebt es allerdings einige äußerſte Punkte, bey
welchen die beſondere Natur des einen oder des andern
Rechtstheils ganz unverkennbar iſt: ſo auf der einen Seite
das ſtrenge Eigenthum mit unbeſchränkter Vindication, auf
der anderen Seite der Dienſtbotenvertrag und das Man-
dat. Allein zwiſchen dieſen liegt eine natürliche Annähe-
rung, ja ein allmäliger Übergang, darin, daß die meiſten
und wichtigſten Obligationen darauf abzwecken, durch
fremde Handlungen ein dingliches Recht, oder wenigſtens
die Ausübung und den Genuß eines ſolchen, zu erlan-
gen (b). In dieſer Beziehung nun iſt im Römiſchen Recht
characteriſtiſch ein ſcharfes Hervortreten des Eigenthums,
welches ſich theils in der unbeſchränkten Wirkung der Vin-
dication äußert (c), theils in der ſehr beſchränkten Möglich-
keit einer Verminderung des Eigenthums durch jura in re (d).
(b) Nämlich alle dandi obli-
gationes. — Darauf gründet ſich
der Sprachgebrauch mancher neue-
ren Schriftſteller, nach welchem
die Obligationen (jura persona-
lia) eingetheilt werden in jura
pers. in specie, und jura ad
rem. Daries Inst. jurispr. priv.
§ 31. — Eben ſo nimmt das Preu-
ßiſche A. L. R. Th. 1. Tit. 2 § 123.
124 als Gattung das perſönliche
Recht, als einzelne Art das Recht
zur Sache an.
(c) Im Gegenſatz derſelben
nimmt das Franzöſiſche Recht in
der Regel keine Vindication be-
weglicher Sachen an, ſondern nur
ausnahmsweiſe bey beſonderen Ar-
ten des Beſitzverluſtes. Eben ſo
giebt das Preußiſche Recht dem
redlichen Käufer bey Sachen aller
Art das Recht, vom Eigenthü-
mer Erſatz des Kaufpreiſes zu
verlangen.
(d) Das R. R. läßt jura in re
nur in beſtimmten einzelnen Fäl-
|0429 : 373|
§. 56. Vermögensrecht.
Alles hängt nun davon ab, ob die Sache an ſich, un-
abhängig von einer fremden Handlung, ſchon Gegenſtand
unſres Rechtes iſt, oder ob unſer Recht unmittelbar nur
auf eine fremde Handlung, als unſrer Herrſchaft unter-
worfnen Gegenſtand, gerichtet iſt, mag auch dieſe Hand-
lung zum Ziel haben, uns das Recht an einer Sache,
oder den Genuß derſelben, zu verſchaffen. Als ſicheres
Kennzeichen dieſer Gränze dient das Daſeyn einer in rem
oder in personam actio (e), welcher Unterſchied zwar mei-
ſtens, aber keinesweges allgemein, mit dem Unterſchied
eines unbeſtimmten oder beſtimmten Gegners zuſammen
fällt (f). — Auch die Beziehung beider Vermögenstheile
len als möglich zu. Das Preu-
ßiſche Recht dagegen erklärt je-
des Nutzungsrecht an fremden
Sachen für dinglich, ſobald Be-
ſitz hinzutritt, ohne Unterſchied der
Veranlaſſung und des Zweckes.
(e) Das ſoll nicht heißen, die
Gränze dieſer beiden Klagearten
fiele überhaupt zuſammen mit
den Gränzen des Sachenrechts
und Obligationenrechts, denn es
giebt ſehr wichtige in rem actio-
nes, die nicht in das Sachenrecht
gehören. Wohl aber ſind alle
Klagen aus dinglichen Rechten in
rem, alle Klagen aus Obligatio-
nen in personam. Die genauere
Feſtſtellung dieſes Punktes gehört
zu einem ſpäter folgenden Ab-
ſchnitt.
(f) Häufig ſagt man, das We-
ſen der in rem actio, im Ge-
genſatz der in personam, beſtehe
darin, daß jene gegen jeden Drit-
ten, gegen jeden Beſitzer, gehe,
dieſe aber nicht. Allein die a. quod
metus causa geht als in rem
scripta gegen jeden Dritten, und
iſt darum nicht minder in per-
sonam. — Indeſſen ſind doch die-
ſes immer nur ſeltene Ausnah-
men, und wenn wir den Gegen-
ſtand im Großen auffaſſen, ſind
wir wohl berechtigt zu ſagen, die
dinglichen Rechte unterſcheiden ſich
von den Obligationen gerade durch
ihre allgemeine Wirkſamkeit ge-
gen Alle, nicht blos gegen be-
ſtimmte Individuen. Eine Folge
dieſes im Großen richtigen Un-
terſchieds iſt denn auch die, daß
die dinglichen Rechte, da ſie auf
unbeſtimmte Gegner, alſo in der
größten Ausdehnung wirken ſol-
len, auch eine feſter beſtimmte Na-
tur haben als die Obligationen,
|0430 : 374|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
auf einander kann durch jene ſchwankende Gränze leicht
verdunkelt werden. Das Römiſche Recht hält beide ſtreng
aus einander, und behandelt jeden Theil für ſich als ganz
unabhängig innerhalb ſeiner Gränzen. So das Eigenthum
als ſelbſtändige Herrſchaft über eine Sache, ohne Rück-
ſicht auf die Obligation die etwa als Vermittlung und
Vorbereitung dazu diente: die Obligation als ſelbſtändige
Herrſchaft über eine fremde Handlung, ohne Rückſicht auf
das dingliche Recht worauf dieſe Handlung vielleicht ab-
zweckt. Von dieſer, der Natur jener Rechte völlig ange-
meſſenen Behandlung iſt nun eine zwiefache Abirrung mög-
lich: entweder indem die Obligationen allein in’s Auge
gefaßt werden, ſo daß die dinglichen Rechte nur als Fol-
gen oder Entwicklungen derſelben erſcheinen (g): oder in-
dem umgekehrt die dinglichen Rechte allein als wahrer
Gegenſtand der Rechtsbeſtimmungen erſcheinen, da dann
die Obligationen nur als Erwerbungsmittel der dinglichen
Rechte in Betracht kommen (h). Jede dieſer Behandlungs-
d. h. daß ſie mehr abſolutes Recht
oder jus publicum (§ 16) ent-
halten.
(g) So geſchieht es bey Domat,
lois civiles. Er theilt das ganze
Recht in Engagemens (Recht un-
ter Lebenden) und Successions
(Erbrecht). Die Engagemens ſind
Obligationen, neben welchen nur
gelegentlich auch dingliche Rechte
als Folgen oder Verſtärkungen
vorkommen.
(h) So im Franzöſiſchen Code
civil, welcher drey Bücher hat:
1) Perſonen, 2) Sachen und Modi-
ficationen des Eigenthums, 3) Er-
werbungsarten des Eigenthums;
dieſe ſind dreyfach: a) Succes-
sions, d. h. Inteſtaterbfolge, b) do-
natio inter vivos und Teſtament,
c) Wirkung ber Obligationen.
(Art. 711.). — Allein dieſes Über-
gewicht des Eigenthums iſt hier
doch nur ſcheinbar, da das zweyte
Buch ſehr mager iſt, das dritte
dagegen den größten Theil des
ganzen Privatrechts enthält, wo-
bey die vorherrſchende Rückſicht
|0431 : 375|
§. 56. Vermögensrecht.
weiſen iſt ſchon an ſich, als gezwungen und einſeitig, der
Einſicht in die wahre Natur der Rechtsverhältniſſe hin-
derlich: nicht zu gedenken, daß ſie auf manche Rechtsver-
hältniſſe ganz und gar nicht paſſen, ſo daß dieſe bey con-
ſequenter Durchführung des Grundgedankens eigentlich ganz
wegfallen müßten (i).
Wir verſtehen nun in der einzelnen Anwendung unter
Vermögen die Totalität aller hier beſchriebenen Ver-
hältniſſe, inſoferne ſie ſich auf eine beſtimmte Perſon als
deren Träger beziehen. Dieſer wichtige Rechtsbegriff wird
noch durch folgende nähere Beſtimmungen ausgebildet.
Erſtlich iſt die Beziehung dieſer Rechte auf eine beſtimmte
Perſon zufällig und wandelbar, ſo daß alſo jedes Ver-
mögen einen beſtimmten Umfang hat nur unter Voraus-
ſetzung eines gegebenen Zeitpunktes, und daß es in jedem
anderen Zeitpunkt einen ganz verſchiedenen Inhalt haben
kann. Zweytens können wir in der allgemeinen Betrach-
tung des individuellen Vermögens abſtrahiren von der Be-
ſchaffenheit der einzelnen Rechte, woraus es gerade be-
ſteht, und durch dieſe Abſtraction verwandelt es ſich für
unſre Betrachtung in eine reine Quantität von gleicharti-
auf das Eigenthum nur in der
Überſchrift figurirt. — Eben ſo
betrachtet das Preußiſche Land-
recht die obligatoriſchen Verträge
und die Teſtamente nur als Titel
zum Erwerb des Eigenthums
(Th. I. Tit. 11. 12. 13.).
(i) So z. B. findet ſich conſe-
quenterweiſe bey Domat für die
Occupation und die ſogenannte
Specification kein Platz. Das
Preuß. Landrecht und der Code
civil behandeln das Mandat als
ein Mittel zum Erwerb des Ei-
genthums, obgleich daſſelbe nach
ſeiner allgemeinen Natur eben ſo-
wohl auf andere Zwecke gerich-
tet ſeyn kann.
|0432 : 376|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
gem Gehalt. Die abſtracte Behandlung des Vermögens
aber macht es ferner möglich und nöthig, in daſſelbe auch
die paſſive Seite der Obligationen mit hinein zu ziehen,
das Verhältniß des Schuldners, welches nicht ſo, wie
das bisher betrachtete Vermögen, eine erweiterte Freyheit
begründet, ſondern eine verminderte. Indem wir auf dieſe
Weiſe auch die Schulden als Beſtandtheile des Vermö-
gens anſehen, müſſen wir annehmen, daß die Totalität
eines jeden Vermögens bald ein Plus, bald ein Minus,
bald auch eine völlige Indifferenz oder eine Null, darſtel-
len kann.
Dieſe rein quantitative Behandlung des Vermögens,
ohne welche eine Handhabung des Rechts nur in ſehr un-
vollkommener Weiſe möglich ſeyn würde, wird vermittelt
durch den Begriff des Werthes, oder der Gleichſtellung
verſchiedenartiger Vermögensrechte durch Reduction auf
ein gemeinſchaftliches Drittes. Und dieſer Begriff wie-
derum wird äußerlich dargeſtellt und in das wirkliche Le-
ben eingeführt durch das Geld, ſo daß alſo für den ju-
riſtiſchen Gebrauch Werth und Geldwerth gleichbedeutende
Ausdrücke ſind, und auch in der That abwechſelnd ange-
wendet zu werden pflegen (k). Das individuelle Vermö-
(k) Im älteren Römiſchen Pro-
zeß trat dieſe praktiſche Zurück-
führung aller, auch der verſchie-
denartigſten, Rechte auf Geld-
werth beſonders ſichtbar hervor.
Gajus IV. § 48. — Hegel Na-
turrecht § 63 beſtimmt die Be-
griffe von Werth und Geld im
Ganzen richtig, und iſt nur darin
einſeitig, daß er lediglich einen
Eigenthums- oder Verkaufswerth
anerkennt, alſo weder einen Ge-
brauchswerth annimmt, noch ei-
nen Sachwerth unter Voraus-
|0433 : 377|
§. 56. Vermögensrecht.
gen wird alſo dadurch in eine reine Quantität verwan-
delt, daß alle Beſtandtheile deſſelben in das Eigenthum
von Geldſummen aufgelöſt werden: ſo das Eigenthum je-
der anderen Sache — alle jura in re — der bloße Ge-
brauch einer Sache, natürlich mit beſonderer Rückſicht auf
deſſen Dauer — endlich auch Obligationen, alſo Forde-
rungen und Schulden, mögen ſie nun auf das Verſchaffen
dinglicher Rechte und ihres bloßen Genuſſes gerichtet ſeyn
oder nicht (dare, facere). Dadurch wird es möglich, auch
die reine faciendi obligatio auf wahres Eigenthum zurück-
zuführen (l), ſo daß ſich nun das individuelle Vermögen
ſtets als Eigenthum einer Geldſumme, oder als unbezahl-
bare Geldſchuld, oder als völliges Nichts auffaſſen läßt.
Zugleich aber erhält nunmehr einen beſtimmteren Sinn
die im Anfang dieſes §. gemachte Bemerkung, daß nicht
alle Handlungen zu Gegenſtänden von Obligationen gleich-
mäßig geeignet ſind: es eignen ſich nämlich dazu nicht
diejenigen Handlungen, für welche die Verwandlung in
Geldſummen völlig undenkbar ſeyn würde; wenigſtens kön-
ſetzung eines unveräußerlichen Ei-
genthums; gewiß alſo noch weit
weniger einen Werth der Hand-
lungen, insbeſondere der Arbeit,
die er in jener Stelle nur nicht
erwähnt. Allein durch dieſe unnö-
thige Beſchränkung verliert jener
Begriff den größten Theil ſeiner
Brauchbarkeit.
(l) Welche praktiſche Folgen an
dieſe bloße Möglichkeit zu
knüpfen ſind, bleibt hier noch
ganz unentſchieden. Erſt im Obli-
gationenrecht kann unterſucht wer-
den, ob eine ſolche Verwandlung
ſtets in der Wahl des Schuldners
ſteht, oder ob ſie nur als Aus-
hülfe gelten darf da wo der ur-
ſprüngliche Gegenſtand der Obli-
gation nicht mehr möglich iſt.
|0434 : 378|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
nen dieſe nur uneigentlich und in unvollkommner Weiſe
als Obligationen angeſehen werden.
In dem Begriff des individuellen Vermögens iſt die
Einheit, die wir ihm zuſchreiben, gegründet in der Perſon
des Inhabers. Für beſtimmte Zwecke aber läßt ſich die-
ſer einmal für ſich ausgebildete Begriff auch auf irgend
eine andere, künſtlich angenommene Begränzung übertra-
gen, wobey denn die Einheit eine willkührlich angenom-
mene iſt. Dieſes kommt vor bey dem Peculium und der
Dos, die allerdings für gewiſſe Zwecke als eigen begränz-
tes Vermögen angeſehen werden (m). Man bezeichnet häufig
jeden Fall dieſer Art als Universitas juris. Der Name
Universitas paßt darauf unſtreitig, denn dieſer bezeichnet
überall ein jedes Ganze im Gegenſatz ſeiner Beſtandtheile
gedacht (n). Die Zuſammenſetzung beider Ausdrücke kommt
in der Römiſchen Sprache nicht vor. Aber wichtiger und
tadelnswerther iſt es, daß man ſich durch dieſen neu er-
fundenen Kunſtausdruck hat verleiten laſſen, jenen Fällen
eine gemeinſchaftliche Natur zuzuſchreiben, und darauf ei-
(m) Zu dieſen zwey Fällen
kommt noch ein viel wichtigerer
hinzu, die Erbſchaft; davon aber
kann erſt im folgenden §. gere-
det werden.
(n) Dieſe Benennung wird an-
gewendet ohne Unterſchied, ob es
ein Ganzes von Perſonen iſt (z. B.
eine Bürgergemeine), oder von
Sachen (Heerde, Bibliothek), oder
von Rechten (Peculium, Dos);
ferner bey der Universitas von
Sachen, ohne Unterſchied ob die
Theile körperlich zuſammenhän-
gen (Haus im Gegenſatz der Bal-
ken und Steine) oder nicht (Heer-
de): ohne Unterſchied ob der kör-
perliche Zuſammenhang durch die
Natur hervorgebracht iſt (Thier
und Pflanze im Gegenſatz der ein-
zelnen Theile) oder durch menſch-
liche Willkühr (Haus).
|0435 : 379|
§. 57. Vermögensrecht. Fortſetzung.
nige willkührlich angenommene Rechtsregeln anzuwenden.
Es hat aber vielmehr jeder dieſer Fälle ſeine ganz eigene
Natur, und es iſt für jeden derſelben dieſe Natur und
die dafür geltende Rechtsregel beſonders feſtzuſtellen (o).
§. 57.
Vermögensrecht. Fortſetzung.
Es iſt oben (§ 53) bemerkt worden, daß in der Wirk-
lichkeit die Verhältniſſe der Familie und des Vermögens
einander vielfach berühren, und daß dieſe Berührung in
jeder dieſer beiden Klaſſen eigenthümliche Entwicklungen
erzeugt. So war im Familienrecht die Sklaverey lediglich
entſtanden aus der Aufnahme eines Falles des gewöhnli-
chen Eigenthums in die Familiengeſellſchaft: die potestas
war alſo Folge des dominium, und theilte alle Schickſale
deſſelben, wie ſich dieſes namentlich in der unbedingt mög-
lichen Veräußerung und Vererbung der Sklaven zeigt. Pa-
tronat und Mancipium hatten ſich wieder aus der Skla-
verey herausgebildet: die Vormundſchaft hat ihren Zweck
und ihre Bedeutung lediglich in dem Vermögen. Das
Colonat ſchließt ſich ganz an ein obligatoriſches Verhält-
niß an, welches den Inhalt deſſelben ausmacht, und deſ-
ſen Schickſale es theilt, z. B. in dem Übergang auf die
Erben des Herrn.
(o) Dieſer Gegenſtand iſt auf
gründliche und überzeugende Weiſe
behandelt von Haſſe über Uni-
versitas juris und rerum, Archiv
B. 5. N. 1.
|0436 : 380|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
Eben ſo finden ſich nun auch ähnliche Rückwirkungen
der Familie auf das Vermögen. Die erſte und unmittel-
barſte beſteht darin, daß eigenthümliche Vermögensinſti-
tute an die einzelnen Familienverhältniſſe ſelbſt ſich anſetzen:
dingliche Rechte nämlich und Obligationen, die in dieſer
Geſtalt und mit dieſem Verlauf nur unter der Voraus-
ſetzung beſtimmter Familienverhältniſſe möglich ſind. Wir
nennen die Geſammtheit derſelben das angewandte Fa-
milienrecht, und dieſes iſt gerade dasjenige, was der
Familie vorzugsweiſe ihren eigentlich juriſtiſchen Character
giebt (§ 54).
Außerdem iſt aber auch das Vermögensrecht in ſeinen
eigenen Gränzen derjenigen weiteren Entwicklung empfäng-
lich und bedürftig, die wir mit dem Namen des Erb-
rechts bezeichnen; deſſen Bedeutung ſoll nunmehr darge-
legt werden.
Urſprünglich betrachteten wir das Vermögen als eine
Machterweiterung des einzelnen Menſchen, folglich als ein
Attribut deſſelben in ſeiner abgeſchloſſenen Perſönlichkeit.
Da nun dieſe von vergänglicher Natur iſt, ſo muß das
Vermögen jedes Menſchen mit deſſen Tod ſeine rechtliche
Bedeutung verlieren, das heißt in das Nichts zurück fal-
len. Allein alles Recht überhaupt erhält ſeine Realität
und Vollendung erſt im Staate, als poſitives Recht die-
ſes Staates, und ſo konnte auch das Eigenthum zu einem
wirklichen Daſeyn nur dadurch gelangen, das es zunächſt
auf den Staat und vermittelſt der im poſitiven Recht des
|0437 : 381|
§. 57. Vermögensrecht. Fortſetzung.
Staats ausgebildeten Regeln auf die einzelnen Rechtsge-
noſſen im Staate, als Eigenthümer, bezogen wurde (§ 56).
Wenden wir dieſe Auffaſſung auf den erwähnten Fall an,
da ein Vermögen durch den Tod ſeines Inhabers auf-
hört, als ein Attribut deſſelben zu beſtehen, ſo wird es
nun nicht mehr in das Nichts zurückfallen, indem ſeine
Beziehung auf jene entferntere Grundlage, wegen der un-
vergänglichen Natur des Staates ſtets fortdauert. Wie
nun oben für die rechtliche Ausbildung der Herrſchaft des
Menſchen über die unfreye Natur verſchiedene mögliche
Wege dargeſtellt wurden, ſo kann auch ein ſolches, durch
den Tod zunächſt herrenlos gewordenes, Vermögen auf
verſchiedene Weiſe behandelt werden, um dem geſammten
Rechtsorganismus als Beſtandtheil ununterbrochen erhal-
ten zu bleiben.
Die erſte mögliche Behandlung zu dieſem Zweck liegt
darin, daß das Vermögen als Privatvermögen fortdauert,
indem durch eine Art von Fiction der Verſtorbene als
über ſeinen Tod hinaus fortwirkend angeſehen wird. Auch
dieſes wieder kann auf zweyerley Art geſchehen: theils in-
dem der im Leben ausgeſprochene Wille noch nach dem
Tode das Schickſal des Vermögens beſtimmt (Teſtamente
und Erbverträge); theils indem Diejenigen die Herrſchaft
über das Vermögen fortſetzen, welche dem Verſtorbenen
während ſeines Lebens in irgend einer Weiſe nahe ſtan-
den (Inteſtaterbfolge): wobey denn vorzugsweiſe der Ge-
|0438 : 382|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
danke an die durch die Blutsverwandtſchaft begründete
Fortſetzung der Individualität (§ 53) von Einfluß iſt.
Nach einer zweyten möglichen Behandlung wird das,
was bisher Privatvermögen war, bey dem Tod des In-
habers in Staatsvermögen verwandelt. Dieſes findet ſich
nicht ſelten in den Staaten des Orients. Aber auch im
chriſtlichen Europa tritt häufig dieſes Verfahren ein, wie-
wohl auf weit beſchränktere Weiſe; nämlich überall wo
Erbſchaftsſteuern eingeführt ſind, deren eigentliches We-
ſen in einer Theilung der Erbſchaft zwiſchen dem Staat
und anderen Erben beſteht.
Uns geht hier nur die erſte mögliche Löſung der Auf-
gabe an, nicht blos weil ſie im Römiſchen Recht aner-
kannt iſt, ſondern auch weil ſie allein dem Privatrecht
angehört, mit welchem wir uns ausſchließend zu beſchäf-
tigen haben. Bey dieſer nun entſteht vor allem die wich-
tige Frage, in welcher juriſtiſchen Form jener Übergang
des erledigten Vermögens auf neue Privat-Inhaber be-
wirkt werden ſoll. Die Verſchiedenheiten, welche in die-
ſer Hinſicht wahrgenommen werden, hängen nicht etwa
von verſchiedenen Principien ab, zwiſchen welchen zu wäh-
len wäre, ſondern vielmehr von der mehr oder weniger
gründlichen Auffaſſung und Löſung der Aufgabe ſelbſt. Es
wäre denkbar, daß eine Geſetzgebung ſich auf Beſtimmun-
gen beſchränkte, wodurch die einzelnen Beſtandtheile des
Vermögens, inſoferne ſie Etwas werth ſind, auch wirklich
an die Perſonen gebracht würden, welchen das erledigte
|0439 : 383|
§. 57. Vermögensrecht. Fortſetzung.
Vermögen zufallen ſoll; dadurch wäre für den unmittel-
bar praktiſchen Zweck nothdürftig geſorgt. Betrachtet man
aber das eigentliche Weſen und Bedürfniß des hier vor-
liegenden Rechtsverhältniſſes, ſo muß das Vermögen als
Einheit behandelt werden, deren Grund in der gemein-
ſamen Beziehung auf den verſtorbenen Inhaber zu ſuchen
iſt; dieſe Behandlung aber führt nothwendig weiter zur
Durchführung der Anſicht des Vermögens als einer rei-
nen Quantität, mit Abſtraction von der verſchiedenen Be-
ſchaffenheit ſeiner einzelnen Beſtandtheile (§ 56). In der
Kunſtſprache wird dieſes ſo ausgedrückt: alle Erbfolge iſt
zu behandeln als eine Successio per universitatem, neben
welcher nur auf untergeordnete Weiſe, und als beſchrän-
kende Ausnahme, eine beſondere Succeſſion in einzelne
Vermögenstheile vorkommen kann (a). Es gehört zu den
merkwürdigſten Erſcheinungen in der Geſchichte des Rö-
miſchen Nechts, daß in demſelben dieſe Anſicht auf ſo
klare und beſtimmte Weiſe anerkannt und durchgeführt
worden iſt, und zwar lediglich durch ächt praktiſchen Takt,
lange zuvor ehe an eine wiſſenſchaftliche Ausbildung die-
ſes Rechtsinſtituts gedacht werden konnte (b).
(a) Ich gebrauche dieſe Aus-
drücke hier nur vorläufig; die ge-
nauere Feſtſtellung derſelben, ſo
wie die der Succeſſion im Allge-
meinen, wird in einem nachfol-
genden Abſchnitt vorkommen.
(b) Ich bin weit entfernt zu
behaupten, daß die Römer die-
ſes Verhältniß ſchon frühe auf
eine abſtracte Weiſe aufgefaßt und
beſtimmt hätten. Es giebt aber
eine rein praktiſche Veranlaſſung,
auf dieſe Frage einzugehen, wo-
bey es ſich dann zeigen muß, ob
man ihren wahren Sinn erkannt
hat oder nicht: dieſes ſind die
Forderungen und Schulden in der
Erbſchaft. Was nun darüber
|0440 : 384|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
Es geht hieraus eine zwiefache Betrachtung des ganzen
Erbrechts hervor, deren jede gleich wahr und wichtig iſt. Es
erſcheint daſſelbe nehmlich erſtlich als eine Erwerbungsart
aller einzelnen zum Vermögen gehörenden Rechte, als ad-
quisitio per universitatem (c). Zweytens erſcheint der
Gegenſtand deſſelben als ein eigenthümliches, für ſich be-
ſtehendes Recht, als eine universitas (d), und hierauf be-
zieht ſich insbeſondere die eigenthümliche Art der Rechtsver-
folgung, die dabey eintritt. Beide Auffaſſungen vereinigen
ſich in der Anſicht, nach welcher die Erben mit dem Ver-
ſtorbenen Eine Perſon ausmachen, alſo denſelben fort-
ſetzen oder repräſentiren. Durch dieſe Anſicht wird alſo
das urſprüngliche Verhältniß völlig umgekehrt. Denn an-
ſtatt daß urſprünglich der Menſch als die Subſtanz ge-
dacht werden muß, das Vermögen als Accidens, indem
es die Freyheit des Menſchen nur modificirt durch Erwei-
ſchon die zwölf Tafeln beſtimmt
haben, war ſo durchgreifend und
befriedigend, daß die Rechtswiſ-
ſenſchaft zur Zeit ihrer höchſten
Ausbildung Nichts daran zu beſ-
ſern vorfand. Die ganze Suc-
cessio per universitatem war
alſo ſchon damals in voller Be-
ſtimmtheit gedacht. Vergl. L. 6
C. fam. herc. (3. 36.). L. 25
§ 9. 13 eod. (10. 2.). L. 7 C.
de her. act. (4. 16.). L. 26 C.
de pactis (2. 3.).
(c) Bey Gajus, und daher auch
in Juſtinians Inſtitutionen, iſt
das ganze Erbrecht nur von die-
ſem Geſichtspunkt aus in das
Syſtem der Rechtsinſtitute einge-
fügt worden. Die Einſeitigkeit
dieſer Auffaſſung zeigt ſich nun
unter andern auch darin, daß es
als Erwerbungsgrund des Ei-
genthums dargeſtellt iſt, da es
doch in dieſer Hinſicht dem Ei-
genthum nicht mehr und nicht
weniger angehört, als den Obli-
gationen.
(d) Die Erbſchaft wird daher
von den Neueren eine universi-
tas juris genannt, an welchen
unächten Ausdruck ſich dann wei-
ter manche die Sache betreffende
nicht unwichtige Irrthümer an-
ſchließen (§ 56).
|0441 : 385|
§. 57. Vermögensrecht. Fortſetzung.
terung, ſo erſcheint uns nunmehr das Vermögen als das
Bleibende und Weſentliche, zu welchem ſich die einzelnen
Inhaber nur als vorübergehende, wechslende Beherrſcher
verhalten.
Als Gegenſtand des Erbrechts wurde hier ſtets das
Vermögen ausſchließend behandelt, worin die Behaup-
tung liegt, daß die Familienverhältniſſe nicht zu den Ge-
genſtänden deſſelben gehören. Eigenthum und Obligatio-
nen alſo werden vererbt, Ehe, väterliche Gewalt und
Verwandtſchaft werden nicht vererbt. Allein diejenigen
künſtlichen Inſtitute des Familienrechts, die ſich ganz an
ein zum Vermögen gehörendes Recht anſchließen, müſſen
auch die Schickſale deſſelben theilen (§ 55). So wer-
den die Sklaven, wie jedes andere Eigenthumsſtück, ver-
erbt: eben ſo die Colonen mit dem Bauergute, mit wel-
chem ſie unzertrennlich verbunden ſind.
In der Aufſtellung des Erbrechts liegt die Vollendung
des Rechtsorganismus, welcher dadurch über die Lebens-
gränze der Individuen hinaus erſtreckt wird. Vergleichen
wir das Erbrecht mit demjenigen, was wir früher als
Vermögensrecht kennen gelernt haben, ſo erſcheint es dem-
ſelben nicht untergeordnet, ſondern coordinirt. Von dem
nun gewonnenen höheren Standpunkt aus müſſen wir in
dem geſammten Vermögensrecht zwey Haupttheile anneh-
men: das gleichzeitige und das ſucceſſive Vermögensrecht.
Das erſte enthält die Bedingungen, unter welchen jedes
Individuum für irgend einen gegebenen Zeitpunkt Vermö-
25
|0442 : 386|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
gen für ſich begründen kann (Sachenrecht und Obligatio-
nenrecht). Zwar kann auch hierin ein Wechſel durch Än-
derungen in der Zeit eintreten, aber er iſt zufällig, und
dem Weſen des Vermögens fremd. Bey dem zweyten
dagegen erſcheint dieſer Wechſel als nothwendig herbeyge-
führt durch das jedem Individuum vorbeſtimmte Lebens-
ziel, ja er ſelbſt iſt die Grundlage und der eigentliche
Inhalt des ganzen Rechtsverhältniſſes.
§. 58.
Überſicht der Rechtsinſtitute.
Die hier verſuchte Zuſammenſtellung der Rechtsinſti-
tute iſt gegründet auf das innerſte Weſen derſelben, näm-
lich auf ihren organiſchen Zuſammenhang mit dem We-
ſen des Menſchen ſelbſt, welchem ſie inhäriren. Alle an-
dere Eigenſchaften derſelben müſſen dagegen vergleichungs-
weiſe als untergeordnet, und zur Grundlage des ganzen
Rechtsſyſtems nicht geeignet erſcheinen. Dahin gehören
insbeſondere folgende Beziehungen. Erſtlich das Object
der Rechtsverhältniſſe, oder dasjenige was durch ſie un-
ſrem Willen eigentlich unterworfen wird (a). Dieſe Be-
ziehung hat nur Realität unter Vorausſetzung der Herr-
ſchaft als Grundcharacters der Rechtsverhältniſſe, wobey
man allerdings zunächſt zu fragen hat, was von uns
beherrſcht werden ſoll. Sie eignet ſich alſo zu einer Un-
(a) So wird der Begriff des
Rechtsobjects richtig beſtimmt von
Puchta, Rhein. Muſeum B. 3
S. 298.
|0443 : 387|
§. 58. Überſicht der Rechtsinſtitute.
terabtheilung des Vermögensrechts (§ 56), aber nicht zu
einer höchſten Eintheilung überhaupt, da ſie auf die Fa-
milie nicht paßt (§ 54). — Zweytens gehört dahin die
Beſchaffenheit der dem Berechtigten gegenüber ſtehenden
Perſon, je nachdem nämlich unſer Recht gegen alle Men-
ſchen überhaupt gerichtet iſt, oder nur gegen beſtimmte
Individuen. Von dieſem Standpunkt aus würden die
Rechtsinſtitute ſcheinbar alſo anzuordnen ſeyn:
1) Gegen Alle: die dinglichen Rechte und das Erb-
recht.
2) Gegen beſtimmte Individuen: die Familienverhält-
niſſe und die Obligationen.
Hieraus entſteht eine ſcheinbare Verwandtſchaft der
Familie mit den Obligationen, wodurch ſich Manche ha-
ben täuſchen laſſen. Die Unwahrheit derſelben beruht
darauf, daß dasjenige, was zwiſchen den beiden Indivi-
duen vorgeht, in beiden Fällen etwas völlig Ungleicharti-
ges iſt. Denn bey den Obligationen iſt es partielle Un-
terwerfung des Einen unter des Andern Willen: bey der
Familie iſt es ein natürlich-ſittliches, daneben auch recht-
liches, Lebensverhältniß, welches durch Beider Verbindung
fortwährend hervorgebracht werden ſoll, und wobey eine
ſolche Unterwerfung gar nicht Inhalt des Rechtsver-
hältniſſes iſt, welches vielmehr nur in dem allgemei-
nen, gegen Alle gerichteten Anſpruch auf Anerkennung des
Daſeyns dieſes Familienbandes beſteht (§ 54). Es iſt
alſo eine blos äußerliche und zufällige Verwandtſchaft,
25*
|0444 : 388|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
wodurch man ſich in dieſem Fall täuſchen läßt, nicht wahre
Gleichartigkeit (b).
Die einzelnen Rechtsinſtitute ſelbſt ſind bis hierher in
folgender Ordnung aufgezählt worden, wobey nur gegen-
wärtig diejenigen weggelaſſen werden ſollen, welche für
das heutige Römiſche Recht keine Bedeutung mehr haben:
Ehe.
Väterliche Gewalt.
Verwandtſchaft.
Vormundſchaft.
Reines Familienrecht.
Schenrecht, oder Eigenthum und Jura in re.
Obligationen.
Angewandtes Familienrecht.
Erbrecht.
Es fragt ſich aber, ob es möglich und zweckmäßig iſt,
dieſelben auch in dieſer Ordnung darzuſtellen, ob alſo die
natürliche Reihe, worin uns die Begriffe dieſer Inſtitute
vor Augen treten, zugleich auch als die zweckmaͤßige Lehr-
folge anzuſehen iſt. Dagegen ſcheint beſonders folgende
Einwendung erheblich. Es iſt zwar an ſich möglich, das
(b) Nur durch Misverſtändniß
könnte dieſes ſo gedeutet werden,
als würde hier der Familie ein
ſchwächeres Band zwiſchen Indi-
viduen zugeſchrieben in Verglei-
chung mit den Obligationen. Ge-
rade umgekehrt afficirt die Fa-
milie den ganzen Menſchen in
ſeinem innerſten Weſen: die Obli-
gation geht nur auf des Schuld-
ners äußere, als von ihm ablös-
bar zu denkende Handlung (§ 56).
Das Band iſt alſo bey der Fa-
milie gewiß kein ſchwächeres, wohl
aber ein anderes: die Herrſchaft
und Unfreyheit, worin das We-
ſen der Obligation beſteht, iſt für
das Gebiet, worin die Familie ihr
wahres Weſen hat, viel zu ma-
teriell.
|0445 : 389|
§. 58. Überſicht der Rechtsinſtitute.
angewandte Familienrecht von dem reinen zu trennen, und
als einen eigenen Abſchnitt des ganzen Vermögensrechts
abzuhandeln: allein die lebendige Anſchauung der Familien-
verhältniſſe muß nothwendig dabey gewinnen, wenn mit
der Familie an ſich, auch die Einflüſſe derſelben auf das
Vermögen in unmittelbare Verbindung gebracht werden.
Soll nun dieſes geſchehen, ſo iſt es durchaus nöthig, das
ganze Familienrecht hinter das Vermögensrecht zu ſtellen,
weil der Einfluß der Familie auf das Vermögen nicht ver-
ſtanden werden kann, wenn nicht eine zuſammenhängende
Darſtellung des Sachenrechts und der Obligationen vor-
hergegangen iſt. Das Erbrecht endlich würde völlig un-
verſtändlich bleiben müſſen, wenn nicht eine vorangehende
genaue Darſtellung der Familie den Grund dazu gelegt
hätte. Aus dieſen Betrachtungen ergiebt ſich folgende An-
ordnung der Rechtsinſtitute, die ich als die einfachſte und
zweckmäßigſte meiner Darſtellung zum Grund legen werde:
Sachenrecht.
Obligationen.
Familienrecht (reines und angewandtes).
Erbrecht.
Nach dieſer Darlegung des Inhalts unſers Rechtsſy-
ſtems könnte man erwarten, daß nun ſogleich die Dar-
ſtellung des Sachenrechts beginnen werde. Wir befinden
uns dagegen jetzt noch inmitten eines allgemeinen Theils
von nicht unbeträchtlichem Umfang. Ein ſolcher iſt nun auch
ſchon von anderen Schriftſtellern aufgeſtellt worden, und
|0446 : 390|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
hat nicht ſelten dazu dienen müſſen, Rechtsinſtitute unter-
zubringen, wofür in dem Syſtem ſelbſt kein bequemer
Platz aufzufinden ſchien; dieſe Behandlung deſſelben als
einer bloßen Nothhülfe iſt denn von anderen Seiten wie-
der vielfältig getadelt worden. Es fragt ſich aber, ob
nicht ein Grund innerer Nothwendigkeit für ein ſolches
Verfahren aufzufinden iſt, woraus ſich dann zugleich die
rechten Gränzen deſſelben ergeben würden.
Wenn wir es verſuchen, die einzelnen Rechtsinſtitute
in dem lebendigen Zuſammenhang ihrer Theile, alſo voll-
ſtändig darzuſtellen, ſo kommen wir dabey nothwendig auf
manche Seiten ihres Weſens, die bey jedem anderen In-
ſtitut gleichfalls erſcheinen, wenngleich vielleicht mit eini-
gen Modificationen. Dahin gehört hauptſächlich die Na-
tur der Rechtsſubjecte, und insbeſondere ihrer Rechtsfä-
higkeit: ferner die Entſtehung und der Untergang der Rechts-
verhältniſſe: endlich der Schutz der Rechte gegen Verletzung,
und die daraus hervorgehenden Modificationen der Rechte
ſelbſt. Es giebt in der That kein Rechtsinſtitut, in welchem
nicht die Erörterung dieſer Fragen nöthig und wichtig wäre.
Wir könnten nun ſolche Stücke bey jedem Inſtitut wieder
ganz und von Neuem abhandeln, aber eine Wiederholung
dieſer Art würde weder für den Schriftſteller noch für
den Leſer erträglich ſeyn. Wir könnten ſie ganz und voll-
ſtändig bey dem erſten vorkommenden Rechtsinſtitut (alſo
nach unſrer Anordnung bey dem Eigenthum) abhandeln,
und bey den nachfolgenden darauf verweiſen: allein auch
|0447 : 391|
§. 58. Überſicht der Rechtsinſtitute.
dieſes Verfahren würde ſogleich als willkührlich und un-
verhältnißmäßig ſich darſtellen. Dazu kommt aber noch
die wichtigere Rückſicht, daß das wahrhaft Gemeinſame
in ſolchen Theilen der Rechtsinſtitute gerade durch die Zu-
ſammenſtellung gründlicher erkannt werden kann. Und ſo
erſcheint es denn von allen Seiten gerathen, dieſes wirk-
lich Gemeinſame auszuziehen und dem Syſtem der beſon-
deren Rechtsinſtitute voran zu ſtellen, um dann bey je-
dem einzelnen die Modificationen, die für daſſelbe gelten,
an jene gemeinſame Grundlage anknüpfen zu können.
Allerdings kann die Aufſtellung eines ſolchen allgemei-
nen Theils dadurch der richtigen Einſicht nachtheilig wer-
den, daß auf dieſe Weiſe leicht als allgemein dargeſtellt
wird, was in der That nur in einer concreten Beziehung
Anwendung findet. So z. B. wenn in den allgemeinen
Theil die Lehre von den Zinſen oder von der Correal-
ſchuld aufgenommen wird, welche beide doch nur für die
Obligationen gelten können. Noch häufiger, als eine ſolche
unrichtige Stellung ganzer Rechtsinſtitute, wird die unge-
hörig allgemeine Behandlung mancher beſonderen Begriffe
oder Rechtsſätze vorkommen, und dieſe wird, weil ſie un-
ſcheinbarer iſt, ſogar noch leichter zu irrigen Anſichten ver-
leiten können. Hierin iſt alſo große Sorgfalt anzuwen-
den, damit nicht das Beſondere ſchon durch die falſche
Stellung einen täuſchenden Schein von Allgemeinheit er-
halte, wodurch die richtige Gränze zwiſchen dem wahr-
haft Allgemeinen und dem Beſonderen überſchritten wer-
|0448 : 392|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
den würde. Ohnehin war für unſre Wiſſenſchaft von
jeher eine der ergiebigſten Quellen falſcher Anſichten in
einem grundloſen Beſtreben nach Abſtractionen zu finden:
dieſes Beſtreben aber kann durch die willkührliche und un-
kritiſche Aufſtellung eines allgemeinen Theiles ganz beſon-
ders befördert werden. So wenig aber dieſe Gefahr ver-
kannt, und die Warnung gegen eine übertriebene Ausdeh-
nung des allgemeinen Theils verſäumt werden ſoll, ſo
kann doch auch umgekehrt die Wahrheit dadurch gefähr-
det werden, daß ein Begriff oder ein Rechtsſatz nicht in
der ihm wirklich zukommenden Allgemeinheit aufgefaßt
wird. Und ſo iſt alſo hier, wie überall, der Takt, wel-
cher das rechte Maaß zu halten weiß, der einzige Schutz
wider entgegengeſetzte Verirrungen.
Vielleicht wäre über dieſen Punkt von jeher weniger
Zweifel und Streit entſtanden, wenn man ſtets die ver-
ſchiedenen Zwecke und Formen der Mittheilung nach ihrer
Eigenthümlichkeit in’s Auge gefaßt hätte. In einer Vor-
leſung über Inſtitutionen iſt es gewiß räthlich, ſo ſchnell
als möglich auf das Beſondere einzugehen, damit vor
Allem der Zuhörer in den Beſitz concreter Anſchauungen
von Rechtsinſtituten geſetzt werde. In den Vorleſungen
über Pandekten läßt ſich ſchon mehr Allgemeines mitthei-
len, ohne Gefahr, daß dieſes für den Zuhörer geſtaltlos
und ohne Anſchaulichkeit bleibe. Aber noch weiter darf
der Schriftſteller gehen, da dieſer gewiß auf eine große
Mehrzahl von Leſern rechnen kann, die in der Mitthei-
|0449 : 393|
§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.
lung nur eine neue Zuſammenſtellung und Verarbeitung,
oder aber eine kritiſche Prüfung und Berichtigung, der
in ihnen bereits vorhandenen concreten Kenntniſſe finden
werden.
§. 59.
Abweichende Meynungen über die Klaſſification.
Es iſt nicht meine Abſicht, die vielfachen Arten, wie
Andere den inneren Zuſammenhang der Rechtsinſtitute ge-
dacht, und darnach auch ihre Darſtellung derſelben ange-
ordnet haben, einzeln durchzugehen. Manches, das zu
ihrer Beurtheilung dienen kann, iſt ſchon in der Darle-
gung meines eigenen Planes enthalten. Ein Misverſtänd-
niß von allgemeinerer Natur muß jedoch hier noch erwähnt
werden. Soll uns eine vollſtändige Einſicht in das We-
ſen der Rechtsverhältniſſe entſtehen, wie ſie in das wirk-
liche Leben eingreifen, ſo iſt es nicht genug, ihren Inhalt
zu kennen, alſo die Wirkſamkeit, die ihnen in der gegen-
wärtigen Zeit zuzuſchreiben iſt, ſondern es muß uns zu-
gleich ihr eigener Lebensprozeß klar werden, alſo neben
der ſtabilen Seite ihrer Natur auch die bewegliche Seite
derſelben. Dazu gehört ihre Entſtehung und Auflöſung,
ihre Entwicklung und ihr möglicher Übergang in neue Ge-
ſtalten (Metamorphoſe), vorzüglich auch ihre Verfolgung
wenn ſie verletzt werden. Man hat nun zuweilen dieſe
einzelnen Momente in dem organiſchen Leben der Rechts-
|0450 : 394|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
verhältniſſe als eigene, neue Rechte aufgefaßt, ſie mit den
urſprünglichen Rechtsverhältniſſen auf Eine Linie geſtellt,
und nun die Stelle aufgeſucht, die ihnen im Syſtem aller
Rechte anzuweiſen wäre (a). Ein ſolches Verfahren konnte
nur zur Verwirrung der Begriffe führen.
Wenngleich nun die Prüfung der einzelnen Verſuche
zur ſyſtematiſchen Anordnung der Rechtsverhältniſſe hier
im Allgemeinen abgelehnt wird, ſo muß dieſes doch eine
Ausnahme leiden bey derjenigen Anordnung, die wir in
Juſtinians Inſtitutionen finden. Denn dieſe iſt ſeit Jahr-
hunderten von ſo vielen Lehrern und Schriftſtellern (we-
nigſtens der Abſicht und dem Namen nach) befolgt wor-
den, daß ſie das hiſtoriſche Gewicht einer großen Autori-
tät mit ſich führt, und daß es nöthig iſt, die Verſchieden-
heit der von mir vorgezogenen Anordnung zu rechtferti-
gen, wenigſtens zu erklären (b). Was wir bis auf die
neueſte Zeit als die Juſtinianiſche Anordnung kannten, das
kennen wir jetzt genauer als die des Gajus, welche Ju-
ſtinian durchaus beybehalten hat, ſoweit nicht eine Abän-
derung durch die in dem Rechte ſelbſt eingetretenen Ände-
(a) So war die Rede von dem
Recht des Menſchen, ſeinen Wil-
len zu erklären, eine Ehe oder
einen obligatoriſchen Vertrag zu
ſchließen, Eigenthum zu erwer-
ben, eine Klage anzuſtellen, Re-
ſtitution zu begehren u. ſ. w.
(b) Mit beſonderer Vorliebe
und Gründlichkeit hat dieſen Ge-
genſtand Hugo in folgenden
Schriften behandelt: Civ. Maga-
zin B. 4. Num. I. und IX. (1812).
B. 5. Num. XV. (1825). B. 6.
Num. XV. (1832). Encyclopädie
8te Ausg. S. 60—65 (1835). —
Außer ihm iſt von neueren Schrift-
ſtellern beſonders zu bemerken
Düroi Archiv für cipiliſt. Praxis
B. 6. S. 432—440.
|0451 : 395|
§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.
rungen augenſcheinlich herbeygeführt werden mußte. Dieſe
Ordnung des Gajus nun haben wir nach zwey Geſichts-
punkten zu prüfen: nach ihrer Entſtehung und Verbrei-
tung, und nach dem innern Werthe.
Was den erſten Geſichtspunkt (den hiſtoriſchen) betrifft,
ſo hat man nicht ſelten angenommen oder ſtillſchweigend
vorausgeſetzt, die Eintheilung in persona, res, actio, als
die drey Gegenſtände der Rechtsregeln (c), ſey eine uralte
und allgemein Roͤmiſche, indem ſie in allen oder den mei-
ſten Syſtemen Roͤmiſcher Juriſten wirklich befolgt worden
ſey (d). In der That kommen ſolche typiſche Gegenſätze
im Roͤmiſchen Recht vor, deren altes und feſt begründe-
tes Daſeyn aus dem überall wiederkehrenden, ſtets gleich-
foͤrmigen Sprachgebrauch unzweifelhaft wird. Dahin ge-
hoͤrt das vi, clam, precario, die drey Arten der Abhän-
gigkeit nach potestas, manus, mancipium, die drey capitis
deminutiones, die drey Stände der cives, latini, peregrini.
Daß ſolche Gegenſätze eine tiefe Wurzel in den Rechtsan-
ſichten ſelbſt hatten, und daß ſie wiederum auf die Be-
(c) So iſt dieſe Eintheilung zu
verſtehen, indem Gajus I. § 8
ſagt: „Omne jus quo utimur
vel ad personas pertinet, vel
ad res, vel ad actiones,” gerade
ſo wie er § 1 geſagt hatte: „Popu-
lus itaque Romanus partim suo
proprio, partim communi om-
nium hominum jure utitur.”
Persona, res, actio ſind ihm alſo
Gegenſtände der Rechtsregeln,
nicht der Befugniſſe, oder (nach
einem bekannten Sprachgebrauch)
es iſt ihm eine Eintheilung des
objectiven Rechts, nicht des ſub-
jectiven.
(d) Hugo nahm früher eine
ſolche Allgemeinheit für die den
Namen Institutiones führenden
Werke Römiſcher Juriſten an, ſpä-
ter erklärte er ſie für zweifelhaft.
Civ. Magazin B. 5 S. 403. 404,
B. 6 S. 286. 287. 337.
|0452 : 396|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
handlung der Theorie einwirkten, iſt nicht zu bezweifeln.
Ein ähnlich altes und verbreitetes Daſeyn ließe ſich aller-
dings auch bey der Eintheilung nach persona, res, actio
denken, und dann wäre ihre Wichtigkeit im Zuſammen-
hang mit dem Inhalt des Roͤmiſchen Rechts nicht zu be-
zweifeln; es fragt ſich nur, ob dieſes denkbare auch wahr
iſt. Zu dieſer Annahme aber haben wir nicht den gering-
ſten hiſtoriſchen Grund, ja ſie wird vielmehr dadurch ſehr
unwahrſcheinlich, daß derſelbe Gajus ein verwandtes Werk
(die res quotidianae) nach einem andern Plane geſchrie-
ben hat, und daß die Inſtitutionen des Florentinus, in
welchen man nach dem gleichen Titel dieſelbe Ordnung
mit den Inſtitutionen des Gajus erwarten möchte, den-
noch eine andere Ordnung befolgen (e). Wir haben alſo
keinen Grund, jener Eintheilung irgend eine allgemeine
Verbreitung zuzuſchreiben, vielmehr iſt es eben ſo möglich,
daß ſie blos auf einer individuellen, zufälligen Anſicht des
Gajus beruhte, der eben damals gerade ſo anzuordnen
für gut fand, und damit verſchwindet voͤllig das hiſtori-
ſche Gewicht, welches man darauf zu legen verſucht hat (f).
(e) Göſchen in der Zeitſchrift
für geſchichtliche Rechtswiſſenſchaft
B. 1. S. 74 — 76.
(f) Hugo civil. Magaz. B. 5
S. 417. B. 6 S. 284 hat noch ei-
nen andern Weg eingeſchlagen,
jener Eintheilung einen tiefen hi-
ſtoriſchen Grund zu vindiciren.
Sie ſoll nämlich gar nicht in der
Rechtswiſſenſchaft entſtanden ſeyn,
ſondern auf einer allgemeinen Le-
bensanſicht beruhen, die ſich die
alten Juriſten nur aneigneten,
nachdem ſie dieſelbe bey irgend
einem nichtjuriſtiſchen Schrift-
ſteller gefunden hatten. Wäre
dieſe Annahme auch mehr als
bloße Hypotheſe, ſo würde ſie
doch eher gegen als für den all-
gemeinen Gebrauch bey den Rö-
|0453 : 397|
§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.
Es bleibt nun noch übrig, jene Eintheilung nach dem
zweyten Geſichtspunkt, alſo nach ihrem innern Werthe,
zu prüfen. Dazu aber iſt vor Allem eine genaue Feſt-
ſtellung ihrer wahren Bedeutung noͤthig, worüber die neue-
ren Schriftſteller, mehr als man glauben ſollte, ſehr ver-
ſchiedene Meynungen haben.
Was iſt zuvörderſt der Inhalt des erſten Theils de
personis? Viele haben dieſen Theil von jeher ſo aufge-
faßt, als enthalte er die Lehre vom status, d. h. (wie ſie
dieſen Ausdruck verſtanden) von den wichtigſten Zuſtän-
den oder Eigenſchaften der Perſonen als Rechtsſubjecte,
alſo überhaupt die Lehre von den Rechtsſubjecten. Man
unterſchied nun weiter natürliche und civile Zuſtände, und
zählte unter jene das Alter, die Geſundheit u. ſ. w., un-
ter dieſe hauptſächlich die Bedingungen der Rechtsfähig-
keit, Freyheit, Civität, Unabhängigkeit, die auch wohl als
status principales beſonders ausgezeichnet wurden. Daß
nun die status in dieſem Sinn im erſten Buch der Inſti-
tutionen von Juſtinian und Gajus großentheils nicht vor-
kommen, ergiebt der Augenſchein, man mußte ſich daher
mit der Vorausſetzung beruhigen, daß man hierin Juſti-
nians unvollſtändige Darſtellung verbeſſert habe, wodurch
aber die ganze Annahme dieſes Geſichtspunktes für jenes
miſchen Juriſten beweiſen. Denn
der Gebrauch einer Form von ſo
zufälliger, dem Recht fremdarti-
ger Entſtehung ließe ſich etwa als
Einfall eines einzelnen Schrift-
ſtellers denken, aber es iſt nicht
glaublich, daß dieſer Einfall hätte
zu allgemeiner Anerkennung kom-
men ſollen.
|0454 : 398|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
erſte Buch ſehr zweifelhaft wird. Mehr Conſequenz und
ein ſchärfer beſtimmter Begriff findet ſich in Hugo’s Be-
hauptung, der erſte Theil (de personis) ſey nichts An-
deres, als die Lehre von der Rechtsfähigkeit, oder
von den drey Eigenſchaften, die der dreyfachen Capitis
deminutio entſprechen (g). Es widerſpricht aber dieſer An-
nahme der wirkliche Inhalt des erſten Buchs von Gajus
und Juſtinian. Denn die in der dritten divisio enthal-
tene Lehre von der Vormundſchaft hat mit der Rechtsfä-
higkeit gar Nichts zu ſchaffen, da ſie weder auf einen
Mangel derſelben, noch auf einen Erſatz für dieſen Man-
gel ſich bezieht (h). Dagegen fehlt auf der anderen Seite
einer der drey Hauptunterſchiede für die Rechtsfähigkeit,
der Unterſchied der Cives, latini, peregrini (i). Da nun
(g) Civil. Magazin B. 4 S. 20.
21. 235 — 237. — Andere ſuchen
zu vermitteln, indem ſie ſagen,
das Perſonenrecht ſey die Lehre
von dem Status und den Fami-
lienverhältniſſen; ſie nehmen alſo
einen zweyfachen, durch keinen ge-
meinſamen Begriff verbundenen
Inhalt an, welche Annahme ſchon
an ſich ſehr bedenklich iſt. So
Mühlenbruch I. § 78. — Düroi
Archiv B. 6 S. 437 ſagt, status
oder conditio bezeichne gewiſſe
wichtige Unterſchiede ohne gemein-
ſchaftliche innere Merkmale; mit
der Annahme einer ſo gedanken-
loſen Willkührlichkeit wird den
Römiſchen Juriſten ſchlechte Ehre
erwieſen. Daneben behauptet er,
es gehöre dahin der Unterſchied
der cives, latini, peregrini, der
doch als ſolcher im erſten Buch
des Gajus und der Inſtitutionen
gar nicht vorkommt.
(h) Die Vormundſchaft iſt le-
diglich ein Erſatz für die fehlende
Handlungsfähigkeit. Das giebt
auch Hugo ſelbſt zu, Rechtsge-
ſchichte S. 120 der 11ten Ausg.
(i) Über dieſen wichtigen Punkt
täuſcht man ſich gewöhnlich durch
den Umſtand, daß Gajus gele-
gentlich, aus Veranlaſſung an-
derer Rechtsinſtitute, dieſe Ein-
theilung der Perſonen erwähnt:
namentlich bey dem connubium
(1 § 56), der causae probatio
(1 § 66 fg.), dem Soldatenteſta-
ment (2 § 110), und am ausführ-
lichſten bey den drey Klaſſen der
|0455 : 399|
§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.
alſo das erſte Buch der Inſtitutionen weſentlich Mehr und
weſentlich Weniger enthält, als es nach dem von Hugo
angenommenen Inhalt deſſelben enthalten müßte, ſo ſcheint
mir dadurch dieſe Annahme ſelbſt voͤllig widerlegt. — Be-
trachten wir aber genauer dasjenige, was in der That im
erſten Buch der Inſtitutionen vorgefunden wird, ſo iſt es
faſt ganz daſſelbe, was ich oben als Familienrecht bezeichnet
habe. Es handelt nämlich in der That von Ehe, väter-
licher Gewalt, Manus, Sklaverey, Patronat (nämlich
von den Freygelaſſenen nach ihren verſchiedenen Klaſſen),
Mancipium, Vormundſchaft (k). Dagegen kommen nicht
vor die Cives, latini, peregrini, ſo wichtig dieſe auch für
die Rechtsfähigkeit ſind: denn dieſe gehoͤren an ſich in das
oͤffentliche Recht, obgleich eine Einwirkung derſelben auf
das Privatrecht (durch die Rechtsfähigkeit) unverkennbar
iſt. Nur die Verwandtſchaft, die ich als Zweig der Fa-
Freygelaſſenen, alſo bey dem Pa-
tronat, womit bey jeder dieſer
drey Klaſſen verſchiedene Rechte
verbunden ſind (1 § 12 fg.). Die-
ſes letzte kann leicht für eine ab-
ſichtliche Darſtellung der erwähn-
ten Eintheilung angeſehen wer-
den, allein es iſt doch auf jeden
Fall nur eine ganz einzelne An-
wendung jenes ſo allgemeinen Un-
terſchieds. Wollte man ſagen, es
ſey zur Zeit des Gajus die wich-
tigſte Anwendung geweſen, ſo
wäre das offenbar falſch. Denn
die vielen Millionen freygeborner
Peregrinen in den Provinzen wa-
ren doch gewiß wichtiger als die
dediticii, und auch an freyge-
bornen Latinen in ſehr großer
Anzahl konnte es nicht fehlen, da
die Latinität, welche Veſpaſtan
an ganz Spanien gab (Plinius
hist. nat. III. 4.), ſo viel wir
wiſſen, erſt in der allgemeinen
Civität von Caracalla unterge-
gangen iſt.
(k) Daß Juſtinian von dieſen
Rechtsinſtituten die außer Ge-
brauch gekommenen weggelaſſen
hat, iſt gewiß kein Gegengrund;
zugeſetzt hat er keine.
|0456 : 400|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
milie darſtellte, hat hier keine Stelle gefunden; allein dieſe
Differenz iſt wohl zu gering, als daß ſie die Identität
des Hauptgeſichtspunktes zweifelhaft machen koͤnnte: auch
muß es jedem Rigoriſten überlaſſen bleiben, die Verwandt-
ſchaft aus der Darſtellung des Roͤmiſchen Familienrechts
wegzulaſſen, wodurch dann die Übereinſtimmung zwiſchen
dem Inhalt des Familienrechts und dem des erſten Buchs
der Inſtitutionen vollſtändig werden würde (l). Daß Ga-
jus in der inneren Anordnung jener Rechtsinſtitute ab-
weicht, und daß er den Begriff des Familienrechts nicht
mit Namen nennt, wozu ihm ohnehin kein Kunſtausdruck
zu Gebote ſtand, wird wohl Niemand als Widerlegung
meiner Behauptung anſehen. Einige Hindeutung finde ich
jedoch in den hier vorkommenden Ausdrücken. Status und
conditio hominum hat nämlich nicht die ganz unbeſtimmte
Bedeutung eines Zuſtandes oder einer Eigenſchaft über-
haupt, ſondern es bezeichnet ganz beſonders die Stellung,
die der einzelne Menſch in den verſchiedenen Familien-
verhaͤltniſſen, als Ehegatte, Vater, Vormund u. ſ. w.,
einnimmt (§ 54 Note e). Auch jus personarum hat, wie
ich glaube, voͤllig dieſelbe Bedeutung, da es mit jenen
Ausdrücken abwechslend gebraucht wird. Es bezeichnet
alſo nicht einen Theil der Rechtstheorie, wie jus publicum
(l) Wenn übrigens die neue-
ren Schriftſteller, nach dem un-
läugbaren Vorgang von Gajus
und Juſtinian, der Verwandt-
ſchaft keine eigene Stelle unter
den Inſtituten der Familie an-
weiſen, ſo iſt dieſes ganz incon-
ſequent, da ſie doch der Agnaten-
familie in der Lehre von der ca-
pitis deminutio eine ganz beſon-
dere Wichtigkeit beylegen, wovon
weiter unten die Rede ſeyn wird.
|0457 : 401|
§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.
und privatum, ſondern vielmehr die Stellung des Einzel-
nen in den zur Familie gehörenden Rechtsverhältniſſen;
oder, nach dem Sprachgebrauch mancher Neueren, es be-
zieht ſich nicht auf das objective, ſondern auf das ſub-
jective Recht (vgl. Beylage VI.).
Noch weit beſtrittener aber iſt der Inhalt des zweyten
und dritten Theils, de rebus und de actionibus (m).
Hier liegt der Grund des Zweifels darin, daß der Ab-
ſchnitt von den Obligationen nach Einigen den Anfang
des dritten Theils bildet, als Einleitung zu den Actionen,
weil dieſe aus den Obligationen entſpringen: nach Ande-
ren das Ende des zweyten Theils, weil die Obligationen
unter die res gehören, als res incorporales (n). — Für
die erſte dieſer Meynungen hat man beſonders das Zeug-
niß des Theophilus geltend gemacht (o), der in der That
(m) Die Neueren bezeichnen
dieſe zwey Theile größtentheils
als Jus rerum und Jus actio-
num, nach der Analogie von Jus
personarum. Daß nun jene zwey
Zuſammenſetzungen bey den al-
ten Juriſten nicht gefunden wer-
den, könnte an ſich als zufällig
und gleichgültig angeſehen wer-
den. Allein es entſcheidet gegen
jenen Sprachgebrauch der Um-
ſtand, daß die erwähnte Analo-
gie nur einen täuſchenden Schein
hat, indem der Ausdruck Jus
personarum nicht einen Theil des
Syſtems, ſondern ein beſonderes
Rechtsverhältniß der Perſonen be-
zeichnet, von einem ähnlichen Ver-
hältniß aber unter mehreren res
oder mehreren actiones gewiß
nicht die Rede ſeyn kann.
(n) Wenigſtens iſt dieſe Geſtalt
der zweyten Meynung gewiß dem
Sinn des Römiſchen Rechts an-
gemeſſener, als wenn man (ſo
wie der Code civil) die Obliga-
tionen dem Eigenthum deswegen
zuordnet, weil ſie oft zur Erwer-
bung des Eigenthums Veranlaſ-
ſung geben.
(o) Hugo civ. Magazin B. 4
S. 17. B. 5 S. 399, welcher über-
26
|0458 : 402|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
dieſen Zuſammenhang angiebt. Allein dieſes Zeugniß
würde zwar ſehr wichtig ſeyn, als von einem Mitarbei-
ter an Juſtinians Inſtitutionen herrührend, wenn die Ein-
theilung in dieſen Inſtitutionen zuerſt entſtanden wäre: da
ſie aber, wie wir jetzt wiſſen, ſchon von Gajus ange-
wendet, und von Juſtinian nur beybehalten worden iſt,
ſo hat jenes Zeugniß wenig hiſtoriſches Gewicht, ſo lange
man nicht ohne den geringſten Beweis annehmen will,
Theophilus habe über die Abſicht des Gajus, die Obli-
gationen zum dritten Theil (de actionibus) zu rechnen,
bey einem älteren Schriftſteller eine Nachricht gefunden (p).
Giebt man aber das Zeugniß des Theophilus als nicht
entſcheidend auf, und ſucht die Streitfrage lediglich aus
inneren Gründen zu entſcheiden, ſo ſteht die Sache ſo.
Die Vertheidiger der erſten Meynung ſind dann genöthigt,
die Gegenſtände der drey Theile alſo anzugeben: Perſo-
nen, Sachen und Handlungen oder Forderungen (q). Dann
wäre der eigentliche Inhalt des dritten Theils das Obli-
haupt dieſe ganze Frage in den
oben (Note b) angeführten Stel-
len mit ungemeiner Vollſtändig-
keit behandelt, auch ſehr ſchätz-
bare literariſche Nachweiſungen
dazu gegeben hat.
(p) Hugo civ. Magazin B. 5
S. 404. B. 6 S. 337. Er giebt
jedoch zu, Theophilus könne wohl
die ältere Nachricht, wenigſtens
was den Grund der Verbin-
dung der Obligationen mit dem
dritten Theil betreffe, misverſtan-
den und entſtellt haben, auch ſey
man wohl bey der Abfaſſung der Ju-
ſtinianiſchen Inſtitutionen ſchwan-
kend über die Sache geweſen. (En-
cyclopädie S. 63).
(q) Hugo civil. Magaz. B. 4
S. 49. B. 5 S. 417. Encyclopä-
die S. 60. 61.
|0459 : 403|
§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.
gationenrecht, zu welchem ſich die actiones blos als An-
hang oder Zugabe verhielten: dieſes aber paßt weder zu
dem Inhalt und Umfang des mit den actiones anfangen-
den großen Abſchnitts, noch zu der urſprünglichen An-
gabe des Gajus ſelbſt, worin die actiones, nicht die obli-
gationes, als Gegenſtand des dritten Theils angegeben
werden, wie es in der That auch Theophilus verſteht,
der den Obligationen nur die Stellung einer Vorbereitung
zu den Actionen anweiſt. Ich halte daher für wahrſchein-
licher die zweyte Meynung, nach welcher der zweyte Theil
(de rebus) genau dasjenige enthält, was ich oben als
Vermögensrecht bezeichnet habe (Sachenrecht und Obliga-
tionenrecht), der dritte Theil aber die gemeinſchaftliche
Lehre von der Verfolgung der Rechte. Dieſen drey Thei-
len des Syſtems hätten bey Gajus auch drey Bücher des
Werks entſprechen können: da aber der zweyte Theil un-
gefähr ſo viel Umfang hatte, als die zwey anderen Theile
zuſammen, ſo zog er es vor, dem Werk vier Bücher zu
geben, und zwey derſelben dem zweyten Theile anzuwei-
ſen. — Übrigens iſt der hier erwähnte Streit über die
wahre Stellung der Obligationen, für die Anordnung des
Rechtsſyſtems im Ganzen von geringerer Erheblichkeit, als
man gewöhnlich annimmt. Denn daß Gajus das ganze
Vermögensrecht in Einer ununterbrochenen Folge abhan-
delt, iſt unbeſtritten: eben ſo, daß der dritte Theil die
Rechtsverfolgung und Vieles aus dem Prozeßrecht enthält.
26*
|0460 : 404|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
Der Streit beſchränkt ſich auf die Frage, ob der zweyte
Theil (de rebus) das ganze Vermögensrecht umfaßt, ſo
daß die Obligationen das letzte Kapitel deſſelben ausma-
chen, oder ob dieſe als ein einleitendes Kapitel dem drit-
ten Theil (de actionibus) voran geſtellt ſind.
Prüfen wir nun den inneren Werth der ſo beſtimm-
ten Eintheilung, ſo müſſen wir ſie, ihrem Hauptplane
nach, dem Gegenſtand angemeſſen, in der genaueren Aus-
führung aber unbefriedigend finden. Sie giebt mehreren
der wichtigſten Rechtsinſtitute eine viel zu untergeordnete
Stellung; ſo der Ehe, welche nur als Entſtehungsgrund
der väterlichen Gewalt vorkommt, als ob ſie nicht auch
für ſich ſelbſt den gerechteſten Anſpruch auf Anerkennung
hätte: ſo das Erbrecht, welches wörtlich nur als Erwer-
bungsgrund des Eigenthums erwähnt wird, da es doch
völlig auf dieſelbe Weiſe zur Anwendung kommt, es mag
in einem Vermögen Eigenthum vorgefunden werden oder
nicht. Dieſe unnatürliche Stellung iſt großentheils da-
durch herbeygeführt worden, daß in dem ganzen Werk
ein übertriebener Gebrauch von der logiſchen Form der
divisiones gemacht wird, welche Einſeitigkeit der Behand-
lung auch manche andere ſehr gezwungene Übergänge ver-
anlaßt hat (r). Allein dieſe formellen Unvollkommenheiten
(r) So z. B. beſteht ſein erſter
Theil aus drey divisiones, deren
dritte alſo lautet: Alle Menſchen
ſtehen entweder unter Vormund-
ſchaft oder nicht, demnach wollen
wir jetzt von der Vormundſchaft
handeln. Auf ähnliche Weiſe könnte
man die Darſtellung des Kauf-
|0461 : 405|
§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.
ſind weder der Reichhaltigkeit, noch der Klarheit des Werks
hinderlich geweſen, deſſen unvergleichlichen Werth gewiß
kein Freund unſrer Wiſſenſchaft verkennen wird. Nur zu
einer unbedingten Nachahmung ſeiner formellen Einrich-
tung, auch wo wir dieſe für unvollkommen erkennen, iſt
kein Grund vorhanden, und es darf nicht als Dünkel und
Anmaaßung getadelt werden, wenn wir es verſuchen, den
hiſtoriſch überlieferten Stoff des Römiſchen Rechts, nach
ſeinem eigenthümlichen Bedürfniß, aber in anderer Weiſe,
als es von Gajus geſchehen iſt, darzuſtellen. Ohnehin
finden ſich die zwey Haupttheile des Syſtems von Gajus,
Familienrecht und Vermögensrecht, auch in unſrer Dar-
ſtellung als Haupttheile wieder, ſo daß die Abweichung
doch nur die genauere Gliederung im Einzelnen betrifft (s).
contracts ſo einleiten: Alle Men-
ſchen haben entweder Kaufcon-
tracte geſchloſſen oder nicht (oder
auch: alle Rechtsgeſchäfte ſind ent-
weder Kaufcontracte oder nicht),
demnach wollen wir jetzt von den
Kaufcontracten handeln. — Eben
daraus erklärt ſich auch die Son-
derbarkeit, daß die Sklaven zwey-
mal vorkommen, in der erſten
und in der zweyten divisio, ohne
daß eine verſchiedene juriſtiſche
Beziehung dieſes Verfahren recht-
fertigte. Die erſte Erwähnung
iſt nämlich nur ſcheinbar, und
dient nur als Übergang zu den
verſchiedenen Klaſſen der Freyge-
laſſenen (d. h. alſo der Patronats-
verhältniſſe), oder mit andern Wor-
ten: die divisio der liberi und
servi ſteht nur da als Vorwand
für die subdivisio der Ingenui
und Libertini, auf die es an die-
ſer Stelle allein abgeſehen iſt.
Es iſt alſo nicht richtig, wenn
Manche dieſe doppelte Erwähnung
der Sklaven dadurch rechtfertigen
wollen, daß Gajus an der einen
Stelle von der potestas, an der
anderen von dem dominium in
servos handele. Denn gerade
dieſes iſt augenſcheinlich nicht der
Fall; er handelt bey der erſten
Erwähnung von dem, was die
Sklaven ſelbſt angeht gar nicht.
(s) Hugo ſelbſt, bey aller Be-
|0462 : 406|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
Insbeſondere aber muß ich mich noch gegen den über-
triebenen Werth erklären, welcher oft auf dieſe die Form
unſrer wiſſenſchaftlichen Darſtellungen betreffenden Fragen
gelegt wird. Nicht als ob dieſer Gegenſtand eben gleich-
gültig wäre: nur müſſen wir uns nicht darüber täuſchen,
was eigentlich das Weſentliche dabey iſt. Wenn eine
dogmatiſche Darſtellung des Rechts ſo beſchaffen iſt, daß
die innere Einheit der Rechtsinſtitute zerſtört, das weſent-
lich Verſchiedene verbunden, daß das wahre Verhältniß
der Wichtigkeit verſchiedener Inſtitute gegen einander ent-
ſtellt und verkehrt wird, dann ſind ſolche formelle Män-
gel weſentlich, weil ſie den Stoff ſelbſt verdunkeln, und
der wahren Einſicht hinderlich werden. Wo aber jener
Fall nicht eintritt, da koͤnnen wir uns die Anordnung ei-
nes Werks gefallen laſſen, auch wenn wir manche Män-
gel derſelben wahrzunehmen glauben. Nach dieſem Princip
einer in gewiſſen Gränzen zuläſſigen Duldſamkeit iſt oben
wunderung jenes Römiſchen Sy-
ſtems, welchem er eine größere
Verbreitung zuſchreibt, als ich an-
zunehmen hiſtoriſchen Grund finde,
räumt doch ein, daß nach allge-
meinen Rechtsanſichten, und be-
ſonders für das Bedürfniß un-
ſres heutigen Rechts, manche an-
dere Anordnung zweckmäßiger ſeyn
möchte, als die der Inſtitutionen,
und er kommt dabey im Ganzen
auf die von mir angenommenen
Geſichtspunkte. Civ. Mag. B. 5
S. 397. B. 6 S. 284—287. Über-
haupt halte ich die Meynungsver-
ſchiedenheit, die hierin unter uns
beſteht, für weit unweſentlicher,
als ſie auf den erſten Blick er-
ſcheint, und es macht mir beſon-
dere Freude hinzuſetzen zu kön-
nen, daß mir die hier dargelegte
Anordnung zuerſt durch Hugo’s
Inſtitutionen Berlin 1789 zuge-
kommen iſt, obgleich ich ſie ſeit-
dem auf meine Weiſe zu ent-
wickeln und zu begründen ver-
ſucht habe.
|0463 : 407|
§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.
erklärt worden, daß der Werth des Gajus durch das,
was wir an ihm auszuſetzen finden, gar nicht vermindert
werde: und nach demſelben Princip können auch in un-
ſern Tagen verſchiedene Rechtsſyſteme friedlich neben ein-
ander beſtehen, ſo abweichend ihre Einrichtung dem erſten
Blick auch erſcheinen mag. Die Duldſamkeit alſo, die
hier in Anſpruch genommen wird, darf nicht verſtanden
werden als Gleichgültigkeit gegen das Unvollkommene ir-
gend einer Art, ſondern als ehrende Anerkennung des freyen
Spielraums individueller Auffaſſung, worauf das wahre
Leben aller Wiſſenſchaft beruht.
Noch iſt hier eine in unſern Rechtsquellen vorkom-
mende allgemeine Anſicht zu erwähnen, die auf den erſten
Blick gleichfalls als Grundlage einer Klaſſification ange-
ſehen werden könnte, die ich jedoch nur anhangsweiſe be-
handle, weil ſie in der That zu jenem Zweck von neueren
Schriftſtellern nicht angewendet worden iſt. Ich meyne
die drey Juris praecepta, welche Ulpian in folgenden
Worten aufſtellt: Juris praecepta sunt haec; honeste vi-
vere, neminem laedere, suum cuique tribuere (t). Ho-
neste vivere iſt die Erhaltung der ſittlichen Würde in der
eigenen Perſon, ſo weit dieſe Würde äußerlich ſichtbar
wird. Neminem laedere iſt die Achtung der fremden Per-
(t) L. 10 § 1 de just. et jure (1. 1.), § 3 J. eod. (1. 1.).
|0464 : 408|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
ſönlichkeit als ſolcher, alſo die praktiſche Anerkennung der
ſogenannten Urrechte. Suum cuique tribuere endlich iſt
die Anerkennung der geſammten erworbenen Rechte ande-
rer Menſchen (u). Sind nun dieſes in der That Rechts-
regeln, wie man nach Ulpians Ausdruck glauben möchte?
Das zweyte und dritte praeceptum ſcheinen ſolche Regeln
zu ſeyn, das erſte nicht; in der That aber ſind in allen
keine Rechtsregeln zu ſuchen, ſondern vielmehr ſittliche
Vorſchriften, worin Rechtsregeln ihre Grundlage haben.
Von dem dritten praeceptum iſt dieſes ſogleich einleuch-
tend, es iſt das ſittliche Gebot der Gerechtigkeit, welches
hier mit dem Syſtem der erworbenen Rechte gleichen In-
halt und Umfang hat (v). Auch bey dem zweyten iſt es
unverkennbar, daß darin viele der wichtigſten Rechtsre-
geln ihren Urſprung haben. Aber ſelbſt das erſte prae-
ceptum, bey welchem dieſe Beziehung am meiſten zweifel-
(u) Manche haben geſagt, das
zweyte praeceptum betreffe die
Perſon, das dritte das Vermö-
gen; darin liegt aber nicht die
wahre Gränze. Daß Einer die
Ehe oder väterliche Gewalt eines
Andern nicht verletze, gehört zum
dritten praeceptum (obgleich es
nicht das Vermögen betrifft), die
Vermeidung des Todtſchlags zum
zweyten. — Burchardi Grund-
züge des Rechtsſyſtems § 42 fg.
deutet die drey praecepta in ſei-
ner Weiſe: das erſte als jus pu-
blicum, das zweyte als jus pri-
vatum, das dritte als das ge-
miſchte Actionenrecht. Vgl. oben
§ 16. o.
(v) Daraus erklärt ſich, warum
die justitia ausſchließend als vo-
luntas jus suum cuique tribu-
endi erklärt zu werden pflegt,
ohne Erwähnung der beiden er-
ſten praecepta. L. 10 pr. de J.
et J. (1. 1.), L. 31 § 1 depos.
(16. 3.), Cicero de invent. II.
53, de finibus V. 23, Auct. ad
Herenn. III. 2.
|0465 : 409|
§. 59. Abweichende Meynungen über die Klaſſification.
haft erſcheint, iſt dennoch der Entſtehungsgrund von Rechts-
regeln, und kann deswegen im Sinn Ulpians ein Juris
praeceptum genannt werden. Aus ihm entſpringt jede
Rechtsanſtalt gegen Verletzung der boni mores, gegen das
turpe (w). Aber zu ihm gehört zugleich die wichtige, ſo
Vieles umfaſſende, Summe von Rechtsregeln, die ſich auf
die Forderung der Wahrheit und Redlichkeit gründen,
alſo der höchſt mannichfaltige Einfluß des Dolus auf alle
Theile des Privatrechts. Von dieſen Rechtsregeln kann
man ſagen, daß ſie dem erſten und zweyten praeceptum
zugleich angehören, indem ſie in jedem derſelben ihre eigene,
von dem andern praeceptum unabhängige, Rechtfertigung
finden. Die drey praecepta ſind alſo keine Rechtsregeln,
aber ſie begründen eine Klaſſification der Rechtsregeln
nach ihren Entſtehungsgründen: nur daß freylich Niemand
daran denken wird, das Syſtem der Rechte nach dieſer
Ordnung abzuhandeln. Sucht man die Rangordnung der
drey praecepta nach ihrem inneren Weſen zu beſtimmen,
ſo ſteht das erſte am hoͤchſten, weil es das innerlichſte iſt,
und eben deshalb auch den Keim der anderen mit in ſich
trägt; das zweyte hat ſchon einen mehr äußerlichen Cha-
racter, das dritte noch mehr. Daher koͤnnen auch dieſe
beide vollſtändig beobachtet werden, unabhängig von der
ſittlichen Geſinnung des rechtlich handelnden Menſchen.
(w) Dahin gehört die Ungül-
tigkeit der Verträge, welche et-
was Unſittliches mittelbar oder un-
mittelbar befördern: eben ſo die
condictio ob turpem causam.
|0466 : 410|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
Sieht man dagegen auf die Wichtigkeit und Fruchtbarkeit
der drey praecepta für das Recht, ſo iſt das Verhältniß
gerade umgekehrt. Das dritte iſt die ergiebigſte Quelle von
Rechtsregeln, das zweyte und erſte ſind ſtufenweiſe weniger
ergiebig: ſehr natürlich, weil das Recht, ſeinem Weſen nach,
dem Gebiet des äußeren Zuſammenlebens angehoͤrt (x).
(x) Im Weſentlichen dieſelbe
Anſicht von den drey praeceptis,
daß ſie nämlich nicht ſelbſt Rechts-
regeln, ſondern Entſtehungsgrün-
de der Rechtsregeln ſind, hat ſchon
Weber, natürliche Verbindlich-
keit § 98, nur führt er dieſelbe
nicht durch die einzelnen prae-
cepta durch.
|0467 : [411]|
Beylagen.
I. II.
|0468 : [412]|
|0469 : [413]|
Beylage II.
Jus naturale, gentium, civile.
(Zu § 22 Note s).
Bey den Roͤmiſchen Juriſten finden ſich zwey Einthei-
lungen des Rechts in Beziehung auf ſeine allgemeine Ent-
ſtehung. Die eine iſt zweygliedrig: Recht das nur bey den
Römern gilt (civile), oder aber bey allen Völkern (gen-
tium oder naturale). Die andere iſt dreygliedrig: Recht
das nur bey den Römern gilt (civile), oder bey allen
Völkern (gentium), oder bey Menſchen und Thieren zu-
gleich (naturale).
Die erſte dieſer Eintheilungen halte ich nicht blos für
allein richtig, ſondern ich behaupte auch, daß ſie bey den
Römern ſelbſt als herrſchende Anſicht zu betrachten iſt,
während die andere nur als Verſuch einer weiteren Aus-
bildung gelten kann, der weder allgemeine Anerkennung,
noch Einfluß auf einzelne Rechtslehren erhalten hat.
Die zweygliedrige Eintheilung findet ſich am vollſtän-
digſten durchgeführt in vielen Stellen des Gajus. Im
Eingang ſeines Werks ſtellt er dieſelbe ausdrücklich auf,
ohne Spur eines möglichen drittes Gliedes (a). Das Jus
(a) Gajus I. § 1 (L. 9 de J. et J. 1. 1.).
|0470 : 414|
Beylage I.
gentium iſt ihm das ältere, ſo alt als das Menſchengeſchlecht
ſelbſt (b). Es entſpringt aus der allen Menſchen inwoh-
nenden naturalis ratio (c). Daher nennt er es anderwärts
auch jus naturale, wie er denn die natürlichen Erwerbun-
gen des Eigenthums mit willkührlicher Abwechslung bald
auf das jus naturale zurückführt (d), bald auf die natura-
lis ratio (e). Den Satz, daß dem Eigenthümer des Bo-
dens ſtets auch das Haus gehört, gruͤndet er auf Jus ci-
vile und naturale zugleich (f). Die Agnationen und Co-
gnationen nennt er civilia und naturalia jura (g). Offen-
bar alſo nimmt er nur zwey Arten an, und Jus naturale
iſt ihm mit Jus gentium völlig gleichbedeutend.
Eben ſo kennt Modeſtin nur zweyerley Recht, civile
und naturale (h). Daſſelbe findet ſich bey Paulus, der
auch die Wirkung der servilis cognatio als eines Ehehin-
derniſſes dem naturale jus zuſchreibt (i). Desgleichen wird
naturale jus von Marcian, Florentinus und Lici-
nius Rufinus in Fällen gebraucht, in welchen ſie un-
zweifelhaft das Jus gentium meynen, ja ſelbſt mit dieſem
Ausdruck abwechſeln (k).
(b) L. 1 pr. de adqu. rer. dom.
(41. 1.).
(c) Gajus I. § 1. 189. L. 1
pr. de adqu. rer. dom. (41. 1.).
(d) Gajus II. § 65. 73.
(e) Gajus II. § 66. 69. 79.
(f) L. 2 de superfic. (43. 18.).
(g) Gajus I. § 158.
(h) L. 4 § 2 de grad. (38. 10.).
(i) L. 11 de J. et J. (1. 1.).
L. 14 § 2 de ritu nupt. (23. 2.).
(k) L. 2. 3. 4. de div. rer. (1.
8.). L. 59 de obl. et act. (44. 7.).
L. 32 de R. J. (50. 17.). Auch
Cicero ſtellt überall nur natura
und lex einander gegenüber, und
nimmt natura und Jus gentium
als gleichbedeutend an. Cicero
de off. III. 15.
|0471 : 415|
Jus naturale, gentium, civile.
Die dreygliedrige Eintheilung hat am vollſtändigſten
Ulpian (l): neben ihm Tryphonin (m) und Hermo-
genian (n). Sie beruht auf folgender Anſicht. Es gab
eine Zeit, worin die Menſchen nur diejenigen Verhält-
niſſe unter ſich anerkannten, welche ihnen mit den Thieren
gemein ſind: das der Geſchlechter, und das der Fortpflan-
zung und Erziehung. Darauf folgte ein zweytes Zeital-
ter, welches Staaten gründete, Sklaverey, Privateigen-
thum, Obligationen einführte, und zwar unter allen Men-
ſchen auf gleiche Weiſe. Zuletzt bildete ſich in jedem ein-
zelnen Staate das Recht auf eigenthümliche Weiſe aus,
theils durch abweichende Beſtimmung jener allgemeinen In-
ſtitute, theils durch neu hinzugefügte Inſtitute.
Das erſte, was an dieſer Eintheilung auffällt, und
weshalb man ſie oft hart getadelt hat, iſt das den Thie-
ren zugeſchriebene Recht und Rechtsbewußtſeyn (o). Allein
(l) L. 1 § 2. 3. 4. L. 4. L. 6
pr. de J. et J. (1. 1.).
(m) L. 64 de cond. indeb.
(12. 6.), über die Entſtehung
der Sklaverey, ganz mit Ulpian
übereinſtimmend. Weniger be-
ſtimmt iſt L. 31 pr. depos. (16. 3.).
„Si tantum naturale et gentium
jus intuemur,” wo das naturale
et gentium auch ſo verſtanden
werden kann: naturale id est
gentium, ja wo ein Unterſchied
beider Rechte ſelbſt nach dieſer
Anſicht nicht paſſen würde.
(n) L. 5 de J. et J. (1. 1.). Zwar
nennt die hier excerpirte Stelle
nur das Jus gentium, aber mit
ſo ſichtbarer Rückſicht auf das
früher vorhandene Jus naturale
(was er ohne Zweifel unmittel-
bar vorher genannt hatte), daß
wir unbedenklich eine völlige Über-
einſtimmung mit Ulpian anneh-
men können. Auch habe ich die
im Text gegebene Darſtellung der
ganzen Anſicht großentheils aus
dieſer Stelle geſchöpft.
(o) L. 1 § 3 de J. et J. (1. 1.)
„jus istud … omnium anima-
lium .. commune est.” Und nach-
her: „videmus etenim cetera
quoque animalia, feras etiam,
istius juris peritia censeri.”
|0472 : 416|
Beylage I.
wenn man nur den allerdings übel gewählten Ausdruck
preisgiebt, ſo läßt ſich die Anſicht ſelbſt, von dieſer Seite
wohl vertheidigen. Jedes Rechtsverhältniß hat zur Grund-
lage irgend einen Stoff, auf welchen die Rechtsform an-
gewendet wird, und der alſo auch abſtrahirt von dieſer
Form gedacht werden kann. Dieſe Materie iſt in den
meiſten Rechtsverhältniſſen inſoferne von willkührlicher Art,
daß ein dauerndes Beſtehen des Menſchengeſchlechts auch
ohne ſie gedacht werden kann; ſo bey dem Eigenthum und
den Obligationen. Nicht ſo bey den zwey oben genann-
ten Verhältniſſen, die vielmehr allgemeine Naturverhält-
niſſe ſind, den Menſchen mit den Thieren gemein, und
ohne welche das Menſchengeſchlecht gar kein dauerndes
Daſeyn haben könnte. In der That alſo wird nicht das
Recht, ſondern die Materie des Rechts, das demſelben
zum Grunde liegende Naturverhältniß, den Thieren zuge-
ſchrieben (p). Dieſe Anſicht nun iſt nicht nur wahr, ſon-
dern auch wichtig und der Beachtung werth; nur eignet
ſie ſich nicht zu einer Eintheilung des Rechts, namentlich
für das praktiſche Bedürfniß der Römer. Veranlaſſung
dazu gab ohne Zweifel die Wahrnehmung, daß die Rechts-
inſtitute, auch wenn ſie ſich bey allen fremden Völkern
fänden, dennoch in verſchiedenem Grade als natürlich an-
geſehen werden müßten. So z. B. konnte man nicht ver-
(p) Nicht weſentlich verſchieden
iſt die Vertheidigung des Ulpian
bey Donellus I. 6: Ulpian ſchreibe
nicht das wirkliche Rechtsverhält-
niß den Thieren zu, ſondern nur
etwas ihm Ähnliches. Jedoch iſt
damit die Eintheilung als ſolche
noch nicht gerechtfertigt.
|0473 : 417|
Jus naturale, gentium, civile.
kennen, daß die erſte Entſtehung der Sklaverey aus Ge-
walt, alſo aus Zufall und Willkühr, abzuleiten ſey: ja
es iſt möglich, daß die Natur dieſes Verhältniſſes zu der
ganzen Anſicht den Anſtoß gegeben hat. Allein die ganze
hierauf gegründete Eintheilung iſt zu verwerfen. Erſtlich
weil an ſich die Unterſcheidung des mehr oder weniger
Natürlichen eine willkührliche und ſchwankende iſt: zwey-
tens weil die Eintheilung, ſo gefaßt, lediglich das allge-
meine, unbeſtimmte Daſeyn der Rechtsinſtitute betraf, und
daher unfruchtbar bleiben mußte: die weit wichtigere Aus-
führung in einzelnen Rechtsregeln lag ganz außer ihrem
Gebiet. Nicht ſo bey der zweygliedrigen Eintheilung, in
welcher auch der Gegenſatz der Rechtsregeln ſichtbar wird,
und die deswegen für die Anwendung auf das Rechtsſy-
ſtem allein Brauchbarkeit hat.
Es läßt ſich aber auch zeigen, daß die zweygliedrige
Eintheilung im Römiſchen Recht ſtets die Herrſchaft be-
hauptet hat. Dafür könnte man ſchon die groͤßere Zahl
der dafür angeführten Zeugniſſe geltend machen. Doch
lege ich darauf weniger Gewicht, da die Auswahl der
Stellen, die wir darüber beſitzen, ſehr zufällig gemacht
ſeyn kann. Dagegen halte ich für ganz entſcheidend den
großen Einfluß derſelben, der ſich durch das ganze Rechts-
ſyſtem nachweiſen läßt, anſtatt daß die dreygliedrige in
keiner einzelnen Anwendung erſcheint. Überall nämlich
finden wir in den Rechtsinſtituten und in einzelnen Rechts-
ſätzen einen aus zwey, nicht aus drey Gliedern beſtehen-
27
|0474 : 418|
Beylage I.
den Gegenſatz; das zweyte Glied bezieht ſich ſtets auf das
Jus gentium, und wird dennoch (was keinen Zweifel übrig
läßt) regelmäßig durch den Ausdruck naturalis bezeichnet.
Zwar könnte man auch dieſes nur als eine Vermehrung
der Zeugniſſe für die zweygliedrige Eintheilung anſehen,
ſo daß auch in ihnen nur der fortdauernde Streit der
Meynungen, nicht der reelle Sieg der einen Meynung,
ſichtbar wäre. Allein Ulpian ſelbſt hat in ſehr vielen
Stellen dieſe Auffaſſung und Bezeichnung, und es iſt alſo
klar, daß auch er die dreygliedrige Eintheilung nur als
eine unſchuldige Speculation im Allgemeinen aufſtellte, in
allen wichtigen Anwendungen aber durch das ganze Rechts-
ſyſtem davon keinen Gebrauch zu machen verſuchte. — Die-
ſer zweygliedrige Gegenſatz, bezeichnet durch civile und na-
turale, kommt namentlich in folgenden Anwendungen vor:
1) Die Bedingungen der Ehe beruhen auf civilis oder
naturalis ratio (q).
2) Es giebt zweyerley Verwandtſchaft, civilis und na-
turalis cognatio, auch nach Ulpian (r).
3) Eigenthum und Obligationen koͤnnen bald civiliter,
bald naturaliter erworben werden, und darnach richtet ſich
die Zuläſſigkeit einer freyen Stellvertretung (s).
4) Das Recht des Eigenthümers des Bodens auf das
Haus nennt Ulpian naturale jus (t).
(q) pr. J. de nupt. (1. 10.).
(r) L. 4 § 2 de grad. (38. 10.)
(Modeſtin), § 1 J. de leg.
agn. tut. (1. 15.). L. 17 § 1
de adopt. (1. 7.) (Ulpian).
(s) L. 53 de adqu. rer. dom.
(41. 1.) (Modeſtin).
(t) L. 50 ad L. Aquil. (9. 2.).
|0475 : 419|
Jus naturale, gentium, civile.
5) Die possessio iſt entweder civilis oder naturalis,
auch bey Ulpian (u).
6) Beſonders wichtig iſt der Gegenſatz von civilis und
naturalis obligatio, den auch Ulpian mit dieſer Bezeich-
nung anerkennt (v). Die Bedeutung der naturalis obliga-
tio als einer durch das Jus gentium begründeten iſt nicht
nur für ſich klar, ſondern wird auch noch in mehreren
Stellen ausdrücklich bezeugt (w).
Völlig gedankenlos iſt in dieſer Sache das Verhalten
der Juſtinianiſchen Inſtitutionen. Zuerſt nehmen ſie die
Stelle des Ulpian über die dreygliedrige Eintheilung auf,
und wenden ſie auf den Fall der Sklaverey an (x). Dann
nehmen ſie auch die Stellen des Gajus, des Marcian,
und des Florentinus auf, worin die zweygliedrige Ein-
theilung theils vorgetragen, theils ganz beſtimmt voraus
geſetzt wird (y). Beſonders merkwürdig aber iſt eine Stelle,
worin ſie die Worte des Gajus aufnehmen, aber mit ei-
nem Zuſatz, welcher ausdrücklich ſagt, Jus naturale heiße
ſo viel als Jus gentium, und es ſey dieſes ſchon vorher
ſo vorgetragen worden (z).
(u) L. 3 § 15 ad exhib. (10.
4.). L. 1 § 9. 10 de vi (43. 16.),
beide von Ulpian.
(v) L. 6 § 2. L. 8 § 3 de fidej.
(46. 1.). L. 14 de Obl. et Act.
(44. 7.). L. 6 de compens. (16.
2.). L. 10 de V. S. (50. 16.).
L. 1 § 7 de pec. const. (13. 5.),
alle von Ulpian.
(w) L. 84 § 1 de R. J. (50.
17.) (Paulus). L. 47 de cond.
indeb. (12. 6.) (Celſus).
(x) § 4 J. de J. et J. (1. 1.)
pr. J. de j. nat. (1. 2.) pr. J.
de Lib. (1. 5.).
(y) § 1. 11 J. de j. nat. (1. 2.)
pr. § 1. 18 J. de div. rer. (2. 1.).
(z) § 11 J. de div. rer. (2. 1.).
„quarundam enim rerum do-
27*
|0476 : 420|
Beylage II.
Nach dieſer Erörterung iſt es am gerathenſten, die
Vorſtellungsweiſe des Ulpian als eine Curioſität auf ſich
beruhen zu laſſen, und dagegen die des Gajus als die
im Roͤmiſchen Recht herrſchende zu behandeln.
Beylage II.
L. 2 C. quae sit longa consuetudo (8. 53.).
(Zu § 25 Note y).
Dieſes Reſcript Conſtantins vom J. 319 lautet alſo:
Consuetudinis ususque longaevi non vilis auctoritas est:
verum non usque adeo sui valitura momento, ut aut ra-
tionem vincat aut legem.
Es iſt unglaublich, wie vielen Anſtoß dieſe Stelle von
jeher erregt hat, und wie viele Verſuche gemacht worden
ſind, den Anſtoß zu beſeitigen. Der Sinn, der zunächſt
daraus hervorzugehen ſcheint, iſt der, daß Gewohnheiten
nur gelten ſollen zur Ergänzung der Geſetze, aber nicht
zur Abänderung oder Aufhebung derſelben. Gerade dieſer
Sinn aber iſt nach vielen Zeugniſſen aus allen Zeitaltern
ſo verwerflich (§ 25), daß wir nothwendig einen anderen
aufſuchen müſſen.
Zuerſt nun können wir unbedenklich annehmen, daß
hier nur von partikulären Gewohnheiten die Rede iſt, und
minium nanciscimur jure na-
turali, quod, sicut diximus,
appellatur jus gentium; qua-
rundam jure civili.”
|0477 : 421|
L. 2 C. quae sit longa consuetudo.
daß es z. B. dem Kaiſer nicht in den Sinn kam, ſolche
allgemeine Gewohnheiten, wie z. B. die, wodurch das
zweyte Kapitel der L. Aquilia antiquirt wurde (a), zu ent-
kräften. Dieſes folgt erſtlich ſchon daraus, daß hier ge-
wiß nur über ſolche Gewohnheitsrechte verfügt werden
ſollte, welche künftig neu entſtehen oder doch zu Tage
kommen würden. Das war aber zu Conſtantins Zeit faſt
nur noch von partikulären Gewohnheiten zu erwarten.
Zweytens wäre der etwas geringſchätzige Ausdruck non
vilis auctoritas für eine allgemeine Nationalſitte ganz un-
paſſend geweſen, von dem Gewohnheitsrecht einzelner Orte
konnte er wohl gebraucht werden. — Ferner iſt unter der
lex, die hier erwähnt wird, in dieſer Zeit entſchieden nichts
Anderes als ein Kaiſergeſetz zu verſtehen. Und ſo entſteht
alſo hier die allgemeine Frage: wie verhält ſich ein partiku-
läres Gewohnheitsrecht zu einem kaiſerlichen Landesgeſetz?
Dieſes kann nun ſelbſt wieder entweder eine abſolute oder
eine vermittelnde Natur haben (§ 16). Iſt es ein abſolu-
tes Geſetz, ſo entſteht durch das allgemeine Staatsverhält-
niß eine ſehr natürliche Beſchränkung für das partikuläre
Gewohnheitsrecht (§ 9). Selbſt ohne Geſetz iſt ein ſol-
ches Gewohnheitsrecht unmöglich, wenn dadurch ein all-
gemeines Staatsintereſſe verletzt wird (b). Dieſes wird
(a) L. 27 § 4 ad L. Aquil.
(9. 2.).
(b) L. 1 C. Th. de longa
consu. (5. 12.): „Cum nihil per
causam publicam intervenit,
quae diu servata sunt perma-
nebunt.” Eben ſo in einem ein-
zelnen Fall, aber mit großer Be-
ſtimmtheit, Nov. 134 C. 1.
|0478 : 422|
Beylage II.
alſo nicht weniger gelten, wenn daſſelbe Staatsintereſſe
einem abſoluten Geſetz die Entſtehung gegeben hat. Ge-
gen ein ſolches Geſetz alſo kann die ſpätere Gewohnheit
einer Stadt oder Gegend nicht aufkommen. Eben ſo we-
nig aber auch deren früheres Gewohnheitsrecht, das man
ſonſt wohl eben als ein partikuläres, von dem allgemei-
nen Geſetz nicht ausdrücklich aufgehobenes, zu ſchützen ver-
ſuchen könnte. So ſollen z. B. gegen Wuchergeſetze we-
der frühere, noch ſpätere partikuläre Gewohnheiten gel-
ten (c). Ein ganz ähnliches Verhältniß tritt auch bey Ge-
ſetzen für einzelne Orte ein. So z. B. war durch ſolche
Geſetze in manchen Städten erlaubt, in der Stadt zu be-
graben; als nun ſpäterhin dieſe Art der Beerdigung aus
polizeylichen Gründen allgemein verboten wurde, ſo wa-
ren damit jene Geſetze, auch ohne beſonders erwähnt zu
ſeyn, dennoch aufgehoben (d). — Anders verhält es ſich
bey vermittelnden Geſetzen. So führt Azo das Beyſpiel
der Gewohnheiten von Modena und Ravenna an, nach
welchen die kirchlichen Emphyteuſen nicht verfallen,
wenngleich binnen zwey Jahren kein Canon gezahlt iſt:
dieſe Gewohnheiten ſind gültig, weil ja auch durch
Verträge jede Abweichung hierüber beſtimmt werden
(c) L. 26 § 1 C. eod. (4. 32.).
L. 1 pr. de usuris (22. 1.) ſpricht
gar nicht von Gewohnheitsrecht,
ſondern von dem üblichen Zins-
fuß, der vielleicht das geſetzli[ – 2 Zeichen fehlen]
Maaß überſchreiten könnte; ob
er nun in dieſem Fall, und un-
ter welchen Bedingungen, das Ge-
ſetz abändert, ſagt wenigſtens
dieſe Stelle nicht. Vgl. Puchta II.
S. 77.
(d) L. 3 § 5 de sepulchro
viol. (47. 12.).
|0479 : 423|
L. 2 C. quae sit longa consuetudo.
könnte (e). — Dieſer Gegenſatz allein aber iſt es, wel-
cher über die Kraft des partikulären Gewohnheitsrechts
im Verhältniß zu einem allgemeinen Landesgeſetz entſchei-
det: nicht der Gegenſatz des öffentlichen und Privatrechts.
Denn auch im öffentlichen Recht giebt es Regeln, die
zwar zur gewöhnlichen Ordnung gehören, aber im Ein-
zelnen ohne Gefahr Ausnahmen erleiden können: bey ſol-
chen iſt auch ein partikuläres Gewohnheitsrecht zuläſſig.
So z. B. war es Regel, daß die Municipalmagiſtrate
keine legis actio, namentlich bey Emancipationen, hätten,
Einzelnen war ſie ausnahmsweiſe gegeben: hier nun läßt
noch Juſtinian unbedenklich eine Begründung dieſes Vor-
rechts durch Gewohnheit zu (f). Dagegen hatte in Bithy-
nien die Lex Pompeja verordnet, in die Stadtſenate ſoll-
ten nur Bürger derſelben Stadt, nicht aus anderen Bi-
thyniſchen Städten, aufgenommen werden: man hatte dieſe
Vorſchrift häufig nicht beachtet, und es entſtand die Frage,
ob jenes Geſetz durch die Gewohnheit einzelner Städte
aufgehoben ſey. Trajan ließ zwar aus Schonung die
jetzt vorhandenen fremden Senatoren gelten, erklärte aber
für die Zukunft, daß das Geſetz ungeachtet der Gewohn-
heit beobachtet werden müſſe: ohne Zweifel weil das Ge-
ſetz einen politiſchen Zweck hatte (g).
Bisher iſt der Theil der Stelle erklärt worden, wel-
(e) Azo Comm. in Cod., in
L. 2 cit.
(f) L. 4 de adopt. (1. 7.).
C. de emanc. (8. 49.)
(g) Plinius epist. X. 115, 116.
|0480 : 424|
Beylage II.
cher ſagt: consuetudo non vincit legem. Nun ſagt ſie
aber auch noch: consuetudo non vincit rationem, und es
fragt ſich, was das hoͤchſt vieldeutige Wort ratio eben
hier bedeute. In anderen Stellen über das Gewohnheits-
recht heißt ratio die gemeinſame Überzeugung von der
Wahrheit und Nothwendigkeit einer Regel, alſo der eigent-
liche Entſtehungsgrund dieſes Rechts, zu welchem ſich die
Gewohnheit ſelbſt nur als Folge und Kennzeichen ver-
hält (h). Das kann es hier nicht heißen, denn wie könnte
von einem Conflict der Überzeugung mit der Gewohnheit,
in welchem dieſe letzte weichen müßte, die Rede ſeyn?
Allein in anderen Stellen kommt neben einer ratio juris
auch eine ratio utilitatis vor (i), und da unter der lex
ein im Staatsintereſſe erlaſſenes Landesgeſetz zu verſtehen
iſt, ſo bezeichnet die ratio das gerade nicht durch ein Ge-
ſetz geſchützte Staatsintereſſe, die ratio publicae utilitatis.
Durch dieſe Erklärung erhält der Ausdruck einen beſtimm-
teren und mehr praktiſchen Sinn, als wenn man darun-
ter die Vernünftigkeit der Gewohnheit überhaupt verſte-
hen wollte.
Der ganze Inhalt der Stelle wäre ſonach dieſer: Ört-
liche Gewohnheiten ſollen nicht gelten, wenn ſie mit dem
Staatsintereſſe im Widerſpruch ſtehen, mag nun dieſes
durch ein (früheres oder ſpäteres) Landesgeſetz anerkannt
(h) L. 39 de leg (1. 3.). L. 1.
C. quae sit l. c. (8. 53.) S. das
Syſtem § 25 Note d.
(i) L. 1 C. de aquir. et retin.
poss. (7. 32.). „.. tam ratione
utilitatis quam juris pridem
receptum est.” Savigny Be-
ſitz S. 363 der 6ten Ausg.
|0481 : 425|
L. 2 C. quae sit longa consuetudo.
ſeyn, oder nicht. Und mit dieſer Vorſchrift iſt zwar etwas
nicht Unwichtiges über die örtlichen Gewohnheiten be-
ſtimmt, aber etwas das in ihrem natürlichen Verhältniß
zum Staatsverband gegründet iſt, nicht etwa eine will-
kührliche, poſitive Einſchränkung ihrer Wirkſamkeit. Das
Poſitive, was man etwa darin ſuchen koͤnnte, wäre der
ganz allgemeine Ausdruck lex, den man ſo verſtehen koͤnnte,
daß dieſe Vorſchrift für alle Geſetze, nicht blos für die
abſoluten, gelten ſollte. Allein nach der Verbindung in
welcher der Ausdruck mit ratio ſteht, noch weit mehr aber
nach der Verbindung, worin ſich die Stelle mit den übri-
gen Ausſprüchen der Juſtinianiſchen Rechtsbücher findet,
ſcheint es mir richtiger, den Ausdruck nur auf abſolute
Geſetze zu beziehen, zu welchen ohnehin der groͤßere Theil
der Kaiſergeſetze, und beſonders der ſehr eingreifenden
Geſetze von Conſtantin, gehörte.
Das Weſentliche dieſer Erklärung, nämlich das Ver-
hältniß des örtlichen Gewohnheitsrechts zu allgemeinen
Geſetzen, findet ſich ſchon bey Johannes und Azo, ob-
gleich ſchwankend und mit Irrigem vermiſcht: beſtimmter
und deutlicher bey Donellus (k). Schon Placentin führt
auf den falſchen, ſpäter ſehr oft betretenen Weg, zwiſchen
Republiken und Monarchieen zu unterſcheiden: in jenen ſoll
das Gewohnheitsrecht gegen ein Geſetz gelten, in dieſen
nicht (l). Die Neueren haben oft ſehr willkührliche Wege
(k) Azo comm. in Cod. in
h. L. Accursius ibid. Donel-
lus Lib. 1. C. 10.
(l) Placentinus in Summa
Cod, tit. quae sit longa consu.
|0482 : 426|
Beylage II.
eingeſchlagen, beſonders indem ſie die Vorſchrift auf ir-
gend eine einzelne Anwendung der Gewohnheiten zu be-
ſchränken verſuchten; dadurch wurde der Widerſtreit mit
anderen Stellen höchſtens quantitativ vermindert, nicht
aufgehoben (m). Einige legen alles Gewicht auf das sui
momento: die Gewohnheit an ſich ſey nicht beſſer als ein
Geſetz, es komme alſo ſtets nur darauf an, welches von
beiden das neuere ſey. Dann wäre der praktiſche Sinn
nur der, daß jede Gewohnheit durch ein ſpäteres Geſetz
ganz gewiß aufgehoben werde, und nicht etwa dagegen
durch ihre höhere Natur geſchützt ſey. Etwas ſo Über-
flüſſiges hat aber gewiß Conſtantin nicht ausſprechen wol-
len (n). Endlich deutet Hofacker die Erklärung an, nach
welcher die consuetudo hier nicht ein Gewohnheitsrecht,
ſondern nur eine factiſche, materielle Gewohnheit (wie
z. B. häufige Diebſtähle) bezeichne: dieſe ſolle ein Geſetz
nicht aufheben (o). Allein dafür würde ſelbſt der beſchei-
(m) So z. B. Schweitzer de
desuetudine Lips. 1801. 8. p. 47
— 57. (Hübner) Berichtigun-
gen und Zuſätze zu Höpfner
S. 167. — Schweitzer beſchränkt
die Stelle ganz willkührlich auf
die bloße desuetudo im Gegen-
ſatz der ſtets zuläſſigen obrogatio
durch Gewohnheit: die desuetudo
ſey in der Republik gültig gewe-
ſen (darauf gehe L. 32 de leg.),
in der Monarchie nicht (L. 2 C.
quae sit l. c.). — Hübner ſieht
in der Stelle blos das Verbot
einer irrigen Uſualinterpretation:
aber durch dieſe würde ja nicht
die lex überwunden, ſondern nur
die abweichende Meynung Desje-
nigen, der dieſe Auslegung für
irrig hält.
(n) Hilliger ad Donellum I.
10, und ausführlicher Avera-
nius Interpret. Lib. 2. C. 1.
(o) Hofacker I. § 122: „.. con-
suetudinem h. l. accipi pro con-
suetudine agendi civium, quae
.. legi prohibitivae obstet.” —
Puchta I. 120. II. 58. 211 — 215
ſchlägt einen ähnlichen Weg ein,
indem er die hier erwähnte con-
|0483 : 427|
L. 2 C. quae sit longa consuetudo.
dene Ausdruck non vilis auctoritas noch viel zu gut ſeyn,
da eine Gewohnheit in dieſem Sinn auch nicht die ge-
ringſte auctoritas haben kann.
Sehr merkwürdig endlich iſt noch die Art, wie das
canoniſche Recht dieſe Schwierigkeiten behandelt hat. Un-
ſere Stelle findet ſich in dem Decret wörtlich eingerückt (p).
Allein die Schwierigkeiten in der Erklärung derſelben wa-
ren den Canoniſten nicht unbekannt geblieben, und Gre-
gor IX. ſuchte dieſe in einer eigenen Decretale durch fol-
gende Paraphraſe zu löſen (q). „Das naturale jus (d. h.
das von Gott dem Menſchen eingepflanzte) kann durch
keine Gewohnheit abgeändert werden: auch das poſitive
Recht (das Staatsgeſetz) kann es nicht, außer wenn die
Gewohnheit vernunftgemäß, und durch hinreichende Dauer
suetudo nur von der factiſchen
Übung verſteht, welche nicht als
Kenntniß der gemeinſamen Über-
zeugung (alſo des Gewohnheits-
rechts) ſoll gelten können, wo de-
ren Exiſtenz juriſtiſch oder geſetz-
lich unmöglich ſey. — Nun ent-
ſteht aber die weitere Frage,
woran wir es erkennen ſollen,
daß manche Fälle der Übung un-
tauglich ſind, das Daſeyn eines
Volksrechts zu conſtatiren? durch
die Antwort, die er hierauf giebt,
(II. S. 214) kommt ſeine Erklä-
rung mit der hier gegebenen im
letzten Reſultat überein. Nach
beiden Meynungen fehlt es an
den Bedingungen, unter welchen
die factiſche Gewohnheit zu einem
wahren Gewohnheitsrecht wer-
den, alſo Wirkſamkeit erlangen
kann.
(p) c. 4 D. XI.
(q) C. 11 X. de consuet. (1. 4.).
„.. Licet etiam longaevae con-
suetudinis non sit vilis aucto-
ritas: non tamen est usque adeo
valitura, ut vel juri positivo
debeat praejudicium generare,
nisi fuerit rationabilis, et le-
gitime sit praescripta.” Der
Schluß iſt eigentlich nur eine
Wiederholung oder beſtimmtere
Einſchärfung des im Anfang ſte-
henden longaevae, und es würde
dieſes wahrſcheinlich weggelaſſen
worden ſeyn, wenn man nicht
räthlich gefunden hätte, die Worte
der Codexſtelle ſo viel möglich
beyzubehalten.
|0484 : 428|
Beylage II.
befeſtigt iſt.“ Hier iſt alſo dem Richter die Beurtheilung
eines vernunftmäßigen Inhalts der Gewohnheit überlaſſen,
jedoch nicht für alle Fälle überhaupt, ſondern nur wenn
die Gewohnheit ein Geſetz abändern ſoll. Dieſe vom Rö-
miſchen Recht abweichende, auch an ſich bedenkliche Be-
ſtimmung iſt offenbar aus dem Beſtreben hervorgegangen,
die verſchiedenen Meynungen die ſich aus Veranlaſſung
unſrer Stelle unter den Juriſten gebildet hatten, durch
eine Art von mittlerem Durchſchnitt zu vereinigen. —
Hier war die Rede von dem Verhältniß der neuen Ge-
wohnheit zu einem älteren Geſetz: ähnlich iſt folgende
Vorſchrift über das umgekehrte Verhältniß (r). Wenn der
Pabſt ein allgemeines Geſetz giebt, ſo ſollen dadurch frü-
here örtliche Gewohnheiten oder Statute nicht aufgehoben
ſeyn, vorausgeſetzt, daß ſie vernunftmäßig befunden wer-
den, und daß ihre Aufhebung in jenem Geſetz nicht beſon-
ders ausgeſprochen iſt.
Eben ſo merkwürdig iſt die förmliche Parodie unſrer
Stelle, die ſich im Lombardiſchen Lehenrecht findet. Es
mag oft geſchehen ſeyn, daß ein Romaniſt irgend eine
Stelle des Corpus Juris für ſich anführte, die mit den
Lehensgewohnheiten im Widerſpruch ſtand, und dann die
Gewohnheit durch Anführung der L. 2 C. quae sit l. c.
zu entkräften ſuchte. Dieſem Verfahren widerſpricht nun
(r) C. 1 de constitut. in VI.
(1. 2.): „.. ipsis, dum tamen
sint rationabilia, per consti-
tutionem a se noviter editam,
nisi expresse caveatur in ipsa,
non intelligitur in aliquo de-
rogare.”
|0485 : 429|
L. 2 C. quae sit longa consuetudo.
Obertus im Allgemeinen durch folgenden aus unſrer Stelle
parodirten Satz: Legum autem Romanarum non est
vilis autoritas, sed non adeo vim suam extendunt, ut
usum vincant aut mores (s).
Gedruckt bei den Gebr. Unger.
(s) 2 Feud. 1.
|0486|
Druckfehler.
S. 108 Z. 16 ſt. Togik l. Topik.
‒ 268 Note a Z. 4 ſt. aus l. ans.
‒ 295 Note c Z. 3 ſt. qnae l. quae.
‒ 301 ‒ h ‒ 4 ‒ Imperiali l. Imperatoria.
‒ 320 Z. 15 ſt. Überigen l. Übrigen.
‒ 320 ‒ 21 ‒ eben l. oben.
‒ 322 Note f Z. 4 ſt. Abſicht l. Anſicht.
‒ 351 ‒ g ‒ 11 ſt. conspicabatur l. conspirabatur.
|0487|
|0488|
|0489|