(0009 : [I])
Das moderne Völkerrecht der civiliſirten Staten.
(0010 : [II])
(0011 : [III])
Das moderne Völkerrecht der civiliſirten Staten als Rechtsbuch dargeſtellt
von Dr. J. C. Bluntſchli.
Nördlingen. Druck und Verlag der C. H. Beck’ſchen Buchhandlung. 1868.
(0012 : [IV])
Das Recht der Ueberſetzung iſt vorbehalten.
(0013 : [V])
Anſtatt des Vorworts ein Brief an Profeſſor Dr. Franz Lieber in New-York.
Mein lieber Freund!
„Endlich bin ich wieder da“, und dieß Mal nicht in der Geſtalt des Meerſchaums*), ſondern in der ernſteren eines völkerrechtlichen Rechtsbuchs, deſſen Namengebung und Einführung in die Welt ich Sie bitte, als Pathe beizuſtehn. Ihr glücklicher Gedanke, der amerikaniſchen Armee ein kurz gefaßtes Kriegsrecht als Inſtruction ins Feld mitzugeben, und
*) Dieſe Anſpielung wird durch folgende Stelle eines Briefes erklärt, den Profeſſor Lieber am 23. Auguſt 1867 an Bluntſchli geſchrieben hatte: „Geſtern wurde ich drollig und doch nicht unangenehm an Sie erinnert. Einer meiner Söhne iſt in Neu-Mexiko ſtationirt, volle 2500 Meilen von hier, ich meine engliſche Meilen. In einem Briefe, den ich geſtern erhielt, ſind die Worte: „Endlich iſt Bluntſchli wieder da“. Bluntſchli? ſagen Sie. Ich habe die Gewohnheit allen Gegenſtänden im Gebrauch Namen zu geben, und ſo haben auch die kleinen Meerſchaumpfeifen, die ich mitunter rauche, ihre Namen. Eine heißt Sadowa; eine andere nannte ich nach Ihnen. Ich gab ſie meinem Sohn beim Abſchiede, und ſie war auf dem langen, ſchwierigen und gefährlichen Marſche abhanden gekommen. Endlich aber, wie Sie ſehen, iſt Bluntſchli wieder aufgetaucht in jenen fernen wilden Bergen Neu-Mexikos. Mein Sohn iſt ungefähr 150 engliſche Meilen von Santa Fè“.
(0014 : VI)
Vorwort.
mit den Mahnungen des Rechts die wilden Leidenſchaften des Kriegs möglichſt zu zähmen, hat mich zuerſt zu dem Vorſatze angeregt, die Grundzüge des modernen Völkerrechts in Form eines Rechtsbuchs darzuſtellen und Ihre Briefe haben mich ermuthigt, dieſes Wagniß durchzuführen.
Ihre Kriegsartikel haben durch die Autorität des Präſidenten Lincoln eine amtliche Verſtärkung erhalten, welche mein Rechtsbuch völlig entbehren muß. Dasſelbe kann nur inſofern Autorität gewinnen, als die heutige civiliſirte Welt in ihm einen zeitgemäßen und wahren Ausdruck ihres Rechtsbewußtſeins erkennt, und die Macht auf die öffentliche Meinung achtet.
Meines Erachtens iſt die neuere Rechtswiſſenſchaft in einer Beziehung hinter den Fortſchritten der Rechtspraxis zurückgeblieben. Sie hat ihre Blicke zu lange an der Vergangenheit haften laſſen und darüber die Bewegung des Lebens nach der Zukunft hin aus dem Geſichte verloren. Die Wahrheit, daß das gegenwärtige Recht ein gewordenes und daher weſentlich aus der Vergangenheit zu erklären iſt, bedarf der Ergänzung durch die andere Wahrheit, daß das gegenwärtige Recht zugleich ein werdendes und berufen iſt, das fortſchreitende Leben der Menſchheit zu begleiten. Viele unſerer rechtsgelehrten Collegen können ſich nicht losmachen von der hergebrachten Vorſtellung, daß das Recht ein unveränderliches ſtarres Syſtem feſter äußerer Geſetze ſei, welche das menſchliche Thun beſchränken. Sie denken ſich das Recht, wie eine Mauer und wie Spaliere, an welchen der Gärtner die rankenden Pflanzen anbindet, wie ein Meſſer, womit er die geilen Triebe wegſchneidet. Nur ſchwer ringt ſich die Wiſſenſchaft zu dem tieferen Verſtändniß durch, daß das Recht eine lebendige Ordnung in der Menſchheit, nicht eine todte außer der Menſchheit ſei, daß nur das lebendige und nicht das todte Recht befähigt ſei, mit den Völkern zu leben und fortzuſchreiten. Am wenigſten paßt jener falſche Gedanke eines an ſich todten Rechts zu einer Darſtellung des Völkerrechts, das überall noch nicht zu feſtem Abſchluß gekommen, ſondern noch in mächtiger unaufhaltſamer Bewegung begriffen iſt. Das Recht des natürlichen Wachsthums der Völker und Staten, das Recht der Entwicklung der Menſchheit, das Recht des fortſchreitenden Lebens muß von der Wiſſenſchaft unzweideutiger und entſchiedener als bisher anerkannt und vertreten werden, wenn dieſelbe ihre
(0015 : VII)
Vorwort.
hohe ſittliche und geiſtige Miſſion erfüllen ſoll, ihre leuchtende Fackel auf den Wegen der Menſchheit voran zu tragen.
Die Rechtswiſſenſchaft darf daher meines Erachtens nicht bloß die ſchon in frühern Zeiten zur Geltung gelangten Rechtsſätze protokolliren, ſondern ſoll auch die in der Gegenwart wirkſame Rechtsüberzeugung neu ausſprechen und durch dieſe Ausſprache ihr Anerkennung und Geltung verſchaffen helfen. Je empfindlicher der Mangel geſetzgeberiſcher Organe iſt, welche für die Fortbildung des Völkerrechts ſorgen, um ſo weniger darf ſich die Wiſſenſchaft dieſer Aufgabe entziehn.
Freilich muß ſie ſich auch davor hüten, der Zukunft vorzugreifen. Sie darf nicht unreife Ideen als wirkliche Rechtsſätze und ſelbſt dann nicht verkünden, wenn ſie ihre Verwirklichung in der Zukunft klar vorherſieht. Das Recht als ein lebendiges iſt immer ein gegenwärtiges und unterſcheidet ſich dadurch ſowohl von dem Rechte der Vergangenheit, das nicht mehr iſt als von dem Rechte der Zukunft, das noch nicht iſt. Vergangenheit und Zukunft leben beide nur inſofern, als ſie ſich in der Gegenwart begegnen und fruchtbar verbinden.
In dieſer Geſinnung habe ich, mein verehrter Freund, meine Arbeit aufgefaßt. Die großen Ereigniſſe des vorigen Jahrs, denen auch Sie mit ſo lebhafter Theilnahme gefolgt ſind, haben mich in dieſer Ueberzeugung beſtärkt. Wir haben es damals in Deutſchland erlebt, daß man im Namen eines veralteten und lebensunfähigen Bundesrechts die naturnothwendige Entwicklung der deutſchen Nation zu einem politiſchen Volke mit aller Gewalt hat verhindern wollen. Allzu lange haben wir unter dem Mißbrauch des Rechts zur Ertödtung des Lebens gelitten. Nachdem endlich, Gott ſei Dank, jene falſche Autorität des todten Rechts durch die Preußiſchen Siege geſtürzt und für die Neugeſtaltung Deutſchlands freie Bewegung erſtritten worden iſt, darf auch die deutſche Wiſſenſchaft es nicht länger verſäumen, das Recht der Entwicklung wie der Völker ſo der Menſchheit offen zu vertreten.
Nach Ihrem Wunſche habe ich auch für eine franzöſiſche Ueberſetzung dieſes Werks geſorgt. Dieſelbe wird in Bälde ebenfalls im Druck erſcheinen. Wenn ſich das Buch, das den andern trefflichen Darſtellungen des Völkerrechts keine Concurrenz machen, ſondern dieſelben durch den neuen Verſuch
(0016 : VIII)
Vorwort.
einer geſetzähnlichen Formulirung ergänzen will, ſich als brauchbar erweiſen wird, ſo wird wohl auch eine Ueberſetzung in engliſcher Sprache nicht ausbleiben.
So möge denn das Buch ſeinem freundlichen Pathen keine Schande machen, wenn es in die rauhe Luft des öffentlichen Lebens eintritt.
Heidelberg, im September 1867.
(0017 : [IX])
Inhalt.
Einleitung. Die Bedeutung und die Fortſchritte des modernen Völkerrechts.
Seite
Grundlage des Völkerrechts 1.
Bedenken gegen das Völkerrecht. 1. Völkerrechtliche Geſetzgebung 7.
3. Angebliche Herrſchaft der Gewalt 9.
Anfänge des Völkerrechts. 1. Im Alterthum 10.
2. Im Mittelalter. Chriſtenthum 12.
Germanen 14.
Aufleben des modernen Völkerrechts 15.
Befreiung des Völkerrechts von religiöſer Befangenheit 16.
Schranken des Völkerrechts 17.
Maßregeln gegen die Sclaverei 18.
Religiöſe Freiheit 21.
Geſantſchaften und Conſulate 21.
Fremdenrecht. Keine Iſolirung der Staten 23.
Gemeinſchaft der Gewäſſer. Freie Schiffahrt 25.
Vermittlung in Streitfällen. Schiedsrichterliches Verfahren 29.
Kriegsrecht. Recht gegen die Feinde. Die Staten ſind Feinde, nicht die Privaten 30.
(0018 : X)
Inhalt.
Seite.
Feindliches Vermögen im Landkriege 36.
Feindliches Vermögen im Seekriege 40.
Die Neutralität 44.
Das Recht der nationalen Entwicklung und der Selbſtbeſtimmung der Völker 46.
Rechtsbuch. Buch I. Begründung, Natur und Grenzen des Völkerrechts. §§ 1—16 53.
Buch II. Völkerrechtliche Perſonen. I. Die Staten. 1. Statsperſönlichkeit § 17—27 63.
2. Entſtehung und Anerkennung neuer Staten 28—38 67.
3. Einfluß der Verfaſſungswandlung auf die völkerrechtlichen Verhältniſſe der Staten 39—45 72.
4. Untergang der Staten, Abtretung von Statsgebiet, Einverleibungen, Statenfolge 46—61 75.
5. Völkerrechtliche Eigenſchaften der Staten. A. Handlungsfähigkeit 62. 63 83.
B. Souveränetät 64—80 83.
C. Rechtsgleichheit 81—94 91.
II. Die Statenſyſteme. 1. Gleichgewicht 95—100 96.
2. Heilige Allianz 101—102 98.
3. Pentarchie 103—107 100.
4. Allgemeine Congreſſe 108—114 102.
Buch III. Völkerrechtliche Organe. I. Die Statshäupter. 1. Repräſentationsrecht der Statshäupter 115—125 107.
2. Die Statshäupter als ſouveräne Perſonen 126—134 112.
3. Vom Recht der Exterritorialität 135—153 116.
4. Die Familiengenoſſen der ſouveränen Perſonen 154—158 124.
II. Andere Organe des völkerrechtlichen Verkehrs. Geſante. 5. Recht und Pflicht des völkerrechtlichen Verkehrs 159—169 126.
6. Claſſen und Arten der Geſanten. Diplomatiſcher Körper 170—182 129.
7. Anfang der diplomatiſchen Sendung 183—190 133.
8. Perſönliche Rechte und Pflichten der Geſanten 191—240 135.
(0019 : XI)
Inhalt.
III. Von den Agenten und Commiſſären 241—243 150.
IV. Von den Conſuln 244—275 151.
Buch IV. Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit. 1. Bedeutung, Erwerb und Verluſt der Gebietshoheit 276—295 163.
2. Grenzen des Statsgebiets 296—303 175.
3. Oeffentliche Gewäſſer. Die Meeresfreiheit 304—316 179.
4. Schiffsrecht 317—352 185.
5. Von den Statsdienſtbarkeiten 353—359 204.
Buch V. Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen. 1. Schutz der perſönlichen Freiheit 360—363 209.
2. Von der Statsgenoſſenſchaft 364—374 211.
3. Hoheitsrecht und Schutzpflicht des States gegenüber ſeinen Statsgenoſſen im Ausland 375—380 217.
4. Hoheitsrecht und Rechtsſchutz gegenüber den Ausländern im Inland 381—393 220.
5. Auslieferungspflicht und Aſylrecht 394—401 225.
Buch VI. Völkerrechtliche Verträge. 1. Erforderniſſe und Wirkſamkeit der völkerrechtlichen Verträge 402—416 231.
2. Form der Verträge 417—424 238.
3. Verſtärkung der Verträge. Garantieverträge 425—441 241.
4. Arten der völkerrechtlichen Verträge 442—445 248.
5. Von den Allianzen insbeſondere 446—449 251.
6. Aufhören der Vertragsverbindlichkeit 450—461 254.
Buch VII. Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben. 1. Im Allgemeinen 462—473 259.
2. Bruch der inneren Statsordnung. Intervention 474—480 265.
3. Minneverfahren 481—487 270.
4. Schiedsrichterliches Verfahren 488—498 272.
5. Zwangsmittel ohne Krieg. Selbſthülfe durch Repreſſalien. Retorſion. Sperre 499—509 278.
Buch VIII. Das Kriegsrecht. 1. Begriff des Kriegs. Kriegsparieien, Kriegsurſachen und Kriegserklärung 510—528 287.
2. Wirkungen des Kriegszuſtandes im Allgemeinen. Kriegsziel 529—536 296.
3. Kriegsrecht gegen den feindlichen Stat und in dem feindlichen Statsgebiete 537—556 300.
4. Unerlaubte Kriegsmittel 557—567 312.
(0020 : XII)
Inhalt.
Seite.
5. Recht und Pflicht der Kriegsgewalt gegenüber den feindlichen Perſonen und den friedlichen Bewohnern in Feindesland. Quartiergeben. Verwundete in der Schlacht. Kriegsgefangene. Geiſeln. Auswechslung der Gefangenen. Entlaſſung auf Ehrenwort 568—626 317.
6. Verfahren gegen Deſerteure und Ueberläufer, Spione, Kriegsverräther, Wegeführer, Räuber, Marodeurs, Kriegsrebellen 627—643 341.
7. Recht der Kriegsgewalt über das feindliche Vermögen und das Vermögen der friedlichen Perſonen in Feindesland. A. Im Landkrieg 644—663 348.
B. Im Seekrieg 664 361.
8. Verkehr und Verhandlungen unter den Kriegsparteien. Waffenſtillſtand. Capitulation 674—699 367.
9. Beendigung des Kriegs. Friedensſchluß 700—726 380.
10. Postliminium 727—741 394.
Buch IX. Recht der Neutralität. 1. Begriff und Arten der Neutralität 742—748 403.
2. Bedingungen der Neutralität und Pflichten der Neutralen 749—782 406.
3. Rechte der Neutralen 783—797 422.
4. Neutraler Handelsverkehr. Kriegscontrebande und Durchſuchungsrecht 798—826 430.
5. Blocade 827—840 448.
6. Priſengerichte 841—862 455.
Anhang. Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863 467.
(0021)
Einleitung. Die Bedeutung und die Fortſchritte des modernen Völkerrechts.
(0022)
(0023 : [1])
Grundlage des Völkerrechts.
Wo immer Menſchen mit Menſchen verkehren und dauernde Beziehungen anknüpfen, da regen ſich in ihnen das Rechtsgefühl und der Rechtsſinn und verlangen eine gewiſſe Ordnung der nothwendigen Verhältniſſe und eine wechſelſeitige Achtung der daraus entſpringenden Rechte. Beide Eigenſchaften der menſchlichen Seele, das Rechtsgefühl und der Rechtsſinn, ſind ſelbſt unter barbariſchen Stämmen deutlich wahrzunehmen, aber nur bei civiliſirten Völkern gelangen ſie zu voller Ausbildung des Bewußtſeins und mit Hülfe öffentlicher Inſtitutionen zu geſicherter Wirkſamkeit. Sie können wohl gedrückt, aber nie ganz unterdrückt, wohl mißleitet, aber nicht zerſtört werden. Immer wieder erheben ſie ſich, wenn der Druck nachläßt, und beſinnen ſie ſich, wenn die verwirrende Leidenſchaft erliſcht. Der Rechtsſinn iſt ohne Zweifel ſtärker in den Männern als in den Frauen und jene ſind bereiter als dieſe, ihr Recht gegen Jedermann mit Gründen und im Rothfall mit den Waffen zu verfechten. Aber an zähem und lebhaftem Rechtsgefühl ſtehen die Frauen den Männern nicht nach. Sie ergeben ſich eher der übermächtigen Gewalt, aber ſie empfinden und beklagen das Unrecht, das ihnen widerfährt, nicht deshalb weniger, weil ſie ſich ſchwächer fühlen und weniger demſelben widerſtehen können. Schon in den Kindern zeigt ſich dieſe Anlage der Menſchennatur für die Rechtsbildung. Auch die Kinder haben ein ſcharfes Auge für die Ungerechtigkeit, der ſie in der Familie oder in der Schule ausgeſetzt ſind und werden oft tief verletzt und verbittert, wenn ſie glauben, parteiiſch behandelt zu werden.
Wenn es aber eine unbeſtreitbare Wahrheit iſt, daß der Menſch von Natur ein Rechtsweſen und mit der Anlage zur Rechtsbildung ausgeſtattet iſt, dann muß auch das Völkerrecht in der Menſchennatur ſeine unzerſtörbare Wurzel und ſeine ſichere Begründung haben. Völkerrecht heißt
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 1
(0024 : 2)
Einleitung.
die als rechtlich-nothwendig anerkannte Ordnung, welche die Beziehungen der Staten zu einander regelt. Die Staten aber d. h. die organiſirten Völker beſtehen aus Menſchen, und ſind ſelber als einheitliche Geſammtweſen Perſonen, d. h. lebendige mit Willen begabte Rechtskörper, wie die Einzelmenſchen. Die Staten ſind wie die Einzelnen einerſeits individuelle Weſen für ſich und andrerſeits Glieder der Menſchheit. Dieſelbe Menſchennatur, und demgemäß auch dieſelbe Rechtsnatur, die jedes Volk und jeder Stat in ſich hat, die findet er wieder in den andern Völkern und Staten. Sie verbindet alle Völker mit unwiderſtehlicher Nothwendigkeit. Keines kann ſich dieſer gemeinſamen Natur entäußern, keines dieſelbe in dem andern Volke verkennen. Deshalb ſind ſie alle durch ihre gemeinſame Menſchennatur verpflichtet, ſich wechſelſeitig als menſchliche Rechtsweſen zu achten. Das iſt die feſte und dauerhafte Grundlage alles Völkerrechts. Würde es heute geläugnet und untergehen, ſo würde es morgen wieder behauptet und neu begründet.
Bedenken gegen das Völkerrecht.
Trotzdem werden heute noch ſtarke Zweifel gegen die Exiſtenz des Völkerrechts vielfältig geäußert. Die grundſätzlichen und die thatſächlichen Bedenken, auf welche ſich jene Zweifel ſtützen, ſind in der That nicht geringfügig. Sie fordern vielmehr zu ernſter Prüfung auf. Man wendet ein, es fehle vorerſt an einer beglaubigten Ausſprache des Völkerrechts durch das Geſetz, ſodann an einem wirkſamen Schutze deſſelben durch die Rechtspflege; und man erinnert daran, daß in dem Streite der Staten und Völker der Entſcheid eher von der ſiegreichen Gewalt gegeben werde, als von irgend einer Rechtsautorität. Man fragt dann: Wie kann ernſtlich von Völkerrecht die Rede ſein, ohne ein Völkergeſetz, welches das Recht mit Autorität verkündet, ohne ein Völkergericht, welches dieſes Recht in Rechtsform handhabt, wenn die Macht ſchließlich allezeit den Ausſchlag giebt?
Wir können es nicht läugnen: Dieſe Bedenken haben ihren Grund in großen Mängeln und ſchweren Gebrechen des Völkerrechts. Dennoch iſt der Schluß, daß es kein Völkerrecht gebe, übereilt und verfehlt. Faſſen wir dieſelben ſchärfer ins Auge.
1. Völkerrechtliche Geſetzgebung.
Wir ſind heute gewohnt, wenn irgend Fragen des Familienrechts, des Erbrechts, des Vermögensrechts auftauchen, ein privatrechtliches Geſetz-
(0025 : 3)
Einleitung.
buch nachzuſchlagen und dort die Aufſchlüſſe über die geltenden Rechtsgrundſätze aufzuſuchen, oder wenn ein Verbrechen verübt worden, nachzuſehen, mit welcher Strafe es in dem Strafgeſetzbuch bedroht ſei. Die Fundamentalſätze des Statsrechts ſind gewöhnlich in Verfaſſungsurkunden öffentlich verkündet, und ſchon finden wir in einzelnen Staten, wie z. B. in dem State New-York, eine Codification auch des öffentlichen Rechts. Aber es giebt kein völkerrechtliches Geſetzbuch und nicht einmal einzelne völkerrechtliche Geſetze, welche die Rechtsgrundſätze mit bindender Autorität ausſprechen, nach denen völkerrechtliche Streitfragen zu entſcheiden ſind. Da meinen denn Manche, gewohnt alles Recht aus Geſetzen abzuleiten: „Ohne Geſetze kein Recht.“
Indeſſen ſind die Geſetze nur der klarſte und wirkſamſte Ausdruck, aber keineswegs die einzige Quelle des Rechts. Bei allen Völkern gab es eine Zeit, in der ſie keine Geſetzbücher und dennoch ein geltendes Recht hatten. In der Jugendperiode auch der Culturvölker gab es Ehen, Erbrecht der Anverwandten, Eigenthum, Forderungen und Schulden ohne Geſetze, welche dieſe Rechtsverhältniſſe ordneten und es wurden die Verbrechen beſtraft ohne Strafgeſetz. Die in den nationalen Inſtitutionen und in den Volksgebräuchen und Uebungen dargeſtellte Rechtsordnung iſt überall älter als die geſetzlich beſtimmte. Erſt in dem reiferen und ſelbſtbewußteren Lebensalter der Völker unternimmt es der Stat, das Recht in Geſetzbüchern auszuſprechen. Es kann uns daher nicht befremden, wenn das noch junge Völkerrecht vorerſt ebenfalls in gewiſſen Einrichtungen, Gebräuchen und Uebungen der Völker vornehmlich zu Tage tritt.
Für das Völkerrecht beſteht aber in dieſer Hinſicht eine eigenthümliche Schwierigkeit. Mag das Verlangen nach einer klaren autoritativen Verkündung völkerrechtlicher Geſetze noch ſo dringend geworden und die geiſtige Fähigkeit zu ſolcher Ausſprache noch ſo unzweifelhaft ſein, ſo fehlt es doch an einem anerkannten Geſetzgeber, der das Geſetz erlaſſen könnte. In jedem einzelnen State iſt durch die Statsverfaſſung für ein Organ des allgemeinen Statswillens geſorgt, d. h. ein Geſetzgeber anerkannt. Aber wo wäre der Weltgeſetzgeber zu finden, deſſen Ausſpruch alle Staten und alle Nationen Folge leiſteten? Die Einrichtung eines geſetzgebenden Körpers für die Welt, ſetzt die Organiſation der Welt voraus und eben dieſe beſteht nicht.
Vielleicht wird die Zukunft dereinſt die erhabene Idee verwirklichen und der geſammten, in Völker und Staten getheilten Menſchheit
1*
(0026 : 4)
Einleitung.
einen gemeinſamen Rechtskörper ſchaffen, welcher ihren Geſammtwillen mit allgemein anerkannter Autorität ausſprechen wird, wie die Vergangenheit den verſchiedenen Nationen in den Staten eine einheitliche Rechtsgeſtalt gegeben hat, und wie die Gegenwart wenigſtens das Bewußtſein weckt und klärt, nicht blos, daß die Menſchheit in Natur und Beſtimmung Ein Geſammtweſen ſei, ſondern überdem, daß auch in der Menſchheit gemeinſame Rechtsgrundſätze zur Geltung kommen müſſen. Wird einſt jene zukünftige Organiſation der Menſchheit erfüllt ſein, dann freilich wird auch der Geſetzgeber für die Welt nicht mehr fehlen und es wird dann das Weltgeſetz die Beziehungen der mancherlei Staten zu einander und zur Menſchheit ebenſo klar, einheitlich und wirkſam ordnen, wie es das heutige Statsgeſetz thut mit Bezug auf die Verhältniſſe der Privatperſonen unter einander und zum State.
Mag man aber dieſes hohe Endziel für einen ſchönen Traum der Idealiſten halten oder an deſſen Erreichung mit Zuverſicht glauben, darüber kann kein Streit ſein, daß daſſelbe zur Zeit und noch auf lange hin keineswegs erreichbar ſei. Das heutige Völkerrecht entſpricht dieſem Ideale nicht. Nur langſam und allmählig führt es aus der rohen Barbarei der Gewalt und Willkür zu civiliſirten Rechtszuſtänden. Es kann höchſtens als Uebergang dienen aus der unſichern Rechtsgemeinſchaft der Völker zu der endlichen vollbewußten Rechtseinheit der Menſchheit. Jeder neue völkerrechtliche Grundſatz, welcher dem gemeinſamen Rechtsbewußtſein der Völker klar gemacht und in dem Verkehrsleben der Völker bethätigt wird, iſt dann ein Fortſchritt auf dem Wege zu jenem Ziele.
Ganz ſo ſchlimm, wie es der oberflächlichen Betrachtung erſcheint, ſteht es übrigens nicht. Es fehlt dem heutigen Völkerrecht nicht völlig an gemeinſamer, autoritativer Ausſprache ſeiner Rechtsgrundſätze, die daher einen Geſetz ähnlichen Charakter hat. Indem von Zeit zu Zeit große völkerrechtliche Congreſſe der civiliſirten Staten zuſammengetreten ſind und ihre gemeinſame Rechtsüberzeugung in formulirten Rechtsſätzen zu Protokoll erklärt haben, haben ſie im Grund daſſelbe gethan, was der Geſetzgeber thut. Die eigentliche Abſicht dabei war nicht, ein Vertragsrecht zu ſchaffen, welches lediglich die Vertragsparteien und die Unterzeichner des Protokolles binden ſollte, ſondern allgemeine Rechtsnormen, zunächſt freilich nur für die europäiſche Welt, feſtzuſetzen, welche alle europäiſchen Staten zu beachten haben; ſie wollten nicht ein Willkürrecht hervorbringen, das ebendeshalb nicht weiter gilt, als jene Willkür Macht hat,
(0027 : 5)
Einleitung.
ſondern ein nothwendiges Recht anerkennen, welches in der Natur der Verhältniſſe und in den Pflichten der civiliſirten Völker gegen die Menſchheit ſeine eigentliche Begründung hat.
Die mittelalterliche Rechtsbildung war oft auch in den einzelnen Ländern nicht anders. Man wählte nicht ſelten die Form des Vertrags und ſchuf den Inhalt des Geſetzes. Die heutigen Staten haben nicht einmal die Wahl zwiſchen zweierlei Formen. Sie können ihre gemeinſame Rechtsüberzeugung nur in der bedenklichen Form einer vielſtimmigen Erklärung ausſprechen; die einheitliche Form der Ausſprache iſt für ihre Geſammtheit unmöglich, ſo lange dieſe nicht zu Einer Rechtsperſon organiſirt iſt. Auch in den Verträgen, welche zunächſt nur unter einzelnen Staten abgeſchloſſen worden ſind, ſind daher manche Beſtimmungen zu finden, welche ihrem Weſen nach Rechtsgeſetze und keineswegs bloße Vertragsartikel ſind, welche die nothwendige Rechtsordnung, nicht die Convenienz der contrahirenden Staten darſtellen.
Sogar die Geſetzgebung eines Einzelſtates kann ſo völkerrechtliche Grundſätze mit öffentlicher Autorität ausſprechen und dadurch an der Klärung und Fortbildung des Völkerrechts überhaupt einen bedeutenden Antheil nehmen. Die formelle und zwingende Autorität eines States reicht freilich nicht über die Gränzen ſeines Gebietes hinaus. Aber die geiſtige und freie Autorität deſſelben kann ſich ſehr viel weiter erſtrecken, wenn ihr die öffentliche Meinung ihren Beifall zuwendet, wenn die Ueberzeugung ſich verbreitet, daß jene Ausſprache dem Rechtsbewußtſein der civiliſirten Welt entſpreche.
Wir haben in neueſter Zeit einen merkwürdigen Act dieſer Art erlebt, welcher zugleich einen bedeutenden Fortſchritt des modernen Völkerrechts bezeichnet. Während des nordamerikaniſchen Bürgerkriegs nämlich iſt im April 1863 eine „Inſtruction für die Armeen der Vereinigten Staten im Feld“ erſchienen, welche geradezu als eine erſte Codification des Kriegsrechts im Landkrieg zu betrachten iſt. Dieſelbe wurde von einem der angeſehenſten Rechtsgelehrten und Statsphiloſophen Amerikas, von Profeſſor Lieber, entworfen, von einer Commiſſion von Officieren geprüft und von dem Präſidenten der Vereinigten Staten, Lincoln, genehmigt. Sie enthält in 157 Paragraphen genaue Vorſchriften über die Kriegsgewalt in Feindesland, ihre Macht und ihre Gränzen, über das öffentliche und das Privateigenthum des Feindes, über den Schutz der Privatperſonen und die Intereſſen der Religion, Kunſt und Wiſſenſchaft,
(0028 : 6)
Einleitung.
über Ausreißer und Kriegsgefangene und die Beute auf dem Schlachtfelde, über Parteigänger und Freiſchaaren, über Späher, Räuber und Kriegsrebellen, über Sicherheitspäſſe, Spione, Kriegsverräther, gefangene Boten und den Mißbrauch der Parlamentärfahne, über Auswechslung der Kriegsgefangenen, Waffenſtillſtands- und Schutzzeichen, über die Entlaſſung auf Ehrenwort, über Waffenſtillſtand und Capitulation, über Mord, Aufſtand, Bürgerkrieg, Rebellion. Dieſe Inſtruction iſt ſehr viel ausführlicher und durchgebildeter als die Kriegsreglemente, welche bei den europäiſchen Heeren in Uebung ſind. Da dieſelbe aber durchweg Sätze ausſpricht von allgemeinem, völkerrechtlichem Rechtsgehalt, und da die Art ihrer Ausſprache in Uebereinſtimmung iſt mit dem Rechtsbewußtſein der heutigen Menſchheit und mit der civiliſirten Kriegsführung der Gegenwart, ſo wirkt dieſes Edict über die weiten Gränzen der Vereinigten Staten weit hinaus; und trägt erheblich dazu bei, einen wichtigen Beſtandtheil des modernen Völkerrechts in humanem und der Nothwendigkeit der Verhältniſſe entſprechendem Sinne zu allgemeiner Anerkennung zu bringen. Die europäiſchen Staten können hierin nicht hinter dem Vorbilde der amerikaniſchen Staten zurück bleiben, ohne ſich dem beſchämenden Urtheil der öffentlichen Meinung auszuſetzen, daß ſie in der Entwicklung des Völkerrechts hinter dem Fortſchritte der civiliſirten Menſchheit zurück bleiben.
Ein anderes Surrogat der Geſetzgebung, welches in vielen Ländern die Ausbildung des Privat- und des Strafrechts, ſelbſt des Statsrechts erheblich gefördert hat, ſind die Rechtsbücher, in denen die geltenden Rechtsſätze von rechtskundigen Privatperſonen aufgezeichnet und dargeſtellt werden. Der Inhalt ſolcher Rechtsbücher iſt in der Hauptſache ganz derſelbe, wie der Inhalt der Geſetzbücher. Es werden darin die geltenden Rechtsnormen ausgeſprochen und verkündet. Aber weil die Rechtsbücher ein Werk der Privaten, die Geſetzbücher dagegen ein Werk der Statsgewalt ſind, ſo haben jene keinen Anſpruch auf die bindende Autorität, welche dem Geſetze Gehorſam verſchafft. Die Rechtsbücher haben nur inſofern eine Autorität, als auch die Wiſſenſchaft Autorität beſitzt und als ſie als wahr und gerecht erkannt werden. Es iſt das eher eine innerliche und geiſtige, von der Kritik jeder Zeit zu prüfende, freie Autorität, nicht die gebundene unangreifbare der äußern Gewalt, welche dem Geſetze gebührt, und Gehorſam erzwingt.
In dem folgenden Buch habe ich, durch das amerikaniſche Vorbild angeregt, den Verſuch gewagt, ein ſolches Rechtsbuch des Völkerrechts
(0029 : 7)
Einleitung.
darzuſtellen. Wenn dieſe Darſtellung dem heutigen Rechtsbewußtſein der civiliſirten Welt entſpricht, und zur Klärung und Ausſprache deſſelben dienlich iſt, ſo iſt der Zweck dieſer Arbeit erfüllt; wenn nicht, ſo wünſche ich nur, daß es in Bälde Andern beſſer gelingen möge, dieſes berechtigte Bedürfniß zu befriedigen.
2. Völkerrechtliche Rechtspflege.
Faſt noch ſchlimmer als der Mangel eines Völkergeſetzes iſt der Mangel eines Völkergerichts. Wenn der vermeintliche Eigenthümer einer Sache von dem Beſitzer Herausgabe verlangt, oder der Gläubiger von dem Schuldner Zahlung fordert, ſo finden die beiden ſtreitenden Parteien einen Richter im State, welcher ihren Streit rechtskräftig entſcheidet. Wenn ferner Jemand beſtohlen oder mißhandelt wird, ſo ſchreitet der Statsanwalt ein, die Geſchwornen erkennen über die Schuld, der Strafrichter beſtimmt die Strafe, welche von der Statsgewalt vollzogen wird. Aber wenn ein Stat Anſprüche auf einen Bezirk erhebt, den ein anderer Stat beſetzt hält, wenn ein Stat Entſchädigung fordert für rechtswidrige Verletzung ſeiner Intereſſen durch einen andern Stat, wenn ein Stat einen ſchweren Friedens- und Rechtsbruch begeht wider einen andern Stat, ſo giebt es keinen Gerichtshof, an welchen der Kläger ſich wenden kann, welcher dem Unrecht wehrt, dem Rechte Anerkennung verſchafft und auch den Schwachen wider den Mächtigen ſchützt. Das letzte und in manchen Fällen das einzige Mittel, welches dem verletzten Stat bleibt, um ſein Recht zu behaupten, iſt der Krieg und im Kriege entſcheidet die Gewalt der auf einander ſtoßenden Naturkräfte. Im Kriege ſiegt leichter die Partei, welche die Macht, als die, welche das Recht für ſich hat.
Unläugbar iſt daher der Krieg eine rohe und unſichere Form des Rechtsſchutzes. Wir können nicht mit Zuverſicht darauf rechnen, daß die Macht ſich dahin wende, wo das Recht iſt und der beſſer Berechtigte in Folge deſſen auch der Stärkere ſei. Aber ſelbſt in dieſer leidenſchaftlichen und rohen Form der gewaltſamen Selbſthülfe macht ſich doch das Rechtsgefühl der Völker geltend. Eben für ihr Recht greifen die Staten zu den Waffen und unternehmen es, indem ſie alle ihre Manneskraft anſpannen und das Leben der Bürger einſetzen, ihrer Rechtsbehauptung den Sieg zu verſchaffen. Niemals iſt es auch gleichgültig, auf welcher Seite das Recht ſei. Der Glaube an das eigene gute Recht ſtärkt und ermuthigt die Kämpfenden, das Bewußtſein des eigenen Unrechts ängſtigt
(0030 : 8)
Einleitung.
und verwirrt ſie. Das offenbare Recht zieht Freunde herbei und gewinnt die Gunſt der öffentlichen Meinung; das augenfällige Unrecht reizt die Gegner zur Feindſchaft und weckt allgemeine Mißgunſt. Der Stärkſte ſelbſt, wenn er Sieger wird, fühlt ſich nach dem unübertrefflichen Ausdrucke Rouſſeau’s nicht ſtark genug ohne das Recht und wird ſeines Sieges erſt froh, wenn es ihm glückt, dem Erfolge der Waffen die endliche Anerkennung des Rechts zu verſchaffen. Wenn der Sieg dauernde und inſofern nothwendige Wirkungen hervorbringt, ſo beſtimmt er wirklich die Rechtsordnung für die Gegenwart und ihre Folge.
In der Jugendperiode der germaniſchen Völker und theilweiſe noch im Mittelalter war es mit dem Rechtsſchutze des Privat- und des Strafrechts nicht viel beſſer beſtellt. Die männliche Selbſthülfe war auch da eine gewöhnliche Form der Rechtshülfe. Mit den Waffen in der Hand vertheidigte der Eigenthümer den Frieden ſeines Hauſes, der Gläubiger pfändete ſelber den ſäumigen Schuldner, gegen die Friedensbrecher wurde die Familien- und die Blutrache geübt, der Rechtsſtreit der Ritter und Städte wurde in der Form der Fehde vollzogen. Sogar in die öffentlichen Gerichte hinein trat die Waffengewalt, der Zweikampf war ein beliebtes Beweismittel, und ſelbſt der Urtheilsſchelte wurde durch die Berufung auf die Schwerter Nachdruck verliehen. Nur allmählig verdrängte die friedlichere und zuverläſſigere Gerichtshülfe die ältere Selbſthülfe. Es iſt daher nicht unnatürlich, wenn die Staten, d. h. die derzeitigen alleinigen Inhaber, Träger und Garanten des Völkerrechts, in ihren Rechtsſtreiten im Gefühl ihrer Selbſtändigkeit und ihrer Rechtsmacht ſich noch heute vornehmlich ſelber zu helfen ſuchen.
Indeſſen der Krieg iſt doch nicht das einzige völkerrechtliche Rechtsmittel. Es giebt daneben auch friedliche Mittel, dem Völkerrechte Anerkennung und Schutz zu verſchaffen. Die Erinnerungen und Mahnungen, unter Umſtänden die Forderungen der neutralen Mächte, die guten Dienſte befreundeter Staten, die Aeußerungen des diplomatiſchen Körpers, die Drohungen der Großmächte, die Gefahren von Coalitionen gegen den Friedensbrecher, die laute und ſtarke Stimme der öffentlichen Meinung gewähren der völkerrechtlichen Ordnung auch einigen — freilich nicht immer einen ausreichenden Schutz, und werden ſelten ungeſtraft mißachtet. Zuweilen endlich werden völkerrechtliche Schiedsgerichte gebildet, welche den Streit der Staten auch in wirklicher Rechtsform nach einem vorgängigen Proceßverfahren entſcheiden.
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Einleitung.
3. Angebliche Herrſchaft der Gewalt.
Wer immer einen Blick wirft auf die Geſchichte der Völker, wird auch die Wahrnehmung machen, daß die Macht einen großen Antheil hat an der Bildung der Staten und dieſe Macht erſcheint oft genug in der rohen Form der phyſiſchen Gewalt, welche mit dem Säbel in der Hand ihre Gebote durchſetzt und unter dem Donner der Kanonen und im Gewitter der Schlacht die Verhältniſſe der Staten umgeſtaltet. Aber obwohl in allen Zeitaltern viel brutale Gewalt der Mächtigen ſich breit macht und auf die Rechtsordnung einen Druck übt, und obwohl viel verübtes Unrecht ungeſtraft bleibt, ſo iſt die Weltgeſchichte doch nicht ein wüſtes Durcheinander der entfeſſelten Leidenſchaften und nicht das Ergebniß der rohen Gewaltübung. Vielmehr erkennen wir, bei näherer Prüfung und Ueberlegung des weltgeſchichtlichen Ganges, auch eine ſittliche Ordnung. Der ſichere Fortſchritt der allgemein-menſchlichen Rechtsentwicklung ſtellt ſich darin unzweideutig dar. Das Wort unſeres großen Dichters: „Die Weltgeſchichte iſt das Weltgericht“ ſpricht eine tröſtliche Wahrheit aus.
Die Regel der heutigen Welt iſt nicht mehr der Krieg, ſondern der Friede. Im Frieden aber herrſcht in den Beziehungen der Staten zu einander nicht die Gewalt, ſondern in der That das anerkannte Recht. In dem friedlichen Verkehre der Staten mit einander wird die Perſönlichkeit und die Selbſtändigkeit des ſchwächſten States ebenſo geachtet, wie die des mächtigſten. Das Völkerrecht regelt die Bedingungen, die Formen, die Wirkungen dieſes Verkehrs weſentlich für alle gleich, für die Rieſen wie für die Zwerge unter den Staten. Jeder Verſuch, dieſe Grundſätze geſtützt auf die Uebermacht willkürlich zu verletzen und ihre Schranken zu überſchreiten, ruft einen Widerſpruch und Widerſtand hervor, welchen auch der mächtige Stat nicht ohne Gefahr und Schaden verachten darf.
Aber ſelbſt in dem Ausnahmszuſtande des Kriegs, in welchem die phyſiſche Gewalt ihre mächtigſte Wirkung äußert, werden dieſer Gewalt doch von dem Völkerrecht feſte Schranken geſetzt, welche auch ſie nicht überſchreiten darf, ohne die Verdammung der civiliſirten Welt auf ſich zu laden. In nichts mehr bewährt und zeigt ſich die Macht und das Wachsthum des Völkerrechts herrlicher als darin, daß es vermocht hat, die ſpröde Wildheit der Kriegsgewalt allmählich zu zähmen und ſelbſt die zerſtörende Wuth des feindlichen Haſſes durch Geſetze der Menſchlichkeit zu mäßigen und zu bändigen.
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Einleitung.
Ueberdem dürfen wir bei der Beurtheilung geſchichtlicher Ereigniſſe niemals vergeſſen: Was dem oberflächlichen Sinn nur als rohe Uebermacht und als brutale Gewalt erſcheint, das ſtellt ſich der tieferen Erkenntniß in manchen Fällen als unwiderſtehliche Nothwendigkeit der natürlichen Verhältniſſe und als unaufhaltſamer Drang berechtigten Volkslebens dar, welches die abgeſtorbenen Formen des veralteten Rechts abſtößt, wie die jungen Pflanzentriebe im Frühling das welke Laub des Winters abſtoßen. Wo aber das wirklich der Fall iſt, da iſt die Gewalt in Wahrheit nur der Geburtshelfer des natürlichen oder des werdenden Rechts. Sie dient dann der Rechtsbildung, ſie beherrſcht dieſelbe nicht.
Die Mängel alſo des Völkerrechts ſind groß, aber nicht ſo groß, um deſſen Exiſtenz zu behindern. Das Völkerrecht ringt noch mit ihnen, aber es hat ſchon manchen Sieg über die Schwierigkeiten erfochten, welche ſeiner Geltung im Wege ſtehen. Man vergleiche die Rechtszuſtände der heutigen Statenwelt mit den Zuſtänden der früheren Zeitalter und man wird durch dieſe Vergleichung der großen und ſegensreichen Fortſchritte gewahr, welche das Völkerrecht in den letzten Jahrhunderten gemacht hat und fortwährend macht. Darin erſehen wir eine Bürgſchaft für die weiteren Fortſchritte der Zukunft. Die Vervollkommnung des Völkerrechts begleitet und ſichert die Vervollkommnung des Menſchengeſchlechts. Halten wir Ueberſchau und betrachten wir im Großen die Entwicklung des Völkerrechts.
Anfänge des Völkerrechts.
1. Im Alterthum.
Einzelne Keime des Völkerrechts ſind zu allen Zeiten unter allen Völkern ſichtbar geworden. Selbſt unter wilden und barbariſchen Stämmen finden wir faſt überall eine gewiſſe, meiſtens religiöſe Scheu, die Geſandten anderer Stämme zu verletzen, mancherlei Spuren des Gaſtrechts und die Uebung, Bündniſſe und andere Verträge abzuſchließen, den Krieg durch den erklärten Frieden zu beendigen.
Bei den civiliſirten alten Völkern Aſiens, wie beſonders bei den alten Indiern mehren und entwickeln ſich theilweiſe die Anſätze und Triebe zu völkerrechtlicher Rechtsbildung. Aber ſelbſt die hochgebildeten Hellenen, obwohl ſie zuerſt den Stat menſchlich begriffen haben, ſind doch nur in dem eng begränzten Verhältniß der helleniſchen Staten zu einander zu einem noch ſehr dürftigen Völkerrecht gelangt. Die Gemeinſchaft der Re-
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Einleitung.
ligion, Sprache und Cultur hat in den Hellenen aller Städte das Gefühl nationaler Gemeinſchaft und Verwandtſchaft geweckt. In Folge davon wurde die in eine große Anzahl ſelbſtändiger Städte und Staten getheilte Nation doch auch einer gewiſſen Rechtsgemeinſchaft inne. „Alle Hellenen ſind Brüder“, ſagte man und erkannte an, daß jeder helleniſche Stat dem andern gegenüber gewiſſe Rechtsgrundſätze zu beachten verpflichtet ſei. Aber die nicht helleniſchen, die ſogenannten barbariſchen Völker betrachteten ſie noch als „ihre natürlichen Feinde“, mit denen keine Rechtsgemeinſchaft beſtehe. Der Krieg mit den Barbaren erſchien ihnen als die natürliche Regel und jede Liſt oder Gewalt gegen die Barbaren als erlaubt. Sie wieſen die Gleichberechtigung der Barbarenſtaten noch mit Verachtung von ſich, und hielten ſich als die edlere Raſſe für berufen, über die Barbaren zu herrſchen. Das war nicht etwa nur die Meinung der eiteln und ſelbſtſüchtigen Menge, es war das ebenſo die Meinung der berühmten Philoſophen Platon und Ariſtoteles.
Die Römer ſind als die weltgeſchichtlichen Begründer des von Religion und Moral unterſchiedenen Rechts und der Rechtswiſſenſchaft anerkannt. Aber auch den Römern verdankt die Welt noch nicht die erſte allgemeine Feſtſtellung des Völkerrechts. Freilich ſind in dem alten Rom auch vortreffliche Anfänge eines civiliſirten Völkerrechts zu entdecken. Bevor die Römer einen fremden Stat mit Krieg überzogen, pflegten ſie ihre Forderungen in Rechtsform durch ihre Geſandte, die Fecialen, anzumelden und, wenn nicht willfahrt wurde, den Krieg feierlich anzukünden. Sie kannten und übten mancherlei Formen der Statsverträge und Bündniſſe mit andern Staten. Obwohl ſie während des Kriegs ſchonungslos und grauſam verfuhren, ſo pflegten ſie doch die Religion, die Sitten und theilweiſe ſogar das Recht der unterthänig gewordenen Völker zu ſchützen. Sie erhoben ſich ſogar zu der Idee der Humanität, als der großen Aufgabe ihrer Politik und faßten die Welt als Ein Ganzes in weitgreifendem Gedanken zuſammen. Aber alle dieſe Keime entwickelten ſich doch nicht zu einem humanen Völker- und Weltrecht, weil der Sinn der Römer nicht auf Rechtsgemeinſchaft unter den Völkern, ſondern auf abſolute Herrſchaft Roms über die Völker gerichtet war. Die abſolute Weltherrſchaft Eines Volkes aber iſt die Verneinung des Völkerrechts im Princip.
Wir ſehen, die Eitelkeit, der Stolz, die Selbſtſucht und die Herrſchſucht der einzelnen Völker verhinderten im Alterthum das Wachsthum des Völkerrechts und zerſtörten die noch ſchwachen Keime, bevor ſie erſtarkt
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Einleitung.
waren. Ohne weſentliche Gleichberechtigung der verſchiedenen Völker iſt kein Völkerrecht möglich.
2. Im Mittelalter.
Chriſtenthum.
Im Mittelalter treten in Europa zwei neue Mächte entſcheidend auf, die chriſtliche Kirche und die germaniſchen Fürſten und Völker. Haben etwa dieſe Mächte das Völkerrecht zur Welt gebracht?
In der That leuchten manche chriſtliche Ideen der Bildung des Völkerrechts vor. Das Chriſtenthum ſieht in Gott den Vater der Menſchen, in den Menſchen die Kinder Gottes. Damit iſt die Einheit des Menſchengeſchlechts und die Brüderſchaft aller Völker im Princip anerkannt. Die chriſtliche Religion beugt jenen Stolz der antiken Selbſtgerechtigkeit und fordert Demuth, ſie greift die Selbſtſucht in ihrer Wurzel an und verlangt Entſagung, ſie ſchätzt die Hingebung für Andere höher als die Herrſchaft über Andere. Sie entfernt alſo die Hinderniſſe, welche der Gründung eines antiken Völkerrechts im Wege waren. Ihr höchſtes Gebot iſt die Menſchenliebe und ſie ſteigert dieſelbe bis zur Feindesliebe. Sie wirkt erlöſend und befreiend, indem ſie die Menſchen reinigt und mit Gott verſöhnt. Sie verkündet die Botſchaft des Friedens. Es liegt nahe, dieſe Ideen und Gebote in die Rechtsſprache zu überſetzen und zu Grundſätzen eines humanen Völkerrechts umzubilden, welches alle Völker als freie Glieder der großen Menſchenfamilie anerkennt, für den Weltfrieden ſorgt und ſogar im Kriege für die Menſchenrechte Achtung fordert. Im Mittelalter war die römiſch-katholiſche Kirche berufen, die chriſtlichen Ideen zu vertreten, ſie hatte die Erziehung der unciviliſirten Völker übernommen. Dennoch hat ſie ein derartiges chriſtliches Völkerrecht nicht hervorgebracht. Vergeblich ſieht man ſich in dem kanoniſchen Geſetzbuch darnach um. Nur dem Kriegsrecht iſt ein Abſchnitt des alten Decretum Gratiani (II. 23) gewidmet.
Allerdings verſuchten es die Päpſte im Mittelalter, das Amt der oberſten Schiedsrichter über die Fürſten und Völker der abendländiſchen Chriſtenheit ſich zuzueignen. Oefter ſaßen die Päpſte zu Gericht über die Streitigkeiten der Fürſten unter ſich oder mit den Ständen. Wenn ſich nur irgendwie dem Streite eine religiöſe Seite oder eine kirchliche Beziehung abgewinnen ließ — und wo wäre das nicht möglich? — ſo hielten ſie ihre Gerichtsbarkeit für begründet. Bald bemühten ſie ſich dann, Vergleiche zu ſtiften, bald ſprachen ſie ihr Urtheil aus. Aber dieſe völker-
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Einleitung.
rechtliche Stellung der Päpſte litt doch an großen Mängeln. Wo das öffentliche Recht in Frage war, da waren die mächtigen Parteien nicht geneigt, ſich dem geiſtlichen Gericht zu unterwerfen, und die Päpſte vermochten nicht, den trotzigen Widerſpruch zu beſeitigen, nicht den Widerſtand zu brechen.
Es gelang den Päpſten ſo wenig, ihr völkerrechtliches Schiedsrichteramt durchzuſetzen, als es ihnen glückte, ihren Anſpruch auf Weltherrſchaft zu verwirklichen. Auch dieſer Anſpruch hatte eher einen völkerals einen ſtaatsrechtlichen Charakter angenommen, ſeitdem das alte römiſche Weltreich zerriſſen und in eine große Anzahl unabhängiger Fürſtenthümer und Republiken zerfallen war. Die Päpſte begründeten nun dieſen Anſpruch auf abſolute Weltherrſchaft mit der religiöſen Autorität Gottes, wie die alten römiſchen Kaiſer ihn politiſch mit dem Beruf und Willen des römiſchen Volkes begründet hatten. Der geiſtliche Abſolutismus war aber im Princip eben ſo wenig verträglich mit einer allgemeinen Rechtsordnung, welche die Fürſten und Völker in ihren Rechten ſchützt, als der weltliche. Jener war ſogar gefährlicher, als dieſer, weil er ſeine Vollmacht aus dem unerforſchlichen Willen des allmächtigen Gottes ableitete und nicht wie dieſer in dem ausgeſprochenen Menſchengeſetz eine deutliche Schranke fand. Dennoch war die behauptete göttliche Herrſchaft des Papſtes über die chriſtlichen Völker ſchwächer als die Hoheit des antiken römiſchen Kaiſers, weil der chriſtliche Papſt grundſätzlich genöthigt war, die Zweiheit von Stat und Kirche anzuerkennen und das weltliche Schwert nicht ſelber handhaben durfte, ſondern dem Könige überlaſſen mußte. So oft daher eine weltliche Macht dem Papſte ihren Gehorſam oder ihren Beiſtand verſagte, wie das trotz Kirchenbann und Interdict auch im Mittelalter nicht ſelten geſchah, ſo war ſein Spruch und ſein Gebot in ſeiner Wirkſamkeit gelähmt.
Es zeigte ſich aber im Mittelalter noch ein zweites Grundgebrechen, welches jede Geſtaltung eines päpſtlichen Völkerrechts unmöglich machte. Eben die religiöſe Begründung des päpſtlichen Rechts verhinderte dasſelbe allgemein-menſchlich zu werden. Die Kirche verlangte den Glauben als die Grundbedingung auch des Rechts. Nur unter der gläubigen Chriſtenheit ſollte der Friede walten und die Rechtsordnung gelten. Den Ungläubigen gegenüber kannte das Papſtthum keine Schonung und keine Achtung der Menſchenrechte. Gegen die Ungläubigen war der Krieg die Loſung; man ließ ihnen nur die Wahl zwiſchen Bekehrung oder Vertilgung. Jede Ketzerei und den Unglauben auszurotten auf der Erde, das
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Einleitung.
wurde auf allen Kanzeln als die heilige Pflicht der Chriſtenheit verkündet. Damit iſt aber die menſchliche Grundlage des Völkerrechts im Princip verneint. Wenn das Völkerrecht Menſchenrecht iſt, weshalb ſollten denn die ungläubigen Völker ſich nicht ebenſo darauf berufen dürfen, wie die gläubigen? Hören ſie denn auf, Menſchen zu ſein, weil ſie andere Vorſtellungen haben als die Kirche von Gott und göttlichen Dingen?
Die antike Welt hatte kein Völkerrecht zu Stande gebracht, weil die ſelbſtſüchtigen Völker den Fremden, den Barbaren nicht gerecht wurden, das chriſtliche Mittelalter kam nicht dazu, weil die glaubenseifrigen Völker die Ungläubigen für rechtlos hielten. Die reine Idee der Menſchlichkeit konnte die Welt nicht erleuchten, ſo lange die Atmoſphäre von dem Rauche der Brandopfer verdunkelt war, welche der Glaubenshaß angezündet hatte.
Die Germanen.
Die zweite beſtimmende Macht des Mittelalters, die Germanen, brachten ebenfalls eine Anlage zu völkerrechtlicher Rechtsbildung mit, aber auch dieſe Anlage gelangte im Mittelalter nicht zu voller Entwicklung. Der trotzige Freiheitsſinn und das lebhafte Gefühl der beſondern Perſönlichkeit, wodurch die Germanen von jeher ſich auszeichneten, haben einen natürlichen Zug zu allgemeinem Menſchenrecht. Die in zahlreiche Stämme und Völkerſchaften getheilten Germanen waren immer geneigt, auch andern Völkern ein Recht zuzuſchreiben, wie ſie es für ſich in Anſpruch nahmen. In dem Fremden achteten ſie doch den Menſchen und hielten es für billig, daß ein Jeder nach ſeinem angeborenen Stammes- oder ſeinem gewählten Volksrechte beurtheilt werde. Sie erkannten ſo ein Nebeneinander verſchiedener Volksrechte an. Für ſie hatten Perſönlichkeit, Freiheit, Ehre höchſten Werth, aber ſie glaubten nicht im Alleinbeſitz dieſer Güter zu ſein, wenn freilich auch ſie ſich für beſſer und ſchätzenswerther hielten als andere Nationen. Um den Glauben Anderer kümmerten ſie ſich nicht, bevor ſie in die Schule der römiſchen Kirche kamen. Nicht einmal im eigenen Lande machten ſie das Recht vom Glauben abhängig. Sogar im Kriege vergaßen ſie das Recht nicht. Sie betrachteten die Fehde und den Krieg als einen gewaltigen Rechtsſtreit und glaubten, daß Gott dem Rechte zum Siege verhelfe, in der Schlacht wie im Zweikampf. Auch in dem Feinde und in den unterwürfigen Knechten und eigenen Leuten achteten ſie noch immer von Natur berechtigte Menſchen. Sicher ſind das höchſt bedeutſame Anſätze zum Völkerrecht, wie der Belgier Laurent zuerſt und vortrefflich gezeigt hat.
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Einleitung.
Aber es fehlte den Germanen anfangs ſowohl an der Einheit des politiſchen Willens und der ſtatlichen Macht als an der nöthigen Geiſtesbildung, um einem neuen Weltrecht Ausdruck zu geben und Geltung zu verſchaffen. Ihre Sitten waren zu roh, ihr Trotz zu ungefügig, ihre Fäuſte zu derb und ihre Raufluſt zu unbändig. Als ſie aber ſpäter von Rom in die geiſtige und ſittliche Schule und Zucht genommen wurden, bekamen ſie mit der Einheit des Papſtthums und des Kaiſerthums und mit der religiöſen Bildung auch die Mängel der mittelalterlich-römiſchen Inſtitutionen und Ideen, und jene Anſätze konnten nicht mehr zu geſundem und fröhlichem Wachsthum gelangen.
Vergeblich wurde nun das römiſche Kaiſerthum dem deutſchen Königthum aufgepfropft. Die Kaiſer nannten ſich wohl noch Herren der Welt, Könige der Könige, Häupter der ewigen Stadt und Regenten des Erdkreiſes. Auch ſie behaupteten wohl, die oberſten Richter zu ſein über die Fürſten und die Völker, und die Schirmer des Weltfriedens. Aber die weltliche Oberherrlichkeit der Kaiſer wurde in der abendländiſchen Chriſtenheit noch weniger allgemein anerkannt als die geiſtliche der Päpſte. Nicht einmal in Deutſchland und in Italien vermochten die Kaiſer den Landfrieden vor der wilden Fehdeluſt der vielen großen und kleinen Herren nachhaltig zu ſchützen. Um die Weltordnung zu handhaben, dazu reichten ihre Kräfte noch weniger aus. In dem Ideale des Mittelalters herrſchen überall Recht und Gericht; aber in der Wirklichkeit regiert die rohe Gewalt. Es iſt bezeichnend, daß die „Zeit des Fauſtrechts“ von jedermann auf die mittelalterlichen Zuſtände bezogen wird und daß das Wort auf kein anderes Zeitalter beſſer paßt. Wo aber das Fauſtrecht in Uebung iſt, da hat das Völkerrecht keinen Raum.
Aufleben des modernen Völkerrechts.
Erſt nachdem die kirchlich-päpſtliche Einheit in dem abendländiſchen Europa durch die Reformation des ſechszehnten Jahrhunderts zerbrochen war, wie lange vorher ſchon die weltlich-kaiſerliche Einheit ſich als unausführbar erwieſen hatte, bekamen die lange zurück gehaltenen Rechtstriebe Luft. Die Wiſſenſchaft, welche ſich endlich der Herrſchaft des Glaubens entwand, förderte nun zunächſt mit ihrem Lichte ihre Entfaltung. In der That, die Begründung des neueren Völkerrechts iſt voraus ein Werk der Wiſſenſchaft, welche das ſchlummernde Rechtsbewußtſein der civiliſirten Welt aufgeweckt hat. Dann folgte ihr die ſtatsmänniſche Praxis und
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Einleitung.
übernahm die Pflege und Erweiterung des Völkerrechts. Noch heute ſind beide Kräfte thätig. Bald geht die Wiſſenſchaft voraus, indem ſie völkerrechtliche Grundſätze ausſpricht und erweiſt, bald folgt die Wiſſenſchaft der rüſtiger vorſchreitenden Praxis nach, welche von der Culturſtrömung der Zeit getrieben und von den Bedürfniſſen der Zeit gedrängt ſich entſchließt, neues Recht anzuwenden und ins Leben einzuführen. Wenn es der Wiſſenſchaft gelingt, der Menſchheit ihre Rechtsideen als Rechtsvorſchriften klar zu machen, und das Rechtsgefühl der Mächte dieſe Vorſchriften zu beachten beginnt, dann iſt wirkliches Völkerrecht offenbar geworden, geſetzt auch es ſollte nicht überall und nicht ausnahmslos anerkannt werden und die Befolgung nicht immer zu erzwingen ſein. Ebenſo wenn es der ſtatlichen Praxis glückt, ſei es durch diplomatiſche Verhandlungen oder in der Kriegsübung oder ſonſt im Leben angeſehener Völker beſtimmte völkerrechtliche Befugniſſe und Pflichten zur Anerkennung und ſtätigen Wirkſamkeit zu bringen, ſo wird auch auf dieſe Weiſe das allmählige Wachsthum des Völkerrechts ſichtbar, obwohl es an einer alle Staten bindenden formellen Autorität und an einer geſicherten Rechtspflege noch fehlt.
Es iſt charakteriſtiſch, daß das Bahn brechende Werk des edeln Holländers Hugo de Groot, der mit Recht als der geiſtige Vater des modernen Völkerrechts geehrt wird, im Angeſicht des entſetzlichen Krieges geſchrieben wurde (1622—1625), in welchem die deutſche Nation während dreißig Jahren gegen ſich ſelber wüthete. Damals trat der hochgebildete Gelehrte und Statsmann zugleich dem religiöſen Fanatismus entgegen, welcher die Ausrottung der Andersgläubigen als ein gottgefälliges Werk anſah und der brutalen Rohheit, welche ihren Leidenſchaften und Lüſten zügelloſen Lauf verſtattete. Er zeigte der Welt das erhabene Bild eines auf die menſchliche Natur gegründeten und durch die Zuſtimmung der Weiſen und Edeln aller Zeiten geheiligten Rechts, damit ſie ſich wieder ihrer Pflicht erinnere und Mäßigung lerne.
Befreiung des Völkerrechts von religiöſer Befangenheit.
Von Anfang an war das neue Völkerrecht frei von dem antiken Vorurtheil, daß nur das eigene Volk berechtigt, die Fremden aber rechtlos ſeien und ebenſo frei von dem mittelalterlichen Wahne, daß die Gültigkeit des Menſchenrechts abhängig ſei von dem beſonderen Gottesglauben. Mit viel Muth und großem Nachdruck hat ſodann der Nachfolger Groot’s, der Deutſche Pufendorf ebenfalls noch im ſiebzehnten Jahrhundert wider die
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Einleitung.
kirchlichen Eiferer die Wahrheit verfochten, daß das Natur- und das Völkerrecht nicht auf die Chriſtenheit eingeſchloſſen ſei, ſondern alle Völker aller Religionen verbinde, weil alle zur Menſchheit gehören.
Trotz dieſer einleuchtenden Lehren iſt in unſerm civiliſirten Europa der große Fortſchritt der Wiſſenſchaft erſt vor wenig Jahren zu durchgreifender practiſcher Anerkennung gelangt. Noch die ſogenannte Heilige Allianz vom September 1815 wollte ein ausſchließlich chriſtliches Völkerrecht begründen und ſchützen. Allerdings war ſie nicht mehr ganz ſo enge, wie das mittelalterliche Glaubensrecht. Sie unterſchied nicht mehr zwiſchen rechtgläubigen und nicht rechtgläubigen chriſtlichen Bekenntniſſen und beſeitigte die feindliche Scheidung der verſchiedenen Confeſſionen. In ihr verband ſich der katholiſche Kaiſer von Oeſterreich mit dem proteſtantiſchen Könige von Preußen und dem griechiſchen Czaren von Rußland. Die verſchiedenen Confeſſionen ſollten nur Eine chriſtliche Völkerfamilie bilden. Aber man wollte doch nicht über die Gränze der Chriſtenheit hinaus gehen und meinte in der chriſtlichen Religion die Grundlage des neuen Völkerrechts zu finden. Die Türkei blieb noch ausgeſchloſſen von der europäiſchen Statengemeinſchaft. Freilich hatte man es ſchon ſeit Jahrhunderten nicht vermeiden können, auch mit der hohen Pforte völkerrechtliche Verträge abzuſchließen. Aber erſt auf dem Pariſer Friedenscongreß vom Jahre 1856 wurde die Türkei als ein berechtigtes Glied in die europäiſche Statengenoſſenſchaft aufgenommen und dadurch der allgemeinmenſchliche Charakter des Völkerrechts anerkannt.
Seither iſt es auch in der Praxis anerkannt, daß die Gränzen der Chriſtenheit nicht zugleich Gränzen des Völkerrechts ſeien. Unbedenklich breitet ſich dasſelbe über andere muhammedaniſche Staten und ebenſo über China und Japan aus und fordert von allen Völkern Achtung ſeiner Rechtsgrundſätze, mögen dieſelben nun Gott nach der Weiſe der Chriſten oder der Buddhiſten, nach Art der Muhammedaner oder der Schüler des Confucius verehren. Endlich iſt die Wahrheit durchgedrungen: Der religiöſe Glaube begründet nicht und behindert nicht die Rechtspflicht.
Schranken des Völkerrechts.
Das moderne Völkerrecht erkennt voraus das Nebeneinanderbeſtehen der verſchiedenen Staten an. Es ſoll die Exiſtenz der Staten ſichern, nicht dieſelbe gefährden, ihre Freiheit ſchützen, nicht unterdrücken.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 2
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Einleitung.
Aber zugleich legt es allen Staten auch Pflichten auf, indem es ſie als Glieder der Menſchheit verbindet und deshalb von ihnen Achtung vor dem Menſchenrechte fordert. Würde man die Souveränetät der Staten als ein unbegränztes Recht faſſen, ſo würde jeder Stat auch dem andern gegenüber thun können, was ihm beliebte, d. h. es würde das Völkerrecht im Princip verneint. Würde man umgekehrt die Zuſammengehörigkeit der Staten und die Einheit des Menſchengeſchlechts rückſichtslos durchführen, ſo würde dadurch die Selbſtändigkeit der einzelnen Staten gebrochen, ihre Eigenart und ihre Freiheit gefährdet, ſie würden am Ende zu bloßen Provinzen des Einen Weltreichs erniedrigt.
Deshalb iſt es nöthig, daß die Fortbildung des Völkerrechts zugleich die Gränzen beachte, welche ſeiner Wirkſamkeit durch das Statsrecht gezogen ſind. Aus dieſem Grunde beſtimmt das Völkerrecht zunächſt und hauptſächlich die Rechtsverhältniſſe der Staten unter einander und hütet ſich davor, ſich in die innern Angelegenheiten der Staten einzumiſchen. Den Schutz der Privatrechte ſtellt es durchweg den Staten anheim, auch dann wenn dieſe Privatrechte einen allgemein-menſchlichen Charakter haben, und greift nicht in die Handhabung der ſtatlichen Strafgerichtsbarkeit ein, wenngleich auch hier zuweilen menſchliches Recht in Frage iſt.
Es iſt nicht unmöglich, daß in der Zukunft das Völkerrecht etwas weniger ängſtlich ſein und in manchen Fällen ſich für berechtigt halten werde, zum Schutze gewiſſer Menſchenrechte einzuſchreiten, wenn dieſelben von einer Statsgewalt ſelbſt unterdrückt werden; etwa ſo wie in den Bundesſtaten die Bundesgewalt gewiſſe vorſchriftsmäßige Rechte der Privaten auch gegen die Verletzung von Seite eines Einzelſtates zu ſchützen pflegt. Aber die bisherigen Verſuche völkerrechtlicher Garantien zum Schutze menſchlicher Privatrechte ſind noch ſelten und ſchwach und überall noch hindert die Furcht vor Eingriffen in die Souveränetät der Staten ein energiſches Vorgehen.
Maßregeln gegen die Sclaverei.
Eine derartige Ausnahme enthalten die völkerrechtlichen Maßregeln gegen die Zufuhr von Negerſclaven.
Die meiſten Völker der alten Welt hatten die Sclaverei geduldet. Die römiſchen Juriſten, wohlbewußt, daß das natürliche Menſchenrecht die Freiheit, nicht die Sclaverei ſei, ſuchten dieſe eben mit der allgemeinen Rechtsſitte aller Völker zu rechtfertigen. Auch das Chriſtenthum, obwohl
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Einleitung.
es den Geiſt der Bruderliebe auch unter Herren und Sclaven weckte, ließ doch die beſtehende Sclaverei als Rechtsinſtitut unangefochten.
Während des Mittelalters wurde in dem germaniſirten Europa die antike Sclaverei in die weniger harte Eigenſchaft umgeſtaltet und allmählich in die bäuerliche Hörigkeit gemildert, aber es erhielt ſich doch noch bis tief ins achtzehnte, in einzelnen, auch deutſchen Ländern bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein eine erbliche Knechtſchaft der eigenen Leute. In Oſteuropa nahm dieſe bäuerliche Eigenſchaft ſogar in den letzten Jahrhunderten maſſenhaft überhand und in den europäiſchen Colonien von Amerika erhielt ſogar die ſtrengſte Sclaverei eine neue Geſtalt und Anwendung in der abſoluten Herrſchaft, welche die weißen Eigenthümer über die ſchwarze Arbeiterbevölkerung erkauften, die aus Afrika dahin verpflanzt ward.
In allen dieſen Zeitaltern kümmerte ſich das Völkerrecht niemals darum. Im achtzehnten Jahrhundert noch ſchützte und begünſtigte das freie England die Sclavenzufuhr aus Afrika. Noch im Jahre 1713 ſchämten ſich die engliſchen Statsmänner nicht, in dem Frieden mit Spanien zu Utrecht ausdrücklich auszubedingen, daß es den engliſchen Schiffen geſtattet werde, binnen der nächſten Jahre einige tauſend Negerſclaven jährlich in die ſpaniſchen Colonien einzuführen. Sie betrachteten den Menſchenhandel noch als ein vortheilhaftes Speculationsgeſchäft, wofür England ſich Privilegien einräumen laſſen müſſe.
Seit ungefähr einem Jahrhundert finden wir eine entſchiedene Wendung in den Anſichten der civiliſirten Welt. Die Philoſophie und die ſchöne Literatur brachten menſchlichere Grundſätze in Umlauf. Von da an beginnt in allen Ländern ein offener Kampf für die perſönliche Freiheit wider die Knechtſchaft, und die Geſetzgebung verzeichnet und ſichert die Siege der Freiheit. Die Leibeigenſchaft und Hörigkeit werden theilweiſe vor, theilweiſe nach der franzöſiſchen Verkündung der Menſchenrechte in den weſteuropäiſchen Ländern abgeſchafft.
Jetzt erſt beginnt auch das Völkerrecht die Frage in Betracht zu ziehen; und nun geht England voran in der Bekämpfung der Negerſclaverei, welche es ſelber früher großgezogen hatte. Der Wiener Congreß mißbilligt in einer förmlichen Erklärung vom 8. Februar 1815 den von Afrika nach Amerika betriebenen Negerhandel, „durch welchen Afrika entvölkert, Europa geſchändet und die Humanität verletzt“ werde. Früher ſchon hatten auch die Vereinigten Staten von Amerika dieſen ſchmählichen
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Einleitung.
Seehandel mit ſchwarzen Menſchen geſetzlich verboten. Die Verurtheilung dieſer beſonders gefährlichen und ſchädlichen Art der Sclavenzüchtung durch den Spruch der civiliſirten Menſchheit war nun im Princip entſchieden und damit wenigſtens erwieſen, daß das Rechtsgefühl der Welt humaner und freier geworden war, als es im Alterthum und im Mittelalter geweſen.
Freilich zeigte ſich hier ſofort wieder die große Schwierigkeit alles Völkerrechts, dem Urtheil der civiliſirten Menſchheit Geltung zu verſchaffen, ohne die Freiheit der einzelnen Staten zu gefährden. Zwar ließen ſich die europäiſchen Staten anfangs herbei, der unabläſſigen Beſtürmung der engliſchen Diplomatie das verlangte Viſitationsrecht ermächtigter Kriegsſchiffe gegen verdächtige Sclavenſchiffe innerhalb gewiſſer Meere zuzugeſtehen und inſofern eine Art völkerrechtlicher Seepolicei auch im Friedenszuſtande einzuführen. In dieſem Sinne kam der europäiſche Vertrag vom 20. December 1841 zu Stande. Aber dieſes Unterſuchungsrecht begegnete dem Widerſpruch der Vereinigten Staten, welche beſorgten, daß dadurch die Uebermacht der engliſchen Kriegmarine über ihre Handelsmarine verſtärkt und der friedliche Seehandel überhaupt beläſtigt werde. Auch Frankreich ſagte ſich nun wieder los von dem Zugeſtändniß ſolcher Durchſuchung und trat auf den Standpunkt der Vereinigten Staten über, welche es vorzogen, gemeinſam mit England Kreuzer auszurüſten, welche an den afrikaniſchen Küſten zunächſt die eigenen Sclavenſchiffe verfolgen aber ſich hüten ſollten, fremde Kauffahrer zu beläſtigen.
Auf den Vorſchlag der nordamerikaniſchen Bundesregierung kam dann die weitere Verabredung mit England (9. Auguſt 1842) zu Stande, gemeinſam die Staten, welche noch öffentliche Sclavenmärkte geſtatten, zur Abſtellung dieſes Mißbrauchs zu mahnen. Auch dieſe Maßregel zur Befreiung der Welt von der Schmach der Sclaverei iſt nicht ohne Wirkung geblieben. Insbeſondere ſah ſich die Ottomaniſche Pforte veranlaßt, dem Andringen der Diplomatie Gehör zu geben.
Neuerdings hat die Aufhebung der Leibeigenſchaft in dem ruſſiſchen Reich durch das Manifeſt des Kaiſers Alexander II. vom 19. Februar 1861 die große Frage endlich für Europa und für einen großen Theil von Aſien zu Gunſten der perſönlichen Freiheit entſchieden. Noch wichtiger iſt der Sieg der Freiheit über die Sclaverei in Nordamerika geworden. Seitdem die Verwerfung der Sclaverei zu einem Grundgeſetz der Vereinigten Staten erklärt worden iſt (1865), iſt dieſes Inſtitut nirgends mehr auf dem ganzen Welttheil zu halten.
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Einleitung.
Es wird daher nicht mehr lange dauern, bis das allgemeine Rechtsbewußtſein der Welt die großen Sätze eines jeden humanen Rechts auch mit völkerrechtlichen Garantien ſchützen wird:
Es giebt kein Eigenthum des Menſchen am Menſchen. Die Sclaverei iſt im Widerſpruch mit dem Rechte der menſchlichen Natur und mit dem Gemeinbewußtſein der Menſchheit.
Religiöſe Freiheit.
Noch weniger entwickelt, aber wiederum in den Anfängen ſichtbar, iſt der völkerrechtliche Schutz der religiöſen Freiheit gegen grauſame Verfolgung und Unterdrückung durch den Fanatismus anderer von dem State bevorzugter Religionen. Mit Recht überläßt man den geſetzlichen Schutz der religiöſen Bekenntniß- und Cultusfreiheit den einzelnen Staten und ſcheut ſich bei geringen und zweifelhaften Anläſſen die Selbſtändigkeit des ſtatlichen Sonderlebens anzutaſten. Aber bei großen und ſchweren Verletzungen jenes natürlichen Menſchenrechts bleibt die geſittete Völkergenoſſenſchaft nicht mehr theilnahmelos und ſtumm. Sie äußert zum mindeſten ihre Meinung, giebt Räthe und erläßt Warnungen und Mahnungen. Zuletzt kann eine grobe Mißachtung der Menſchenpflicht zu ernſter Machtentfaltung auch der Staten führen, welche ſich vorzugsweiſe berufen fühlen, ihre Glaubensgenoſſen oder würdiger noch das allgemeine Menſchenrecht wider die fanatiſchen Verfolger zu ſchützen. Gegenüber der Türkei iſt das bereits in einzelnen Fällen geſchehen. Die europäiſchen Mächte haben wiederholt zum Schutze der chriſtlichen Rajahs völkerrechtlich eingewirkt. Das Aufſehen, welches der kirchliche Raub des jüdiſchen Knaben Mortara auch in dem romaniſchen und katholiſchen Weſteuropa gemacht hat, beweiſt, daß das öffentliche Gewiſſen der heutigen Menſchheit nicht blos dann ſich zu regen anfängt, wenn die eigene Religion gekränkt wird, ſondern auch dann, wenn zu Gunſten der eigenen Religion die heiligen Rechte der Familie verletzt werden.
Geſandtſchaften und Conſulate.
Geringere Schwierigkeiten ſtanden der Pflege des friedlichen Verkehrs von Stat zu Stat und der Nationen unter einander im Wege. Zu allen Zeiten hatten die Völker — wenige wilde Stämme ausgenommen — mit einander durch Geſandte, als Repräſentanten unterhandelt; und von Alters her wurden dieſe Geſandten erſt durch die Religion, dann durch das Recht
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als unverletzlich geſchützt. Aber die Einrichtung ſtändiger Geſandtſchaften in den verſchiedenen Hauptſtädten gehört erſt der neueren Zeit an und iſt in Europa vorzüglich ſeit Richelieu und Ludwig XIV. allgemeine Sitte geworden. In Folge deſſen wurde der fortdauernde Zuſammenhang unter den Staten in dem fortgeſetzten perſönlichen Verkehr ihrer Vertreter lebendig dargeſtellt. Das Völkerrecht erhielt ſo in den Reſidenzen gleichſam einen perſönlichen Ausdruck und eine friedlich wirkende Repräſentation. Es fanden ſich da wie in Knotenpunkten des Weltverkehrs die Diplomaten der verſchiedenen Staten zuſammen und fingen an, als ſogenannte diplomatiſche Körper ſich als völkerrechtliche Genoſſenſchaften zu fühlen. Wenn auch dabei ſelbſtſüchtige Abſichten mitgewirkt haben, ſo hat doch augenſcheinlich die Wirkſamkeit des Völkerrechts durch dieſe Einrichtung ſehr gewonnen. Wenn ein Stat ſeine völkerrechtlichen Pflichten offenbar verletzen möchte, ſo findet er ſofort in dem diplomatiſchen Körper eine gewiſſe Schranke. Da kein Stat mächtig genug iſt, um die Mißbilligung der civiliſirten Statengeſellſchaft gleichgültig hinzunehmen, ſo wird dieſe Stimme des Völkerrechts nicht leicht überhört. Indem dieſe ſtändigen Geſandtſchaften ſich immer weiter über die ganze Erde hin erſtrecken, wächſt der Verband aller Staten zu einer gemeinſamen Weltordnung allmählig heran und die völkerrechtlichen Garantien nehmen an Stärke und Ausdehnung zu.
Außer den Geſandtſchaften hat das neuere Völkerrecht noch das Inſtitut des Conſulats weiter ausgebildet. Die Zahl der Conſuln iſt viel größer als die der Geſandten und in ſtarker Vermehrung begriffen. Durch die Conſulate wird ſo ein zweites Netz völkerrechtlicher Aemter über die Erdoberfläche ausgebreitet, welche dem friedlichen Verkehr aller Nationen dienen und die Rechtsgemeinſchaft in der Welt beleben. Die Conſuln ſind nicht wie die Geſandten berufen, als eigentliche Stellvertreter der Staten zu handeln, ſie haben vorzugsweiſe die Intereſſen der Privaten in fremden Ländern zu wahren und den heimathlichen Rechtsſchutz auch in der Ferne wirkſam zu machen. Gerade deshalb ſteigt ihre Wichtigkeit in dem Maße, in welchem der internationale Verkehr reicher und belebter wird.
Zuerſt haben die Bedürfniſſe und Intereſſen des Handels die Kaufleute veranlaßt, ins Ausland zu gehen und mit Fremden zu verkehren. Daher ſind die Conſulate anfangs nur als Handelsconſulate gegründet worden. Auch heute noch iſt der Handelsverkehr die wichtigſte Beziehung von Nation zu Nation. Aber er iſt es heute ſchon nicht ganz mehr, wie früher. Es giebt bereits eine Menge von Culturbeziehungen aller Art,
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welche die Nationen ebenfalls verbinden. Nicht einmal mehr die Mehrzahl der Reiſenden ſind Kaufleute. Die verſchiedenſten Urſachen beſtimmen die Privaten, vorübergehend fremde Länder zu beſuchen, oder ſich auf längere Zeit auswärts niederzulaſſen, Intereſſen der Bildung, der Wiſſenſchaft, der Kunſt, der Landwirthſchaft, des Vergnügens, der Verwandtſchaft u. ſ. f. Auch dieſe Maſſe von Nichtkaufleuten tritt in den Rechtsverkehr mit den Ausländern und bedarf gelegentlich der Förderung und des Schutzes in der Fremde. Die Conſuln ſind berufen, auch dieſen Claſſen nöthigenfalls beizuſtehen.
Indem ſo der Geſchäftskreis der Conſuln erweitert und ihre Geſchäftslaſt vergrößert ward, genügten nicht überall mehr die alten Handelsconſuln, welche nur nebenher das Conſulat verwalteten. Man konnte dem Kaufmann nicht zumuthen, daß er neben ſeinem eigenen Handel die mannigfaltiger, ſchwieriger und zahlreicher gewordenen Geſchäfte des Conſulats unentgeltlich als Ehrenpflicht beſorge, und man ward genöthigt, an den begangenſten Plätzen und in den Hauptſtädten, wo man keine Geſandtſchaften unterhielt, für beſoldete Generalconſuln zu ſorgen, welche dann das Conſulat als Hauptberuf verwalteten. Das ſo im Wachsthum begriffene Conſulat iſt augenſcheinlich noch der Hebung und Steigerung fähig und ganz geeignet, die friedlichen und freundlichen Beziehungen der Nationen unter einander und mit den Staten vielfältig zu ſichern und zu fördern. Um den erſten Ring der Geſandtſchaften wird ſo ein zweites weiteres Band geſchlungen, welches die Gemeinſchaft der Welt pflegt.
Fremdenrecht.
Keine Iſolirung der Staten.
Die friedlichen Siege des neueren Völkerrechts haben voraus die Zuſtände der Fremden ſehr verbeſſert. Die antiken Völker waren noch wie die Barbaren geneigt, die Fremden wie Feinde zu betrachten und für rechtlos zu halten, wenn ſie nicht von dem Schutz eines einheimiſchen Gaſtfreundes oder von der Schirmhoheit eines mächtigen Patrons gedeckt waren. Die Verbannung in die Fremde, das Exil, galt daher als Verſtoßung ins Elend. Auch das Mittelalter behandelte die Fremden noch mit offenbarer Ungunſt. Die Fremden waren genöthigt, einen unſicheren Rechtsſchutz der Landesherren und der Gemeinden mit ſchwerem Gelde zu bezahlen; wollten ſie ihr Vermögen wieder aus dem Lande wegziehen, ſo mußten ſie auch
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den Wegzug mit Procenten des Vermögenswerthes erkaufen; ſtarben ſie in dem für ſie fremden Lande, ſo pflegte die Herrſchaft auch auf ihre Verlaſſenſchaft zu greifen und dieſelbe wie herrenloſes Gut an ſich zu ziehen oder doch die Wegfahrt der Erben mit erheblichen Abzügen zu belaſten.
Das Alles iſt anders und beſſer geworden. Die Fremden werden nun in der civiliſirten Welt in ihren Menſchenrechten geachtet und in den wichtigſten Beziehungen des Privatrechts und des Verkehrs den Einheimiſchen durchweg gleichgeſtellt. Die Barbarei des Wildfangs- und des Heimfallsrechts iſt endlich aus Europa verſchwunden. Zahlreiche Staatenverträge haben die Abzugsrechte gänzlich abgeſchafft und ſichern die Freizügigkeit. Der deutſche Privatmann lebt in Paris oder in New-York oder in Calcutta eben ſo ſicher wie in Berlin oder in München. Zahlloſe Fremde aus allen Ländern der Welt wohnen in allen Welttheilen unter einander gemiſcht friedlich beiſammen und fühlen ſich in Perſon, Vermögen und Verkehr nicht minder geſchützt als in der Heimat. Mit dem Aufſchwung der Transportmittel hat auch die gemeinſame Rechtsbildung Schritt gehalten. Auch ſie hat die nationale Iſolirtheit durchbrochen und ein internationales Verkehrsrecht geſchaffen, von dem ſich kein Stat abſchließen kann. Wollte er daſſelbe mißachten, ſo würde er nicht blos die Mißbilligung der civililiſirten Welt auf ſich laden, ſondern auch in Gefahr ſein, zur Rechenſchaft gezogen zu werden, damit er lerne, in den Fremden die Menſchen und in dem Verkehr der Nationen die Gemeinſchaft der Völker zu achten. Der Gedanke des Weltbürgerrechts, den Kant als eine ideale Hauptforderung des neuen Völkerrechts ausgeſprochen, hat heute ſchon zum Theil eine reale Wahrheit, und dieſes Weltbürgerrecht iſt ſo wenig unverträglich mit dem beſondern Statsbürgerrecht, als dieſes mit dem Gemeinde- und Ortsbürgerrecht.
Nur in dem Innern der großen Continente von Aſien und beſonders von Afrika, wohin die Civiliſation noch nicht mit Macht vorgedrungen iſt, dauert einſtweilen noch die früher allgemeine Verneinung des Fremdenrechtes fort, gewiß nicht lange mehr. Mit vollem Rechte nimmt ſich jeder Stat ſeiner Bürger auch in der Fremde inſofern an, als dieſelben gegen Rechtsverweigerung und Gewaltthat ſeines Schutzes bedürfen. Der Statsſchutz iſt nicht an die Gränzen des Statsgebietes gebannt. Die Verbindung der Staten und die Einheit der Menſchheit zeigen ſich auch darin, daß die ſchützenden Arme der Statsgewalt überall hin auf der Erdober-
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fläche ſo weit ſich ausſtrecken, als es mit der rechtlichen Selbſtändigkeit anderer Staten verträglich iſt. Dieſer ſtatliche Rechtsſchutz in der Fremde iſt zuweilen von mächtigen Staten anmaßlich und übermüthig überſpannt worden, aber im Großen und Ganzen iſt es doch ein großer Fortſchritt eines wirkſamen Völkerrechts, daß der internationale Verkehr und die Rechtsſicherheit der Fremden nicht der Willkür einer launiſchen Statsgewalt Preis gegeben und Staten, welche dieſe Rechte verletzen, zur Genugthuung und Entſchädigung angehalten werden.
Selbſt die völlige Abſchließung und Iſolirtheit eines States wider jeden Fremdenverkehr, in früherer Zeit als ein ſelbſtverſtändliches Recht eines ſouveränen States betrachtet, erſcheint dem heutigen Rechtsbewußtſein als eine Verletzung des natürlichen Menſchenrechts, welches für alle Nationen einen geſicherten Rechtsverkehr fordert, damit die Menſchenanlage zu voller und reicher Entfaltung gelangen und ſo die Beſtimmung des Menſchengeſchlechts erfüllt werden könne. In den letzten Jahrhunderten hatte ſich ſo die oſtaſiatiſche Welt gegen die europäiſch-amerikaniſche völlig abgeſchloſſen. Die chineſiſchen und japaniſchen Seehäfen und Handelsſtädte blieben lange Zeit den Schiffen und Kaufleuten der chriſtlichen Nationen verſperrt. Aber in unſern Tagen ſind auch dieſe trennenden Schranken vor der zwingenden Macht des erſtarkten menſchlichen Völkerrechts gefallen und die oſtaſiatiſchen Reiche in die Handels- und Verkehrsgemeinſchaft mit den Europäern und Amerikanern eingetreten. Im Jahre 1842 hat England das chineſiſche Weltreich zuerſt genöthigt, in dem Frieden von Nanking ſeine Häfen wieder zu öffnen, und im Jahre 1858 haben die Vereinigten Staaten von Nordamerika zuerſt wieder Japan dem Weltverkehr erſchloſſen. Seither berühren ſich und wirken auf einander die chriſtlich-moderne und die oſtaſiatiſche alte Civiliſation, und das Völkerrecht hat wiederum einen gewaltigen Fortſchritt zum allgemeinen Weltrecht gemacht.
Gemeinſchaft der Gewäſſer.
Freie Schiffahrt.
Würde ſich die Luft nicht jeder menſchlichen Abſperrung im Großen entziehen, ſo hätte ſicherlich die ſouveräne Selbſtſucht der Einzelſtaten auch die Luft über ihrem Lande als ihr ausſchließliches Eigenthum anzuſprechen hier oder dort den Verſuch gemacht. Aber die Staten haben keine Gewalt
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über die mächtige Bewegung der Luftſtröme, welche unbekümmert um alle Landesgränzen ihren Weg nehmen. Auch das Meer und die öffentlichen Gewäſſer ſind von der Natur mit einander verbunden und, wenn ſie auch die Länder zuweilen trennen, ſo dienen ſie doch zugleich, den Verkehr der verſchiedenen Nationen zu erleichtern. Sie verbinden auch die Küſten und Ufer, welche ſie beſpülen. Da haben es aber die Staten wirklich lange verſucht, ihre Alleinherrſchaft möglichſt weit auch über die Gewäſſer auszudehnen und die Freigebigkeit der gemeinſamen Natur ausſchließlich für ſich auszubeuten. Sogar über das offene Meer hin wollte die mittelalterliche Statshoheit ihr Eigenthum ausbreiten. Die Republik Genua nahm über das liguriſche, Venedig über das adriatiſche Meer eine ausſchließliche Seeherrſchaft in Anſpruch. Die Könige von Spanien und Portugal behaupteten, die weſtindiſchen Meere gehören ihnen allein zu, weil der Papſt Alexander VI., dem dieſe Meere ſo wenig als die weſtindiſchen Länder jemals gehört hatten, ihnen dieſelben geſchenkt habe. Als Hugo de Groot zuerſt dieſe ſinnloſe Anmaßung widerlegte und für die „Freiheit der Meere“ ſeine Fürſprache unternahm, mußte er noch mancherlei hergebrachte Mißbräuche ſchonen. Lange nachher noch und bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein wollte England über die Meere, welche die Großbritanniſchen Inſeln umſchließen, eine ausſchließliche Seehoheit behaupten.
Dem langſamen aber ſtätigen Wachsthum der völkerrechtlichen Erkenntniß haben endlich alle dieſe anmaßenden Uebergriffe weichen müſſen. In dem heutigen Rechtsbewußtſein der civiliſirten Welt haben die beiden wichtigen Sätze feſte Wurzeln: Kein Stat hat eine beſondere Seehoheit über die offene See. Die unter einander verbundenen Meere ſind der freien Schiffahrt aller Nationen offen.
Vor wenig Jahren erſt ſind einige letzte Reſte der älteren ſelbſtſüchtigen Beſchränkung und Ausbeutung weggeräumt worden. Das Marmormeer, obwohl es von den Türkiſchen Küſten umſchloſſen iſt und ſeine enge Einfahrt leicht von den Dardanellenſchlöſſern beherrſcht werden kann, und das Schwarze Meer, welches Rußland für ſich in Beſchlag zu nehmen bemüht war, ſind durch die Friedensſchlüſſe von Adrianopel (1829) und Paris (1856) der freien Schiffahrt aller Nationen geöffnet worden. Noch im Jahre 1841 wurde der Sundzoll, den Dänemark von den Seefahrern zwiſchen der Nordſee und der Oſtſee ſeit Jahrhunderten erhob, als herkömmliches und in vielen Statsverträgen beſtätigtes Recht von den meiſten
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Seemächten anerkannt. Aber als endlich die Vereinigten Staaten erklärten, ſie werden dieſes geſchichtliche Recht, welches dem natürlichen Recht der freien Seefahrt widerſtreite, nicht ferner reſpectiren, ließ ſich auch Dänemark willig auf den anerbotenen Loskauf mit den europäiſchen Staten ein. Die Freiheit der Meere ward nun auch in dieſem Falle anerkannt.
Nachdem einmal der natürliche Zuſammenhang der öffentlichen Gewäſſer und ihre Beſtimmung, der Schiffahrt aller Nationen zu dienen, erkannt und anerkannt war, führten dieſe Gedanken zu weitern Befreiungen. Man mußte zugeſtehen, daß die Gebietshoheit ſich nicht ganz auf den feſten Erdboden beſchränken läßt. Mehr noch als der naſſe Küſtenſaum am Meere, und als die Buchten und Rheden, welche vom Feſtland her theilweiſe beherrſcht werden, gehören die großen Ströme und Flüſſe, welche durch ein Land fließen oder ſeine Gränze bilden, und die Häfen, welche durch öffentliche Werke geſchützt ſind, damit ſie hinwieder die Schiffe ſchützen können, einem beſtimmten Statsgebiete zu und ſind der Aufſicht und Sorge des Einzelſtates unterworfen. Sie ſind ein fließender Theil des Landes, und nicht wie das offene Meer frei von jeder beſondern Statshoheit.
Allein neben jener Zutheilung zu einem Sondergebiete muß auch die natürliche Verbindung der ſchiffbaren Ströme, Flüſſe, Seen, Häfen mit der offenen See beachtet werden, und inſoweit iſt jene ausſchließliche Gebietshoheit durch die Rückſicht auf die Verkehrsgemeinſchaft zu ermäßigen und abzuändern. Von dem freien und offenen Meere her fahren die Schiffe der verſchiedenen Nationen in die Seehäfen und in die Flüſſe der Staten ein. Die Freiheit des internationalen Verkehrs wäre gehemmt und die Gemeinſchaft in der Benutzung öffentlicher Gewäſſer wäre geſtört, wenn jeder Stat willkürlich alle ſeine Häfen und Flüſſe für fremde Schiffe unzugänglich machen dürfte. Wenn ein Fluß durch mehrere Statsgebiete hindurch fließt, um ſich ins Meer zu ergießen, ſo könnten die einen Staten, inſofern ihre Gebietshoheit nicht beſchränkt würde, die andern von dem Seeverkehr abſperren, und die Gewäſſer würden ihrer natürlichen Beſtimmung, die Nationen zu verbinden, entfremdet.
Zuerſt wurde dieſe neue Forderung des Völkerrechts, daß der Zuſammenhang der öffentlichen Gewäſſer beachtet und die Freiheit der Schifffahrt geſchützt werde, im Pariſerfrieden von 1814 in Anwendung auf die Rheinſchiffahrt ausgeſprochen und zugleich eine allgemeine Durchführung des Princips auf allen europäiſchen Flüſſen in Ausſicht geſtellt. Es war haupt-
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Einleitung.
ſächlich das Verdienſt des Preußiſchen Geſandten, Wilhelms von Humboldt, dieſen Fortſchritt der völkerrechtlichen Verkehrsgemeinſchaft anzutragen. Die Wiener Congreßacte von 1815 (Art. 108 ff.) verkündete ſodann die Freiheit der Schiffahrt auf allen ſchiffbaren Flüſſen, welche zwei oder mehrere Gebiete durchſtrömen, und wendete dieſen Grundſatz ausdrücklich auch auf die ſchiffbaren Nebenflüſſe des Rheins an, ferner auf die Schelde, deren Mündungen lange Zeit durch die Holländer für die Belgiſchen Schiffe geſperrt waren, die Maas, die Elbe, die Oder, die Weſer, die Weichſel und den Po. Von da an mußten allmählig die mancherlei aus dem Mittelalter überlieferten Flußzölle der wachſenden Freiheit weichen und ſowohl die Uferſtaaten als die Seemächte hatten nun ein feſtes Princip gewonnen, von welchem aus ſie alle herkömmlichen Beſchwerden und Gebühren bekämpften, durch welche der Schiffahrtsverkehr belaſtet und gehemmt war. Nur ſolche Gebühren blieben gerechtfertigt, welche als Gegenleiſtung erſchienen für nothwendige oder nützliche Dienſte. Später erſt nahmen die Donauſtaten das neue Princip an. Aber endlich wurde durch den Pariſer Frieden von 1856 auch die Donau den Schiffen aller Nationen geöffnet.
Die Logik des Gedankens nöthigt uns, dieſelbe Freiheit der Schifffahrt auch bezüglich der Flüſſe zu fordern, welche nur durch Ein Statsgebiet fließen, aber, indem ſie ins Meer münden, von Natur dem Weltverkehr dienen. Dieſe Forderung iſt aber zur Zeit noch nicht allgemein anerkannt. Mancher Stat verweigert heute noch fremden Schiffen die Benutzung ſeiner Eigenflüſſe, während er für ſeine Schiffe die freie Schiffahrt auf Flüſſen fordert, deren Waſſer nirgends ſeine Ufer beſpült, die durch mehrere fremde Statsgebiete fließen. Das iſt ein auffallender und grober Widerſpruch. Weshalb ſollte Ein Stat mehr Recht haben an ſeinem Eigenfluſſe, als die ſämmtlichen Uferſtaaten zuſammen an ihrem Gemeinfluſſe? Wenn dieſe genöthigt ſind, ihre Flüſſe dem Weltverkehr zu öffnen, warum ſollte jener ſeine Flüſſe gegen den Welthandel abſperren dürfen? Wie ſollten die fremden Schiffe, welche völkerrechtlich befugt ſind, einen Gemeinfluß zu befahren, dieſe Befugniß verlieren, wenn in Folge von Gebietsabtretungen, Ein Stat in den Beſitz des ganzen Fluſſes gelangt? Sollte z. B. der Po der Schiffahrt offen ſtehen, ſo lange er durch mehrere Statsgebiete fließt, und abgeſperrt werden können, wenn er ganz und gar in den Beſitz des Königreichs Italien kommt? Der Miſſiſſippi war im vorigen Jahrhundert noch ein Gemeinſtrom, an dem auch England und
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Einleitung.
Spanien Theil hatten und gehört heute ganz den Vereinigten Staten zu. Hat er in Folge deſſen ſeine Natur verändert und iſt ſeine Bedeutung für den Weltverkehr geringer geworden? Jene Unterſcheidung zwiſchen der freien Schiffahrt auf mehrſtatlichen Weltſtrömen und der unfreien Schiffahrt auf einſtatlichen Weltſtrömen iſt alſo unhaltbar.
Vermittlung in Streitfällen.
Schiedsrichterliches Verfahren.
Gerathen zwei Staten in einen ernſten Rechtsſtreit mit einander, ſo ſind ſie noch immer geneigt, in Ermanglung eines völkerrechtlichen Gerichtshofs, den Weg der Selbſthülfe zu betreten, und die äußerſte Selbſthülfe iſt der Krieg. Es iſt das ohne Zweifel noch eine barbariſche Seite der heutigen Weltordnung, und wir müſſen zugeſtehen, daß in dieſer höchſt wichtigen Hinſicht die Fortſchritte des Völkerrechts noch beſchämend klein ſind. Wir können höchſtens einige unentwickelte Keime zu einer civiliſirteren Rechtspflege entdecken. Auf dem Pariſer Congreſſe von 1856 gaben die verſammelten Mächte im Intereſſe des Friedens den Wunſch zu Protokoll, daß die Staten, unter denen ein Streit ſich erhebe, nicht ſofort zu den Waffen greifen, ſondern zuvor die guten Dienſte einer befreundeten Macht anrufen möchten, um den Streit friedlich zu ſchlichten. Man wagte nicht, den Wunſch als Rechtsforderung auszuſprechen, und die Mächte wollten ſich ſelber nicht binden.
Vielleicht wird, was hier gewünſcht ward, ſpäter in eine völkerrechtliche Rechtspflicht umgewandelt, ebenſo wie in manchen Ländern die Rechtsſtreite der Privatperſonen vorerſt an einen Friedensrichter zum Sühneverſuch gebracht werden müſſen, bevor ſie gerichtlich im Proceß verfolgt werden dürfen. Es wäre damit der Krieg nicht verhindert, aber eine neue Garantie für den Frieden gewonnen.
In den Statenbünden gibt es auch kein Bundesgericht, welches zuſtändig wäre, über die Streitigkeiten zwiſchen den verbündeten Einzelſtaten zu urtheilen. Da kennt man ſeit Jahrhunderten das Verfahren vor Schiedsrichtern oder Austrägen, welche den Proceß ohne Krieg durch Rechtsſpruch erledigen. Den Einzelſtaaten iſt es oft zur Pflicht gemacht, dieſen ſchiedsrichterlichen Weg zu betreten und ſich aller kriegeriſchen Gewalt zu enthalten. Auch unter nicht verbündeten Staten wird zuweilen dieſes Mittel der Rechtspflege benutzt, aber eine allgemeine Rechtspflicht dazu beſteht noch nicht. Vielleicht wird es einem der nächſten völkerrecht-
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lichen Congreſſe gelingen, wenigſtens für gewiſſe Streitfragen die Pflicht des ſchiedsrichterlichen Verfahrens auszuſprechen und dieſes zugleich in ſeinen Grundzügen zu ordnen.
Es giebt Streitigkeiten, für welche die letzte Rechtshülfe der Krieg vernünftiger Weiſe unmöglich iſt. Dahin gehören durchweg alle Entſchädigungs- und alle Etikette- und Rangfragen. Der Werth des Streites ſteht in ſolchen Fällen in einem allzu großen Mißverhältniſſe zu den nothwendigen Kriegskoſten und zu den unvermeidlichen Kriegsübeln, als daß ein Stat, der bei geſunden Sinnen iſt, ſich entſchließen möchte, zu dieſem Mittel zu greifen. Für derartige Fälle ſollte immer ein friedliches Schiedsgericht angerufen werden können; ſonſt bleiben ſie unerledigt und verbittern die Stimmung auf die Dauer. Freilich iſt es nicht leicht, geeignete Richter zu finden. Wählt man eine neutrale große Macht, ſo iſt man doch nicht ſicher, daß dieſelbe auch ihre eigenen politiſchen Intereſſen und Neigungen bei dem Schiedsſpruch in die Wage lege. Man iſt auch nicht ſicher, daß der gewählte Fürſt, auch wenn er kein eigenes Intereſſe hat, geeignete Berather beiziehe; die zugezogenen aber bleiben oft verborgen und daher unverantwortlich. Den ordentlichen Gerichtshöfen, an die man ſich wenden könnte, fehlt meiſtens die völkerrechtliche Bildung und die freie ſtatsmänniſche Praxis. Profeſſor Lieber hat neulich in dem engliſch-nordamerikaniſchen Streit über die Frage, ob England für Schaden einzuſtehen habe, welcher von ſüdſtatlichen in England ausgerüſteten Kreuzern verübt worden, den Vorſchlag gemacht, das Urtheil einer der angeſehenſten Juriſtenfacultäten anzuvertrauen, deren Mitglieder doch ihre wiſſenſchaftliche Ehre einzuſetzen haben. Vielleicht könnte zum voraus auf Vorſchläge von Juſtizminiſtern und Juriſtenfacultäten eine Geſchwornenliſte von völkerrechtlich gebildeten Männern gebildet werden, aus der im einzelnen Fall — etwa unter der formellen Leitung eines neutralen Statshaupts (Fürſten oder Präſidenten) als Richters, die Urtheiler bezeichnet würden.
Man ſieht, auf dieſem Gebiete ſucht man noch taſtend nach friedlichen Rechtsmitteln.
Kriegsrecht.
Recht gegen die Feinde. Die Staten ſind Feinde, nicht die Privaten.
Seine herrlichſten Siege hat der humane Geiſt des modernen Völkerrechts gerade da erfochten, wo dem Rechte gewöhnlich die geringſte Macht
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Einleitung.
zugeſchrieben wird. Im Kriege nämlich tritt die maſſive Gewalt wider die Gewalt in den Kampf und die feindlichen Leidenſchaften ringen mit einander auf Leben und Tod. Eben in dieſem wilden Stadium des Völkerſtreites gilt es vor allen Dingen, die civiliſatoriſche Macht des Völkerrechts zu zeigen. In der That, ſie hat ſich in der Ausbildung eines civiliſirten Kriegsrechts, durch welches die alte barbariſche Kriegsſitte großentheils verdrängt und unterſagt wird, glänzend bewährt. Die Kriege ſind menſchlicher, geſitteter, milder geworden, und nicht blos thatſächlich durch die veredelte Kriegsübung, ſondern ebenſo rechtlich durch die Vervollkommnung des Völkerrechts.
Die alten Völker betrachteten die Feinde, mit denen ſie im Kriege waren, als rechtloſe Weſen und hielten Alles gegen ſie für erlaubt. Dem heutigen Rechtsbewußtſein iſt es klar, daß die Menſchenrechte auch im Kriege zu beachten ſind, weil die Feinde nicht aufgehört haben, Menſchen zu ſein.
Bis auf die neueſte Zeit dehnte man überdem den Begriff des Feindes ungebührlich aus und behandelte höchſtens aus ſittlichen oder politiſchen Rückſichten, aber keineswegs aus Rechtsgründen, die unkriegeriſche Bevölkerung des feindlichen States mit einiger Schonung. Noch Hugo de Groot und Pufendorf betrachten es als hergebrachte, auf dem Conſens der Völker beruhende Rechtsſätze, daß alle Statsangehörigen der beiden Kriegsparteien, alſo auch die Weiber, die Kinder, die Greiſe, die Kranken Feinde und daß die Feinde als ſolche der Willkür des Siegers unterworfen ſeien.
Erſt die ſchärfere Unterſcheidung des heutigen Rechtsbewußtſeins hat den Grundgedanken klar gemacht, daß der Krieg ein Rechtsſtreit der Staten, beziehungsweiſe politiſcher Mächte und keineswegs ein Streit zwiſchen Privaten oder mit Privaten ſei. Dieſer Unterſchied, den die Wiſſenſchaft erſt begriff, als ihn zuvor die Praxis thatſächlich beachtet hatte, zieht eine Reihe der wichtigſten Folgerungen nach ſich.
Jedes Individuum nämlich ſteht in einem Doppelverhältniß. Einmal iſt es ein Weſen für ſich, d. h. eine Privatperſon. Als ſolche hat es einen Anſpruch auf einen weiten Kreis von perſönlichen Familien- und Vermögensrechten, mit Einem Wort auf ſein Privatrecht. Da nun der Krieg nicht gegen die Privaten geführt wird, ſo giebt es auch keinen Rechtsgrund, nach welchem das Privatrecht im Kriege untergehen oder der Willkür des Feindes bloßgeſtellt werden ſollte.
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Sodann iſt jedes Individuum ein Glied und Angehöriger einer Statsgemeinſchaft. Inſofern iſt es allerdings mitbetheiligt bei dem Streite ſeines Stats. Das Schickſal des Vaterlandes iſt den Kindern des Landes nicht fremd. Sie nehmen Theil an den Erfolgen und an den Leiden des States, dem ſie angehören. Sie ſind auch durch ihre Bürgerpflicht verbunden, dem State in der Gefahr Beiſtand zu leiſten mit Gut und Blut. In dem ganzen Bereich des öffentlichen Rechts ſind alle Statsangehörigen dem State verpflichtet.
Aus dieſer Unterſcheidung ergeben ſich folgende Hauptſätze des modernen Völkerrechts: Die Individuen ſind als Privatperſonen keine Feinde, als Statsangehörige ſind ſie betheiligt bei der Feindſchaft der Staten. So weit das Privatrecht maßgebend iſt, dauert alſo das Friedensverhältniß und das Friedensrecht fort. So weit das öffentliche Recht entſcheidet, iſt das Feindesverhältniß eingetreten und wirkt das Kriegsrecht.
In Folge dieſer Grundſätze ſind die Gefahren, welche der Krieg über die friedliche Bevölkerung herbei zieht, ſehr viel geringer geworden.
Im Alterthum waren auch die wehrloſen Perſonen, die Frauen und Kinder, in ſtäter Gefahr, von den feindlichen Kriegern mißhandelt, zu Sclaven gemacht und verkauft oder getödtet zu werden. Der politiſche Verſtand der Römer hielt dieſelben in den meiſten Kriegen ab, von dieſem vermeintlichen Recht einen ausgedehnten Gebrauch zu machen, denn ſie wollten die Völker beherrſchen, nicht vertilgen; aber die römiſchen Rechtsgelehrten hatten nicht den geringſten Zweifel an dem Rechte zu ſolchen Handlungen. Nur die Götter und ihre Tempel gewährten einigen Schutz vor der Rohheit und dem Blutdurſt der ſtürmenden Krieger; aber auch dieſer Schutz war unſicher und auf ſehr enge Gränzen beſchränkt.
Auch im Mittelalter gab es keine ſchützende Rechtsregel. Die eigentliche Sclaverei war nicht mehr in den Sitten, außer etwa zum Nachtheil kriegsgefangener Muhammedaner. Aber die Rohheit war größer als in dem civiliſirteren Römerreiche. Auch friedliche Leute waren der äußerſten Gewaltthat und ſelbſt dem Tode ausgeſetzt, wenn der Feind mit Kriegsgewalt ihr Land überzog. Der dreißigjährige Krieg noch iſt mit allen Gräueln ſoldatiſcher Barbarei befleckt.
Der humane Groot wagt es noch nicht, ſolcher Miſſethat das Brandmal der völkerrechtlichen Verurtheilung aufzudrücken. Im Gegentheil, er erkennt noch die völkerrechtliche Erlaubniß dazu an und mißbilligt
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Einleitung.
dieſe Barberei nur aus moraliſchen und vernünftigen Gründen. Die einzige völkerrechtliche Schranke findet er in dem Verbot, die Frauen zu mißbrauchen, zu welchem endlich das chriſtliche Völkerrecht ſich entſchloſſen habe.
Das heutige Völkerrecht verwirft den Gedanken einer abſoluten Willkürgewalt über die Privatperſonen vollſtändig und geſtattet weder Mißhandlung noch Beleidigung, am wenigſten Tödtung derſelben. Das Recht der perſönlichen Sicherheit, der Ehre, der Freiheit iſt Privatrecht und dieſes bleibt im Kriege unverſehrt. Die feindliche Kriegsgewalt iſt nur zu den Maßregeln befugt, welche zu Statszwecken dienen und im Intereſſe der Kriegsführung liegen. Sie kann die freie Bewegung der Privaten hemmen, den Privatverkehr unterbrechen, Straßen und Plätze abſperren, die Einwohner entwaffnen u. ſ. f. Wie das Privatrecht ſich dem gewaltigeren Rechte der Geſammtheit, d. h. dem Statsrecht auch im Frieden unterordnen muß, aber doch nicht von dem öffentlichen Rechte aufgehoben und verſchlungen werden darf, ſo legt das öffentliche Kriegsrecht ſeine nothwendigen Gebote auch den Privaten auf, aber es erkennt zugleich das Privatrecht an. Die allgemeine Noth und Gefahr, welche der Krieg auch über die Privaten verhängt, iſt ohnehin groß und ſchadet genug; die unvermeidlichen Leiden der Bevölkerung dürfen daher nicht grund- und zwecklos durch vermeidliche Uebel vergrößert und erſchwert werden. Freilich wird auch jetzt noch die Rechtsregel in der Praxis nicht immer genau befolgt, und mancherlei Ungebühr wird noch ſtraflos im Kriege gegen Privaten verübt. Aber im Großen und Ganzen iſt es wahr, daß die friedlichen Bewohner einer Stadt oder ſelbſt eines Dorfes und einzelner Höfe dem Gang der Kriegsereigniſſe mit weit mehr Ruhe entgegenſehen dürfen, als in irgend einer früheren Periode der Geſchichte. Es iſt ein großes Verdienſt Vattel’s, daß er zuerſt der humaner werdenden Kriegsübung der ſtehenden Heere auch einen völkerrechtlichen Ausdruck gegeben und durch ſeine klare Darſtellung des neueren Völkerrechts gerechtere Grundſätze populär gemacht hat.
In einer andern Lage freilich ſind diejenigen Perſonen, welche an der Kriegsführung ſelbſt einen thätigen Antheil nehmen, voraus das Heer und wer ſonſt mit den Waffen oder durch perſönliche Dienſte den Kampf unterſtützt. Nach der ältern wiederum barbariſchen Theorie ſprach man hier von einem Recht der Kriegsgewalt über Leben und Tod ihrer activen Feinde. Das humane Völkerrecht von heute verwirft auch dieſes angebliche Recht der Gewalt als grundlos.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 3
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Einleitung.
Allerdings wer an dem Kampfe Theil nimmt, freiwillig oder gezwungen, der iſt den Gefahren des Kampfes Preis gegeben und dieſer Kampf wird auf Leben und Tod geführt. So weit das natürliche Recht des Kampfes reicht, ſo weit muß auch das Recht gehen, den kämpfenden Feind zu tödten, aber nicht weiter. Jenes Recht aber iſt bedingt durch die rechtliche Bedeutung und begränzt durch den Zweck des Kriegs. Niemals darf der Krieg mit ſeiner furchtbaren Gewalt ſelber Zweck ſein. Er iſt immer nur ſtatliche Rechtshülfe und ein Mittel für Statszwecke. Deshalb iſt die Kriegsgewalt keine abſolute. Sie findet demnach von Rechts wegen ihre Gränze und ihr Ende, wo ſie nicht mehr dem Statszweck dient.
Es iſt daher erlaubt, den Feind, der Widerſtand leiſtet, mit tödtlichen Geſchoſſen zum Weichen zu nöthigen, erlaubt, den bewehrten Gegner im Einzelkampfe zu tödten, erlaubt, den fliehenden Feind zu verfolgen, weil das Alles nöthig iſt, um den Sieg zu erſtreiten und zu ſichern. Aber es iſt nicht erlaubt, den Feind, der ſeine Waffen ablegt und ſich ergiebt, oder der verwundet auf dem Schlachtfelde liegt und unfähig iſt, den Kampf fortzuſetzen, und nicht erlaubt, die Aerzte, Feldgeiſtlichen und andere Nichtkämpfer einzeln zu tödten, weil das nicht nöthig iſt, um den Sieg zu gewinnen, die unzweckmäßige Tödtung aber rohe Grauſamkeit wäre. Die kriegeriſche Gewalt darf nicht dem zügelloſen Haſſe und wilder Rachſucht dienen, denn ſie iſt Rechtshülfe und Statsgewalt. Dies Gebot der Menſchlichkeit darf auch nicht von der aufgeregten Wuth der kriegeriſchen Leidenſchaft überhört werden. Der militäriſche Befehl, „keinen Pardon zu geben und Alles niederzumachen“, iſt eine völkerrechtswidrige Barbarei und wird nur als Repreſſalie noch und zur Abwendung eigener äußerſter Lebensgefahr zugelaſſen. Auch hier iſt es wieder Vattel, welcher die humaneren Grundſätze des neuen Völkerrechts zuerſt mit Erfolg vertheidigt hat. Um dieſes Verdienſtes willen um die Civiliſation gebührt ihm eine hohe Stelle unter den Lehrern und Förderern des Völkerrechts.
Mit großem Nachdruck und Eifer für militäriſche Ehre beſtreitet er auch den abſurden Satz der früheren Schriftſteller, daß man dem hartnäckigen Vertheidiger eines feſten Platzes den Tod als Strafe drohen dürfe, wenn er denſelben nicht übergebe. Die Tapferkeit des Feindes wird niemals ein ſtrafwürdiges Verbrechen, auch nicht, wenn ſie eine vielleicht unhaltbare Stellung zu behaupten ſucht. Während des Kampfes iſt Schonung nicht am Platze und, wer ſein eigenes Leben einſetzt, mit dem darf man
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Einleitung.
nicht rechten, wenn er das Leben ſeines Feindes angreift. Die hartnäckigſte Vertheidigung kann dazu dienen, dem übermächtigen Feinde Achtung abzunöthigen und beſſere Friedensbedingungen zu erzielen. Zur Strafe darf der Sieger nur die tödten, welche ein ſtrafbares Verbrechen begangen haben, z. B. die Seeräuber, die Spione oder Marodeurs. Aber dieſe Art der Tödtung ſetzt ein ſtrafgerichtliches Verfahren voraus, wenn auch vielleicht das ſummariſche des Standrechts. Das iſt nicht mehr Kampfesrecht, ſondern Strafrecht.
Auch das Recht, die Angehörigen des feindlichen States, vorzüglich die bei der Kriegsführung Betheiligten zu Kriegsgefangenen zu machen, iſt durch den Zweck des Kriegs begränzt und darf nur als ein Mittel zum endlichen Frieden benutzt werden. Die Kriegsgefangenſchaft der neueren Zeit iſt nicht mehr, wie die antike, eine zeitige Sclaverei. Die Grundſätze, welche Preußen und die Vereinigten Staten in einem Vertrag von 1785 anerkannt haben, ſind nach und nach allgemeines Recht geworden. Die Kriegsgefangenen dürfen nicht als Verbrecher, nicht als Züchtlinge behandelt werden. Sie werden nicht zur Strafe, ſondern der Sicherheit wegen und um den Feind eher zum Frieden zu nöthigen, in ihrer Freiheit beſchränkt und verwahrt. Sie dürfen daher nicht mißhandelt und gequält, noch zu Arbeiten angehalten werden, welche ihrer Lebensſtellung nicht angemeſſen ſind, auch dann nicht, wenn man von ihnen fordern kann, daß ſie ihren Lebensunterhalt mit ihrer Arbeit verdienen. Sogar ihre Bewegung und ihre Beſchäftigung ſind nicht mehr zu beſchränken, als es das Intereſſe der Sicherheit fordert. Die heutige Sitte verlangt ſogar, daß die kriegsgefangenen Officiere auf ihr Ehrenwort in relativer Freiheit gelaſſen werden. Nur wenn ſie dieſelbe mißbrauchen zu ſtatsfeindlichen Zwecken oder Fluchtverſuche machen, ſind ſie ſtrenger zu bewachen. So lange nicht die Sicherheit und die gute Ordnung darunter leiden, ſind auch den Kriegsgefangenen unbedenklich diejenigen Genüſſe zu verſtatten, für welche ſie auf eigene Koſten ſorgen oder die ihnen von ihren Landsleuten und Freunden ermöglicht werden.
Mit edler Sorge nimmt ſich das heutige Völkerrecht auch der verwundeten Feinde an. Die Beſchlüſſe des internationalen Congreſſes zu Genf im Auguſt 1864, welcher auf Einladung der Schweiz von einer großen Anzahl von Staten beſchickt wurde, erkennen den Rechtsgrundſatz an, daß die ärztliche Sorge, welche den eigenen Verwundeten zu Theil wird, auch auf die verwundeten Feinde in weſentlich gleicher Weiſe aus-
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Einleitung.
gedehnt werden ſolle. So ward das chriſtliche Princip der Feindesliebe in die bindende Form des Menſchen- und Völkerrechts überſetzt.
Feindliches Vermögen im Landkriege.
Nicht minder groß ſind die Fortſchritte, welche das neuere Völkerrecht in der Anerkennung und dem Schutze des feindlichen Vermögens gemacht hat. Freilich beſteht hier noch zwiſchen Land- und Seekrieg ein bedeutender Unterſchied. In jenem iſt die alte Barbarei früher und vollſtändiger überwunden worden, als in dieſem.
Die antiken Völker, welche den Feind als rechtlos anſahen, betrachteten auch das Vermögen aller derer, die ſie Feinde nannten, als einen Gegenſtand freier Beſitz- und Wegnahme. Das Grundeigenthum der Feinde verfiel dem ſiegreichen Stat, ihre Habe ward von den Truppen erbeutet und dem Feldherrn überliefert, welcher über die Vertheilung frei verfügte. Keine Rechtsvorſchrift hinderte das Heer, die Häuſer der Feinde abzubrennen und ihre Pflanzungen zu verwüſten. Die Sitte war freilich oft menſchlicher als das Recht und die Politik ſchonte oft, wo das Recht Zerſtörung und Raub geſtattete. Aber in vielen Fällen zeigte ſich auch die wilde Rohheit eines barbariſchen Kriegsrechts in ihrer ſcheußlichen Geſtalt, ohne Maß und ohne Scham.
Nicht viel anders war es im Mittelalter. Die damaligen Fehden waren weniger blutig als die antiken Schlachten, aber um ſo verderblicher für das Eigenthum und den Wohlſtand der betroffenen Gegenden. Das Grundeigenthum blieb zwar meiſtens unverändert, aber die Dörfer wurden niedergebrannt, die Burgen gebrochen, die Bäume umgehauen, das Vieh weggeführt, die Habe der friedlichen Leute als gute Beute geraubt.
Auch hier bewährt jener Grundſatz des heutigen Rechts, daß der Krieg gegen den Stat und nicht gegen die Privaten geführt werde, ſeine heilſame Wirkung.
Wir unterſcheiden nun zwiſchen öffentlichem Vermögen und Privatgut. Das öffentliche Vermögen, welches dem feindlichen State gehört, darf im Kriege angegriffen und von dem Sieger weggenommen werden. Voraus bemächtigt ſich die Kriegsgewalt aller der Sachen des Feindes, welche Bezug auf die Kriegsführung ſelber haben, der Waffen, der öffentlichen Magazine und Vorräthe, der Kriegscaſſe, denn voraus iſt die Kriegsgewalt berechtigt, dem Feinde die Mittel zu entwinden, mit denen derſelbe Krieg führt und Widerſtand leiſtet. Ferner ergreift ſie, indem ſie
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Einleitung.
in feindlichem State fortſchreitet, die Zügel der Statsgewalt und nimmt mit Recht die öffentliche Autorität einſtweilen für ſich in Anſpruch. Sie verfügt daher über die öffentlichen Gebäude, nimmt die Finanzgefälle aller Art in ihre Hand, und erſtreckt ihre Hand über die öffentlichen Caſſen; denn es dient das, den feindlichen Stat zu überwinden und zum Frieden zu zwingen.
Indeſſen ſogar innerhalb des öffentlichen Vermögens beginnt die civiliſirte Welt feiner zu empfinden und wichtige Unterſcheidungen zu machen. Nicht alles öffentliche Gut dient in gleicher Weiſe dem State und daher auch ſchließlich ſeiner Kriegsmacht. Viele öffentliche Anſtalten dienen mit ihrem Vermögen andern, eher ſocialen Zwecken. Die Kirchen ſind den religiöſen Bedürfniſſen der Bewohner geweiht. Die Spitäler ſind für Kranke beſtimmt. Die Schulen, die Bibliotheken, die Laboratorien, die Sammlungen ſind für die Zwecke der Bildung und der Wiſſenſchaft gegründet. Eben deshalb ſind ſie, wie die Amerikaniſchen Kriegsvorſchriften es ausdrücken (§ 34), nicht im Sinne des Kriegsrechts als öffentliches Vermögen zu betrachten und ſollen ihren Zwecken nicht entfremdet werden. Der Raub von Kunſtſchätzen und Denkmälern, noch in den Revolutionskriegen zu Anfang dieſes Jahrhunderts oft geübt, erſcheint dem öffentlichen Gewiſſen bereits als anſtößig und widerrechtlich, weil dieſe Dinge keinen nahen Bezug auf den Stat und den Krieg haben, ſondern der friedlichen Cultur der bleibenden Nation dienen.
Wenn das heutige Völkerrecht ſogar einen Theil der öffentlichen Güter vor den Griffen des Siegers bewahrt, ſo verſteht ſich der Schutz des Privateigenthums nun von ſelbſt. Ein Recht des Siegers, das Grundeigenthum den Privaten wegzunehmen und ſich anzueignen, wird nicht mehr anerkannt. Die Eroberung iſt ein Act der Statsgewalt, und läßt das Privateigenthum unverſehrt. Der Pariſer Caſſationshof hat daher mit gutem Grunde entſchieden, daß ſelbſt die fürſtlichen Privatgüter kein Gegenſtand der Eroberung ſeien und daß nur die Güter, welche dem Fürſten als Statshaupt zugehören, von dem ſiegenden Feinde weggenommen werden dürfen. Das Privateigenthum iſt alſo nur inſofern der Kriegsgewalt unterworfen, als es auch der Statsgewalt unterworfen bleibt. Die Grundeigenthümer müſſen ſich gefallen laſſen, daß das Heer, ſoweit die Kriegsoperationen es nöthig machen, vorübergehend ihre Häuſer und Güter beſetze; aber ſobald das kriegeriſche Nothrecht mit der Noth ſelbſt erliſcht, tritt auch die Regel des freien Eigenthums von ſelber wieder in Kraft.
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Einleitung.
Endlich hat das gereiftere Rechtsbewußtſein der civiliſirten Welt es eingeſehen, daß auch jenes angebliche Beuterecht im Krieg, trotz der zahlreichen und ehrwürdigen Autoritäten der römiſchen Rechtswiſſenſchaft und der mittelalterlichen Rechte, eitel Unrecht ſei und ſich mit einer geſicherten Weltordnung durchaus nicht vertrage. Es iſt beſchämend für unſere Wiſſenſchaft, daß ſie in dieſer wichtigen Frage nicht eher die Wahrheit erkannt hat, als bis ihr die veredelte Kriegsführung der heutigen Staten durch die thatſächliche Mißbilligung und durch das militäriſche Verbot aller Beutemacherei vorausgegangen iſt. Während die Gelehrten ſich noch immer durch die alten Autoritäten täuſchen ließen, arbeiteten die Generale mit eiſerner Disciplin an der Abſchaffung jenes offenbaren Raubs, den man vergeblich ſich bemüht, als Recht auszugeben. Worauf denn ſollte ſich dieſes angebliche Beuterecht gründen? Etwa auf den alten Wahn, daß der Feind ein rechtloſes Weſen ſei? Aber der Feind iſt ein Menſch und jeder Menſch ein Rechtsweſen. Oder auf die Vorſtellung, daß im Kriege die Gewalt herrſche? Aber es iſt ja der Beruf des Völkerrechts, auch die Kriegsgewalt mit den Zügeln des Rechts zu bändigen. Oder auf den Gedanken, daß dem Feinde zu ſchaden natürliches Kriegsrecht ſei? Aber die Privatperſonen ſind als ſolche nicht Feinde, und das Privateigenthum darf daher nicht willkürlich geſchädigt werden. Oder auf die Uebereinſtimmung der Völker? Aber die civiliſirteſten Völker verwerfen das Beuterecht als Raubrecht.
So entſchieden hat ſich die civiliſirte Kriegsführung in unſern Tagen von der alten Barbarei losgeſagt, daß ſogar die Lebensmittel, deren das Heer in feindlichem Lande bedarf, regelmäßig eingekauft und baar bezahlt werden. Die ſcheußliche Maxime, nicht etwa nur des dreißigjährigen Kriegs, ſondern noch der Revolutionskriege zu Ende des vorigen und zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts, daß der Krieg ſich ſelber ernähren müſſe und daß daher die Heere in Feindesland auf Koſten der friedlichen Bewohner leben dürfen, wird heute von der öffentlichen Meinung als Barbarei gebrandmarkt. In der Noth freilich, wenn ausreichende Lebensmittel und andere unentbehrliche Sachen in ordentlicher Verkehrsform nicht zu erwerben ſind, vielleicht weil die Einwohner ſie nicht dem Heere verkaufen wollen, oder die Lieferungen zurück bleiben, dann kann es dem Truppenkörper nicht verwehrt werden, auch mit Gewalt ſich die Dinge anzueignen, ohne die er nicht leben und ſeine Beſtimmung erfüllen kann; denn niemals kann die öffentliche Gewalt ihre Exiſtenz dem Privatrechte zum Opfer bringen, viel-
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Einleitung.
mehr muß dieſes der Noth des States weichen. Aber ſogar in dieſem äußerſten Falle erkennt die heutige Kriegsgewalt, ſoweit nicht das Recht zur Beſteuerung oder das Recht auf Kriegslaſten (Fuhrwerke, Einquartirung) die Forderung unentgeltlicher (wenigſtens vorläufig unentgeltlicher) Leiſtungen rechtfertigt, die Pflicht ſchatzungsgemäßer Entſchädigung an, und zieht die geordnete Auferlegung von Contributionen auch der aus Noth erlaubten Marode entſchieden vor.
Am wenigſten iſt es den Kriegsleuten geſtattet, die Hauswirthe, bei denen ſie einquartirt werden, zu beſchädigen und zu beſtehlen. Wo dergleichen Unfug und Unrecht noch gelegentlich vorkommt und, ſei es aus Rachſucht oder aus Gewinnſucht, auch von den Officieren noch geduldet wird, da geſchieht dies nicht mehr im Sinne ſondern mit Widerſpruch des heutigen Kriegsrechts. Die Ehre einer disciplinirten Armee und der civiliſirten Kriegsführung fordert ſtrenge Beſtrafung ſolcher Mißbräuche und Miſſethaten.
Nur ganz ausnahmsweiſe wird im heutigen Landkriege noch die Beute geſtattet. Die Kriegsrüſtung insbeſondere der bewehrten Feinde, ihre Waffen und Pferde ſind heute noch Gegenſtand erlaubter Beute, weil vor der nahen Beziehung dieſer Sachen zur Kampfesführung die Rückſicht auf das Privateigenthum zurück tritt. Dieſe Sachen dienen dem Krieg und verfallen deshalb dem Sieger. Dagegen gilt es bereits als unwürdig und dem civiliſirten Kriegsrechte nicht mehr entſprechend, dem beſiegten Gegner ſein Geld oder ſeine Kleinode wegzunehmen. Auch der Kriegsgefangene bleibt Privateigenthümer. Nur wenn ein Officier große Geldſummen mit ſich führt, ſo werden dieſe nicht als Privatgut, ſondern als Kriegsmittel und Kriegsgut betrachtet.
Ebenſo wird dem Sieger gewöhnlich noch verſtattet, dem todt auf dem Schlachtfeld gebliebenen Feinde die Habe wegzunehmen, die er zurückläßt. Die völlige Unſicherheit dieſer Verlaſſenſchaft läßt die Wegnahme in milderem Lichte erſcheinen. Indeſſen der ehrenhafte Sieger wird ſolche Sachen doch nur inſofern behalten, als er die rechtmäßigen Erben nicht kennt, und ſie herausgeben, ſobald Jemand ein beſſeres Recht daran nachweiſt. Die heimliche Marode aber den Schlachtfeldern nachſchleichender Diebe wird nicht mehr geduldet, ſondern als ein ſchweres Verbrechen beſtraft.
Zuweilen vertheidigt man noch heute die Erlaubniß zur Plünderung eines hartnäckig vertheidigten Platzes, mit dem Bedürfniß der Kriegsfüh-
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Einleitung.
rung, die Angreifer durch die Ausſicht auf Gewinn zum Sturme zu ermuthigen. Indeſſen iſt das nur die alte Barbarei, welche verſucht, ſich in dieſem letzten Schlupfwinkel noch eine Zeit lang wider die beſſere Rechtsordnung zu halten. Ganz mit denſelben ſchlechten Gründen hatte man vordem den Stürmenden auch die Frauen in dem eroberten Platze Preis gegeben. Was ſeiner Natur nach ſchändliches Unrecht iſt, das darf auch nicht als Belohnung verſprochen und nicht als ein Mittel benutzt werden, um den Pflichteifer leidenſchaftlich aufzuregen.
Feindliches Vermögen im Seekrieg.
Viel zäher hat die alte Barbarei im Seekrieg der Aufnahme neuer, das Privateigenthum auch im Kriege ſchützender Grundſätze widerſtanden. Sie iſt hier vorzüglich von einem State vertheidigt worden, der in anderer Hinſicht ſich unläugbare Verdienſte um die Ausbildung eines humaneren Völkerrechts erworben hat, nämlich von England, der größten modernen Seemacht.
Die engliſchen Staatsmänner und Rechtsgelehrten voraus behaupteten, das Beuterecht, das im Landkriege beſſer aufgegeben werde, ſei für den Seekrieg nicht zu entbehren. Sie wieſen darauf hin, daß die Landmächte in der Beſitznahme und Eroberung des feindlichen Landes ein eingreifendes und wirkſames Zwangsmittel beſitzen, um den feindlichen Stat zur Anerkennung ihrer Rechtsanſprüche und Forderungen zu nöthigen, daß aber die Seemächte dieſes Zwangsmittels entbehren, weil ihre Macht auf die See und die Seeküſten beſchränkt ſei. Sie gründeten auf dieſen Unterſchied die Nothwendigkeit für die Seeſtaten, nach einem andern Zwangsmittel zu greifen, und als ſolches, meinten ſie, biete ſich nur die Unterdrückung des Seehandels und die Wegnahme der feindlichen Schiffe und Kaufwaaren an. Allein niemals kann die Schwäche der rechtmäßigen Kriegsmittel ein Grund ſein, um die Zuläſſigkeit unrechtmäßiger Kriegsmittel zu rechtfertigen. So wenig der Finanzmann, dem es nicht gelungen iſt, ein Darlehen abzuſchließen, die leeren Statscaſſen dadurch füllen darf, daß er den Reichen all ihr Geld wegnehmen läßt, ſo wenig darf der Kriegsmann deshalb das Privatgut zur See berauben, weil die Kanonen ſeiner Schiffe nicht ins Innere des Landes wirken. Die Kaufleute des feindlichen States ſind als ſolche keine Feinde, weder der Seemacht noch der Landmacht gegenüber; und wenn dieſe genöthigt iſt, ihr Privatrecht zu achten, ſo liegt der Seemacht ganz dieſelbe Pflicht ob aus ganz denſelben Gründen. Die frü-
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Einleitung.
here Barbarei im Landkrieg wurde ganz ebenſo damit vertheidigt, daß die Schädigung der Feinde ein unentbehrliches Mittel ſei, um den Feind zur Nachgiebigkeit zu zwingen. Man hat dieſelbe abgeſchafft, weil man das Unrecht und die Verderblichkeit dieſes Kriegsmittels erkannt hat. Dieſelbe Einſicht wird endlich auch das Beuterecht im Seekrieg als einen Flecken der heutigen Weltordnung erkennen laſſen und dieſelbe davon reinigen helfen.
Vor einem Menſchenalter ſtand es freilich noch ſchlimmer als gegenwärtig. Sowohl die Schiffe der feindlichen Nation ſammt ihrer Ladung als die feindlichen Kaufgüter, ſelbſt wenn ſie auf neutralen Schiffen verführt wurden, ſchienen ein offener Gegenſtand der Seebeute zu ſein, obwohl ſie nicht im Eigenthum des Staates waren, mit welchem Krieg geführt wurde, ſondern der Privaten, gegen welche nicht Krieg geführt ward. Man bedachte nicht einmal, daß die Enteignung dieſer als gute Priſe weggenommenen Privatgüter ſogar die Gränzen eines Zwangsmittels gegen den Feind überſchreite, indem ſie nicht wie die Beſchlagnahme für die Forderungen ein Unterpfand ſchafft, ſondern über den Frieden hinaus wirkt und das Recht friedlicher Privaten völlig aufzehrt.
Indeſſen einige, freilich noch nicht genügende, Fortſchritte ſind gemacht worden, um auch das Seekriegsrecht zu civiliſiren.
Es verdienen vorzüglich folgende Maßregeln Erwähnung:
1. Die endliche Mißbilligung und Abſchaffung der Kaperei. Nach der früheren räuberiſchen Praxis begnügten ſich die Seemächte nicht damit, durch ihre Kriegsmarine den Seehandel zu behindern und die Rheder und Kaufleute der feindlichen Nation nach Kräften zu ſchädigen. Sie riefen ſogar die Raubluſt der Privatunternehmer zu Hülfe und ermächtigten dieſelben, mit ihren Kaperſchiffen auf Beute auszulaufen. Es war das ein von Stats wegen in Kriegszeiten autoriſirter Seeraub. Vergeblich hatten ſich im vorigen Jahrhundert philanthropiſche Männer, wie Franklin, gegen dieſe ſchmachvolle Unſitte erklärt. Auch ein Staatsvertrag zwiſchen den Vereinigten Staaten von Nordamerika und Preußen vom Jahr 1785, worin beide Mächte verſprachen, niemals Kaperbriefe wider einander auszuſtellen, blieb ohne allgemeine Nachfolge. Während der Napoleoniſchen Kriege noch waren die franzöſiſchen Kauffahrer aus allen Meeren von den Engländern weggefegt worden und franzöſiſche Waaren nirgends vor der engliſchen Confiscation ſicher, ſo weit die engliſche Seemacht reichte. Die Continentalſperre, welche der Kaiſer Napoleon gegen England in Europa anordnete, war nur Wiedervergeltung, aber
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Einleitung.
nicht wirkſam genug, um von England den Verzicht auf die Seebeute zu erzwingen.
Endlich haben ſich auf dem Pariſer Congreß vom Jahr 1856 die verſammelten Mächte zu dem wichtigen Satze des heutigen europäiſchen Völkerrechts geeinigt: „Die Kaperei iſt abgeſchafft“. Leider iſt derſelbe durch den Widerſpruch der Vereinigten Staten noch nicht allgemein anerkanntes Recht geworden. Die Weigerung Nordamerikas zuzuſtimmen beruhte freilich auf einem Grunde, der an ſich volle Billigung verdient. Der Präſident wollte nicht damit die Kaperei gutheißen, ſondern er erklärte nur, daß die Abſchaffung derſelben für ſich allein und, ſo lange nicht auf das verwerfliche Beuterecht zur See überhaupt verzichtet werde, eine unzureichende und ſogar eine gefährliche Maßregel ſei. Es iſt wahr, die großen Seemächte, welche über eine zahlreiche Kriegsmarine verfügen, bedürfen der Beihülfe der Kaper nicht, und ihre Ueberlegenheit im Seekrieg über ſchwächere Seeſtaten mit zahlreicher Handelsmarine aber wenig Kriegsſchiffen wird dadurch eher vergrößert, weil nun die letztern Staten der vielleicht nützlichen Hülfe von Kaperſchiffen, in die ſich die Kauffahrer verwandeln können, entbehren müſſen. Indeſſen war jene Weigerung doch ein Fehler; denn es iſt nicht recht, was man ſelbſt für Unrecht erklärt, deshalb feſtzuhalten, weil daneben noch anderes Unrecht fortbeſteht, noch politiſch klug, ein erreichbares minderes Gut nicht anzunehmen, weil ein größeres wünſchbares Gut noch nicht erlangt wird. Die Abſchaffung der Kaperei liegt auf dem Wege zur Abſchaffung der Seebeute, ſie iſt nicht ein Hinderniß dieſer Entwicklung.
2. Die Gefahr für die Kauffahrer iſt ferner durch die neuere Sitte der kriegführenden Seemächte, eine ergiebige Friſt anzuſetzen, binnen welcher die Schiffe der feindlichen Nation ungefährdet aus den Häfen des Krieg drohenden States auslaufen und ſich mit ihrer Ladung nach einem ſichern Hafen flüchten können, erheblich ermäßigt worden. In dem Kriege mit Rußland von 1854, 1855 haben die Weſtmächte England und Frankreich ein nachahmungswürdiges Beiſpiel der Art gegeben.
3. Ferner wurden auf dem Pariſer Congreß von 1856 zwei wichtige Geſetze in das Völkerrecht aufgenommen:
a) „Die neutrale Flagge deckt die feindliche Waare, mit einziger Ausnahme der Kriegscontrebande.“ Da kein Staat auf offenem Meere eine Gebietshoheit beſitzt, ſo iſt ſchon lange der völkerrechtliche Satz anerkannt, daß jedes Schiff auf offener See nur der Schutz-
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Einleitung.
hoheit und Statsgewalt ſeines eigenen Landes unterthan iſt. Die nationale Flagge bezeichnet den Staat, dem das Schiff angehört. Es wird betrachtet wie ein ſchwimmender Theil des betreffenden Staatsgebiets. Es war daher nur folgerichtig, das feindliche Privateigenthum in neutralen Schiffen ebenſo zu achten, wie wenn es in dem neutralen Lande wäre. Der Krieg darf das neutrale Gebiet nicht antaſten. Es iſt Friedensland. Die Kriegscontrebande macht deshalb eine Ausnahme, weil ſie der Kriegspartei als ſolcher zu Kriegszwecken zugeführt wird. Im Uebrigen gilt nun der Satz: „Frei Schiff, frei Gut“.
b) Ueberdem ſoll die „neutrale Waare“ auch auf feindlichem Schiffe gegen das Priſenrecht geſichert werden, d. h. das Beuterecht darf nur auf feindliche Schiffe und auf Waaren der feindlichen Nation auf feindlichen Schiffen angewendet werden. Auf „unfreiem Schiff“ kann es alſo „freies Gut“ geben.
4. Endlich hat der Pariſer Congreß von 1856 auch das oft unmäßig geübte Blokaderecht durch die Bedingung beſchränkt, daß die Blokade „wirkſam“ ſein müſſe, um anerkannt zu werden, d. h. die Seeſperre gilt nur inſoweit, als die Seemacht, welche ſie im Kriege anordnet, dieſelbe auch thatſächlich und mit fortgeſetztem Erfolg handhabt, alſo nicht, wenn es ihr an den nöthigen Kriegsſchiffen mangelt, um die Ein- und Ausfahrt in den blokirten Hafen durchweg zu verhindern.
Es ſind das Alles bedeutende Ermäßigungen des hergebrachten Raubrechtes der Seebeute. Aber ein wahrhaft civiliſirtes Seekriegsrecht wird erſt dann vorhanden ſein, wenn die ganze Seebeute ebenſo im Princip unterſagt wird, wie die Beute im Landkrieg, wenn Schiffe und Waaren der friedlichen Rheder und Kaufleute zur See ebenſo ſicher ſind, wie die Habe der Bewohner des Landes. Dieſe Fortbildung des Völkerrechts wird nicht mehr lange ausbleiben. Auch die Seemächte, welche bisher der Forderung des natürlichen Rechts keine Folge gegeben und der Macht der Logik ſich nicht gefügt haben, werden ſchließlich der lauten Stimme der eigenen Intereſſen Gehör geben. Das Beuterecht, das gegen die fremden Schiffe und Waaren verübt wird, gefährdet und verletzt nicht blos das Vermögen der feindlichen, ſondern ebenſo der eigenen Nation, denn Handel und Verkehr ſind immer wechſelſeitig. Auch der Handel und der Credit der eigenen Kaufleute leidet ſchwer in Folge dieſer barbariſchen Ueberſpannung der Kriegsübel; und volle Sicherheit hat auch ihr eigenes Privateigenthum erſt dann, wenn alles Privateigenthum geachtet wird. Seit den
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Einleitung.
Kriegen Englands mit Napoleon I. hat ſich auch in dieſer Hinſicht die Welt ſehr verändert. Der engliſche Welthandel bedarf nun zu ſeiner Sicherung kaum minder des völkerrechtlichen Schutzes, als der franzöſiſche, oder nordamerikaniſche oder deutſche; denn ſo mächtig die engliſche Kriegsmarine auch iſt, ſie wäre doch nicht im Stande, zugleich der feindlichen Kriegsmarine zu begegnen und überall die engliſchen Kauffahrer zu ſchützen. Wir dürfen daher wohl die Hoffnung hegen, daß die Vorſchläge, welche Bremen im Jahre 1859 zum Schutz des friedlichen Welthandels gemacht hat, ſchließlich auch die Billigung Englands finden und dann zum allgemeinen Völkerrecht erhoben werden.
Die Neutralität.
Zum Schluſſe verdient noch die Ausbildung der Rechte und Pflichten der neutralen Staten erwähnt zu werden, welche ſeit dem Ende des vorigen Jahrhunderts ebenfalls manche Fortſchritte gemacht hat. Indem das Recht der Neutralität wächſt, wird zugleich das Recht und die Gefahr des Krieges eingeſchränkt. Die neutralen Staten umſchließen mit ihrem friedlichem Gebiete das Kriegsgebiet. An ihren Gränzen bricht ſich die Brandung der Kriegsfluth.
Es iſt überhaupt ein beachtenswerthes und preiswürdiges Beſtreben, wie es ſich in dem neueſten Ruſſiſchen, dem Italieniſchen und dem Däniſchen Kriege gezeigt hat, den Krieg möglichſt zu localiſiren, d. h. die unvermeidliche Gewalt und die Uebel des Krieges auf ein möglichſt enges Kriegsfeld einzugränzen. Die allmählich erſtarkte Neutralität hilft den Krieg im Großen localiſiren. Dadurch wird die Welt vor einem allgemeinen Weltbrand geſchützt und es wird die Macht des Friedens auch dem Kriege gegenüber fortwährend bewährt. Die neutralen Staaten vertreten das friedliche Regelrecht, ſetzen der Ausnahme des Kriegsrechts Schranken und tragen überdem dazu bei, die Leiden des Kriegs zu mildern, indem ſie den Verfolgten und Flüchtlingen eine friedliche Zuflucht eröffnen, und den Krieg eher zu beendigen, indem ſie die Friedensunterhandlungen erleichtern und vermitteln.
Der Anſtoß, welchen die Ruſſiſche Kaiſerin Katharina II. auf den Rath ihres Kanzlers Panin in der ſogenannten „bewaffneten Neutralität“ von 1780 zum Schutz der neutralen Schiffahrt gegeben, und die Verabredungen, welche in derſelben Richtung im Jahre 1800 von den nordiſchen Mächten Rußland, Preußen, Schweden und Dänemark getroffen wurden,
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Einleitung.
haben die Rechte der neutralen Schiffahrt in Kriegszeiten gekräftigt und Grundſätze zuerſt vertheidigt, welche endlich auf dem Pariſer Congreß von 1856 allgemein gebilligt worden ſind. Noch beſtehen freilich über den Begriff der unerlaubten Contrebande manche Zweifel, welche den Handel unſicher machen; aber auch in Kriegszeiten und ſelbſt wenn der Verdacht der Contrebande ſich erhebt, iſt doch das früher rückſichtslos geübte Durchſuchungsrecht der feindlichen Kriegsſchiffe gegenüber den neutralen Handelsſchiffen, ſorgfältiger begränzt worden. So lange freilich noch die Kriegspartei allein die Priſengerichte beſtellt, welche darüber erkennen, ob ein weggenommenes neutrales Schiff Contrebande geführt habe oder die rechtmäßige Blokade in unerlaubter Weiſe habe brechen wollen, ſo lange ſind die Garantien für eine unparteiiſche Rechtspflege noch gering. Zwar ſind die Priſengerichte in neuerer Zeit etwas unbefangener geworden als früher, ſie vermuthen nicht mehr wie ehedem ſo leichtſinnig oder leidenſchaftlich für die Schuld des eingebrachten Schiffes, ſie ſind geneigter worden, auch die Vertheidigung zu hören und zu würdigen, die Freiſprechungen ſind weniger ſelten geworden. Aber der Grundcharakter eines ausſchließlich von der Partei geſetzten und beſetzten Gerichtshofs wird heute noch feſtgehalten und deshalb können die Neutralen dieſe Handhabung der Rechtspflege noch nicht mit Vertrauen betrachten.
Indeſſen den Rechten der Neutralen entſprechen auch Pflichten. Indem die Neutralen verlangen, daß ſie von den Folgen und Wirkungen des Kriegs möglichſt wenig betroffen werden und daß die Kriegsgewalt der Feinde vor ihrer friedlichen Haltung rückſichtsvoll vorbei gehe, ſo dürfen ſie auch ihrerſeits nicht an der Kriegführung ſich betheiligen. Die neutralen Staten dürfen nicht kriegen helfen, wenn ſie in ihrer friedlichen Neutralität geachtet bleiben wollen. Wer den Feind im Kriege und zum Kriege unterſtützt, der hört auf, neutral zu ſein, denn neutral ſein heißt auf keiner der beiden Seiten Theilnehmer am Kriege ſein.
Auf die Ausbildung der Rechte und der Pflichten der Neutralen hat einen großen Einfluß die Neutralitätsacte gehabt, welche zuerſt in Nordamerika auf den Betrieb Hamiltons und im Einverſtändniß mit dem Erſten Präſidenten Washington im Jahre 1794 erlaſſen und im Jahr 1818 revidirt worden iſt. Sie iſt von der Engliſchen Parlamentsacte von 1819 nach- und fortgebildet worden. Der letzte Bürgerkrieg in den Vereinigten Staten hat freilich den Glauben an die Wirkſamkeit dieſer Neutralitätsgeſetze einiger Maßen geſchwächt. Die Vereinigten Staten be-
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Einleitung.
klagen ſich darüber, daß England nicht ſorgfältig und nicht entſchieden genug die Begünſtigung der Südſtaten verhindert und durch Lieferung von engliſchen Schiffen die räuberiſchen Kreuzer ausgerüſtet habe, welche die Meere unſicher machten; und manche Zeichen deuten darauf, daß auch die Amerikaniſche Praxis bei Kriegen europäiſcher Staten eine laxere Politik befolgen werde und ihren Schiffsbauern verſtatten werde, den Kriegsparteien Kriegsſchiffe zu liefern.
Man ſieht, die theilweiſe widerſtrebenden Intereſſen des freien Handels der Neutralen auch mit der Nation der Kriegspartei und der unerläßlichen Enthaltſamkeit von jeder Theilnahme am Krieg von Seite des neutralen Stats ſind noch mit einander im Kampf und ſuchen noch das gerechte Gleichgewicht.
Das Recht der nationalen Entwicklung und der Selbſtbeſtimmung der Völker.
In unſerer Zeit hört man oft die laute Klage, der Beſtand der Staten ſelber ſei nicht mehr wie früher durch das Völkerrecht geſichert, die Revolution von Innen, die Uebermacht von Außen bedrohen alle legitimen Gewalten, und ſo oft ihnen der Umſturz eines rechtlich begründeten Zuſtandes glücke, ſo werde die vollendete Thatſache, das heißt zumeiſt das ſiegreiche Unrecht von den Mächten als neues Recht gutgeheißen und anerkannt. Man beſchuldigt das heutige Völkerrecht, es habe alles Verſtändniß verloren für die Rechtsſicherheit der Staten und ihrer Regierungen und huldige jederzeit gefügig dem brutalen Erfolg.
Man ſehe zu, ob denen, welche ſo reden, nicht ſelber alles Verſtändniß fehlt in die Natur des Völkerrechts und des öffentlichen Rechts überhaupt.
Die inneren Verfaſſungsänderungen eines Stats und die Wechſel der Fürſten und Dynaſtien ſind meiſtens Vorgänge in dem Leben eines einzelnen Volkes und States und eben deßhalb zunächſt ſtaatsrechtlich, nicht völkerrechtlich zu beurtheilen. Das Völkerrecht ordnet nicht die einzelnen Staten, ſondern nur die Beziehungen der Staten zu einander. Erſt in zweiter Linie tritt daher an das Völkerrecht die Frage heran, ob ein Stat, der eine ſolche Umwandlung erfahren hat und ſeine thatſächlich die Statsgewalt ausübende Regierung auch in der Statengemeinſchaft und im Statenverkehr als ſouveräne Perſonen anzuerkennen ſeien. Für
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das völkerrechtliche Verhalten iſt daher die ſtatsrechtliche Erledigung gewöhnlich Maß gebend. Jene Vorwürfe, auch wenn ſie gerecht wären, würden daher eher das moderne Statsrecht treffen als das Völkerrecht, welches genöthigt und berufen iſt, die ſtatlichen Bildungen, wie ſie in der Welt exiſtiren, neben einander anzuerkennen und mit einander zu verbinden.
In der europäiſchen Reſtaurationsperiode von 1815 bis 1830 verſuchten es die Mächte der Heiligen Allianz auf den Congreſſen von Aachen und mehr noch auf den Congreſſen von Laibach und Verona das Princip der dynaſtiſchen Legitimität zu einem Grundgeſetz des europäſchen Völkerrechts zu erheben. Jede conſtitutionelle Beſchränkung der abſoluten Fürſtengewalt und jede Aenderung in dem neu garantirten Territorialbeſitz wurden als Revolution verdammt und der Schutz der beſtehenden Statsautoritäten als eine Pflicht der fünf Großmächte dargeſtellt, welche berufen ſeien, das öffentliche Recht in Europa zu ſichern und zu ſchützen.
Die Weltgeſchichte hat über den damaligen Verſuch gerichtet, ſie hat die Unausführbarkeit desſelben an den Tag gebracht und die Mängel jenes Grundgedankens ſchonungslos aufgedeckt.
Die mittelalterliche Vorſtellung, welche von der Legitimitätspolitik zu einem künſtlichen Scheinleben wieder erweckt wurde, betrachtete die Landesherrſchaft wie ein göttliches Lehen und wie ein Stamm- und Erbgut der Dynaſtien, worüber beliebig zu verfügen dem regierenden Familienhaupte zuſtehe, welches ſo wenig der Wandlung ausgeſetzt ſei, wie das feſte der Privatperſon gehörige Grundeigenthum. Von dieſem Standpunkte aus erſchien der Kampf um die Regierung eines Landes wie der Kampf zwiſchen Eigenthümer und Räuber. Nach dem Grundſatze ſolcher Legitimität galt es als ſelbſtverſtändlich, daß das geſchichtlich begründete Thronrecht unter allen Umſtänden, wie ein Eigenthum erhalten werden müſſe wider jede Beſitzſtörung.
Aber dieſe ganze Grundanſicht von Fürſtenrecht iſt noch unreif und beinahe kindiſch. Das Recht und die davon nicht abzutrennende Pflicht, ein Volk zu regieren, iſt in Wahrheit kein Privat- und kein Familienrecht, es iſt kein Eigenthum. Das Volk iſt eine lebendige Perſon und der Fürſt iſt nicht außer und nicht wie der Eigenthümer einer Herde Vieh über ſondern in dem Volke als das Haupt des Volkes. Sein Recht iſt öffentliches Recht und öffentliche Pflicht, Statsrecht und Statspflicht. Alle Fragen der Statsherrſchaft ſind daher nicht nach den privatrechtlichen
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Einleitung.
Geſetzen über Eigenthum und Beſitz, nicht nach den ſtrafrechtlichen Begriffen von Raub und Diebſtahl, ſondern von dem Standpunkte des Volkes und des States aus und ihrer Entwicklung zu beurtheilen.
Das aber hat allmählich, nicht ohne Fehlſchritte und Mißgriffe, das moderne Völkerrecht begriffen, indem es den vielfältig durchlöcherten Schnürleib der alten Legitimitätsdoctrin abgelegt hat.
Es war ein großer Fortſchritt in der Rechtserkenntniß, als man endlich einſah, daß die Völker lebendige Weſen ſeien und daß demgemäß auch das Verfaſſungs- und Statsrecht, welches als Organiſation und gleichſam als Leib des Volkes ſein Leben bedingt und darſtellt, diejenigen Wandlungen vornehmen muß, welche nöthig ſind, um die Entwicklung des Volkslebens zu ermöglichen und zu begleiten. Der Rechtsbegriff ſelbſt wurde dadurch vergeiſtigt. Zuvor war er todt und kalt. Jetzt wurde er voll Leben und Wärme.
Die Wiſſenſchaft iſt noch in dieſer den Charakter alles öffentlichen Rechts wandelnden Arbeit begriffen, wie die Welt in der Bewegung begriffen iſt, aus dem mittelalterlichen Herren- und Landesrecht die modernen Volksſtaten hervorzubilden.
Aber heute ſchon dürfen wir getroſt als ein Ergebniß der Kämpfe und Errungenſchaften unſers Jahrhunderts folgende moderne von dem heutigen Völkerrecht wenigſtens ſtatsrechtlich gebilligte Rechtsſätze ausſprechen:
Die Autorität des geſchichtlichen und formulirten Rechts verliert in dem Maße ihre Macht, in dem es offenbar wird, daß dasſelbe das Leben des States gefährde ſtatt demſelben zu dienen und die Entwicklung des öffentlichen Rechts unmöglich macht, ſtatt dieſelbe zu reguliren. Alles öffentliche Recht gilt nur, inwiefern es lebenskräftig iſt. Neben dem Recht der ſtatlichen Exiſtenz iſt auch das Recht der nationalen Entwicklung anzuerkennen. Das Völkerrecht ehrt die Ergebniſſe der Weltgeſchichte und betrachtet die Verhältniſſe, welche ſich als nothwendige und fortwirkende Grundlagen und Bedingungen des derzeitigen Völkerlebens manifeſtiren, nicht bloß als zu duldende Thatſachen, ſondern als geſchichtliche Fortbildung des Rechts. Das Völkerrecht achtet das Recht der Völker, die Form ihres gemeinſamen Verbandes und ihres gemeinſamen Lebens, d. h. ihre Verfaſſung ſelber zu beſtimmen.
Bei näherer Erwägung zeigt ſich, daß jene Anklage des modernen Völkerrechts, als ſei es rechtlos geworden, völlig eitel iſt. Ganz im Gegentheil, es iſt der höchſte Vorzug und die Ehre der modernen Rechtsanſicht,
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Einleitung.
daß ihr das Recht ſelbſt nicht mehr als ein todtes und als ein Hinderniß des Lebens, ſondern als ein lebendiges und entwicklungsfähiges erſcheint. Die Selbſtvervollkommnung iſt die Aufgabe der Menſchheit, auf dem Gebiete des Rechtes nicht minder als in allen andern Richtungen humaner Cultur.
Die angeführten einzelnen Momente mögen genügen, um die großen Fortſchritte zu veranſchaulichen, welche das Völkerrecht in neuerer Zeit wirklich gemacht hat, wenngleich ſie auch darauf hinweiſen, daß noch weitere Fortſchritte zu machen ſind, wenn die civiliſatoriſche Aufgabe des Völkerrechts erfüllt und eine humane Weltordnung hergeſtellt werden ſoll.
Wie die Wiſſenſchaft für die Begründung und Erkenntniß des Völkerrechts entſcheidend geworden iſt, ſo hat ſie die Pflicht, auch ſeine Fortſchritte vorzubereiten, zu beleuchten und zu begleiten. Obwohl nun die Praxis der Staatsmänner die Leitung übernommen hat, ſo hängt doch die Wirkſamkeit des Völkerrechts hauptſächlich davon ab, daß ſeine Grundſätze und Grundgedanken von der öffentlichen Meinung gekannt und gebilligt werden und daß das öffentliche Gewiſſen darüber aufgeklärt werde. Je allgemeiner die Rechtsſätze des Völkerrechts verbreitet und verſtanden werden, je beſtimmter und entſchiedener das Rechtsbewußtſein der civiliſirten Menſchheit ſich entfaltet, umſomehr iſt auch die Wirkſamkeit des Völkerrechts in der Welt geſichert. In dem Völkerrecht voraus bethätigt ſich noch der Erweis des Geiſtes und der Kraft. Sein flüſſiger Stoff iſt noch nicht, wie die andern Rechtsordnungen, zu feſter abgeſchloſſener Form geſtaltet, aber unaufhaltſam wächſt es ſeiner Beſtimmung und ſeinem Ende, dem humanen Weltrecht entgegen.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 4
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Rechtsbuch.
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Erſtes Buch. Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.
1.
Völkerrecht iſt die anerkannte Weltordnung, welche die verſchiedenen Staten zu einer menſchlichen Rechtsgenoſſenſchaft verbindet, und auch den Angehörigen der verſchiedenen Staten einen gemeinſamen Rechtsſchutz gewährt für ihre allgemein menſchlichen Rechte.
1. In der Anerkennung der Weltordnung liegt mehr als in der „Erkenntniß“ derſelben. Dieſe kann bloße Theorie ſein, jene bedeutet zugleich die Bewährung derſelben im Völkerleben. Das Wiſſen allein bildet noch kein Recht; erſt wenn die Macht des Rechtsbewußtſeins ſich in der Praxis offenbart, iſt eine Rechtsordnung da.
2. Zunächſt ordnet das Völkerrecht das Verhältniß der Staten zu einander. Sein Hauptinhalt iſt öffentliches Recht. Inſofern kann es auch, von den einzelnen Staten aus betrachtet, „äußeres Statsrecht“ genannt werden. Der Name iſt aber ungenau, weil das Völkerrecht von weſentlich univerſeller Natur, weil es das Recht der Menſchheit iſt. Schon Hugo Grotius hat das erkannt. Prol. 17: „Sicut cujusque civitatis jura utilitatem suae civitatis respiciunt, ita inter civitates aut omnes aut plerasque ex consensu jura quaedam nasci potuerunt et nata apparet, quae utilitatem respicerent non coetuum singulorum sed magnae illius universitatis, et hoc jus est quod gentium dicitur“. Daneben ordnet das Völkerrecht aber auch die überall gleichmäßig wirkſamen und unter den Schutz der civiliſirten Welt geſtellten Rechtsverhältniſſe der Privatperſonen, und heißt inſofern „internationales Recht“ im engern Sinn. Dieſe zweite Bedeutung des Völkerrechts iſt aber noch weniger entwickelt als die erſte und gewährt
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Erſtes Buch.
nur einen mittelbaren Schutz, durch Vermittlung der Staten. Der engliſchamerikaniſche Sprachgebrauch nennt das Völkerrecht überhaupt „international law“, verſteht aber unter nation, wie der franzöſiſche das, was wir Volk (populus) heißen, d. h. das zum Stat organiſirte Gemeinweſen, den lebendigen Stat, nicht die bloße Sprach- und Culturgemeinſchaft, welche wir Deutſche Nation heißen.
2.
Die gemeinſame Menſchennatur iſt das natürliche Band, welches alle Völker zur Einen Menſchheit verbindet. Daher hat jedes Volk ein natürliches Recht, in ſeiner Menſchennatur von den andern Völkern geachtet zu werden und die Pflicht, dieſelbe Menſchennatur in dieſen zu achten.
Das iſt die menſchliche Rechtsgleichheit der Völker.
In allen Zeiten haben einzelne Weiſe dieſe Wahrheit erkannt; aber Anerkennung hat dieſelbe erſt in dem neueren Völkerrecht gefunden, und heute noch ſtehen ihrer allgemeinen Durchführung als Rechtsſatz vielfältige Vorurtheile, Glaubensund Raſſenhaß und Selbſtſucht als Hinderniſſe im Wege.
3.
Es hängt nicht von der Willkür eines States ab, das Völkerrecht zu achten oder zu verwerfen. Da ſich kein Stat ſeiner Menſchennatur entledigen kann, ſo darf er ſich auch ſeiner Menſchenpflicht nicht entziehen.
1. Wäre das Völkerrecht ausſchließlich das Erzeugniß des freien Willens der einzelnen Staten, ſo wäre im Grunde alles Völkerrecht Vertragsrecht, d. h. kein Stat wäre andern Staten gegenüber verpflichtet, völkerrechtliche Sätze zu beachten, wenn dieſelben nicht durch Statenvertrag ſanctionirt wären. Es bliebe dann ſogar unerklärt, weshalb denn die Verträge die Staten auch dann noch binden, wenn der Wille der Vertragsparteien ſich ändert, weßhalb nicht jede Willensänderung eine Rechtsänderung nach ſich zieht. Die Verbindlichkeit des Völkerrechts ſetzt die Nothwendigkeit deſſelben im Gegenſatze zur Willkür voraus.
2. Auf dem Congreß zu Aachen im Jahre 1818 wurde von den 5 europäiſchen Großmächten die Verbindlichkeit des europäiſchen Völkerrechts — ſowohl für ihre wechſelſeitigen Beziehungen als im Verhältniß zu andern Staten — anerkannt. Protokoll v. 15. Nov. 1818: „Les souverains en formant cette union auguste, ont regardé comme la base fondamentale, leur invariable résolution de ne jamais s’écarter, ni entre eux ni dans leurs relations avec d’autres états, de l’observation la plus stricte des principes du droit des gens, principes qui dans leur application à un état de paix permanent, peuvent seuls garantir éfficacement l’indépendance de chaque gouvernement et la stabilité de l’association générale“.
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Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.
4.
In demſelben Verhältniß, in welchem das Gemeinbewußtſein der Menſchheit an Klarheit und Energie zunimmt, wächſt auch das Völkerrecht in Inhalt und Geltung, denn das Völkerrecht geht aus dem Rechtsbewußtſein der Menſchheit hervor.
Vgl. darüber die Einleitung.
5.
Die civiliſirten Nationen ſind vorzugsweiſe berufen und befähigt, das gemeine Rechtsbewußtſein der Menſchheit auszubilden, und die civiliſirten Staten voraus verpflichtet, die Forderungen deſſelben zu erfüllen. Deßhalb ſind ſie vorzugsweiſe die Ordner und Vertreter des Völkerrechts.
Das Weſen der Civiliſation beſteht, wie ſchon der große Dante erklärt hat, in der harmoniſchen Ausbildung univerſeller Menſchlichkeit, der Humanität. Das Völkerrecht iſt eine der edelſten Früchte der Civiliſation, denn es iſt ſeinem Weſen nach eine menſchliche Ordnung. Der Anſpruch der europäiſchen und amerikaniſchen Staten, vor den andern Völkern die Träger und Schirmer des Völkerrechts zu ſein, wäre eine eitle Anmaßung, wenn derſelbe ſich nicht auf die höhere Civiliſation jener Staten gründete.
6.
Wenn gleich das heutige Völkerrecht vorerſt unter den chriſtlichen Nationen ausgebildet worden iſt, und der chriſtlichen Religion vielfältige Anregung zu danken hat, ſo iſt es dennoch nicht an das chriſtliche Bekenntniß gebunden und nicht auf die chriſtliche Welt beſchränkt.
Seine eigentliche Grundlage iſt die Menſchennatur, ſein Ziel iſt die menſchliche Weltordnung, ſeine Mittel ſind ſtatliche Rechtsmittel, und ſeine Ausbildung iſt das Werk der menſchlichen Wiſſenſchaft und Praxis.
Das Völkerrecht verbindet als allgemeines Menſchenrecht Chriſten und Muhammedaner, Brahmaniſten und Buddhiſten, die Anhänger des Kongfutſü und die Verehrer der Geſtirne, die Gläubigen und die Ungläubigen.
1. Im Gegenſatze zu der wiſſenſchaftlichen Begründung und Darſtellung des Völkerrechts hatte die „Heilige Allianz“ der drei öſtlichen Mächte (14/26. Sept. 1815) nochmals den Verſuch gemacht, daſſelbe auf die chriſtliche Religion zu baſiren. L’empereur d’Autriche, le Roi de Prusse et l’empereur de Russie — déclarent solennellement que le présent acte n’a pour objet que de manifester à la face de l’Univers leur détermination inébranlable, de ne prendre pour règle
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Erſtes Buch.
de leur conduite, soit dans l’administration de leurs états respectifs, soit dans leurs relations politiques avec tout autre gouvernement, que les préceptes de cette religion sainte, préceptes de justice, de charité et de paix, qui loin d’être uniquement applicables à la vie privée, doivent au contraire influer directement sur les résolutions des princes et guider toutes leurs démarches comme étant le seul moyen de consolider les institutions humaines et de remédier à leurs imperfections.“ Der Verſuch mußte grundſätzlich mißlingen, weil Chriſtus überhaupt keine äußere Weltordnung eingeführt und keine Rechtsgeſetze gegeben hat und er ſcheiterte thatſächlich als der Widerſtreit der Intereſſen die Alliirten entzweite, die neuen Bedürfniſſe nach einer neuen Rechtsgeſtaltung drängten, und der ſelbſtbewußte Geiſt der europäiſchen Philoſophie und Rechtswiſſenſchaft aus dem träumeriſchen Schlummer der Reſtaurationszeit wieder aufwachte.
2. Die Religion verbindet die Menſchen mit Gott, das Recht ordnet die Beziehungen der Menſchen zu den Menſchen. Die völkerrechtlichen Fragen ſind daher nicht aus der Glaubenslehre, ſondern nach menſchlichen Grundſätzen zu entſcheiden. Die Beſchränkung des Völkerrechts auf die chriſtlichen Staten mochte dem glaubenseifrigen und unduldſamen Geiſt des Mittelalters ebenſo natürlich erſcheinen, wie der gleichzeitige Anſpruch der islamitiſchen Staten auf die Tributleiſtung der Ungläubigen. Die heutige Menſchheit fühlt und kennt ihre Zuſammengehörigkeit, wenn gleich verſchiedene Religionen in ihr wirken. Ein Stat erwirbt nicht deßhalb beſondere Rechte gegen einen andern Stat, weil in jenem das Chriſtenthum und in dieſem der Islam verbreitet iſt, und ſeiner Menſchenpflicht kann ſich Niemand aus dem Grunde entziehen, weil er orthodox und der Andere nicht orthodox iſt. So wenig das menſchliche Auge oder Ohr in Folge des religiöſen Glaubens andere Eigenſchaften erhält, eben ſo wenig wird das menſchliche Recht durch den Glauben geändert.
7.
Das Völkerrecht iſt nicht auf die europäiſche Völkerfamilie beſchränkt. Das Gebiet ſeiner Herrſchaft iſt die ganze Erdoberfläche, ſo weit auf ihr ſich Menſchen berühren.
Das heutige Völkerrecht iſt vorerſt inmitten der chriſtlichen und der europäiſchen Völkerfamilie, zu welcher natürlich die Colonien in Amerika mit zu rechnen ſind, entſtanden und wird durch ihre Einflüſſe allmählich über den Erdball hin ausgebreitet. Vgl. § 111. Die germaniſche und die romaniſche Raſſe haben das Meiſte dazu gethan. Aber gerade weil der Geiſt dieſer Raſſen einen univerſellen Charakter hat, und nach Humanität trachtet, ſo verwirft er grundſätzlich jede Beſchränkung des Völkerrechts auf beſtimmte Völker und will allen Völkern gerecht werden. Dieſe Wahrheit war ſchon von Pufendorf und Montesquieu klar gemacht worden, und dennoch hat bis tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein die mittelalterliche Beſchränkung auf die chriſtlichen Staten in der Litteratur und in der Praxis ſich erhalten.
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Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.
8.
So weit das Recht der Menſchheit reicht, ſo weit reicht das Völkerrecht. Wo die Eigenthümlichkeit der Staten beginnt, da tritt das beſondere Geſetz dem allgemeinen vor.
Das Völkerrecht hebt die Selbſtändigkeit und Freiheit der Staten nicht auf, ſondern ſetzt dieſelbe voraus und achtet ſie.
Die Ausbildung des Statsrechts iſt der des Völkerrechts vorausgegangen; die Völker ſorgten zunächſt für ſich, und waren anfangs geneigt, die andern Völker als ihre natürlichen Feinde anzuſehen. Spät erſt erweiterte ſich ihr Blick auf das Allgemeine, was ſie zuſammenhält, und ſie lernten in den andern Völkern ihre Brüder erkennen.
9.
Das Völkerrecht nöthigt nur inſoweit einen Stat, ſein bisheriges Sonderrecht außer Wirkſamkeit zu ſetzen oder abzuändern, als daſſelbe mit den nothwendigen Geſetzen des Völkerrechts unverträglich erſcheint.
Die Unterdrückung des Sclavenhandels und der Sclavenmärkte in vielen amerikaniſchen und aſiatiſchen Ländern, das Verbot des Seeraubs gegenüber den Barbareskenſtaten von Nordafrika, die Nöthigung der oſtaſiatiſchen Reiche, dem Welthandel Thore und Wege zu öffnen, mögen als Beiſpiele dienen.
10.
Da die Menſchheit, obwohl ihrer natürlichen Gemeinſchaft und Einheit bewußt geworden, doch nicht als Eine Geſammtperſon und noch nicht einmal als eine Rechtsgenoſſenſchaft organiſirt iſt, ſo wird auch das gegenwärtige Völkerrecht nicht in der Form eines einheitlichen Weltgeſetzes noch in der von ſtatutariſchen Mehrheitsbeſchlüſſen geordnet und verkündet.
Man kann ſich die Menſchheit als eine einheitliche Geſammtperſon, d. h. als Weltſtat denken, ſei es nun in Form einer Weltmonarchie oder eines die Welt umfaſſenden Bundesſtats. (Vgl. Bluntſchli Allgem. Statsrecht Buch 1. Cap. 2.) Aber dieſer Gedanke hat noch keine geſchichtliche Verwirklichung erlebt; es fehlt ſomit an einem Organ für die Weltgeſetzgebung. Unſerer Zeit liegt der Gedanke einer genoſſenſchaftlichen Verbindung der Staten, zunächſt der europäiſchen, näher, aber ſelbſt ein ſolcher allgemeiner Statenbund exiſtirt noch nicht und daher gibt es auch keine rechtliche Möglichkeit, durch Mehrheitsbeſchlüſſe für die ganze Verbindung Vorſchriften zu geben.
11.
Die heutige Welt muß ſich daher mit der weniger vollkommenen
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Erſtes Buch.
Offenbarung des Völkerrechts begnügen, welche in der möglichſt allgemeinen und gleichmäßigen Anerkennung der einzelnen Staten, vorzüglich der civiliſirten Staten liegt.
Da nur die Einzelſtaten als formale Autorität exiſtiren, nicht ihr Verband, ſo iſt der Widerſpruch zwiſchen dem univerſellen Inhalt des Völkerrechts und der particulariſtiſchen Form ſeiner Ausſprache nicht zu vermeiden. Das Völkerrecht erſcheint daher als ein Werk der Einzelſtaten, während es in Wahrheit das Erzeugniß ihres Gemeinbewußtſeins iſt.
Die engliſche Regierung berief ſich im Jahre 1753 in einem Streit mit König Friedrich II. von Preußen auf dieſe urſprüngliche Quelle des Völkerrechts mit den Worten: „Das Völkerrecht iſt gegründet auf Gerechtigkeit und Billigkeit, auf die Natur der Sache und wird beſtätigt durch lange Uebung.“ (Phillimore Intern-Law 1. 21.)
12.
Die Anerkennung völkerrechtlicher Grundſätze kann von den Staten ausgeſprochen werden ſowohl in völkerrechtlicher als in ſtatsrechtlicher Form.
Sie kann gemeinſam von mehreren Staten ausgeſprochen werden auf Congreſſen der Statshäupter mit ihren Miniſtern oder in Conferenzen ihrer Geſanten, durch Protokolle oder in Statsverträgen, ſie kann aber auch einſeitig durch Geſetze oder Verordnungen der Einzelſtaten erklärt oder in der völkerrechtlichen Uebung dargeſtellt werden.
1. Der Unterſchied der Congreſſe und der Conferenzen iſt ein fließender. Wenn die Statshäupter (Fürſten) ſelber zu gemeinſamen Beſchlüſſen zuſammentreten, ſo wird dieſe Zuſammenkunft Congreß genannt; wenn nur die Geſanten zuſammen berathen, ſo heißt das Conferenz. Aber der Charakter des Congreſſes wird nicht verletzt, wenn etwa, wie z. B. auf dem deutſchen Fürſtencongreß zu Frankfurt am Main 1863 anſtatt eines regierenden Königs ſein dazu ermächtigter Sohn oder nach Umſtänden ein anderer Bevollmächtigter an den Verhandlungen Theil nimmt. Der Congreß kann ſogar ohne Fürſten, lediglich aus Bevollmächtigten der Staten zuſammen treten. Umgekehrt es kann auch ein Souverain gelegentlich an den Berathungen der Geſanten Theil nehmen, ohne daß die Conferenz um deßwillen zum Congreſſe wird. Auf den Congreſſen werden entſcheidende Beſchlüſſe gefaßt, auf den Conferenzen werden dieſelben vorbereitet. Zum Congreß können daher nur beſchlußfähige Perſonen zuſammentreten, an Conferenzen auch Perſonen Theil nehmen, welche nicht beſchlußfähig ſind.
2. In den Protokollen werden die gemeinſamen Erklärungen und Beſchlüſſe aufgezeichnet, ausnahmsweiſe auch die Vorbehalte einzelner vertretener Staten angemerkt. Die gemeinſame Erklärung des übereinſtimmenden Willens iſt nur dann ein wirklicher Vertrag, wenn dieſer Wille dahin gerichtet, ſich je den andern Parteien
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Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.
gegenüber dadurch zu verbinden, nicht aber wenn in demſelben nur die Ueberzeugung kund gegeben wird von dem, was allgemeine Rechtsordnung ſei und daher auch von jedem State beachtet werden müſſe (§ 13). Was völkerrechtlich im Gewande des Vertragsrechts erſcheint, iſt bei näherer Prüfung oft dem Weſen nach Geſetzesrecht, d. h. eine Rechtsregel, deren nothwendig verbindliche Kraft durch den Vertrag nur anerkannt und beſtätigt, nicht erſt neu begründet wird.
3. Wenn die Geſetze und Verordnungen der Einzelſtaten völkerrechtliche Verhältniſſe regeln, ſo ſind ſie deßhalb eine Quelle des Völkerrechts, obwohl ſie der formellen Betrachtung ſich nur als ſtatsrechtliche Acte darſtellen. Dahin gehören z. B. die Priſenreglemente, das Nordamerikaniſche Neutralitätsgeſetz u. ſ. f.
13.
Die Uebereinſtimmung der Völker (consensus gentium) wirkt mehr noch als Ausdruck des gemeinſamen Rechtsbewußtſeins der Menſchheit denn als Willensäußerung der einzelnen Staten.
Der Widerſpruch eines einzelnen Stats genügt daher ebenſo wenig, ihn von den offenbaren Pflichten des Völkerrechts zu entbinden, als die Nichtbeachtung einer Rechtsregel in einzelnen Fällen die Uebereinſtimmung der Völker zu entkräften vermag.
1. Der Conſens der Völker bleibt nicht unveränderlich. Er wandelt ſich mit der Zeit und entwickelt ſich mit dem Bewußtſein des Menſchengeiſtes. In den Uebungen der Völker wird ſowohl das Beharrliche als das Veränderliche darin offenbar (§ 14).
2. Das ſogenannte „conventionelle“, d. h. auf Vertragswillen beruhende Völkerrecht iſt nur bindend für die Vertragsparteien; das nothwendige Völkerrecht dagegen bindet, ſoweit ſeine Nothwendigkeit reicht, auch die Staten, welche ſich nicht erklärt haben, ja ſogar diſſentirende Staten. Die Zweifel, ob ein Rechtsſatz nothwendig oder nur conventionel ſei, ſind nicht durch den bloßen Hinweis auf einen Staatsvertrag zu beſeitigen, welcher denſelben ausſpreche, denn in dem Vertrage kann ſowohl conventionelles Recht willkürlich feſtgeſtellt als nothwendiges Recht gemeinſam ausgeſprochen worden ſein. Vgl. unten §. 110.
14.
Aus den Uebungen und Sitten der Völker darf man auf ihr Rechtsbewußtſein und auf die Rechtsgeſetze ſchließen, welche darin ſichtbar werden. Auch die Uebungen ſind nicht unveränderlich noch unverbeſſerlich. Die Vervollkommnung des Völkerrechts zeigt ſich in den verbeſſerten und veredelten Uebungen der Völker.
1. Bynkershoek de Reb. belli praef.: „Ut mores gentium mutan-
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Erſtes Buch.
tur, et mutatur jus gentium.“ Quaest. Jur. Publ. II. 7. „Inter mores gentium, quae nunc sunt et olim fuerunt, sollicite distinguendum est; nam moribus censetur praecipua pars juris gentium.“ De foro leg. praef.: „Scio ex sola ratione aliud atque aliud placere posse; sed scio eam rationem vincere, quam usus probavit. Vgl. auch die Erklärung des engliſchen Oberrichters Lord Stowell bei Phillimore I. 46.
2. Gefährlich und ungenau iſt der Ausdruck bei Vattel Prélim. §. 26.: Lorsqu’une coutume, un usage est généralement établi, si elle est utile et raisonnable, elle devient obligatoire pour toutes ces nations-là, qui sont censées y avoir donné leur consentement; et elles sont tenues à l’observer les unes envers les autres, tant qu’elles n’ont pas déclaré expressément ne vouloir plus la suivre. Soweit in jenen Uebungen nothwendiges Recht offenbar wird, dürfen ſich die Staten nicht losſagen; nur ſo weit ſie willkürlich ſind, können ſie auch willkürlich beſeitigt werden.
15.
Wenn die herkömmlichen Uebungen im Widerſpruch ſind mit den ewigen Grundſätzen des natürlichen Menſchenrechts oder von dem fortſchreitenden Rechtsbewußtſein der civiliſirten Völker gemißbilligt werden, ſo ſind dieſelben nicht oder nicht mehr rechtsverbindlich für die einzelnen Staten und iſt eine Verbeſſerung derſelben nothwendig.
Die Abſchaffung der Sclaverei und des Beuterechts iſt überall im Gegenſatz zu den alten Uebungen der Staten durch Verbeſſerung der Völkerſitte eingeführt worden.
16.
Wie in den Uebungen der Völker ſo iſt auch in den Aeußerungen erleuchteter Statsmänner und in den Werken der Wiſſenſchaft das Rechtsbewußtſein der civiliſirten Menſchheit ausgeſprochen. Inſofern die Wiſſenſchaft das Recht darſtellt, dient ſie der Klarheit des Rechts und der Verbreitung der Rechtskunde; in wiefern ſie eine Autorität über die Menſchen übt und die Handlungen und das Verhalten der Staten beſtimmt, wirkt ſie an der Fortbildung der Rechtsordnung ſelber mit.
Hugo Grotius I. 1. XIV. „Probatur (jus gentium) pari modo quo jus non scriptum civile, usu perpetuo et testimonio peritorum.“ Kent (Comm. of th. Am. Law. I. p. 19.): „In cases where the principal jurists agree, the prasumption will be very great in favour of the solidity of their maxims.“ Die Autorität der Rechtswiſſenſchaft iſt freilich nur eine Folge des Glaubens an ihre Erkenntniß des Rechts, das vor ihr ſchon da war, und nicht wie die Autorität des Geſetzgebers eine urſprüngliche Rechtsmacht. Aber
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Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.
der Mangel einer völkerrechtlichen Geſetzgebung erhöht den Werth der ſecundären Rechtsquellen. Indem die Wiſſenſchaft vornehmlich das Völkerrecht vernunftmäßig begründet und mit Autorität verkündet, hilft ſie jene Lücke ausfüllen. Hugo Groot hat in ſeinem berühmten Werk, welches die Grundlage der neuern Wiſſenſchaft vom Völkerrecht geworden iſt, ſich vornehmlich auf die Zeugniſſe weiſer Männer berufen, und iſt dann ſelber wieder zur Autorität für die Nachfolger geworden. Wenn heute Wheaton und Phillimore, Wildmann und Kent, Heffter und Oppenheim einig ſind in der Darſtellung eines Rechtsſatzes, ſo wird man, auch ohne vertragsmäßige Beurkundung und trotz zweifelhafter Uebung geneigt ſein, denſelben als modernes Völkerrecht zu betrachten. Freilich hat die kritiſche Prüfung den Ausſprüchen der Schriftſteller gegenüber eine größere Freiheit als bezüglich des Vertragsrechts.
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(0085 : [63])
Zweites Buch. Völkerrechtliche Perſonen.
I. Die Staten.
A. Statsperſönlichkeit.
17.
Die Staten ſind völkerrechtliche Perſonnen.
Die Perſönlichkeit iſt eine nothwendige Eigenſchaft der Staten. Perſon im rechtlichen Sinne des Worts heißt ein Weſen, welches fähig iſt, Rechte zu erwerben und zu behaupten und Verpflichtungen auf ſich zu nehmen. Indem der Stat innerhalb ſeines Gebietes die Rechtsordnung ſelbſtändig ordnet, iſt er die höchſte Rechtsperſon. Indem der Stat nach außen mit andern Staaten in Rechtsverhältniſſe eintritt, bewährt ſich ſeine völkerrechtliche Perſönlichkeit.
18.
Das Völkerrecht verbindet die verſchiedenen Staten zu einer gemeinſamen Rechtsordnung, ſowohl repräſentative als abſolute, monarchiſche, wie republikaniſche, große und kleine Staten. Es fordert keine beſtimmte Verfaſſungsform oder Größe. Wo immer eine Völkerſchaft zu einem regierungsmäßig geordneten Ganzen in einem beſtimmten Lande dauernd verbunden iſt, da wird ſie völkerrechtlich als Stat betrachtet.
Die Verfaſſung des States wird zunächſt nach den innern Verhältniſſen eines Volks beſtimmt. Sie iſt die Organiſation des politiſchen Körpers des betreffenden Volks, und bildet die Grundlage des Statsrechts. Erſt wenn der ſchon organiſirte Stat nach außen als Perſon erſcheint und ſich geltend macht, beginnt für ihn die völkerrechtliche Beziehung. Vgl. §§. 39 f. 115 f.
(0086 : 64)
Zweites Buch.
19.
Eine vorübergehende Anarchie hindert die Fortdauer eines States nicht, wenn die Reorganiſation desſelben in Ausſicht bleibt.
Die regierungsmäßige Ordnung kann in einem State momentan durch Aufſtände oder Revolution erſchüttert oder zerſtört werden. Dadurch wird die Perſönlichkeit des States nicht aufgehoben, ſo wenig als der Einzelmenſch dieſelbe einbüßt, wenn der Fieberzuſtand ſeine Handlungsfähigkeit hindert. Frankreich war zur Zeit der Septembermorde 1793 noch ein Stat, wie Neapel, als die Banden Ruffos die Hauptſtadt mit ihren Gräueln erfüllten, Juni 1799. Die Auflöſung der Statsordnung zieht aber den Untergang eines States dann nach ſich, wenn die Wiederherſtellung oder die Neugeſtaltung der Ordnung innerhalb des Volks und Landes als unmöglich erſcheint. Das iſt nur der Fall, wenn eine barbariſche Raſſe die Zügel des Stats abwirft, wie in den Negeraufſtänden von St. Domingo 1791 oder wenn eine ſtatsfeindlich geſinnte Menge, wie die Wiedertäufer im ſechszehnten Jahrhundert und die Communiſten in neuerer Zeit mit Erfolg den Stat verneinen.
20.
Nomadenvölker gelten nicht als Stat, weil ſie keine feſten Wohnſitze und kein eigenes Land haben; aber inſofern ſie als Völker geordnet ſind und durch ihre Häupter oder ihre Verſammlungen einen gemeinſamen öffentlichen Willen haben, werden ſie den Staten ähnlich behandelt und können völkerrechtliche Verträge ſchließen. Die allgemein-menſchlichen Pflichten des Völkerrechts liegen auch ſolchen Völkern ob.
Den Wanderſtämmen fehlt es an der Stätigkeit und meiſtens auch an einer wirkſamen Einheit. Sie ſind hinter der Statenbildung zurück geblieben. Nur wenn ſie ſich dauernd in einem Lande niederlaſſen, wie vormals die Juden in Paläſtina, die arabiſchen Nomaden in Bagdad und Syrien und an den Küſten des Mittelmeeres, die Mongolen in China, die Türken in dem oſtrömiſchen Reiche, können ſie neue Staten bilden. Aber auch während ſie wandern, ſind die Staaten, in deren Gebiet oder an deren Grenzen ſie ſich umher treiben, genöthigt, mit ihnen einzelne Rechtsverhältniſſe durch völkerrechtliche Verträge zu ordnen oder ſie zur Beachtung völkerrechtlicher Pflichten anzuhalten. Die Staten haben ein Recht, den Menſchenraub der Turkmannen zu verhindern und die Beduinen und Kirgiſen zu nöthigen, daß ſie die Pflanzungen der civiliſirten Nationen reſpectiren, wenn gleich jene Völker nicht das Recht von Staten haben.
21.
Dasſelbe gilt von Statsvölkern mit einer Regierung, welche ihr bisheriges Land verlaſſen, um ein neues Gebiet in Beſitz zu nehmen. Sie
(0087 : 65)
Völkerrechtliche Perſonen.
ſind inzwiſchen nicht Staten und daher nicht Mitglieder der Völkergenoſſenſchaft, aber ſie dürfen ſich den allgemeinen Pflichten nicht entziehen und können völkerrechtliche Verträge ſchließen.
Zur Zeit der großen Völkerwanderung zu Anfang des Mittelalters fand dieſer Satz öftere Anwendung. In der heutigen Welt ſind die Staten feſter geworden; aber unmöglich iſt eine Erneuerung ſolcher Auswanderungen nicht, wie ſchon die Hinweiſung auf den Mormonenſtat zeigt.
22.
Die Staten ſind die Träger und Garanten des Völkerrechts und inſofern völkerrechtliche Perſonen im höchſten Sinne des Worts.
Erſt ſeit der Auflöſung der Einen romano-germaniſchen Chriſtenheit des Mittelalters in eine Anzahl ſelbſtändiger europäiſcher Staten iſt das heutige Völkerrecht entſtanden. Es ruht auf der Nothwendigkeit des menſchlich geordneten Nebeneinander der Staten, es wird gehandhabt durch die Autorität und geſchützt durch die Macht dieſer Staten. Käme es zu einer neuen einheitlichen Geſammtordnung und zu gemeinſamen Organen ihres Willens, ſo würde die gegenwärtige nicht organiſirte Völkergenoſſenſchaft zum organiſirten Weltreich geeinigt, und das heutige Völkerrecht in die Form des Weltrechts in höherem Sinne übergehen. Vgl. oben § 10.
23.
Die einzelnen Menſchen ſind keine völkerrechtliche Perſonen in dieſem Sinne. Aber ſie haben Anſpruch auf den Schutz des Völkerrechts, wenn in ihrer Perſon die von dem Völkerrecht gewährleiſteten Menſchenrechte mißachtet worden ſind.
Die Anlage zum Weltbürgerrecht iſt bereits ſichtbar, aber ihre Ausbildung iſt nur möglich, wenn es zu der politiſchen Organiſation der Welt kommen wird. Der Einzelne iſt zunächſt als Individuum eine Privatperſon, ſodann hat er als Bürger der Gemeinde und des Stats Antheil an den öffentlichen Rechten der Gemeinde und des Stats. Dort hat er auf Privatrecht, hier auf Statsrecht Anſpruch. Auch ſeine Menſchenrechte werden zunächſt im State und durch die Rechtspflege des States geſchützt. Seine menſchliche Perſönlichkeit reicht aber über den Stat hinaus. „Das gemeinſame Vaterland iſt die Erde“. Heffter §. 15. Daher kann auch der Einzelmenſch vorzüglich als Landesfremder in Beziehungen kommen, welche durch das Völkerrecht geſchützt werden. Gäbe es ein Weltreich, ſo wäre er in dieſem Weltbürger. Da es nur ein lockeres Nebeneinander der Staten gibt, ſo iſt er genöthigt, zunächſt bei dem State, dem er als Statsgenoſſe angehört, auch die völkerrechtliche Hülfe zu ſuchen. Indeſſen zeigt ſich auch darin die noch unvollſtändig entwickelte Anlage zu höherer Statengemeinſchaft, daß auch fremde Staten ſich aus völkerrechtlichen Gründen des verletzten „Weltbürgers“ annehmen können, und oft an-
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 5
(0088 : 66)
Zweites Buch.
nehmen, wenn es an dem Schutz des genöſſiſchen States fehlt. In unzähligen Fällen ſind ſo in Aſien Europäer von engliſchen oder ruſſiſchen Geſanten geſchützt worden, die weder dem engliſchen noch dem ruſſiſchen Statsverband angehörten.
24.
Auch die Parteien, ſelbſt die organiſirten Kriegsparteien gelten, wenn ſie nicht Staten ſind, nicht als völkerrechtliche Perſonen im eigentlichen Sinn, obwohl ſie völkerrechtliche Pflichten zu beachten und je nach Umſtänden durch das Völkerrecht geſchützte Anſprüche haben.
Ein Verſuch zur Statenbildung zeigt ſich zuweilen in der Organiſation von Kriegsparteien, welche ſich ſtatliche Macht aneignen. Aber ſo lange ſie es nicht zu wirklicher Statenbildung gebracht haben, können ſie auch nicht als Glieder des Statenvereins angeſehen werden. Von der Art waren z. B. die aufſtändiſchen Bewohner der Vendée, während der franzöſiſchen Revolution, die Tyroler im Jahr 1809, das Corps von Schill 1813, die Freiſchaar Garibaldi’s 1860. Vgl. unten Buch VIII. Cap. I.
25.
Nationale Gemeinſchaften, welche keine ſtatliche Organiſation erhalten haben, ſind weder im Stats- noch im Völkerrecht Perſonen geworden. Aber ſoweit in ihnen das allgemeine Menſchenrecht zu ſchützen iſt, iſt der Schutz des Völkerrechts begründet.
Inwiefern die Nationen zugleich politiſche Völker geworden ſind oder den Hauptſtoff von Völkern bilden, bedürfen ſie keines beſondern völkerrechtlichen Schutzes. Der Statsſchutz genügt. Wohl aber wird ein völkerrechtlicher Schutz Bedürfniß, wenn Nationen, welche nicht im State eine politiſch geſicherte Stellung haben, in einer das Menſchenrecht mißachtenden Weiſe von dem State ſelber unterdrückt werden, auf deſſen Schutz ſie zunächſt angewieſen ſind. Es iſt ein auffallender Mangel des zeitigen Völkerrechts und eine Ueberſpannung der Statsſouveränetät, daß für dieſen Schutz noch ſo wenig geſorgt iſt. Die gewaltſame Ausrottung der barbariſchen Ureinwohner in dem Machtgebiete europäiſcher und amerikaniſcher Colonien, wie z. B. der Indianer in Amerika, iſt eine Verletzung des Völkerrechts. Aber auch die zeitweiſen Judenhetzen in europäiſchen Staten ſind nicht bloß ſtats- ſondern ebenſo völkerrechtswidrig.
26.
Die chriſtlichen Kirchen ſind keine völkerrechtlichen Perſonen im obigen Sinn, indem ſie nicht Träger und Garanten des Völkerrechts ſind, aber ſie ſind den Staten ähnliche Perſonen und können mit den Staten
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Völkerrechtliche Perſonen.
in Rechtsbeziehungen treten, welche einen mehr oder weniger ausgeprägten völkerrechtlichen Charakter haben.
Im Mittelalter betrachtete ſich die römiſch-katholiſche Kirche als oberſte völkerrechtliche Autorität. Das heutige Völkerrecht aber beruht nicht auf einer religiöſen und kirchlichen, ſondern allein auf politiſcher und ſtatlicher Autorität. Aber es erkennt die Perſönlichkeit der Kirchen an und betrachtet die Verträge zwiſchen Kirche und Stat beſonders dann ähnlich wie die Verträge zwiſchen Stat und Stat, wenn die Kirche nicht bloß auf das Statsgebiet begränzt iſt, und ihr ſelbſtändiger Charakter auch in der Organiſation ausgebildet erſcheint. Am deutlichſten zeigt ſich das in den Concordaten zwiſchen einzelnen Staten und dem päpſtlichen Stuhl. Aber auch eine Landeskirche kann vertragsmäßige Rechte haben gegenüber dem State, mit dem ſie verbunden iſt. Nur wird dann das Verhältniß eher einen ſtats- oder privatrechtlichen, ſeltener einen völkerrechtlichen Charakter haben.
27.
Die Statshäupter (Souveräne) und die Geſanten der Staten ſind nur in abgeleitetem Sinne als völkerrechtliche Perſonen inſofern zu betrachten, als ſie als Organe oder Repräſentanten der Staten erſcheinen und mit andern Staten in Beziehung treten.
Es gilt das nicht allein von den Fürſten, ſondern auch von republikaniſchen Regierungen, ebenſo nicht bloß von den eigentlichen Geſanten, ſondern von den diplomatiſchen Perſonen überhaupt. Sie alle aber ſind nur völkerrechtliche Perſonen in mittelbarem Sinne, durch Vermittlung der Staten als der eigentlichen völkerrechtlichen Perſonen. Hören ſie auf, Organe oder Vertreter der Staten zu ſein, ſo erliſcht damit ihre völkerrechtliche Bedeutung von ſelbſt.
2. Entſtehung und Anerkennung neuer Staten.
28.
Die neue Statenbildung iſt ein geſchichtlicher Vorgang in dem politiſchen Leben der Völker.
Das Völkerrecht ſchafft nicht neue Staten, aber es verbindet die gleichzeitig vorhandenen Staten zu einer gemeinſamen menſchlichen Rechtsordnung.
5*
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Zweites Buch.
Das Völkerrecht erkennt die dauerhaften Ergebniſſe der Weltgeſchichte als rechtsbeſtändig an.
Bei der Statenbildung wirken verſchiedene politiſche Kräfte zuſammen, der Ordnung und der Freiheit, der Macht und des Willens, der inſtinctiven Triebe und des leitenden Gedankens, der inneren oder äußeren Nöthigung und der freien Selbſtbeſtimmung. Je nachdem ein Factor als entſcheidende Autorität erkannt und anerkannt wird, erhält der Stat ſeine beſondere Verfaſſungsform, denn wer die höchſte Autorität hat, der nimmt gewöhnlich die Zügel des Regiments in ſeine Hand. Nur die Geſchichte macht es offenbar, ob ein Fürſt, oder eine Ariſtokratie oder die Gemeinde der Bürger die öffentlichen Angelegenheiten leite. Das Alles ſind nicht völkerrechtliche ſondern ſtatsrechtliche Bildungen und Beſtimmungen (Bluntſchli, Allg. Statsrecht. Buch III.). Das Völkerrecht ſetzt das Nebeneinander der Staten voraus, wie ſie geſchichtlich geworden ſind. Die vorhandenen Staten verpflichtet es, gemeinſame Rechtsgrundſätze zu beachten.
Da das Völkerrecht ſelbſt durch die Weltgeſchichte fortgebildet wird, ſo muß es auch im übrigen die Ergebniſſe der Weltgeſchichte reſpectiren.
29.
Die Frage, ob, aus welchen Urſachen und in welcher Form ein neuer Stat entſtanden ſei, iſt voraus ſtatsrechtlich.
Die Frage dagegen, ob und in welcher Stellung ein neu gebildeter Stat in der Genoſſenſchaft der Staten Zutritt erhalte, iſt weſentlich völkerrechtlich.
Die Aufnahme des neuen States in die völkerrechtliche Statengemeinſchaft geſchieht durch die Anerkennung der bisherigen Staten.
Die Frage, ob ein wirklicher Stat exiſtire, und was für eine Verfaſſung er habe, iſt zunächſt eine Frage, welche ohne Rückſicht auf andere Staten lediglich im Hinblick auf das beſtimmte, zu einem Stat geeinigte und in einem beſonderen Lande organiſirte Volk, d. h. welche ſtats- nicht völkerrechtlich zu beantworten iſt. Aber wenn ein neuer Stat mit andern Staten in Beziehungen tritt, dann iſt für dieſe die Ueberlegung nöthig, ob auch wirklich eine neue Statsperſönlichkeit da ſei, auf welche die Rechte und Pflichten des Völkerrechtes paſſen. Als die nordamerikaniſchen Colonien ſich von England losriſſen, war dieſer geſchichtliche Vorgang zunächſt ein Ereigniß innerhalb des engliſchen Stats und vorerſt nach engliſchem Statsrecht zu beurtheilen; in dem Maße aber, in welchem die Colonien ihre Selbſtändigkeit erkämpften und zu neuen Staten wurden, entſtand ein neues Statsrecht der nordamerikaniſchen Republiken, und in Folge deſſen eine neue völkerrechtliche Beziehung derſelben zu andern Staten. Die Frage, ob dieſe Staten auch von den übrigen europäiſchen Staten anerkannt werden ſollen, war nach völker-
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Völkerrechtliche Perſonen.
rechtlichen Grundſätzen zu entſcheiden. Wie die Statenbildung ſo geht auch das Statsrecht in dieſen Dingen dem Völkerrechte vorher.
30.
Die Anerkennung des bei der Neubildung betheiligten und vielleicht dadurch verletzten alten Stats hat eine ſtärkere Wirkung als die Anerkennung von Seite der unbetheiligten und daher neutralen Staten, aber es iſt nicht nothwendig, daß die erſtere der letzteren vorausgehe, wenn gleich ſie einmal vollzogen eher die letztere nachzieht.
Die Anerkennung von Seite des alten betheiligten States hebt die Zweifel und beendigt den Streit über die Neubildung. Sie drückt derſelben daher den Stempel der Rechtmäßigkeit auf. Vgl. darüber die Rede des Miniſters Canning bei Phillimore II. §. 11. Aber es wird dem betheiligten alten Stat oft ſchwerer, den neuen Stat anzuerkennen, als den unbefangenen dritten Staten. So hat, um nur Beiſpiele aus dem letzten Jahrhundert zu geben, Frankreich früher die Vereinigten Staten von Nordamerika anerkannt, als der Mutterſtat England, und hinwieder England früher die ſüdamerikaniſchen Staten als der Mutterſtat Spanien, die meiſten europäiſchen Mächte früher das Königreich Italien, als das mittelbar betheiligte Oeſterreich und dieſes früher als das unmittelbar betheiligte Papſtthum.
31.
So lange noch der offene Kampf über die neue Statenbildung fortdauert und es demgemäß zweifelhaft iſt, ob wirklich ein neuer Stat entſtanden ſei, iſt kein anderer Stat verpflichtet, den neuen Stat anzuerkennen.
Beiſpiele aus neuerer Zeit ſind die eine Zeit lang verfehlten Verſuche der ſüdamerikaniſchen Colonien ſich loszureißen von den Mutterſtaten, die unglücklichen Kämpfe der Polen 1830/32, 1863 und der Magyaren 1848/49 für Herſtellung eines beſonderen States, der nordamerikaniſche Südbund 1861—1865.
32.
Es kommt, in Ermanglung eines Weltgerichts, jedem vorhandenen State zu, ſelbſtändig zu beurtheilen, ob die Neubildung eines States den zeitigen Bedürfniſſen des Völkerlebens entſpreche und eine ausreichende ſtatliche Kraft vorhanden ſei, um der Neubildung Sieg und Dauer zu verleihen. Wenn er ſich überzeugt, daß dieſe Fragen zu bejahen ſeien, ſo iſt er auch berechtigt, den neuen Stat als Stat anzuerkennen, obwohl der Kampf noch fortdauert.
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Zweites Buch.
In dieſer frühzeitigen Anerkennung liegt keine Theilnahme an dem Kampf und keine Rechtsverletzung gegen den Stat, welcher ſeinerſeits die neue Statenbildung bekämpft.
Beiſpiele ſind die Anerkennung der Vereinigten Staten durch Frankreich im Jahr 1778 während des engliſch-amerikaniſchen Kriegs und die Verhandlungen zwiſchen Frankreich und England darüber (vgl. Wheaton (hist. d. Droit des gens I. p. 354) die Anerkennung der ſüdamerikaniſchen Staten durch England 1825 (Depeſchen von Canning bei Phillimore II. App. 1.), der Vertrag zwiſchen England, Frankreich und Rußland vom 6. Juli 1827 über Griechenland als einen neuen Stat, die Anerkennung des Königreichs Belgien durch die V Mächte 1830 trotz der Einſprache des Königs der Niederlande, die Anerkennung des Königreichs Italien auch in dem Neapolitaniſchen Gebiete und in der Romagna durch England, während der König Franz II. von Neapel noch in Gaëta ſich zu halten ſuchte. (Vgl. die merkwürdige Note Lord Ruſſels vom 27. Oct. 1860.)
33.
Die frühzeitige Anerkennung kann jedoch in der Abſicht geſchehen, ſich an dem Kampfe zu betheiligen und für die ſtatenbildende Macht Partei zu ergreifen. In dieſem Falle iſt der Stat, welcher die neue Statenbildung mit Kriegsgewalt zu verhindern ſucht, berechtigt, jene Handlung als eine feindliche That zu betrachten und demgemäß zu handeln.
Vgl. Anm. zu §. 32. England hat in Folge der frühen Anerkennung der Vereinigten Staten durch Frankreich 1778 ſeinen Geſanten von Paris abgerufen, und darin einen casus belli geſehen. Die Proclamation des franzöſiſchen Nationalconvents an die Völker vom 19. Nov. 1793 und das Anerbieten der Bundesgenoſſenſchaft war eine active Begünſtigung und Theilnahme an der Neugeſtaltung republikaniſcher Staten, ebenſo die Unterſtützung der helvetiſchen Republik durch die franzöſiſche wider die alten Republiken der Eidgenoſſenſchaft 1798.
34.
Kein Stat iſt verpflichtet, den neuen Stat ſofort nach dem ſiegreichen Durchbruch der neuen Statenbildung anzuerkennen, wenn noch eine ernſte Gefahr in Ausſicht iſt, daß der Kampf um deſſen Exiſtenz erneuert werde, indem ebendeßhalb ſeine Fortdauer noch als zweifelhaft betrachtet werden kann.
Aber jeder Stat iſt berechtigt, trotz ſolcher Zweifel im Vertrauen auf
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Völkerrechtliche Perſonen.
die Lebenskraft des neuen Stats, demſelben ſeine Anerkennung zu gewähren.
Um deßwillen geſchieht die Anerkennung neuer Staten gewöhnlich nicht gleichzeitig durch die übrigen Staten, ſondern nur ſtufenweiſe und allmählich, je nachdem dieſelben derartigen Zweifeln ein geringes oder ein ſchweres Gewicht beilegen. Natürlich hat bei der Schätzung des Zweifels auch die Neigung oder Abneigung einigen Einfluß, und es wirken auch die politiſchen Intereſſen bald verzögernd bald förderlich ein.
35.
Der neu gebildete Stat hat ein Recht auf Eintritt in die völkerrechtliche Statengenoſſenſchaft und auf Anerkennung von Seite der übrigen Staten, wenn ſein Beſtand unzweifelhaft und geſichert iſt. Er hat dieſes Recht, weil er exiſtirt und das Völkerrecht die in der Welt exiſtirenden Staten zu gemeinſamer Rechtsordnung verbindet.
Die Anerkennung eines wirklichen States durch andere Staten erſcheint freilich in der Form eines freien Actes ſouveräner Staten, aber ſie iſt doch nicht ein Act der abſoluten Willkür, denn das Völkerrecht verbindet die vorhandenen Staten auch wider ihren Willen zu menſchlicher Rechtsgemeinſchaft. Die in der älteren Litteratur vielfältig vertretene Meinung, daß es von dem bloßen Belieben eines jeden States abhänge, ob er einen andern Stat anerkennen wolle, oder nicht, verkennt die Rechtsnothwendigkeit des Völkerrechts und wäre nur dann richtig, wenn das Völkerrecht lediglich auf der Willkür der Staten beruhte, d. h. bloßes Vertragsrecht wäre.
36.
So wenig ein beſtehender Stat ſich der völkerrechtlichen Gemeinſchaft willkürlich entziehen kann, ebenſo wenig können die übrigen Staten einen beſtehenden Stat willkürlich aus dem Völkerverband ausſchließen.
37.
Die Pflicht zu völkerrechtlicher Anerkennung wird nicht durch die Rückſicht darauf aufgehoben, daß die Statenbildung nicht ohne Gewaltthat und Unrecht zu Stande gekommen ſei, indem das Völkerrecht die wirklichen Staten auch dann verbindet, wenn ſie Unrecht thun und die Frage, ob ein wirklicher Stat da ſei, nicht von der Untadelhaftigkeit ſeiner Geburt abhängt.
Die Bildung neuer Staten geht faſt niemals ohne Gewalt vor ſich; indem
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Zweites Buch.
dabei Kräfte, die bis dahin nicht im Beſitz der Statsgewalt waren, dieſe durch Kampf mit andern Gewalthabern erſtreiten müſſen. Man braucht nur die Entſtehungsgeſchichte der gegenwärtigen Staten näher zu prüfen, ſo wird man überall wahrnehmen, daß die alten Autoritäten und das geſchichtliche alte Recht der neuen Statenbildung ihren Widerſtand entgegen zu ſetzen verſucht haben und daß die neue Rechtsbildung genöthigt war, dieſen Widerſtand zu überwältigen. Kriege, Revolutionen, Uſurpationen haben einen weit größeren Antheil an der Bildung neuer Staten als friedliche Verträge, oder freiwillige Verleihungen und unwiderſprochene Statsacte. Für das Völkerrecht iſt aber immer entſcheidend die Exiſtenz der Staten. Da dieſe Rechtsperſonen ſind, ſo müſſen ſie als ſolche betrachtet und ihre Beziehungen zu einander menſchlich geregelt werden. Die Mängel in der Rechtsform der Entſtehung haben gewöhnlich nur eine ſtatsrechtliche Bedeutung und werden auch ſtatsrechtlich geheilt. Das Völkerrecht braucht ſich nicht darum zu kümmern. Nur wenn im Kampf mit einem andern State die Neubildung durchgeführt wird, wird dieſe Frage zu einer völkerrechtlichen. Davon handelt der folgende Artikel.
38.
Wenn ein Stat, deſſen Rechte bei der Neubildung eines andern States verletzt worden ſind, außer Stande iſt, dieſe Neubildung und den Beſtand des neuen States zu verhindern, ſo hat er auch das Recht nicht, demſelben ſeine Anerkennung länger zu verſagen.
Der Gang der Weltgeſchichte, in welchem ſich die dauernde Macht der Verhältniſſe offenbart, alſo auch das lebendige Recht ſichtbar wird, zerſtört alte und begründet neue Rechte. Wenn jene unhaltbar geworden ſind, ſo gehen ſie unter, und wenn dieſe ihre Macht und Autorität bewährt haben, ſo ſind ſie nicht mehr zu ignoriren. Spanien hat die Losreißung der Niederlande und das deutſche Reich hat die Unabhängigkeit der Schweizeriſchen Cantone erſt im Weſtphäliſchen Frieden anerkannt. So zähe die alten Mächte das längſt erſtorbene Recht der frühern Jahrhunderte noch bewahren wollten, ſie waren dennoch ſchließlich durch die Macht der Zeit genöthigt, die Umgeſtaltung anzuerkennen. Vgl. unten B. IV.
3. Einfluß der Verfaſſungswandlung auf die völkerrechtlichen Verhältniſſe der Staten.
39.
Die beſondere Verfaſſung eines States bildet in der Regel keinen Theil des Völkerrechts, ſondern iſt deſſen Statsrecht.
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Völkerrechtliche Perſonen.
Die Veränderung einer Statsverfaſſung hat daher in der Regel keine völkerrechtlichen Wirkungen.
Vgl. oben §§ 9, 17, 18. Verfaſſungsfragen ſind innere Statsfragen. Ob ein Stat als Monarchie oder Republik oder ob er abſolut oder repräſentativ organiſirt ſei, das iſt zunächſt für das Völkerrecht gleichgültig. Die politiſchen Beziehungen eines States zu andern Staten werden durch ſolche Verfaſſungsänderungen wohl oft genug verändert, indem die frühern Machthaber geſtürzt werden und andere Parteien zur Herrſchaft gelangen. Mit der frühern Regierung beſtand vielleicht eine intime Freundſchaft, die mit der neuen nicht fortgeſetzt werden kann, oder es waren damals geſpannte Verhältniſſe mit jener, die leicht mit dieſer ausgeglichen werden. Aber die völkerrechtlichen Rechtsverhältniſſe werden durch die innere Verfaſſungsänderung nicht betroffen und nicht geändert. Möglich daß die geänderte Politik im Krieg und Frieden auch dieſe Verhältniſſe im Verfolge ändert. Das iſt aber nicht eine unmittelbare Wirkung der Verfaſſungsänderung, ſondern eine Folge anderer rechtbildender Ereigniſſe.
40.
Der Stat bleibt dieſelbe völkerrechtliche Perſon, wenn er gleich bald in der Geſtalt einer Monarchie bald in der Form einer Republik erſcheint, in der einen Zeitphaſe conſtitutionel, in einer andern autokratiſch regiert wird. Deßhalb bleiben auch ſeine Rechte und Verpflichtungen gegenüber andern Staten fortbeſtehn.
Der engliſche Stat war völkerrechtlich derſelbe Stat vor, während und nach den Revolutionen von 1649 und 1688, obwohl die Statsformen und die Regierungen heftige Wechſel erlebten. Ebenſo blieb der franzöſiſche Stat als Perſon fortbeſtehn, ungeachtet er ſeit 1789 eine Reihe der durchgreifendſten Verfaſſungsänderungen erfahren hat. Die Individualität des Volks und die Fortdauer des Landes beſtimmen die Exiſtenz des States und jene verharren im Weſen, wenn auch die äußeren Erſcheinungsformen ſich verändern.
41.
Da die Staten als Perſonen Verträge mit einander eingehen, ſo iſt die Fortdauer der Vertragsverhältniſſe nicht bedingt durch die Fortdauer der Regierungen, welche die Verträge abgeſchloſſen haben.
Nicht bloß die Geſanten, ſondern auch die Fürſten ſchließen die Verträge ab nicht für ſich, ſondern als Repräſentanten der Staten. Die Staten ſelbſt erwerben daraus Rechte und werden dadurch verpflichtet. Vgl. unten Buch VI. Deßhalb dauern dieſe Rechtsverhältniſſe fort, wenn gleich eine andere Dynaſtie in einem der Staten zur Herrſchaft erhoben oder die Monarchie in die Republik umgewandelt wird. Der Satz wurde auch in den Verhandlungen der europäiſchen
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Zweites Buch.
Mächte mit Frankreich nach der Erhebung Napoleons III. zum Kaiſer von Frankreich allſeitig anerkannt. Vgl. unten § 123. Der moderne Grundſatz iſt in dem Protokoll der V Großmächte zu London (19. Februar 1831) ausgeſprochen: „D’après ce principe d’un ordre supérieur, les Traités ne perdent pas leur puissance, quels que soient les changemens qui interviennent dans l’organisation intérieure des peuples.“
42.
Ueberhaupt werden Rechte und Pflichten eines States gegen einen andern Stat nicht verändert, wenn gleich die Regierungsform eines dieſer Staten eine Wandelung erfährt.
Auch das Statsvermögen verbleibt dem State trotz des Wechſels der Dynaſtie oder der Statsform.
Es zeigt ſich das z. B. in den Grenzverhältniſſen und bei Statsdienſtbarkeiten. Dieſelben bleiben dieſelben, mag der Stat monarchiſch oder republikaniſch regiert werden, dieſe oder jene Verfaſſung haben.
43.
Nur diejenigen völkerrechtlichen Verträge und Rechtsverhältniſſe, welche ſich weſentlich nicht auf den Stat ſelbſt ſondern nur auf die Perſonen beſtimmter Regenten oder Dynaſtien im State beziehen, verlieren durch eine Verfaſſungswandelung ihre Geltung und Wirkſamkeit, wenn jene Perſonen in Folge derſelben ihre Eigenſchaft als Häupter oder Dynaſtien dieſes States einbüßen.
Deßhalb haben Verträge eines States mit der Dynaſtie eines andern States, welche den Schutz derſelben bezwecken, nur eine beſchränkte Wirkſamkeit. Wenn trotzdem dieſe Dynaſtie durch eine Revolution geſtürzt oder durch eine Uſurpation beſeitigt wird und die Verfaſſungsänderung ſo vollzogen iſt, daß ein neues Statsrecht zur Wirkſamkeit gelangt iſt, ſo hört auch für den Stat, welcher die geſtürzte Dynaſtie zu ſchützen verſprochen hatte, dieſe Verpflichtung auf. Beiſpiele ſind die Verträge König Ludwigs XIV. von Frankreich mit Jakob II. von England, die Verträge des Kaiſers von Oeſterreich mit dem Bourboniſchen Königshauſe von Neapel und andern Italieniſchen Fürſten, nach der Reſtauration von 1815, die Verabredungen Napoleons III. mit dem Kaiſer Maximilian von Mexico in unſern Tagen. Das Statsrecht wirkt in allen dieſen Dingen entſcheidend und das Völkerrecht wirkt nur nachträglich unter der Vorausſetzung des Statsrechts.
44.
Wird eine entthronte oder vertriebene Dynaſtie ſpäter wieder reſtaurirt, ſo iſt ſie nicht berechtigt, die völkerrechtlichen Verhältniſſe, welche
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Völkerrechtliche Perſonen.
in der Zwiſchenzeit von der damals anerkannten Regierung geſchaffen worden ſind, als nicht geſchehen zu betrachten, indem der Stat inzwiſchen fortlebt und ſeinen Rechtswillen durch die jeweiligen in Wirkſamkeit begriffenen Organe äußert.
Z. B. Es kam den reſtaurirten Stuarts in England und den reſtaurirten Bourbonen in Frankreich nicht zu, Verträge als nichtig zu behandeln, welche dort der Protector Cromwell für England und der Kaiſer Napoleon für Frankreich inzwiſchen abgeſchloſſen hatte und es war nicht Rechtsübung, ſondern eitle Dynaſtenlaune, wenn der reſtaurirte König von Piemont, und der reſtaurirte Kurfürſt von Heſſen 1814 die ganze Periode der Zwiſchenregierung als nicht vorhanden fingirten. Die Statshandlungen verbinden den Stat, der bleibt, und deßhalb auch die wechſelnden Repräſentanten des Stats.
45.
Nur wenn die Zwiſchenregierung nicht zu wirklichem Beſtande gelangt iſt und deßhalb ihre Handlungen nicht als Statsacte gelten, braucht ſich die reſtaurirte Regierung nicht darum zu kümmern.
Z. B. Die Zwiſchenregierung des Dictators Manin in Venedig, Koſſuths in Ungarn, die republicaniſchen Regierungen von Rom und in Baden im Jahre 1849 wurden mit Recht nicht als wahre Repräſentanten der betreffenden Staten anerkannt.
4. Antergang der Staten, Abtretung von Statsgebiet, Einverleibungen, Statenfolge.
46.
Die bloße Gebietsverminderung bedeutet ſo wenig Untergang eines States als die Abnahme ſeiner Bevölkerung, wenn nur Land und Volk weſentlich dieſelbe verbleiben.
Man ſieht dabei auf die Hauptbeſtandtheile des Landes, welche vorzüglich den Charakter des States bedingen und den Kern des Volkes. In dem antiken Römerreiche bildeten Italien und Rom den Hauptkern des römiſchen States, welcher daher noch als fortdauernd angeſehen ward, obwohl eine römiſche Provinz nach der andern von den Germanen abgeriſſen wurde. Auch in unſerm Jahrhunderte blieb Preußen derſelbe Stat, nachdem er im Frieden von Tilſit 1807
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Zweites Buch.
faſt die Hälfte ſeines Gebietes eingebüßt hatte, weil die alten Stammlande erhalten blieben. Ebenſo blieb Frankreich nach den Abtretungen in den beiden Pariſerfrieden 1814/15 und Oeſterreich nach dem Verluſte der Lombardei 1859 und von Venedig 1866, weil Frankreich nur ſeine Eroberungen wieder aufgeben mußte und nicht die italieniſchen Provinzen, ſondern die Donauländer den Kern der öſterreichiſchen Monarchie bilden.
47.
Die Abtretung einer Provinz oder eines andern Theiles des Statsgebietes hat inſofern auf die völkerrechtlichen Verhältniſſe des fortdauernden States einen Einfluß, als diejenigen Rechte, welche ihm bezüglich des abgetretenen Gebietes gegen andere Staten bisher zuſtanden, und diejenigen Verpflichtungen, welche ihm bisher mit Rückſicht darauf oblagen, nun von ihm abgelöſt werden und mit der Abtretung auf den Stat übergehen, welcher dieſelbe erwirbt.
Von der Art ſind Grenzregulirungen, Beſtimmungen über den Uferbau und die Flußſchiffahrt (über Kirchen, Spitäler u. ſ. f.), offene Straßen, beſondere Provincialſchulden.
Man kann dieſe Rechte und Pflichten, inſofern ſie einem beſtimmten Landestheile anhaften, örtliche, und inſofern ſie einem beſtimmten Stamme oder beſtimmten Perſonenclaſſen anhängen, perſönliche nennen. Die örtlichen Rechte und Pflichten ſind an den Ort, die perſönlichen an die Perſon gebunden und folgen dem politiſchen Schickſale derſelben. Im Einzelnen freilich können Zweifel entſtehen, ob der örtliche und perſönliche Zuſammenhang oder die Beziehung auf den Stat als weſentlich erſcheint. Die im Auftrag der beiden Nachbarſtaten geſetzten Markſteine zur Bezeichnung der Grenzen gelten natürlich in derſelben Weiſe für die Grenzländer fort, wenn ſchon das eine Grenzgebiet einem andern State einverleibt worden iſt. Ebenſo verhält es ſich mit den Verabredungen zweier Staten über den Uferſchutz, über Anlegung und Unterhaltung von Dämmen, über die Schiffahrt auf einem beſtimmten Fluſſe, über Landungsplätze u. dgl.; ſie beziehen ſich auf eine beſtimmte Oertlichkeit, und wirken fort auch gegenüber dem State, welcher ſpäter die Hoheit über dieſe Oerter neu erworben hat. Wenn gleich dieſer Stat bei der Begründung dieſer Rechtsverhältniſſe nicht mitgewirkt hat, ſo kann er doch das neue Gebiet nur in dem rechtlichen Zuſtande übernehmen, in dem es ſich befindet, d. h. mit den vorhandenen Ortsrechten und Ortspflichten. Aehnlich verhält es ſich mit den durch Statenverträge garantirten perſönlichen Rechten z. B. einer beſtimmten Religionsgenoſſenſchaft auf Ausübung ihres Cultus, mit dem Antheil, der einer beſtimmten Claſſe von Fremden an der Benützung örtlicher Anſtalten (Krankenheil- und pflegehäuſer, Pfründhäuſer, Bildungsanſtalten u. ſ. f.) zugeſichert worden iſt. Dieſe Rechte gehen nicht unter, wenn gleich an die Stelle des States, zu welchem bisher jene Religionsgenoſſen und dieſe Anſtalten gehörten, ein anderer
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Völkerrechtliche Perſonen.
Stat tritt. Aber immerhin iſt die Fortdauer und Wirkſamkeit ſolcher perſönlichen Rechte mehr gefährdet als die der örtlichen Rechte, weil die perſönlichen Verhältniſſe von der politiſchen Umgeſtaltung leichter erfaßt und gewandelt werden als bloße örtliche Einrichtungen.
48.
Dagegen gehen keineswegs alle vertragsmäßigen Rechte und Verbindlichkeiten eines States gegenüber andern Staten von Rechts wegen, weder im Ganzen noch im Verhältniß der Ausdehnung des Gebietes oder der Volkszahl auf den abgetrennten Theil über, wenn gleich dieſer Theil nun zu einem ſelbſtändigen neuen State geworden iſt. Die alte Vertragsperſon bleibt berechtigt und verpflichtet, der neue Stat iſt weder Vertragsperſon, noch Nachfolger jener Vertragsperſon.
Z. B. Die Vereinigten Staten von Nordamerika ſind nicht in alle Vertragsverhältniſſe von Rechts wegen eingetreten, welche von den Königen von England zu der Zeit mit fremden Staten abgeſchloſſen worden waren, als die nordamerikaniſchen Colonien noch einen Theil des engliſchen Reiches bildeten. Ebenſo tritt das Königreich Italien nicht ohne weiters in die ſämmtlichen Vertragsverhältniſſe Oeſterreichs mit andern Staten ein, an welchen auch die norditalieniſchen Provinzen mittelbar Theil hatten, ſo lange ſie zu Oeſterreich gehörten, ſondern nur in diejenigen, welche ſich örtlich auf die Lombardei oder auf Venedig insbeſondere bezogen, wie z. B. die Lombardiſche und Venetianiſche Schuld.
49.
Zerfällt ein Stat in zwei oder mehrere neue Staten, von denen keiner als die Fortſetzung des alten States zu betrachten iſt, ſo iſt der alte Geſammtſtat untergegangen und es treten die neuen Staten als neue Perſonen an ſeine Stelle.
Neuere Beiſpiele ſind die Auflöſung des römiſchen Reiches deutſcher Nation in eine Anzahl ſouveräner deutſcher Staten 1805 und 1806, die Theilung des Cantons Baſel in die Halbcantone Baſelſtadt und Baſelland, 1833. Das Beiſpiel der Theilung der Vereinigten Niederlande in die Königreiche Holland und Belgien 1831 gehört theilweiſe auch hieher, obwohl in gewiſſem Sinne die Niederlande in Holland vorzugsweiſe fortdauerten, namentlich im Verhältniß zu den Colonien.
50.
Wird ein bisheriger Stat einem andern State einverleibt, ſo geht zwar jener Stat unter, aber ſein Untergang zieht deßhalb nicht noth-
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Zweites Buch.
wendig den Untergang ſeiner völkerrechtlichen Rechte und Pflichten nach ſich, weil die Volksſubſtanz und das Land fortdauern und nur in den neuen Statenverband übergehen.
Vielmehr gehen Rechte und Pflichten inſoweit mit Volk und Land auf den Nachfolgeſtat über, als ihre Fortdauer möglich und in den fortwirkenden Verhältniſſen begründet erſcheint.
Die Beiſpiele ſind in neuerer Zeit nicht ſelten. Das erſte Napoleoniſche Kaiſerreich hatte ſich eine große Anzahl von Staten nach und nach einverleibt. Aber auch die deutſchen Staten hatten zur Zeit der Auflöſung des alten Kaiſerreichs viele geiſtliche und weltliche Territorien annexirt. Eine Zeit lang brachte die Wiener Congreßacte das europäiſche Statenſyſtem zur Ruhe. Indeſſen hatte ſie ſelber manche Einverleibung beſtätigt und Oeſterreich annexirte ſpäter die Republik Krakau. Zahlreichere Annexionen kennt die neueſte Entwicklung der nationalen Politik, insbeſondere Savoyen durch Frankreich, der italieniſchen Fürſtenthümer durch das neue Königreich Italien (1860), der deutſchen Staten Hannover, Kurheſſen, Naſſau, Schleswig-Holſtein und Frankfurt durch Preußen (1867).
51.
Wenn ein Stat durch Wahl oder in Folge des Erbrechts das Statshaupt eines andern States auch zu ſeinem Statshaupt erhält (Perſonalunion), ſo hört er noch nicht auf, als eine beſondere Statsperſon zu gelten; und es tritt in dieſem Falle keine Statenfolge ein.
Jeder der ſo verbundenen Staten verbleibt in ſeinen völkerrechtlichen Verhältniſſen. Im Mittelalter waren die Beiſpiele häufiger, als in unſrer Zeit, welche die Tendenz hat, entweder die Perſonalunion in eine Realunion umzuwandeln, damit die Einheit in der Politik und die Gleichheit im Recht zur Geltung kommen oder die bloß durch Perſonalunion verbundenen Staten wieder gänzlich zu trennen. Neuere Beiſpiele ſind die Verbindung von Schweden und Norwegen, der Herzogthümer Schleswig und Holſtein mit der Krone Dänemark, des Königreichs Hannover mit der engliſchen Krone, des Fürſtenthums Neuenburg mit der Krone Preußen, des Großherzogthums Luxemburg mit der Holländiſchen Krone.
52.
So viel wirkliche Staten vorhanden ſind, ſo viel völkerrechtliche Perſonen ſind vorhanden. Der Stat, welcher mehrere andere Staten ſich einverleibt hat, hat völkerrechtlich nur Eine Stimme, nicht mehrere Stimmen, da er nur Eine Statsperſon iſt. Umgekehrt haben die mehreren Staten, welche aus der Spaltung Eines States hervorgegangen ſind, völkerrechtlich
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Völkerrechtliche Perſonen.
jeder eine Stimme, wenn gleich dieſe Völker bis dahin zu Einem State geeinigt nur Eine Stimme hatten.
In dem ältern deutſchen Reichsrecht und ebenſo in dem früheren ſchweizeriſchen Bundesrecht hatte ein anderer Grundſatz gegolten, nämlich der ein für alle Mal an beſtimmte Territorien und Cantone geknüpfter Stimmrechte, ſo daß z. B. Oeſterreich und Preußen mehrere Stimmen in der Curie der Fürſten und Herren übten, weil ſie mehrere Herrſchaften beſaßen und die ſchweizeriſchen Halbcantone nur je zuſammen Eine Stimme auf den Tagſatzungen führten. Der ſtatlich richtige Grundſatz iſt aber ſpäter auch im deutſchen Bunde und in dem ſchweizeriſchen Bundesſtate durchgedrungen.
53.
Mit dem Untergang eines States verliert ſein Verfaſſungsrecht die ſelbſtändige Autorität und Wirkſamkeit. Aber es iſt möglich, beſtimmte ſtatsrechtliche Einrichtungen, welche trotz des Ueberganges in einen Nachfolgeſtat fortdauern ſollen, auch für die Zukunft unter den Schutz des Völkerrechts zu ſtellen.
Die bisherige Verfaſſung und das bisherige Statsrecht hatten in dem Willen des untergegangenen States die Quelle ihrer Autorität und in ſeiner Macht die Garantie für ihre Wirkſamkeit gefunden. Jener beſondere Statswille und dieſe Statsmacht ſind nun aber mit dem State ſelber untergegangen und es iſt ein neuer Stat an ſeine Stelle getreten, deſſen Wille und Macht nun entſcheiden. Eben deßhalb verſteht ſich auch die Fortdauer der bisherigen Verfaſſung und des bisherigen öffentlichen Rechts nicht von ſelber. In den wichtigſten Beziehungen — insbeſondere der politiſchen Regierung und Vertretung — iſt dieſelbe geradezu unmöglich geworden, wenn der Nachfolgeſtat wirklich zur Herrſchaft und Entwicklung gelangen ſoll. Sie können daher nur inſoweit fortdauern, als der Nachfolgeſtat das für zuläſſig erachtet und ſeinerſeits gutheißt.
Wohl aber laſſen ſich auch bei Einverleibungen beſtimmte Verfaſſungszuſtände und Einrichtungen erhalten und es kommt wohl vor, daß das vertragsmäßig verabredet wird. So ſind z. B. bei der Vereinigung der deutſchen Oſtſeeländer mit dem Ruſſiſchen Reiche beſtimmte Zuſicherungen gegeben worden, zum Schutz der beſtehenden politiſchen und confeſſionellen Rechte der Bewohner. Ebenſo enthält die Wiener Congreßacte manche derartige Vorbehalte bezüglich der Zutheilung von Ländern an die anerkannten europäiſchen Staten. Dieſelben haben freilich nur eine beſchränkte Wirkſamkeit und ſind immerhin unſicher, weil die Einigung innerhalb eines States mit der Zeit Fortſchritte macht, und es ſchwer, oft unmöglich und unzuläſſig iſt, der ſouveränen Statsgewalt Widerſtand zu leiſten, wenn ſie an die Stelle des alten ein neues Recht zu ſetzen entſchloſſen iſt.
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Zweites Buch.
54.
Das Statsverwögen der untergehenden Staten geht in Activen und Paſſiven auf den oder die Nachfolgeſtaten über.
Es gibt ein ſtatsrechtliches Folgerecht, das eine gewiſſe Analogie hat mit dem privatrechtlichen Erbrecht, aber nicht mit demſelben zu verwechſeln iſt. Das Statsvermögen kann beſtehen:
a) aus öffentlichem Gute (Domaine public), welches entweder von Natur, wie die öffentlichen Gewäſſer, Straßen, Plätze, Häfen u. ſ. f. oder durch beſondere ſtatliche Anordnung wie Reſidenzen, Rath- und Gerichtshäuſer, Caſernen, Gefängniſſe u. dgl. dem Privatrecht entzogen iſt und ausſchließlich der öffentlichen Herrſchaft und Benutzung angehört oder
b) aus Privatgut, welches dem Fiscus gehört, wie z. B. einzelne Gewerbe, landwirthſchaftliche Grundſtücke, Geld.
Auf all dieſes Vermögen bezieht ſich dieſes ſtatliche Folgerecht. Für das öffentliche Gut verſteht es ſich von ſelber, daß dasſelbe dem State folgt, dem es dient. Aber auch das Privatvermögen des States wird nicht herrenloſes Gut, wenn der Stat untergeht, ſondern da die Perſon, welcher es bisher angehörte, nicht gänzlich verſchwindet, ſondern mit Volk und Land, alſo ihrem Stoffe nach in den neuen Stat übergeht, folgt es naturgemäß dieſer perſönlichen Wandelung nach, und wird deßhalb Privatgut des neuen States, in welchem der Stoff des alten States fortlebt.
55.
Sind mehrere Nachfolgeſtaten vorhanden, welche an die Stelle des Einen untergehenden States treten, und iſt die Art der Theilung des Staatsvermögens nicht vertragsmäßig geordnet worden, ſo ſind nicht die privatrechtlichen Regeln der Erbtheilung unter mehrere Erben einfach anzuwenden, ſondern es iſt voraus die öffentlich-rechtliche Natur des öffentlichen Gutes zu berückſichtigen.
Die öffentlich-rechtliche Statenfolge und das privatrechtliche Erbrecht ſind inſofern ähnlich, daß in beiden Fällen das bisherige Subject des Vermögens dort durch Untergang hier durch Tod wegfällt, aber das Vermögen desſelben auf andere Perſonen übergeht, welche in gewiſſem Sinne als Fortſetzer ſeiner Perſönlichkeit angeſehen werden. Aber das geſetzliche Privaterbrecht beruht auf dem Familienverband zwiſchen Erblaſſer und Erben, welcher bei der Statenfolge fehlt, und die Statenfolge beruht auf dem totalen oder theilweiſen Uebergang von Volk und Land auf den Folgeſtat. Die privatrechtliche Verlaſſenſchaft hat nur eine Beziehung auf die Perſonen der Erben und wird daher je nach der Nähe ihrer Verwandtſchaft unter dieſelben vertheilt, ſei es nach Stämmen, ſei es nach Köpfen. Das zurückgelaſſene Statsvermögen dagegen hat eine natürliche Beziehung zu Volk und Land und
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Völkerrechtliche Perſonen.
den öffentlichen Bedürfniſſen beider. Daher iſt die Vertheilung nach öffentlich-rechtlichen Grundſätzen zu ordnen.
56.
Demgemäß fällt das für öffentliche Zwecke beſtimmte liegende Gut, wie öffentliche Gebäude, Anſtalten und Stiftungen zunächſt dem State zu, in deſſen Gebiete ſie gelegen ſind oder ſie ihren Hauptſitz haben und der erwerbende Stat iſt nur inſofern eine billige Entſchädigung an die Theilungsmaſſe ſchuldig, als dieſelben bisher auch den öffentlichen Bedürfniſſen der Bevölkerung der andern Staten gedient haben und dieſe zur Befriedigung ſolcher Bedürfniſſe zu neuen Vermögensleiſtungen genöthigt werden.
Selbſtverſtändlich fallen auch die öffentlichen Gewäſſer, Straßen, Plätze, Küſten, Häfen u. ſ. f. ohne Entſchädigung dem State zu, mit welchem ſie von Natur verbunden ſind. Auch wenn damit gewiſſe Einkünfte verbunden ſind, wie z. B. Wegegelder, Hafengebühren u. dgl., ſo iſt dafür kein Erſatz zur Theilung zu bringen, ſo wenig als für den Unterhalt der Straßen, Häfen u. ſ. f. eine Forderung.
Anders verhält es ſich z. B. mit einer Pflegeanſtalt für Kranke, welche auch von den Kranken der Gemeinden benutzt werden konnten, die nun einem andern State zugetheilt ſind, als dem, in deſſen Gebiet die Krankenpflegeanſtalt gelegen iſt. Da iſt ein billiger Erſatz in Anrechnung zu bringen.
57.
Die vorhandenen Waffenvorräthe und Kriegsausrüſtungen (Kanonen, Gewehre, Uniformen u. ſ. f.) ſind im Zweifel nach Verhältniß der Volkszahl zu vertheilen.
Nach der Volkszahl richtet ſich auch die Wehrpflicht und die Größe des Bedürfniſſes der Ausrüſtung. Anders freilich iſt es, wenn die Waffenvorräthe durch Matrikularbeiträge beſchafft worden ſind, wie in dem deutſchen Bunde von 1815. Dann wird das Verhältniß der Matrikel auch bei der Theilung zu beachten ſein.
58.
Die eigentlichen Domänen, die öffentlichen Caſſen und überhaupt das Privateigenthum des Stats, welches nur mittelbar den öffentlichen Zwecken dient, bildet eine gemeinſame Theilungsmaſſe und wird, wenn nicht beſondere Gründe eine Abweichung rechtfertigen, nach Verhältniß der Volkszahl unter die mehreren Folgeſtaten vertheilt, ſo jedoch, daß die Liegenſchaften dem State verbleiben, in deſſen Gebiete ſie liegen und nur der Schätzungswerth derſelben zur Vertheilung kommt.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 6
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Zweites Buch.
Es gibt kein natürlicheres Theilungsverhältniß, und keinen ſichereren Maßſtab der Theilung als die Volkszahl, obwohl vielleicht die eine Bevölkerung z. B. die ſtädtiſche vor der anderen z. B. der bloß ländlichen durch Vermögen, Bildung und durch höhere Bedürfniſſe hervorragt. Um eine gerechte und allgemein verſtändliche Löſung zu finden, muß man zu den einfachſten und urſprünglichſten Elementen des States zurückgehen und das ſind doch die Menſchen, die er einigt.
59.
Die Statsſchulden ſind nicht nach Verhältniß der Volkszahl, ſondern wenn ſie hypotheſirt oder fundirt ſind, im Anſchluß an die verpfändeten Liegenſchaften oder das Fundirungsgut, im übrigen nach Verhältniß der Steuerleiſtungen zu vertheilen.
1. Indem der Stat ſeine Anleihen hypotheſirt oder fundirt, bringt er dieſelben in einen nähern Zuſammenhang mit andern Gütern, und dieſer Zuſammenhang wirkt fort, obwohl der Stat ſich auflöſt. Die Gläubiger halten ſich daran und kommen eben deßhalb nur mit dem Folgeſtat in eine neue Beziehung, welchem dieſe Güter zugefallen ſind. Eine Scheidung der perſönlichen Schuld und der dinglichen Sicherung iſt hier nicht ebenſo ſtatthaft wie im Privatrecht.
2. Die Sicherheit der übrigen Statsſchulden beruht auf der Steuerkraft der Statsgenoſſen und dieſe wird bemeſſen nach der wirklichen Steuerleiſtung. Dieſe gibt daher einen gerechteren Maßſtab als die Volkszahl. Man denke ſich z. B. einen Stat in zwei Staten aufgelöſt, von denen der eine eine reiche Städtebevölkerung, der andere eine arme Landbevölkerung hat. Da würde bei einer Vertheilung der Statsſchulden nach der Volkszahl der eine Stat überlaſtet, er könnte die Schuld nicht tragen, und der andere Stat unverhältnißmäßig in der bisherigen Steuerleiſtung erleichtert, zum Schaden der Gläubiger.
60.
Geht ein Stat durch Ausſterben oder Zerſtreuung oder Auswanderung ſeines Volkes auch in der Volks- oder Landesſubſtanz unter, dann erlöſchen mit ſeiner Perſönlichkeit auch ſeine Rechte und Verpflichtungen.
Als die Juden mit Vertilgung der fremden Einwohner Paläſtina beſetzten, ward der neue jüdiſche Stat in keiner Weiſe Rechtsnachfolger der daſelbſt untergegangenen Staten. Ebenſo als die Germaniſchen Völker zur Zeit der Völkerwanderung ihre alten Wohnſitze verließen, gingen auch ihre alten Staten unter und die nachrückenden germaniſchen oder ſlaviſchen Völker traten ebenſo wenig als ihre Rechtsnachfolger an ihre Stelle als das römiſch-byzantiniſche Reich, welches jene aufnahm, deßhalb zum Rechtsnachfolger ihrer untergegangenen Staten ward.
(0105 : 83)
Völkerrechtliche Perſonen.
61.
Die vorübergehende Schwäche oder Noth eines States führt nicht ſeinen Untergang herbei; wohl aber die dauernde Ohnmacht und die offenbare Unfähigkeit desſelben, ferner ſelbſtändig zu leben.
Es gibt kein Recht, die „kranken“ Staten zu vernichten und dann zu beerben. Es iſt möglich, daß ein tief zerrütteter und geſchwächter Stat ſich wieder erhole. Wenn aber dieſe Möglichkeit verſchwunden und die Ohnmacht dauernd geworden iſt, dann geht mit der Fähigkeit zu leben auch das Recht als Stat zu leben unrettbar unter. Das Völkerrecht ſchützt nur lebensfähige Staten. So gefährlich dieſer Satz iſt, weil er ſophiſtiſch mißbraucht werden kann, ſo iſt doch die Wahrheit desſelben unbeſtreitbar. „Nur der Lebende hat Recht“.
5. Völkerrechtliche Eigenſchaften der Staten.
A. Handlungsfähigkeit.
62.
Jeder Stat iſt als Rechtsweſen berechtigt, ſeinen Rechtswillen zu äußern und Handlungen mit Rechtswirkung vorzunehmen. Aber er bedarf dazu beſonderer von Menſchen erfüllter repräſentativer Organe.
Weil der Stat eine Geſammtperſon iſt und in ſeiner Verfaſſung nicht einen natürlichen ſondern einen nachgebildeten Culturleib hat, ſo bedarf er menſchlicher Organe und Vertreter ſeines Willens und ſeiner Handlungen. Das Statshaupt repräſentirt voraus den Stat im Verkehr mit andern Staten.
63.
Im Verhältniß der Staten zu einander wird der thatſächliche Inhaber und Träger der Statsgewalt (das wirkliche Statshaupt) als das Organ des Statswillens und als der Vertreter des States betrachtet.
Vgl. unten § 315 ff.
B. Souveränetät.
64.
Die Souveränetät eines States zeigt ſich
6*
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Zweites Buch.
a) in der Unabhängigkeit desſelben von einem fremden State und in der Ablehnung jeder fremden Statshandlung auf ſeinem Gebiet;
b) in der Freiheit desſelben, ohne Behinderung fremder Staten ſeinen eigenen Statswillen ſelbſt zu beſtimmen und nach eigenem Ermeſſen zu äußern und zu bethätigen.
Die Souveränetät iſt zunächſt wieder ein ſtatsrechtlicher Begriff und bedeutet die Statsgewalt in höchſter Potenz und in oberſter Inſtanz. Die völkerrechtliche Bedeutung derſelben tritt erſt hervor im Verhältniß zu fremden Staten.
65.
Souveränetät heißt nicht abſolute Unabhängigkeit noch abſolute Freiheit eines States, denn die Staten ſind keine abſoluten Weſen, ſondern rechtlich beſchränkte Perſonen.
Der Begriff der Souveränetät iſt zuerſt in Frankreich und zwar in der Zeit ausgebildet worden, als das franzöſiſche Königthum alle Statsgewalt in möglichſt abſolutem Sinne in ſeiner Hand zu concentriren unternahm, im Gegenſatze zu den Beſchränkungen der mittelalterlichen ſtändiſchen Rechte und der Lehensverfaſſung. Seither iſt eine gewiſſe Tendenz zum Abſolutismus in dem Worte verblieben, die ſchwer auszumerzen iſt. Dennoch widerſpricht dieſer Abſolutismus ſowohl der Rechtsnatur des modernen Verfaſſungsſtates als der völkerrechtlichen Gemeinordnung.
66.
Jeder Stat darf nur in dem Maße Unabhängigkeit und Freiheit für ſich anſprechen, als ſich mit der nothwendigen menſchlichen Weltordnung, mit der Selbſtändigkeit der andern Staten und mit der Verbindung aller Staten verträgt.
Das Völkerrecht erhält aber beſchränkt zugleich die Souveränetät der Einzelſtaten, weil es das friedliche Nebeneinander ſämmtlicher Staten ſchützt und auch den Krieg durch Rechtsvorſchriften civiliſirt. Gegen das Völkerrecht kann ſich kein Stat auf ſeine Souveränetät berufen, weil die Grundlage des Völkerrechts nicht die Willkür der Staten ſondern die Gemeinſchaft der Menſchheit iſt.
67.
Innerhalb der völkerrechtlichen Schranken ſpricht die Rechtsvermuthung für volle und ungetheilte Souveränetät eines jeden States.
Die Souveränetät iſt die ſelbſtverſtändliche Eigenſchaft des wirklichen States, d. h. eines Gemeinweſens, das ſich ſelbſt regiert. Hoheit und Einheit ſind mit dem
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Völkerrechtliche Perſonen.
Statsbegriff gegeben. Weitere Beſchränkungen andern Staten gegenüber erfordern daher eine beſondere Begründung, wie namentlich durch Verträge.
68.
Zu den regelmäßigen Souveränetätsrechten eines States gehören:
a) das Recht, ſeine Verfaſſung ſelber zu beſtimmen;
b) das Recht ſelbſtändiger Geſetzgebung für ſein Volk und Land;
c) die Selbſtregierung und Selbſtverwaltung;
d) die freie Beſetzung der öffentlichen Aemter;
e) das Recht, für den Verkehr mit andern Staten ſeine Stellvertreter zu bezeichnen und zu ermächtigen.
Es kommt den fremden Staten nicht zu, ſich in die Ausübung dieſer Rechte einzumiſchen, es wäre denn, daß bei derſelben das Völkerrecht mißachtet würde.
In der Verfaſſung ſpricht der Stat die Grundſätze ſeines eigenen Daſeins aus und bildet er die Organe ſeines eigenen Lebens aus. Die Verfaſſunggebende Gewalt iſt daher Statsgewalt. Jeder Stat erſcheint daher dem andern gegenüber als eine ſich ſelber ordnende Macht. So wenig meine Nachbarn berechtigt ſind, den Styl und die Einrichtung meines Hauſes mir vorzuſchreiben, ſo wenig haben die Nachbarſtaten ein Recht, über die Verfaſſung eines fremden States Vorſchriften zu geben. Es iſt freilich auch für die Nachbarſtaten politiſch nicht gleichgültig, wie die Verfaſſung eines anſtoßenden States beſchaffen ſei und es können je nach Umſtänden Parteiverbindungen von einem State zum andern bald förderlich bald gefährlich erſcheinen. Daher haben oft ſchon mächtigere Staten einen Einfluß geübt auf die Verfaſſungsänderungen ihrer Nachbarſtaten. Die franzöſiſche Republik hat ſich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts mit republikaniſchen Nachbarſtaten, Napoleon I. hat Frankreich mit Napoleoniſchen Vaſallenſtaten zu umgeben geſucht. Aber gerade dieſe Beiſpiele warnen vor ſolchen Eingriffen in die natürliche Verfaſſungsbildung fremder Völker, denn nirgends ſind durch die Einwirkung von außen her dauernde Verfaſſungszuſtände zu Stande gekommen. Auch die Interventionen der heiligen Allianz in Italien und Spanien zur Herſtellung der abſoluten Monarchie haben nur vorübergehend den natürlichen Entwicklungsgang zu ſtören, aber nicht auf die Dauer zu hindern vermocht. Ebenſo unglücklich iſt in neueſter Zeit der Verſuch Napoleons III. ausgefallen, in Mexiko ein Kaiſerthum mit franzöſiſcher Hülfe einzurichten. Recht und Politik weiſen darauf hin, daß man jedem Volke überlaſſe, die Formen ſeines Geſammtlebens ſelber zu beſtimmen. Erſt wenn daraus eine wirkliche Gefahr entſteht für die Sicherheit der andern Staten und für die völkerrechtliche Rechtsordnung, iſt eine Einmiſchung in die Verfaſſungsarbeiten zu rechtfertigen.
69.
Kein Stat braucht zu dulden, daß innerhalb ſeines Gebietes ein
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Zweites Buch.
fremder Stat irgend welche Statshandlungen vornehme, ſei es der Policei oder der Beſteurung, der militäriſchen oder der Juſtizgewalt. Jeder Stat iſt verpflichtet, ſich der ſtatlichen Ein- und Uebergriffe in fremdes Statsgebiet zu enthalten.
Vorbehalten ſind theils allgemeine völkerrechtlich anerkannte Ausnahmen theils die beſonderen Statsdienſtbarkeiten.
1. In dem Bereich der civiliſirten europäiſchen und amerikaniſchen Statenwelt iſt dieſer Grundſatz vollſtändiger anerkannt, als im Verhältniß zu barbariſchen Völkern oder Staten einer der unſrigen ſehr fernen und fremden Civiliſation. Da wird noch die Policei und die Juſtiz über die auswärts wohnenden Landsleute in fremdem Gebiet möglichſt von dem State ihrer Heimat verwaltet. Der Grundſatz des perſönlichen Rechtes, welches das Volk verbindet, wo immer ſeine Genoſſen ſich aufhalten, überwiegt da noch über die Regel des Landesrechtes, welches ausſchließlich von der im Lande beſtehenden Statsgewalt gehandhabt wird.
2. Allgemeine völkerrechtlich anerkannte Ausnahmen ſind z. B. das Recht der Exterritorialität und das Recht der Schiffahrt über den Küſtenſaum.
70.
In der Regel gibt es nur Eine Souveränetät für ein beſtimmtes Volk und Land, wie nur Einen Stat.
Ausnahmsweiſe zeigt ſich in zuſammengeſetzten Staten (Bundesſtaten, Statenreichen, Statenbünden) auf demſelben Boden und für dieſelbe Bevölkerung eine Doppelſouveränetät wie eine zwiefache Statenbildung, die eine des Geſammtſtates, die andere der Einzelſtaten.
Bundesſtaten und Statenbünde ſind beides föderative und daher meiſt republikaniſche Verbände einer Anzahl von Einzelſtaten. Aelter iſt die Form der Statenbünde, welche nur eine genoſſenſchaftliche Gemeinſchaft der mehreren Einzelſtaten zu gemeinſamen Zwecken darſtellt und daher nur Geſantencongreſſe keine einheitlichen Geſammtorgane kennt. Man kann daher dieſe Verbindung nur in uneigentlichem Sinne Geſammtſtat nennen. Sie ſchwankt noch zwiſchen völkerrechtlicher und ſtatsrechtlicher Geſtaltung. Von der Art waren die Hanſeſtädte im Mittelalter die Republik der Niederlande, die ſchweizeriſche Eidgenoſſenſchaft vor 1798 und wieder 1803 bis 1848, die urſprüngliche Bundesverfaſſung der Vereinigten Staten von 1776 bis 1787, der deutſche Bund von 1815—1866.
Der Bundesſtat dagegen iſt eine einheitliche Geſtaltung des Geſammtſtates, der ſchärfer unterſchieden wird von den Einzelſtaten und in ſich als Stat vollſtändig organiſirt iſt. Zuerſt erſcheint dieſe Form ausgebildet in Nordamerika ſeit 1787, und iſt in der Schweiz 1848 nachgebildet worden. Das Statenreich iſt mehr eine monarchiſche und daher in höherem Sinne einheitliche Zuſammenfaſſung einer Mehrzahl von Einzelſtaten zu einem Geſammtſtate. Im Mittelalter hatte das
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Völkerrechtliche Perſonen.
deutſche Reich dieſen Charakter, bevor es ſeiner Auflöſung entgegen ging, und heute noch das Türkiſche Osmanenreich. Der Norddeutſche Bund von 1867 läßt ſich nicht unter einen dieſer Begriffe unterbringen, indem er von allen drei Grundformen etwas an ſich hat. Er iſt geſchichtlich aus einem Statenbund (dem deutſchen Bund) durch die entſcheidende Führung einer mächtigen Monarchie (des Preußiſchen Stats) und unter Einwirkung bundesſtatlicher Ideen entſtanden, und trägt überall die Spuren dieſer Entſtehung an ſich. Er iſt ein Compromiß der verſchiedenen idealen und realen Mächte, ſo jedoch, daß immerhin die Natur des Statenreichs überwiegt.
71.
Sowohl der Geſammtſtat (der Statenverein) gilt völkerrechtlich als Statsperſon als die Einzelſtaten.
Die Souveränetät des Geſammtſtates äußert ſich innerhalb des verfaſſungsmäßigen Bereiches der Geſammtheit und die der Einzelſtaten in den Sonderangelegenheiten des einzelnen Landes.
Die Perſönlichkeit auch der Statenbünde zeigt ſich deutlicher noch im Völkerrecht als im Statsrecht. Die ſchweizeriſche Eidgenoſſenſchaft galt im europäiſchen Statenſyſtem während Jahrhunderten als Ein Statsweſen, obwohl ſie in ſich ſelbſt durchaus nicht als Stat organiſirt, ſondern nur ein dauernder Verband von ſouveränen Staten war.
72.
In den Bundesſtaten und den Statenreichen wird die völkerrechtliche Vertretung nach außen regelmäßig durch die Bundes- oder Reichsgewalt beſtimmt und beſorgt. Indeſſen ſind auch Verträge der Einzelſtaaten unter ſich oder mit fremden Staten zuläſſig, wenn gleich in den Schranken der Verfaſſung und unter Aufſicht des Geſammtſtats.
In der Schweiz werden die Verträge der Cantone unter ſich Concordate genannt. Der intercantonale Charakter derſelben iſt analog dem völkerrechtlichen der Verträge unter fremden Staten, wird aber dadurch modificirt, daß die Cantone hinwieder bundesſtatlich verbunden ſind und daher der Bund eine Aufſicht über die Concordate übt und dieſelben unter ſeinen Schutz ſtellt.
73.
In den Statenbünden gehört die diplomatiſche Vertretung regelmäßig der Regierung der Einzelſtaten zu. Indeſſen iſt auch die Geſammtheit berechtigt, ſich als Eine zuſammengeſetzte Statsperſon vertreten zu laſſen und Verträge abzuſchließen.
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Zweites Buch.
In den Statenbünden tritt die Souveränetät der Einzelſtaten voller und entſchiedener hervor, als in den Bundesſtaten. Deßhalb wird in der Regel auch der Geſantſchaftsverkehr vorzugsweiſe mit den Einzelſtaten gepflogen. Aber weil doch der Statenverband wieder ein Intereſſe hat, ſich als völkerrechtliches Ganzes darzuſtellen, ſo muß auch ihm die Befugniß gewahrt werden, gemeinſame Bundesgeſante zu bezeichnen und bei ſich fremde Geſante zu empfangen. Bei dem deutſchen Bunde waren manche fremde Geſante accreditirt und in einzelnen Fällen ließ er ſich durch einen gemeinſamen Bundesgeſanten auswärts vertreten.
74.
Wenn zwei oder mehrere Staten durch dasſelbe Statshaupt nur vorübergehend geeinigt ſind, ſo werden ſie im Völkerrecht als zwei verſchiedene Perſonen behandelt und haben demgemäß auf Conferenzen und Congreſſen zwei oder mehrere Stimmen und können durch verſchiedene Geſante vertreten werden.
Beiſpiele treten ein, wenn ein Erbfürſt in einem andern Lande auf Lebenszeit zum Wahlfürſt gewählt wird. Karl V. war als römiſcher Kaiſer und deutſches Reichsoberhaupt Vertreter des deutſchen Reiches und als König von Spanien Vertreter Spaniens, ohne daß irgend eine nähere ſtats- oder völkerrechtliche Beziehung dieſer beiden Staten zu einander eintrat.
75.
Iſt aber die Einigung unter Einem Statshaupt eine dauernde und erſcheint die Verbindung der ſo geeinigten Staten als eine politiſche, wenn auch noch nicht als eine ſtatsrechtlich organiſirte Lebensgemeinſchaft, ſo wird dieſelbe völkerrechtlich wie ein Geſammtſtat betrachtet und in einer gemeinſamen Vertretung durch Eine Stimme dargeſtellt. Soweit indeſſen die Verhältniſſe der einzelnen verbundenen Staten beſonders hervortreten, iſt hinwieder eine beſondere Vertretung zuläſſig.
Von der Art ſind die fortdauernden Perſonalunionen durch dieſelbe fürſtliche Dynaſtie. Frühere Beiſpiele ſind die urſprüngliche Perſonalunion des Erzherzogthums Oeſterreich mit der Böhmiſchen und der Ungariſchen Krone, auch die anfängliche Verbindung der Engliſchen mit der Schottiſchen und mit der Iriſchen Krone, das heutige Verhältniß der Königreiche Schweden und Norwegen. Siehe oben zu § 70.
76.
Wenn die Souveränetät eines States abgeleitet erſcheint von der Souveränetät eines andern Hauptſtates und in Anerkennung und in Folge dieſer Ableitung eine theilweiſe Unterordnung jenes States unter dieſen
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Völkerrechtliche Perſonen.
fortdauert, ſo wird der eine Vaſallenſtat und der andere lehensherrlicher oder oberherrlicher Stat genannt.
Die völkerrechtliche Selbſtändigkeit des erſtern wird durch die nothwendige Rückſicht auf den letztern beſchränkt.
Es ſind hier immerhin mancherlei Uebergangsſtufen von einer Gebundenheit, welche den diplomatiſchen Verkehr des Vaſallenſtates mit andern Staten nur durch Vermittlung des oberherrlichen States geſtattet, bis zu völlig freier Bewegung des Vaſallenſtates denkbar. Die deutſchen Territorialſtaten des ſpätern Mittelalters waren ſolche Vaſallenſtaten, indem ſie ihre Regalien von dem deutſchen Könige empfingen und von Kaiſer und Reich abhängig waren. Aber ſeit dem Weſtphäliſchen Frieden war doch ihr Recht anerkannt, mit fremden Mächten Allianzen zu ſchließen.
In mancherlei verſchiedenen Rechtsverhältniſſen ſtehen die Vaſallenſtaten der Türkei, die mohammedaniſchen Fürſtenthümer Tunis und Tripolis, das Vicekönigthum Aegypten, ſodann das chriſtliche Fürſtenthum Serbien und die rumäniſchen Donaufürſtenthümer Moldau und Wallachei und das Fürſtenthum von Montenegro zur hohen Pforte. Das frühere Königreich Neapel war nur dem äußeren Scheiue nach gleichſam zum Zeichen der Ehrfurcht, ein Vaſallenſtat des päpſtlichen Rom und in Wahrheit wurde es im europäiſchen Völkerrecht als ein voll-ſouveräner Stat betrachtet und behandelt.
77.
Da die Souveränetät, in welcher ſich die Einheit und Hoheit des States gipfelt, eine natürliche Tendenz zur Einheit hat, ſo iſt dieſe Spaltung derſelben in eine Oberherrliche und in eine Vaſallenſouveränetät nicht dauerhaft. Entweder erheben ſich im Laufe der Zeit die Vaſallenſtaten zu vollſouveränen Staten, indem die Oberherrlichkeit immer mehr zur bloßen Form und ohnmächtig wird, oder der oberherrliche Stat zieht hinwieder die verliehenen Hoheitsrechte an ſich und einverleibt ſich den Vaſallenſtat.
Die geſchichtliche Entwicklung beweist die Wahrheit dieſes Satzes. Im Mittelalter gab es eine große Maſſe von Vaſallenſtaten ſowohl in Europa als in Aſien. Gegenwärtig ſind faſt alle verſchwunden, weil ſie in Einheitsſtaten umgewandelt worden ſind. Nur in dem Türkiſchen Reiche iſt dieſer Umbildungsproceß noch nicht zum Abſchluß gekommen. Das Völkerrecht muß dieſe natürliche Entwicklung beachten und es ſoll ſie ſchützen, es darf ſie nicht dadurch hemmen wollen, daß es unhaltbare Formen der ältern Rechtsbildung zu verewigen ſucht.
78.
Die Souveränetät der Schutzſtaaten, das heißt der Staten, welche im Gefühl ihrer Schwäche den Schutz eines mächtigeren States geſucht
(0112 : 90)
Zweites Buch.
und ſich der Schutzhoheit desſelben unterworfen haben, gilt ebenfalls als Halbſouveränetät, weil ſie durch eine übergeordnete höhere Souveränetät dauernd beſchränkt wird.
Die Schutzhoheit iſt inſofern ähnlich der Lehenshoheit, als der Schirmherr, wie der Lehensherr eine übergeordnete Stellung behauptet. Aber es wird nicht von jenem wie von dieſem die halbe Souveränetät des Schutzſtates abgeleitet, ſondern nur um der Rückſicht auf den Schirmherrn willen die Souveränetät des Schutzſtates beſchränkt. Auch dieſes Verhältniß trägt übrigens den Keim des Todes in ſich, denn ein Stat, der ſich nicht ſelber ſchützen kann, verdient nicht ein ſelbſtändiger Stat zu bleiben. Die Beiſpiele ſolcher Staten ſind daher wieder ſelten in dem heutigen Statenſyſtem. Die Republik Krakau, welche unter der Schutzhoheit der drei Oſtmächte, Oeſterreich, Rußland und Preußen, geweſen war, iſt 1846 von Oeſterreich einverleibt; die Joniſchen Inſeln, ein Schutzſtat Englands, ſind 1864 mit Griechenland vereinigt worden. Wenn auch die Donaufürſtenthümer zunächſt Vaſallenſtaten der Ottomaniſchen Pforte zugleich Schutzſtaten der europäiſchen Großmächte ſind, ſo dient dieſes Schutzverhältniß eher dazu, ihr Wachsthum zur Unabhängigkeit von der Türkiſchen Herrſchaft zu fördern, als ihre freie Entwicklung zu gefährden.
79.
Den Colonialſtaten, welche dem Mutterſtate untergeordnet ſind, kann ebenfalls eine beſchränkte Selbſtändigkeit zugeſtanden ſein, ſo daß ſie als halbſouveräne Staten in beſondere völkerrechtliche Beziehungen treten.
Schon die große Entfernung vieler überſeeiſchen Colonien von dem Mutterſtate macht im Intereſſe derſelben eine beſondere Regierung und daher auch eine beſondere Repräſentation oft wünſchenswerth. Wenn daher auch urſprünglich das Mutterland der alleinige Sitz der Souveränetät war, ſo erfordert das Wachsthum der Colonie doch mit der Zeit eine Ausſtattung mit größeren Rechten freier Bewegung. So entwickeln ſich die Colonien zu eigenthümlichen Statsweſen, ähnlich den Schutzſtaten und ſcheiden ſich zuletzt wohl auch als neue vollſouveräne Staten aus. Die Geſchichte von Amerika enthält in dieſer Hinſicht große Lehren auch für das Völkerrecht. Als Vorbild einer guten Colonialpolitik darf die engliſche gegenüber von Canada und Auſtralien ſeit den Reformen von Lord Durham (1836) angeſehen werden.
80.
In ähnlichen Verhältniſſen theilweiſer Abhängigkeit von den Hauptſtaten und theilweiſer Selbſtändigkeit ſtehen auch die mancherlei Nebenländer.
Es kommt hier freilich vieles darauf an, wie dieſe Nebenländer beſchaffen ſeien, ob die darin lebende Bevölkerung fähig ſei, ihre öffentlichen Intereſſen ſelb-
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Völkerrechtliche Perſonen.
ſtändig zu beſorgen, und ob ſie geneigt ſei, das ſo zu thun, daß dabei die Intereſſen des Hauptſtates nicht verletzt werden. Wenn ſie unfähig und feindlich geſinnt iſt, ſo wird ihr entweder überhaupt keine Selbſtändigkeit verſtattet oder dafür geſorgt werden, daß die Verwaltung der beſonderen Landesintereſſen nicht der unterworfenen Bevölkerung überlaſſen, ſondern von der dahin verpflanzten Colonie des Herrſchervolkes beſorgt werde. Da dieſe Nebenländer meiſtens durch Eroberung dem Hauptſtate unterworfen worden ſind, wie z. B. die Oſtindiſchen Länder den Engländern, Algier dem Franzöſiſchen State, ſo iſt es ſchwerer, dieſelben zu ſtatlicher Selbſtändigkeit heranzubilden, als die eigentlichen Colonialländer.
C. Rechtsgleichheit.
81.
Jeder Stat iſt als Rechtsperſon dem andern State gleich. An dem Völkerrecht haben alle Staten gleichen Antheil und gleichen Anſpruch auf Achtung ihrer Exiſtenz.
Die Rechtsgleichheit der Staten iſt ebenſo zu verſtehen, wie die Rechtsgleichheit der Privatperſonen. Der Unterſchied der Größe, der Macht, des Ranges ändert an der weſentlichen Gleichheit Nichts, welche in der Anerkennung aller dieſer Perſonen als Rechtsweſen und der gleichmäßigen Anwendung der völkerrechtlichen Grundſätze auf Alle beſteht.
82.
Kein Stat iſt berechtigt, die individuellen Kennzeichen eines andern Stats — deſſen Namen, Wappen, Fahne, Flagge — ſich anzueignen oder zu mißbrauchen.
In dieſen Zeichen ſpricht ſich die beſondere Perſönlichkeit eines States aus und jeder Stat hat ein Recht, in derſelben geachtet zu werden. Die Rechtsgleichheit verwiſcht nicht die individuelle Verſchiedenheit, ſondern erkennt ſie an und ſchützt ſie für Alle. Selbſtverſtändlich geht hier die ältere Wahl ſolcher Namen und Zeichen der ſpäteren vor. So weit jene vollzogen iſt, muß dieſe ſie als bereits vorhandenes Recht reſpectiren und darf keine Verwirrung ſtiften durch Aneignung derſelben Namen und Zeichen.
83.
Jeder Stat hat gleichen Anſpruch darauf, als eine geiſtig-ſittliche und als eine Rechtsperſon geachtet zu werden, und demgemäß auch ein Recht auf Ehre. Die Verletzung der Statsehre begründet das Recht, Genugthuung zu fordern.
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Zweites Buch.
Auch in dieſer Beziehung verhält es ſich mit den Staten ähnlich, wie mit den einzelnen Menſchen. Der Menſch als ſolcher hat eine Würde und es gibt eine gemeinſame Menſchenehre wie eine Statsehre, die im Verkehr mit Menſchen und Staten nicht verletzt werden darf. Freilich kann auch ein Stat in einzelnen Fällen eine unſittliche und eine geiſtig-niedrige Politik verfolgen, wie ein einzelner Menſch zuweilen ſchlecht und dumm handeln kann; und natürlich wird dieſes Verhalten auch einen Einfluß üben auf die öffentliche Meinung und auf das Vertrauen der übrigen Staten. Aber der Rechtsanſpruch auf die allgemeine Statsehre wird dadurch ſo wenig zerſtört, als das Recht jener Privatperſonen auf Anerkennung der gemeinen Menſchenehre, durch einzelne Fehler. Die Menſchenehre ſtrahlt immer wieder neu hervor aus der an ſich hohen Menſchennatur, dem Ebenbilde Gottes, und ebenſo die Statsehre aus dem majeſtätiſchen Weſen des States, das heißt der einheitlichen und männlichen Geſtaltung des Völkerlebens.
84.
Aus der perſönlichen Rechtsgleichheit der Staten folgt nicht gleicher Rang derſelben noch das Recht eines jeden States, einen beliebigen hohen Titel anzunehmen. Aber es ſteht einem jeden State zu, einen ſeiner Bedeutung und Machtſtellung entſprechenden Titel zu wählen.
Die beiden Sätze, daß jeder Stat Anſpruch habe auf gleichen Rang, und daß jeder Stat beliebige Titel annehmen könne, die man zuweilen aus der mißverſtandenen Rechtsgleichheit gefolgert hat, ſind falſch. Denn der Rang, den ein Stat in der Geſellſchaft der übrigen Staten einnimmt, iſt nicht eine einfache Wirkung ſeiner Perſönlichkeit, welche für alle Staten dieſelbe rechtliche Bedeutung hat, ſondern er iſt die Wirkung der Machtſtellung und des Einfluſſes, welche verſchieden ſind unter den Staten. Der Titel aber bezeichnet den Rang, den ein Stat unter den andern einnimmt und kann eben deßhalb nicht willkürlich von jenem ohne Rückſicht auf dieſe gewählt werden. Es war der Gipfel der Lächerlichkeit, als ein Negerhäuptling auf Haiti den Kaiſertitel für ſeine Flitterkrone in Anſpruch nahm. Als der Kurfürſt Friedrich I. von Brandenburg im Jahr 1700 den Königstitel annahm, konnte die innere Berechtigung desſelben noch bezweifelt werden, aber die Geſchichte des Preußiſchen Stats hat ſeither alle Zweifel zerſtreut. Aehnlich verhält es ſich mit der Annahme des Kaiſertitels durch Peter den Großen, welche nur ſehr allmählich Anerkennung fand, (von dem deutſchen Kaiſer erſt 1744, von Frankreich erſt 1762 und von Polen 1764) und in unſerm Jahrhunderte durch Frankreich und Oeſterreich. Auf dem Aachener Congreß erklärten die fünf Großmächte ausdrücklich in dem Protokoll vom 11. Oct. 1818, daß dem Wunſche des Kurfürſten von Heſſen auf den Titel eines Königs nicht zu entſprechen ſei und daß ſie überhaupt in Zukunft über andere Titelerhöhungen gemeinſam verhandeln wollen.
85.
Auf kaiſerlichen Rang und Titel haben nur diejenigen Staten einen natürlichen Anſpruch, welche nicht eine bloße nationale, ſondern eine uni-
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Völkerrechtliche Perſonen.
verſelle Bedeutung haben für die Welt oder mindeſtens einen Welttheil und inſofern Weltmächte ſind oder welche doch als Großſtaten verſchiedene Völker in ſich einigen oder auf verſchiedene Völker einen ſtatlich beſtimmenden Einfluß haben.
Das charakteriſtiſche Merkmal des Kaiſerthums iſt das, daß es ſich als Statsautorität über den engen Geſichtskreis eines beſonderen Volkes und die engen Grenzen eines einzelnen Landes erhebt. Das Kaiſerthum hat einen weltgeſchichtlichen Urſprung und eine univerſelle Bedeutung in der Geſchichte. Daher darf auch der Kaiſertitel nicht von der anmaßlichen Eitelkeit bloßer Volks- und Landesfürſten mißbraucht werden. Die fränkiſchen und die deutſchen Könige des Mittelalter erhielten denſelben als römiſche Kaiſer und ſtanden als Verwalter des Weltfriedens und der chriſtlichen Weltordnung (damals imperium mundi genannt) an der Spitze der abendländiſchen Chriſtenheit. Der Ruſſiſche Czar Peter der Große nahm den Kaiſertitel 1701 in der Abſicht an, die Erinnerung an das Oſtrömiſche Kaiſerthum zu erneuern. Napoleon I. wollte das Reich Karls des Großen in moderner Gewalt wieder aufrichten, als er 1804 den Kaiſertitel ſich aneignete. Das Oeſterreichiſche Kaiſerthum (ſeit 1804) und das zweite franzöſiſche (ſeit 1852) haben eine weniger univerſelle, aber doch nicht eine bloß nationale und einzelſtatliche Bedeutung.
86.
Der Kaiſerliche Rang eines States iſt nicht bedingt durch den Kaiſertitel. Auch eine von Königen regierte Weltmacht hat Anſpruch auf kaiſerlichen Rang und ebenſo eine weltmächtige Republik.
Die Großbrittaniſche Krone hat den Königsnamen aber den Kaiſerlichen Rang. Keine andere ſteht ihr an univerſeller Bedeutung gleich. Nichts wird die Bundesrepublik der Vereinigten Staten von Nordamerika hindern, wenn ſie ſich als Weltmacht darſtellen will, Kaiſerlichen Rang anzuſprechen und zu behaupten.
87.
Königlichen Rang haben die übrigen weſentlich auf ein Volk und ein Land beſchränkten Staten von anſehnlichem Umfang und erheblicher Bedeutung im Völkerverkehr.
Dahin rechnet man nach dem diplomatiſchen Gebrauch, außer den Staten, deren Häupter als Könige völkerrechtlich anerkannt ſind, auch die Republiken von ähnlicher Größe und Bedeutung und die vorhandenen Großherzogthümer.
Schon im Mittelalter nahmen die Kurfürſten des heiligen römiſchen Reichs deutſcher Nation für ſich denſelben Rang in Anſpruch, den die Könige der
(0116 : 94)
Zweites Buch.
andern chriſtlichen Völker hatten. Ueber ihnen allen erhoben ſich ja nach der Fiction der mittelalterlichen Reichslehre in derſelben Weiſe die kaiſerliche Majeſtät und die päpſtliche Heiligkeit.
88.
Es beſteht kein Rangvorzug der Königreiche vor den Republiken mit königlichem Rang oder umgekehrt dieſer vor jenen.
Das höfiſche Ceremoniel kennt wohl den Vortritt der Könige vor den Großherzogen, aber nicht einen Vortritt der Königsſtaten vor den königlichen Freiſtaten. Die Macht und der politiſche Einfluß, welche die natürliche Grundlage auch für die Rangordnung der Staten bilden, ſind von dieſem Verfaſſungsunterſchied unabhängig. England hatte als Republik unter Cromwell eine größere Bedeutung aber keinen andern Rang als zur Zeit des Königs Karls I.; und die franzöſiſche Republik behauptete im Frieden von Campo-Formio 1797 denſelben Rang, wie vormals unter den Bourboniſchen Königen.
89.
In allen weſentlichen Beziehungen ſtehen alle Königlichen Staten unter einander und auch den Kaiſerlichen gleich. Insbeſondere kommt allen das unbeanſtandete Recht zu, Botſchafter zu ſenden und zu empfangen, königliche Embleme in Krone, Scepter, Wappen anzunehmen und zu führen, im Ceremoniel und bei Unterzeichnung der Verträge auf dem Fuße der Gleichheit behandelt zu werden. Die Fürſten dieſes Ranges geben ſich im brieflichen Verkehr den Brudernamen.
Indeſſen erhalten nur die Könige als Statshäupter den Titel der „Majeſtät“, nicht auch die übrigen Fürſten von Königlichem Rang, und es haben jene vor dieſen den Vortritt.
Der Titel der Majeſtät, urſprünglich auf den Kaiſer beſchränkt, iſt ſeit dem titelſüchtigen ſiebenzehnten Jahrhunderte auch auf die Könige ausgedehnt worden. Jedenfalls paßt er nur zu einer Würde, welche mit dem Vollgenuß der vollkommenen Regierungsſouveränetät verbunden iſt, aber nicht auf ſtatsrechtlich abhängige Könige. Es wird aber wohl ſchwerer noch werden, die Titel zu ermäßigen, als die wirklichen Hoheitsrechte zu vermindern.
90.
Unter Staten von gleichem Rang haben je die älteren den Vortritt vor den jüngern. Ueberdem können die Rangverhältniſſe zwiſchen einzelnen Staten durch Vertrag oder Obſervanz beſtimmt ſein.
(0117 : 95)
Völkerrechtliche Perſonen.
Die Verſuche, auf dem Aachener Congreſſe dieſe Dinge genauer völkerrechtlich zu ordnen, ſind an den Schwierigkeiten geſcheitert, welche die Eitelkeit und die höfiſchen Sitten jeder Uebereinkunft der Art in den Weg ſtellen.
Beſondere Verträge und Gebräuche finden z. B. Statt in einzelnen Ländern bezüglich des Schiffsgrußes. Vgl. Phillimore, Intern. Law. Bd. II. § 34 ff.
91.
Die Verwantſchaft der Souveräne ändert das Rangverhältniß derſelben nicht.
Protokoll des Wiener Congreſſes vom 19. März 1815. Art. V.: „Les liens de parenté ou d’alliance de famille entre les Cours ne donnent aucun rang à leurs employés diplomatiques. Il en est de même des alliances politiques“.
92.
Halbſouveräne Staten (Vaſallenſtaten, Schutzſtaten, abhängige Einzelſtaten) ſtehen jederzeit im Rang den übergeordneten oberherrlichen Staten, (Schutzmächten, Geſammtſtaten oder Hauptſtaten) nach.
Da die Unterordnung jener Staten unter dieſe ſogar eine ſtatsrechtliche iſt, ſo folgt die Ueberordnung dieſer Staten im Rang von ſelber daraus. Es gilt das z. B. von den Moldauiſchen Fürſtenthümern im Verhältniß zur Türkei, aber auch von Pennſylvanien gegenüber den Vereinigten Staten und von Sachſen gegenüber dem Norddeutſchen Bunde.
93.
Gegenüber dritten Staten nimmt der halbſouveräne Stat diejenige Stellung ein, welche ihm ſeinem anerkannten Titel oder ſeiner anerkannten Bedeutung in der Statenfamilie gemäß zukommt, neben und gleich vollſouveränen Staten.
Der Grund liegt in der Regel der Gleichheit, welche überall eintritt, wo keine beſonderen Gründe einen Unterſchied rechtfertigen. Den dritten Staten gegenüber beſteht keine Unterordnung, und daher iſt auch der gleiche Rang am Platz. Wenn alſo z. B. Virginien mit Braſilien einen Vertrag ſchließt, oder Sachſen mit Oeſterreich, ſo iſt der Umſtand, daß jenes zu den Vereinigten Staten, dieſes zu dem Deutſchen Nordbunde gehört, nur erheblich im Verhältniß zu der Bundesgewalt, aber nicht erheblich für die Rangſtellung gegenüber dem auswärtigen State.
94.
Die Rangerhöhung eines States bedarf, um allſeitig zu wirken, der
(0118 : 96)
Zweites Buch.
völkerrechtlichen Anerkennung der übrigen Staten, welche indeſſen nicht willkürlich und ohne Grund verſagt werden darf.
Vgl. zu Art. 84. Die grundloſe Verweigerung der Anerkennung iſt zum mindeſten ein Zeichen unfreundlicher Geſinnung und kann zur Beleidigung des States werden, der ſich emporgeſchwungen hat.
II. Statenſyſteme.
1. Gleichgewicht.
95.
Das Gleichgewicht unter den Staten beſteht nicht darin, daß dieſelben gleich groß an Umfang des Gebiets und an Volkszahl und gleich mächtig ſeien. Die Verſchiedenheit der Staten an Größe und Macht iſt eine nothwendige Wirkung der natürlichen Unterſchiede des Bodens der Volksindividualitäten und der geſchichtlichen Entwicklung.
Das Völkerrecht muß dieſe Verſchiedenheit anerkennen und darf ſie nicht bekämpfen. Ihre Zerſtörung würde die Beſtimmung der Menſchheit gefährden, welche auf der Wechſelwirkung verſchiedener Kräfte beruht.
Der Gedanke eines mathematiſchen Gleichgewichts war zu Anfang des XVIII. Jahrhunderts beliebt. Man hoffte von ſeiner Verwirklichung die Sicherung des Weltfriedens und die gründliche Beſeitigung jeder Gefahr von Univerſalmonarchie. Der bekannte Vorſchlag des Abbé Saint Pierre: „Projet de la paix éternello“ von 1715 am Schluß des großen europäiſchen Krieges gegen das Uebergewicht Frankreichs, ſucht dieſen Gedanken in einer neuen Karte Europas darzuſtellen. Aber der Gedanke iſt ſchon deßhalb falſch, weil er die geiſtigen Charakterkräfte, die ſich nicht abzählen laſſen, mißachtet und eine künſtliche Gleichheit da einrichten will, wo die Natur große und dauernde Unterſchiede zeigt.
96.
Es iſt ferner keine Forderung des Gleichgewichts, daß die beſtehenden Staten allezeit unverändert erhalten bleiben. Es gibt ein natürliches und inſofern nothwendiges Wachsthum der Staten und ebenſo eine unvermeidliche Abnahme ihrer Kräfte und ihrer Wirkſamkeit. Das Völkerrecht muß die umbildende Macht der Geſchichte anerkennen.
(0119 : 97)
Völkerrechtliche Perſonen.
Das Mittelalter war der Zerbröckelung der Nationen in kleine Fürſtenthümer und Städte, zumal in Deutſchland und in Italien ſehr günſtig. Der Zuſtand war erträglich, ſo lange der Verkehr gering, das nationale Bewußtſein ſchwach, die öffentlichen Bedürfniſſe klein waren und keine äußeren Gefahren die Exiſtenz dieſer Stätchen bedrohten. In der neueren Zeit iſt das Alles anders geworden. Deßhalb gingen die meiſten Kleinſtaten bereits unter und es bildeten ſich größere Volksſtaten aus.
97.
Es iſt kein völkerrechtliches Geſetz, daß die Erweiterung eines Statsgebiets einen andern vielleicht rivalen Stat berechtige, auch ſeinerſeits eine Vergrößerung zu verlangen.
In der ſtatlichen Praxis des vorigen Jahrhunderts hat man ſich oft auf dieſe angebliche Folgerung aus dem Princip des Gleichgewichts berufen, um die Eroberungsſucht mit einem ſcheinbaren Rechtsſatze zu bemänteln. So verlangte Oeſterreich ein Stück der Türkei, weil Rußland ſich in Polen ausdehne. Die Theilung Polens unter die drei Nachbarmächte wurde auch mit ſolchen Argumenten beſchönigt. Aber noch in unſerm Jahrhunderte iſt mit ſolchen Scheingründen vielfältig Mißbrauch getrieben worden. Man hat noch im Jahr 1803 deutſches Land nach dem Ausdruck Fichte’s „zu Zulagen gemacht zu den Hauptgewichten in der Wage des europäiſchen Gleichgewichts“. Sogar noch 1860 wurde die Annexion Savoyens durch Frankreich wenigſtens nebenher mit dem großen Wachsthum des Königreichs Italien zu rechtfertigen geſucht. Da das völkerrechtliche Gleichgewicht nicht gleich große Staten, noch ein unveränderliches Größenverhältniß der vorhandenen bedeutet, noch bedeuten darf, ſo iſt eine derartige mathematiſche Anwendung jenes Princips unzuläſſig. Die Exiſtenz und die Entwicklung der Völker und Staten darf nicht nach ſo plumpen Regeln beſchnitten und zugeſchnitten werden.
98.
Das wahre Gleichgewicht bedeutet das friedliche Nebeneinanderbeſtehen verſchiedener Staten. Es wird gefährdet und geſtört, wenn das Uebergewicht Eines States ſo unverhältnißmäßig zu werden droht, daß die Sicherheit und Freiheit der übrigen Staten daneben nicht mehr fortbeſtehen kann. In ſolchen Fällen ſind nicht bloß die zunächſt gefährdeten ſchwächeren Staten, ſondern es ſind auch die übrigen ungefährdeten Staten veranlaßt und berechtigt, das Gleichgewicht herzuſtellen und für ausreichenden Schutz desſelben zu ſorgen.
Es gilt dieſer Satz vorzüglich von der europäiſchen Statenfamilie, welche den Fortbeſtand einer Anzahl ſelbſtändiger Staten als Grundbedingung ihrer Wohlfahrt betrachtet. Daraus erklären ſich die zahlreichen und am Ende glücklichen
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 7
(0120 : 98)
Zweites Buch.
Allianzen wider die drohende Univerſalmonarchie zuerſt gegen Kaiſer Karl V., dann gegen König Philipp II. von Spanien, ſpäter gegen Ludwig XIV. und wiederum gegen Kaiſer Napoleon I., zuletzt wider die Ruſſiſche Oberherrſchaft in Südoſteuropa. Aber nicht ebenſo ſcheint der Satz auf Amerika anwendbar, indem die Vereinigten Staten offenbar ſchon zur leitenden Hauptmacht für den ganzen Welttheil geworden ſind. Wenn aber Amerika beſtimmt iſt, in die Vereinigten Staten aufgenommen zu werden, ſo bedarf es dieſes Satzes nicht, wenn es aber auch für Amerika wie für Europa nöthig erſcheinen ſollte, eine Statengenoſſenſchaft von einander unabhängiger Staten zu bilden, ſo wird der Satz auch in das Amerikaniſche Völkerrecht aufgenommen werden müſſen.
99.
Das Streben nach einer auf die Uebermacht Eines Volkes geſtützten Univerſalherrſchaft über die andern Völker iſt eine Gefährdung des Gleichgewichts und rechtfertigt den gemeinſamen Widerſtand der übrigen Staten.
Vgl. die vorige Anmerkung. Mit dieſer völkerrechtswidrigen Bedrohung ſelbſtändiger und nicht zuſammengehöriger Staten darf nicht verwechſelt werden die Bedrohung unhaltbarer Particularſtaten durch einen nationalen Großſtat. Denn es kann die Einverleibung jener durch dieſen vielleicht eine nothwendige Bedingung ſein für die Sicherheit der nationalen Exiſtenz und Geſammtwohlfahrt, oder eine unvermeidliche Folge der nationalen Entwicklung eines Volks. Die Geſchichte Italiens im Jahr 1860, und die von Deutſchland im Jahr 1866 machen das klar. Das Gleichgewicht der italieniſchen und der deutſchen Particularſtaten war überhaupt kein Gut von hohem und von dauerndem Werth und es konnte leicht darauf verzichtet werden, wenn man ſtatt deſſen die unſchätzbare Errungenſchaft eines nationalen States und eine würdigere Stellung in der Welt erhielt.
100.
Auch eine theilweiſe Uebermacht eines States kann die Sicherheit und die Freiheit der andern Staten und damit das Gleichgewicht gefährden und rechtfertigt den gemeinſamen Widerſtand der übrigen Staten, um dieſelbe zu beſchränken. Das gilt insbeſondere von einer übermächtigen Seeherrſchaft eines States.
Ein Beiſpiel geben die Verträge der neutralen Staten zur Bekämpfung der engliſchen Univerſalherrſchaft über die Meere.
2. Heilige Allianz.
101.
Die heilige Allianz vom Jahr 1815, welche auf das Princip der
(0121 : 99)
Völkerrechtliche Perſonen.
chriſtlichen Religion ein neues chriſtliches Völkerrecht begründen will, kann nicht als modernes Völkerrecht gelten.
Die heilige Allianz, zu Paris von den drei Monarchen von Rußland, Oeſterreich und Preußen unterzeichnet 14/26. Sept. 1815, war ein Verſuch der Reſtaurationsepoche, im Gegenſatze zu der franzöſiſchen Revolution, ein neues Völkerrecht zu begründen. Die Grundgedanken waren zum Theil der religiöſen Ueberlieferung des Mittelalters, zum Theil der Ruſſiſchen Weltanſicht entnommen. Eben deßhalb konnten ſie weder das moderne Rechtsbewußtſein, noch die Bedürfniſſe der civiliſirteren Völker befriedigen. Sie gehörten einem frühern Standpunkte der Entwicklung an und waren daher ungeeignet, den Fortſchritt der Neuzeit zu leiten und zu ordnen. Vgl. den Artikel Heilige Allianz im Deutſchen Statswörterbuch von Bluntſchli und Brater.
102.
Indem ſie das Völkerrecht ausſchließlich auf die Religion gründet, verkennt ſie den Unterſchied von Religion und Recht; indem ſie nur auf chriſtliche Völker anwendbar iſt und die nicht-chriſtlichen Staten außer die menſchliche Weltordnung verſetzt, verengt ſie die Wirkſamkeit des Völkerrechts; indem ſie Chriſtus als den „alleinigen Souverain der geſammten chriſtlichen Nation“ bezeichnet, geräth ſie auf die Abwege der Theokratie, welche dem politiſchen Bewußtſein der europäiſchen und der civiliſirten Völker überhaupt fremd und unerträglich iſt; indem ſie die patriarchaliſchen Ideen zu Statsprincipien erhebt, paßt ſie nicht zu der Denkweiſe und den Bedürfniſſen der politiſch erzogenen und frei gewordenen Menſchheit.
Man kann den frommen Geiſt, der dieſes Actenſtück beſeelt, ehren und ſich des großen Fortſchrittes erfreuen, welcher in der proclamirten Verbrüderung der Staten der verſchiedenen chriſtlichen Confeſſionen auch im Gegenſatz zum Mittelalter liegt, das nur die Chriſtenheit Einer Confeſſion als eine berechtigte Völkerfamilie anerkannte, alle Ungläubigen oder Andersgläubigen aber ausſchloß und verdammte. Aber die oben genannten Mängel ſind ſo groß, daß das Werk trotz der wohlwollenden Abſichten ſeiner Gründer nicht gelingen konnte.
Die Beſtimmungen der heiligen Allianz ſind durch die Wiſſenſchaft als unzureichend und theilweiſe irrthümlich im Princip und durch die ſeitherige europäiſche Geſchichte als unausführbar und unwirkſam erwieſen worden.
Die geſammte Entwicklung des Rechts- und des Statsbegriffs ſowohl im Alterthum als in der Neuzeit bei ſämmtlichen Statsvölkern widerſpricht der theokratiſchen Statslehre, welche der heiligen Allianz zu Grunde liegt. England und der Papſt ſind derſelben von Anfang an nicht beigetreten; und die anderen europäiſchen Staten haben ſich ſeither theils ausdrücklich davon losgeſagt, theils ſtillſchweigend dieſelbe fallen gelaſſen. Die geſammte Verfaſſungsbildung der neuen Zeit wird von menſchlichen Rechtsideen beſtimmt. In dem Orientaliſchen Kriege von 1854—1856
7*
(0122 : 100)
Zweites Buch.
ſtand Rußland, der Stifter der heiligen Allianz, ganz iſolirt, nicht bloß den feindlichen Weſtmächten England und Frankreich, ſondern ebenſo dem übelwollenden Oeſterreich und dem neutralen Preußen gegenüber; von der verſprochenen wechſelſeitigen „assistance aide et secours“ (Art. 1 des Vertrags) war Nichts mehr zu verſpüren.
3. Pentarchie.
103.
Der in Aachen 1818 befeſtigte Verband der fünf europäiſchen Großſtaten England, Frankreich, Oeſterreich, Preußen und Rußland bedeutet nicht einen feſten völkerrechtlichen Senat für Europa, ſondern nur, daß dieſe Staten zur Zeit die Macht haben und es als gemeinſame Aufgabe erkennen, bei der Regulirung der europäiſchen Angelegenheiten mitzuwirken.
Die Wiener Congreßacte wurde außer den genannten Staten auch von Spanien und Portugal und dem Könige von Schweden und Norwegen unterzeichnet. Aber man gewöhnte ſich, beſonders ſeit dem Congreß von Aachen, auf welchem Frankreich vollends wieder in die „brüderliche“ Gemeinſchaft der alliirten Mächte aufgenommen ward, jene fünf mächtigſten Staten als europäiſche Pentarchie zu betrachten. Die fünf Mächte beſaßen über zwei Drittheile des europäiſchen Bodens und umfaßten beinahe drei Viertheile der europäiſchen Geſammtbevölkerung. In der militäriſchen Macht waren ſie den übrigen europäiſchen Staten noch mehr überlegen. Dennoch war dieſe Vereinigung nur ein unvollſtändiges Bild der wirklichen Zuſtände von Europa. Die romaniſchen Staten waren im Verhältniß zu den germaniſchen zu wenig, die mittleren und kleineren Staten gar nicht berückſichtigt. Wenn aber ein Stat berechtigt erſcheint zu exiſtiren, ſo kann ihm das Recht nicht abgeſprochen werden, in der Verſammlung der Statengenoſſenſchaft auch eine Stimme zu haben und ſei es unmittelbar ſei es mittelbar vertreten zu ſein. Die ſogenannte Pentarchie mag als Anfang einer Organiſation Europas, aber ſie kann nicht als ihre Vollendung betrachtet werden.
104.
Die Zahl der europäiſchen Großſtaten iſt nicht abgeſchloſſen. Es können neue hinzutreten, indem ſie ſtark und ſo activ werden, daß ihre Mitwirkung in den europäiſchen Angelegenheiten ohne allgemeine Gefahr nicht zu entbehren iſt. Es können auch bisherige Großſtaten ſo ſchwach werden, daß es ungefährlich und unnöthig erſcheint, dieſelben weiter beizuziehen, wenn unter den Großſtaten über die europäiſchen Angelegenheiten verhandelt wird.
(0123 : 101)
Völkerrechtliche Perſonen.
Offenbar hat gegenwärtig das Königreich Italien den nächſten Anſpruch darauf, zu den europäiſchen Großſtaten gerechnet zu werden. Spanien, im ſechzehnten Jahrhundert noch die erſte europäiſche Großmacht, iſt durch die Mißregierung ſeiner Könige und den verderblichen Einfluß der kirchlichen Reaction dermaßen entkräftet und entgeiſtet worden, daß es in unſerm Jahrhundert nicht mehr als Großſtat angeſehen wurde. Das kann ſich aber wieder ändern. Ebenſo kann auch Schweden, im ſiebzehnten Jahrhundert eine wirkliche Großmacht, wieder eine bedeutendere Stellung erwerben, wenn es den Geiſt der Zeit verſteht. Die Bedeutung Preußens unter den Großmächten war nach dem Krimkriege in ein bedenkliches Schwanken gerathen, iſt ſeit dem Kriege von 1866 und ſeitdem es gewiß iſt, daß das deutſche Volk nun in dem Könige von Preußen ſein Reichsoberhaupt und daher vorerſt thatſächlich den deutſchen Kaiſer erkennt, ſehr gehoben worden. Alle dieſe Aenderungen in den politiſchen Verhältniſſen der Staten wirken auch auf die Stellung und den Einfluß zurück, welche dieſen Staten in der Organiſation Europas zukommen.
105.
Jeder europäiſche Stat hat ein Recht darauf, daß ſeine beſondern Angelegenheiten nicht von den Großſtaten gemeinſam verhandelt werden, ohne daß er zu der Verhandlung eingeladen und zugezogen werde.
Aachener Protokoll vom 15. Nov. 1818: „Que si, pour mieux atteindre le but ci-dessus énoncé (le maintien de la paix générale, fondé sur le respect réligieux pour les engagements consignés dans les traités) les puissances qui ont concouru an présent acte, jugeaient nécessaire d’établir des réunions particulières, soit entre les augustes souverains eux-mêmes, soit entre leurs ministres et plénipotentiaires respectifs, pour y traiter en commun de leurs propres intérêts, en tant qu’ils se rapportent à l’objet de leurs déliberations actuelles, l’époque et l’endroit de ces réunions seront chaque fois préablement arrêtés au moyen de communications diplomatiques, et que, dans le cas ou ces réunions auraient pour objet des affaires spécialement liées aux interêts des autres états de l’Europe, elles n’auront lieu qu’à la suite d’une invitation formelle de la part de ceux de ces états que les dites affaires concerneraient, et sous la réserve expresse de leur droit d’y participer directement ou par leurs plénipotentiaires.“
106.
Das Recht des States, über deſſen Verhältniſſe in der Verſammlung der europäiſchen Großſtaten verhandelt wird, zugezogen zu werden, erſtreckt ſich auf alle Verhandlungen. Er ſteht dabei den Großſtaten nicht wie eine Partei ihrem Richter, ſondern als vollberechtigte Perſon und weſentlich gleichberechtigtes Mitglied der europäiſchen Statengenoſſenſchaft zur Seite.
(0124 : 102)
Zweites Buch.
Dieſer Grundſatz, welcher aus der völkerrechtlichen Stellung der europäiſchen folgt, wurde auf den Congreſſen von Laibach (1821) und Verona (1822) nur unvollſtändig, beſſer dagegen auf dem Pariſer Congreß (1856) beachtet.
107.
Wenn die Zuſtände eines States dem europäiſchen Frieden Gefahr bringen oder ſeine Handlungen die allgemeine Sicherheit der europäiſchen Staten bedrohen oder die Leiden ſeiner Bevölkerung der Civiliſation Europas unwürdig und unerträglich erſcheinen, ſo ſind das nicht mehr beſondere Angelegenheiten unr dieſes States, ſondern iſt die europäiſche Statengenoſſenſchaft berechtigt, auf Beſſerung hinzuwirken.
In der Zeit der Interventionspolitik zu Gunſten der legitimen Fürſtengewalt wurde die erſte Bedingung einer Intervention arg mißbraucht, indem man da Gefahren für die europäiſche Rechtsordnung erblickte, wo in Wahrheit nur eine naturgemäße Fortbildung des Verfaſſungsrechts zu finden war. Ein Beiſpiel der zweiten Bedingung iſt der Krieg der Weſtmächte gegen Rußland 1853—56, als Rußland die Türkei überzog; und auf die dritte Bedingung hat man ſich wiederholt im Intereſſe der chriſtlichen Bevölkerung der Türkei berufen. Das heutige Europa darf nicht mehr dulden, daß die blutigen Ketzerverfolgungen oder die Hexengerichte nach der Weiſe des Mittelalters erneuert werden. Die civiliſirte Menſchheit hat ein Recht, die Fortſchritte der Menſchlichkeit gegen den Wahnſinn verblendeter Fanatiker zu ſchützen. Vgl. unten Buch VII.
4. Allgemeine Congreſſe.
108.
Zur Zeit gibt es noch keine anerkannte Rechtsordnung für allgemeine europäiſche Congreſſe und noch weniger für allgemeine Weltcongreſſe.
Die Inſtitution eines völkerrechtlichen Congreſſes, auf welchem die Häupter und Vertreter der Staten zu gemeinſamer Berathung zuſammentreten, iſt noch in ihren erſten mangelhaften und unſicher taſtenden Anfängen. Noch immer erſcheint der Congreß von Wien 1814—15 als der bedeutendſte allgemein-europäiſche Congreß. Die folgenden Congreſſe von Aachen 1818, Troppau 1820, Laibach 1821 und Verona 1822 waren vorzugsweiſe nur Congreſſe der fünf europäiſchen Großmächte. Der großartige Vorſchlag des Kaiſers Napoleon III. vom Jahr 1863 zu einem allgemeinen europäiſchen Congreß iſt bisher ohne Erfolg geblieben. Aber die Idee der Congreſſe hat ſo ſicher noch eine große Zukunft, als die fortſchreitende Menſchheit ſich mehr den friedlichen Mitteln zuwenden wird, um für den Schutz und die zeitgemäße Fortbildung ihrer gemeinſamen Lebensordnung zu ſorgen.
(0125 : 103)
Völkerrechtliche Perſonen.
109.
Aus der völkerrechtlichen Exiſtenz der Staten und aus ihrer Betheiligung an dem Schickſal der europäiſchen Statengenoſſenſchaft folgt das natürliche Recht aller europäiſchen Staten, welche einen ſelbſtändigen völkerrechtlichen Verkehr pflegen, zu einem allgemeinen europäiſchen Congreß zugezogen zu werden und eine eigene Stimme zu führen.
Staten, welche nur im Bunde mit andern Staten eine völkerrechtliche Exiſtenz behaupten können, ſind nicht zu individueller, ſondern nur zur Geſammtvertretung berechtigt.
Nach dieſem Grundſatze ergingen am 4. Nov. 1863 die Einladungen des Kaiſers Napoleon III. an alle ſouveränen Staten Europas. „Jedesmal“, heißt es in dem Einladungsſchreiben, „wenn ſtarke Stöße die Grundlagen der Staten erſchüttert und deren Gränzen verändert haben, griff man zu feierlichen Transactionen, um die neuen Elemente zu verbinden und die vollendeten Umgeſtaltungen zu ſichten und zu heiligen“.
110.
Sind die auf einem allgemeinen europäiſchen Congreſſe verſammelten Staten einig über völkerrechtliche Beſtimmungen, ſo ſind dieſelben für alle europäiſchen Staten verbindliche Rechtsvorſchriften.
Vgl. oben §. 13. Das gilt auch für die Staten, welche nicht erſchienen ſind und daher ihre Zuſtimmung nicht erklärt haben.
111.
Ein europäiſcher Congreß hat nicht die Autorität eines Weltcongreſſes, aber wenn er einig iſt, ſo ſpricht er das derzeitige europäiſche Rechtsbewußtſein auch bezüglich des allgemeinen Völkerrechts aus.
Darin liegt freilich keine genügende Sicherheit dafür, daß dieſe Ausſprache auch von den außereuropäiſchen Staten als richtig anerkannt und beachtet werde. So wurde bekanntlich von Seite der Vereinigten Staten von Amerika das Verbot der Kaperei, zu welchem ſich der Pariſer Friedenscongreß von 1856 verſtändigt hatte, nicht anerkannt, ſo lange nicht zugleich die tadelnswerthe Praxis der Seebeute ebenfalls verboten werde.
112.
Die Anerkennung und Wirkſamkeit allgemeiner Grundſätze des Völkerrechts wird beſſer geſichert, wenn zu der Berathung und autoritativen
(0126 : 104)
Zweites Buch.
Feſtſtellung derſelben mit den europäiſchen Großſtaten auch die außereuropäiſchen Weltmächte, insbeſondere die amerikaniſchen Großſtaten, zuſammentreten und zuſammenwirken, d. h. wenn der Congreß als Weltcongreß erſcheint.
Vgl. oben § 7.
113.
Auf den Statencongreſſen entſcheidet, in Ermanglung einer ſchützenden Organiſation, nicht die Meinung oder der Wille der Mehrheit. Die Minderheit iſt nicht von Rechtswegen verpflichtet, ſich der Mehrheit unterzuordnen. Ein einzelner Stat kann möglicher Weiſe mit Recht ſeine abweichende Meinung behaupten. Aber wenn die Mehrheit ſich für die Nothwendigkeit eines allgemeinen Rechtsgrundſatzes erklärt, ſo iſt das immerhin ein beachtenswerthes Zeugniß für das derzeitige allgemeine Rechtsbewußtſein der gebildeten Völker; und wenn gleich die Mehrheit keine formelle Herrſchaft hat über die Minderheit, ſo liegt doch in der Verletzung eines Grundſatzes, den jene für einen allgemein verbindlichen Rechtsſatz erklärt, eine ernſte Gefahr für den verletzenden Stat.
Wenn dereinſt die Congreſſe organiſirt ſein werden, dann wird auch eine Beſchlußfaſſung mit Mehrheit möglich werden. Es iſt eine Unvollkommenheit des jetzigen Rechtszuſtandes, daß der einzelne Stat allen andern gegenüber auch ſeine Willkür als Recht behaupten kann, welche an die noch barbariſche Sitte der alten Germaniſchen Rechtsfindung erinnert, in welcher nicht die Mehrheit der Stimmen, ſondern die Tapferkeit der Fäuſte entſchieden hat oder an das berüchtigte Veto der einzelnen Polniſchen Magnaten, welche das Zuſtandekommen der Geſetze zu hindern vermocht hat. Aber wie gefährlich die einfache Einführung des Mehrheitsprincips ohne Garantien gegen den Mißbrauch wäre, zeigt ſchon der Hinblick auf den Gegenſatz der Verfaſſungen. Wollte die monarchiſche Mehrheit der europäiſchen Staten die republikaniſche Schweiz nach monarchiſchen Grundſätzen bemeſſen, ſo würde das offenbares Unrecht ſein, ebenſo wie die Beurtheilung des Ruſſiſchen Stats nach den conſtitutionellen Syſtemen der übrigen europäiſchen Staaten unrichtig wäre.
114.
Die gegenwärtige Uebung, wornach auf den Congreſſen nur die Regierungen der Staten vertreten ſind, ſtimmt nicht zu dem repräſentativen Charakter des modernen Statsrechts und iſt keineswegs ohne Gefahr für die Verfaſſungen der einzelnen Staten.
Jener Widerſpruch und dieſe Gefahr laſſen ſich heben oder ermäßigen:
a) durch Vollmachten auch von Seite der Volksvertretung der Einzelſtaten,
(0127 : 105)
Völkerrechtliche Perſonen.
b) durch den Vorbehalt nachträglicher Genehmigung von Seite der geſetzgebenden Gewalt in den Einzelſtaten,
c) durch die Verantwortlichkeit der Miniſter und Geſanten für ihre Stimmführung auf den Congreſſen.
Die Anwendung der parlamentariſchen Vertretung auch auf völkerrechtliche Congreſſe wird noch lange ein idealer Wunſch bleiben. Inzwiſchen können aber die Volksvertretungen dafür ſorgen, daß nicht durch auswärtige Verhandlungen die verfaſſungsmäßigen Rechte ihres Volkes verletzt oder die beſonderen Intereſſen ihres Landes geſchädigt werden. In England und in den Vereinigten Staten iſt dieſe Sorge ſchon ſeit langem geübt worden und mit Erfolg, wie manche Beiſpiele zeigen. Lediglich deßhalb iſt die engliſche Krone der Heiligen Allianz nicht beigetreten und mehr als einmal hat der amerikaniſche Senat die diplomatiſchen Verabredungen durch ſeine Einſprache unwirkſam gemacht.
(0128 : [106])
(0129 : [107])
Drittes Buch. Völkerrechtliche Organe.
I. Die Statshäupter.
1. Repräſentationsrecht der Statshäupter.
115.
Das Statsrecht beſtimmt, wer die Statsperſönlichkeit nach außen darzuſtellen berechtigt und verpflichtet ſei und unter welchen Bedingungen und Beſchränkungen.
Die Bildung der nöthigen Organe, um den Stat zu leiten und im Namen des States zu handeln, iſt die Aufgabe der Statsverfaſſung. Das Völkerrecht hat den Stat zu nehmen, wie er iſt und beſtimmt nicht die Verfaſſung der Staten. Ob Jemand durch Erbrecht oder durch Wahl auf den Thron erhoben wird, iſt für die Frage der Repräſentation im Völkerrecht unerheblich. Vgl. oben § 18.
116.
In der Regel hat die wirkliche Statsregierung (qui actu regit) das völkerrechtliche Repräſentationsrecht auszuüben.
In dem helleniſchen Alterthum konnte es in Frage kommen, ob nicht der Volksverſammlung das Repräſentationsrecht zukomme. In den modernen Staten wird überall die Repräſentation nach Außen als Aufgabe und Recht der eigentlichen Statsregierung betrachtet.
Eine Statsregierung kann aber nur inſofern von andern Staten als wirklich betrachtet werden, als ſie in der That regiert, nicht wenn ſie bloß Anſprüche darauf erhebt, die Regierung zu übernehmen.
(0130 : 108)
Drittes Buch.
117.
Wer in einem Lande die Regierungsgewalt erwirbt, wird in Folge deſſen im völkerrechtlichen Verkehr als Organ der Statsperſönlichkeit betrachtet. Mit einem ſiegreichen und im Lande anerkannten Uſurpator können für den Stat verbindliche Verträge abgeſchloſſen werden.
Die europäiſchen Mächte haben ſo abwechſelnd mit dem Protector Cromwell und ſpäter wieder mit dem König Karl II. und nach der Vertreibung Jacobs II. mit dem Könige Wilhelm III. für England verbindliche Verträge abgeſchloſſen; ebenſo mit der franzöſiſchen Directorialregierung, mit Napoleon I., mit dem gewaltſam reſtaurirten König Ludwig XVIII., mit Ludwig Philipp, und wieder mit der republikaniſchen Regierung nach 1848 und mit Napoleon III. für Frankreich, ohne näher zu prüfen, ob dieſe verſchiedenen Statshäupter in correcter Rechtsform zur Regierung gelangt ſeien. Die wirkliche Regierung iſt allein in der Lage, für den regierten Stat zu handeln, weil ſie allein im Beſitz der Mittel iſt, um wirkſam zu handeln. Die Repräſentation iſt nur ein Theil, nur eine einzelne Aeußerung der Regierungsthätigkeit überhaupt. Da der Stat eine lebendige Perſon und nicht ein todtes Syſtem von formellen Rechten iſt, ſo kann er nur von dem vertreten werden, welcher in dem Stat und an der Spitze des States als lebendiges Statsorgan dem State dient, d. h. nur von dem, der wirklich die Regierungsgewalt ausübt oder ausüben läßt.
Wie innerhalb des States der thatſächlichen Regierung, dem „actually King“ gehorcht wird und gehorcht werden muß (Engliſche Parlamentsacte von Heinrich VII. 1494), ſo erſcheint nach außen die thatſächliche Regierung des Volks und Landes als deren natürliche Vertreter. In einer Note vom 25. März 1825 conſtatirte der engliſche Miniſter die allgemeine Uebung der europäiſchen Staten, mit den Regierungen de facto in völkerrechtlichen Verkehr zu treten. Vgl. Phillimore II. 19. Auch die römiſche Kirche hat trotz ihrer legitimiſtiſchen Neigungen in neuerer Zeit, dieſelbe Maxime im Verkehr mit den Staten behauptet. Papſt Gregor XVI. hat es in einer feierlichen Erklärung vom Aug. 1831 (bei Heffter Völkerr. Anhang. IV.) als ein Bedürfniß und einen alten Gebrauch der Kirche bezeichnet, daß dieſelbe mit denen verhandle „qui actu summa rerum potiuntur“, aber ſich zugleich dagegen verwahrt, daß darin eine Anerkennung ihrer Rechtmäßigkeit liege. Indeſſen iſt in der Aufnahme der völkerrechtlichen Beziehungen und in der Ertheilung der gebräuchlichen Titel (König u. ſ. f.) doch die Anerkennung einer wirklichen Regierung enthalten und es iſt das nicht ohne Wirkung auf die neue Rechtsbildung, indem ſie die Zweifel gegen deren Beſtand vermindert oder vollends beſeitigt.
118.
Wer die Regierungsgewalt verliert, hört in Folge deſſen auf, der völkerrechtliche Vertreter des States zu ſein.
(0131 : 109)
Völkerrechtliche Organe.
Mit einem entthronten Fürſten können keine den Stat verbindliche Verträge abgeſchloſſen werden.
Das nicht mehr wirkliche Statshaupt, außer Stande zu regieren, kann eben deßhalb den Stat auch nicht repräſentiren. Jakob II. konnte nach ſeiner Flucht und nachdem das Parlament ſeine Abſetzung in Form der angenommenen Abdankung erklärt hatte, nicht mehr England vertreten, noch die Bourbonen Frankreich während ihres Exils. Dasſelbe gilt von den vertriebenen italieniſchen und deutſchen Fürſten dieſer Tage. Selbſt wenn man annimmt, daß das Recht ſolcher entthronten Fürſten noch nicht erloſchen und je nach Umſtänden wieder herzuſtellen ſei, ſo muß doch, ſo lange dieſes Recht nicht ausgeübt werden kann, auch die daraus abgeleitete Repräſentation ruhen. Die Zumuthung an ein Volk, daß es durch einen Fürſten ſich verpflichten laſſe, der keine Macht mehr über dasſelbe beſitzt und außer Stande iſt, für den Vollzug ſeiner Zuſagen zu ſorgen, iſt ungereimt.
119.
Daraus, daß ein Stat mit dem thatſächlichen Haupte eines States in regelmäßigen Verkehr tritt, folgt nicht, daß er die Rechtmäßigkeit ſeiner Erhebung, wohl aber, daß er die rechtliche Wirkſamkeit ſeiner gegenwärtigen Statsſtellung anerkenne.
Vgl. zu § 117. Es iſt daher möglich, obwohl nicht zweckmäßig, daß ein Stat, wenn er eine neue Regierung anerkennt, zugleich ſeine Meinung über den revolutionären Anfang der neuen Gewalt ausſpricht, wie das im Jahr 1861 in einer Preußiſchen Note an das neue Königreich Italien geſchehen iſt.
120.
Die Legitimität oder Illegitimität des Urſprungs einer Statsregierung iſt eine Rechtsfrage, voraus des Stats-, erſt in zweiter Linie des Völkerrechts. Auch eine urſprünglich durch Rechtsbruch erhobene Regierung kann aber rechtmäßig werden, wenn ſie im State dauernden Beſtand gewinnt und allgemeine Anerkennung findet.
Im Gegenſatz zu dieſer Wahrheit hatte die Legitimitätspolitik der Congreſſe von Laibach und Verona es für eine Aufgabe der europäiſchen Völkerfamilie erklärt überall einzuſchreiten, wo in einem State der Geiſt der Revolution ſich rege und die legitimen Fürſten in ihrem Beſitze der Gewalt auch wider die Völker zu ſchützen und wiederherzuſtellen. Am klarſten ſpricht die damalige Tendenz die Circulardepeſche des Fürſten von Metternich aus, datirt Laibach 12. Mai 1821. Es heißt darin: „Les Souverains alliés n’out pu méconnaître, qu’il il n’y avait qu’une barrière à opposer a ce torrent devastateur“ (— de la conjuration impie,
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Drittes Buch.
qui veut renverser ce qui existe —). Conserver ce qui est légalement établi, tel a dû être le principe invariable de leur politique, le point de départ et l’objet final de toutes leurs résolutions. Jamais ces Monarques n’out manifesté la moindre disposition de contrarier des améliorations réelles ou la réforme des abus qui se glissent dans les meilleurs gouvernemens. — Les changemens utiles ou nécessaires dans la législation et dans l’administration des États ne doivent émaner que de la volonté libre, de l’impulsion réfléchie et éclairée de ceux que Dieu a rendu responsables du pouvoir. Tout ce qui sort de cette ligne, conduit nécessairement an désordre, aux bouleversemens, à des maux bien plus insupportables que ceux que l’on prétend guérir. Pénétrés de cette vérité éternelle, les Souverains n’ont pas hésité à la proclamer avec franchise et vigueur; Ils ont déclaré qu’en respectant les droits et l’indépendance de tout pouvoir légitime, Ils régardaient comme légalement nulle et désauvouée par les principes qui constituent le droit publique de l’Europe, toute prétendue réforme opérée par la révolte et la force ouverte“. Nach dieſen Legitimitätsgrundſätzen wurde in Piemont, in Neapel, in Spanien intervenirt und die repräſentative Verfaſſung dieſer Länder überall in die abſolute Monarchie zurückgeſchraubt. Aber weder gelang es, dieſe Grundſätze gegen die ſüdamerikaniſchen Colonien, die ſich von den europäiſchen Mutterſtaten losſagten, durchzuführen, indem die engliſche Regierung dieſe Umbildung anerkannte, noch waren dieſelben in Europa auf die Dauer feſtzuhalten. Zuerſt ſchon hinderten das Ruſſiſche Intereſſe, der Idealismus Frankreichs und das liberalere Rechtsgefühl Englands die Anwendung derſelben auf die griechiſche Revolution. Im Jahre 1830 ſchraken die Oſtmächte vor der Verantwortlichkeit und Gefahr eines europäiſchen Krieges zurück und erkannten die gewaltſame Aenderung der franzöſiſchen Dynaſtie und die Revolution Belgiens an. Seither ſind noch eine Reihe von Regierungswechſeln in den Europäiſchen Staten erſt thatſächlich, wenn auch im Gegenſatz zu dem Grundſatz der unangreifbaren Legitimität vollzogen, und wenn ſie ſich als nothwendig und dauerhaft erwieſen, immer unbedenklicher von allen europäiſchen Staten anerkannt worden. Der Fortſchritt, der in der Anerkennung der neuen Rechtsbildung je nach den Bedürfniſſen und der Entwicklung der Völker liegt, iſt alſo ſeit den Zwanzigerjahren dieſes Jahrhunderts allgemein gemacht und die ältere Lehre einer unveränderlichen Legitimität in die Rumpelkammer der mittelalterlichen Antiquitäten verwieſen worden.
121.
Wenn es zweifelhaft iſt, ob eine Perſon wirkliches Statshaupt geworden oder ob ſie noch wirkliches Statshaupt ſei, ſo kann auch die Befugniß dieſer Perſon, den Stat nach Außen zu vertreten, von andern Statsregierungen in Zweifel gezogen werden.
Bei Umwälzungen, welche einen Regierungswechſel zur Folge haben, tritt gewöhnlich eine Zwiſchenzeit ein, in der es unſicher iſt, ob der bisherige Gewalthaber
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Völkerrechtliche Organe.
ſich nicht behaupten oder in Bälde ſeine einſtweilen erſchütterte Herrſchaft wieder herſtellen könne und ob der neue Träger der Statsgewalt ſich in der neu eingenommenen Stellung befeſtigen werde. In dieſer Zwiſchenzeit kann es einer außerhalb dieſer Parteikämpfe ſtehenden Regierung nicht verargt werden, wenn ſie auch im Zweifel iſt, wen ſie als wahren Repräſentanten des betreffenden Stats zu betrachten habe. Im Zweifel hat ſie ſich aber einer verbindlichen Verhandlung mit dem einen und dem andern zu enthalten, denn es können nicht zugleich zwei verſchiedene Regierungen und daher zwei Vertreter Eines States beſtehn.
122.
Die Frage der Anerkennung einer auswärtigen Regierung wird in den modernen Staten durchweg von den inländiſchen Regierungen entſchieden; und es haben ſich dann die Landesgerichte auch in internationalen Proceſſen nach dieſem Entſcheide zu richten.
Es iſt das eine Folge der Repräſentativgewalt, welche in den modernen Staten von Europa und Amerika faſt überall ganz den Regierungen anvertraut iſt. Wo aber eine Verfaſſung, wie die ſchweizeriſche Bundesverfaſſung (Art. 74. 4) dieſe Anerkennung fremder Staten und Regierungen dem Geſetzgebenden Körper vorbehält, da iſt natürlich nur dieſer und nicht die Regierung competent. Die Competenz der ſtatlichen Organe wird durch das Statsrecht, nicht durch das Völkerrecht geregelt.
Die völkerrechtlichen Beziehungen der verſchiedenen Staten zu einander würden übrigens verwirrt, wenn es den einzelnen Gerichten zuſtände, im Gegenſatze zu dem Entſcheide der Statsregierung eine fremde Regierung ſei es nicht als zu Recht beſtehend ſei es als berechtigt zu erklären. Phillimore (II. 23) führt manche Urtheile der Engliſchen und Nordamerikaniſchen Gerichte an, welche dieſe Regel beſtätigen.
123.
Die völkerrechtliche Perſönlichkeit eines States erleidet keine Aenderung, wenn gleich die Regierung desſelben einen Wechſel — und auch dann nicht, wenn ſie einen gewaltſamen Wechſel — erfährt, vorausgeſetzt nur, daß Volk und Land in ihrer Individualität fortbeſtehen.
Da nicht einmal die vollſtändige Wandlung der Statsverfaſſung die Fortdauer der Statsperſon verhindert (vgl. oben § 41. 42), ſo kann der Wechſel in der Perſon und dem Syſtem der Regierung noch weniger eine ſo erſchütternde Wirkung haben.
124.
Das wirkliche Statshaupt iſt berechtigt, auch die völkerrechtlich dem
(0134 : 112)
Drittes Buch.
State zukommende Ehre, Würde und Rangſtellung in Anſpruch zu nehmen und den entſprechenden Titel zu führen.
Die Verweigerung ſolcher Titel wird mit Grund als eine Beleidigung betrachtet, wenn erſt die neue Regierung ſich als unzweifelhaft wirkliche Regierung betrachten darf. Schon die leiſe Mißachtung, welche Napoleon III. von Kaiſer Nikolaus erfuhr, als dieſer in ſeinem Schreiben den üblichen Brudernamen (mon frère) unterließ, iſt von dem Erſtern ſchwer empfunden und gerächt worden: und doch ließ ſich da von keiner Rechtsverletzung ſprechen, ſondern höchſtens von einem Verſtoß gegen die höfiſche Sitte, denn es war darin Napoleon ausdrücklich als wirkliches Statshaupt der Franzoſen anerkannt worden.
125.
Die diplomatiſche Sitte fordert, daß die in regelmäßigem Verkehr mit einander befindlichen Staten einander jeden Perſonenwechſel in dem Statshaupt anzeigen. Die Unterlaſſung oder Verſchiebung dieſer Anzeige iſt indeſſen nicht als Rechtsverletzung zu betrachten und hat keine Aenderung der Rechtsverhältniſſe zur Folge.
Zuweilen wird die Anzeige aus dem Grunde aufgeſchoben oder vermieden, um unangenehme Erörterungen über die Rechtmäßigkeit der Aenderung zu vermeiden und die ſtille Heilung der Zeit nicht zu ſtören. In dieſer Weiſe verfuhr die neue Regierung des Königreichs Italien 1862/64 mit einer wohlberechneten Zurückhaltung, um nicht die deutſchen Staten zu feindſeligen Gegenäußerungen zu veranlaſſen und nicht der öſterreichiſchen Politik, welche dem neuen Stat die Anerkennung verweigerte, willkommenen Anlaß zu Demonſtrationen zu geben.
2. Die Statshäupter als ſouveräne Perſonen.
126.
Die Frage, ob dem jeweiligen Statshaupt auch perſönliche Souveränetät zukomme oder nicht, iſt zunächſt wieder eine Frage des Statsrechts, nicht des Völkerrechts.
In der Regel wird dieſe Frage in den heutigen Monarchien bejaht, und in den heutigen Republiken verneint. Der Fürſt wird als eine ſouveräne Perſon betrachtet, der republikaniſche Präſident nicht. Das war nicht immer ſo und iſt nicht nothwendig ſo. Die alt-römiſchen Conſuln galten nicht minder als ſouveräne Perſonen als die Könige der andern Völker; und zwiſchen den erblichen Reichsfürſten des Mittelalters und dem gewählten Dogen der Republik Venedig wurde in dieſer Hinſicht kein Unterſchied gemacht. Der Grund, weßhalb die heutigen
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Völkerrechtliche Organe.
Republiken ihren Regierungen dieſe perſönliche Eigenſchaft abſprechen, iſt der, ſie wollen dieſelben fortwährend daran erinnern, daß ihre Gewalt eine abgeleitete, keine urſprüngliche ſei, während die monarchiſchen Völker es lieben, die Hoheit des States in der Majeſtät des Monarchen perſönlich darzuſtellen.
127.
Die Familien der Souveräne in den europäiſchen Staten werden als „ſouveräne Familien“ bezeichnet und ſind unter ſich ebenbürtig.
Der Ausdruck ſouveräne Familie iſt freilich ungenau, denn der Familie kommt keine Souveränetät zu, weder die urſprüngliche Statsſouveränetät, noch die concentrirte Fürſtenſouveränetät. Vielmehr ſind alle ihre übrigen Glieder Unterthanen des Stats und des Statshaupts.
128.
Wenn gleich der Präſident einer Republik nicht als Souverän gilt, ſo kommen ihm dennoch, inſofern er als Repräſentant ſeines States erſcheint, alle diejenigen Rechte zu, welche dem ſouveränen Repräſentanten eines States gebühren.
Inwiefern er den Stat repräſentirt, iſt in ihm das Recht des States zu ehren, den er darſtellt. Es gilt das auch von dem Rang und den beſondern Ehren des republicaniſchen Stats im Verhältniß zu den monarchiſchen Staten.
129.
Die Unabhängigkeit eines States gegenüber andern Staten wird durch die Unabhängigkeit des Statshauptes von fremden Statsgewalten bewährt. Die Statshäupter ſind in der Regel keiner fremden Statshoheit unterworfen, auch dann nicht, wenn ſie ein fremdes Statsgebiet betreten.
Die ſogenannte Exterritorialität, von der in dem folgenden Capitel die Rede ſein wird, iſt eine weit getriebene Anwendung dieſes Grundſatzes, welche die völkerrechtliche Beſchränkung der Statshoheit, die ſich im übrigen auf das ganze Land ausdehnt, zu Gunſten der fremden Souveräne erklären und rechtfertigen ſoll. Die Rückſicht auf die völkerrechtliche Sicherheit und Unabhängigkeit der Vertreter der Staten hat hier das Uebergewicht erlangt über die Rückſicht auf die beſondere ſtatsrechtliche Gebietshoheit.
130.
Die Souveräne können jedoch in fremdem Gebiet ihre Befreiung von der dortigen Statsgewalt nur inſofern behaupten, als ſie
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 8
(0136 : 114)
Drittes Buch.
a) daſelbſt als ſouveräne Perſonen bekannt und anerkannt ſind,
b) als ihnen der Eintritt in das fremde Land nicht unterſagt worden iſt, oder ſie nicht gemahnt worden ſind, dasſelbe wieder zu verlaſſen,
c) als die beiden Staten ſich im Frieden mit einander befinden.
Zu a) Wenn ein Souverän, während er in fremdem Lande iſt, entthront wird, ſo kann ihm auch der Stat ſeines Aufenthaltsorts die Anerkennung entziehn und er iſt nachher als Privatperſon zu betrachten. Wenn ein Fürſt nach ſeiner Entthronung oder nach ſeiner Abdankung in ein fremdes Land zieht und daher nicht mehr berechtigt erſcheint, den Stat zu repräſentiren, ſo hat er auch kein Recht auf dieſe Ausnahmsſtellung. Als die Exkönigin Chriſtine von Schweden in Frankreich ihren Diener Monaldeschi tödten ließ (1657), war ſie dafür den franzöſiſchen Gerichten verantwortlich, wenn gleich die franzöſiſche Regierung ſich darauf beſchränkte, ſie deßhalb aus Frankreich zu verweiſen. Auch die Königin Marie Stuart war ſchon Jahre lang von England nicht mehr als Königin von Schottland anerkannt, als ihr der Proceß gemacht wurde.
Zu b) Jeder Stat iſt zunächſt ausſchließlich Herr ſeines Gebietes und braucht daher nicht zu dulden, daß ſich in demſelben ein fremder Souverän gegen ſeinen Willen feſtſetze. Er kann daher demſelben je nach Umſtänden den Eintritt in das Land verweigern, ohne eine Rechtsverletzung zu begehen und er kann denſelben zum Austritt anhalten. Je nach Umſtänden kann aber darin nicht bloß eine Unfreundlichkeit, ſondern ſogar eine Beleidigung erkannt werden, wenn ſolches in der Abſicht geſchieht, die Ehre des betreffenden Stats oder ſeines Fürſten zu verletzen.
Zu c) Im Kriege kann der fremde Souverän, der als Feind zu betrachten iſt, gefangen geſetzt werden. Die Gefangennahme des Kurfürſten von Heſſen durch Preußen im Jahr 1866 war nicht, wie es in dem Manifeſt des Herzogs von Naſſau vom 15. Juli heißt „ein in der Geſchichte der Civiliſation einzig daſtehendes Beiſpiel“. Die Beiſpiele von kriegsgefangenen Fürſten ſind in der europäiſchen und in der deutſchen Geſchichte nicht ſelten. Die Kriegsgefangenſchaft des Kaiſers Napoleon I. iſt noch in friſcher Erinnerung der Mitlebenden. Vgl. unten § 142. 143.
131.
Wenn ein Souverän in einem fremden State ein Amt annimmt, ſo wird er durch das Amt dem fremden State verpflichtet. Er iſt verbunden, ſo lange er das Amt bekleidet, alle Pflichten desſelben auszuüben und bleibt inſofern der fremden Statsgewalt untergeordnet.
In dieſer Lage ſind einzelne deutſche Fürſten, welche zugleich als Generale in der Preußiſchen Armee dienen. Freilich iſt hier leicht ein Conflict möglich zwiſchen der ſtatsrechtlichen Amtspflicht und der völkerrechtlichen Selbſtändigkeit, deſſen Löſung in Art. 132 gegeben wird.
(0137 : 115)
Völkerrechtliche Organe.
132.
Dem Souverän ſteht es jeder Zeit zu, das Amt in fremdem State wieder zurückzugeben und ſeine ſouveräne Stellung wieder geltend zu machen. Ebenſo ſteht es der fremden Statsgewalt frei, ihm das Amt ohne Verzug wieder abzunehmen.
Vgl. darüber die vorige Anmerkung. Kommt es wirklich zum Conflict, ſo iſt derſelbe dadurch zu beſeitigen, daß der Fürſt entweder ſich auf ſeine völkerrechtliche Stellung zurückzieht, indem er das fremde Statsamt niederlegt, oder daß ihm das letztere abgenommen und er auf die völkerrechtliche Stellung zurückgewieſen wird. Allerdings läßt ſich auch das Gegentheil als Löſung denken, das Aufgeben der ſouveränen Stellung und das volle Uebergehen in den fremden Statsdienſt. Dann wird aber der Fürſt Privatmann und kommt nicht mehr als ſouveräne Perſon in Betracht.
133.
Reist ein Souverän incognito in fremdem Lande, ſo wird ſeine ſouveräne Eigenſchaft ignorirt und er als Privatperſon behandelt. Im Nothfall aber kann er das Incognito ablegen und ſich als Souverän zu erkennen geben. Von da an kann er die Rechte eines Souveräns anſprechen.
Ein bekannter Fall iſt die Reiſe des Czars Peter von Rußland incognito im Gefolge ſeiner Geſantſchaft nach Berlin.
134.
Wenn der Präſident einer Republik in fremdem Lande reiſt, ſo wird er in der Regel als Privatperſon betrachtet und behandelt.
Inſofern er aber daſelbſt als Repräſentant ſeines States auftritt, hat er dieſelbe Befreiung von der fremden Statsgewalt anzuſprechen, wie ein Souverän in fremdem Lande.
Regel und Ausnahme drehen ſich um, je nachdem dem Statshaupt perſönliche Souveränetät oder nur repräſentative Darſtellung der Statsſouveränetät zugeſchrieben wird. In der Monarchie iſt die ſouveräne Erſcheinung die Regel, die Erſcheinung als Privatperſon die Ausnahme. In der Republik iſt dieſe die Regel und jene die Ausnahme. Vgl. oben zu § 128. Der Unterſchied der monarchiſchen und der republikaniſchen Verfaſſung begründet keinen Unterſchied in den Rechten und Pflichten des völkerrechtlichen Verkehrs, der durch die Statshäupter vermittelt wird.
8*
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Drittes Buch.
3. Vom Recht der Exterritorialität.
135.
Zu Gunſten fremder Souveräne oder überhaupt zu Gunſten der Perſonen, welche einen Stat in fremdem Lande repräſentiren, wird, um ihre Unabhängigkeit von einer andern Statsgewalt zu ſichern, in mancher Beziehung fingirt, ſie ſeien außerhalb des fremden Landes (extra territorium), gleich wie wenn ſie überallhin ihre Heimat mitzunehmen vermöchten.
Die Fiction der Exterritorialität iſt nicht der Grund der Exemtion von fremder Statsgewalt, welche jene Perſonen in fremdem Lande genießen, ſondern nur eine bildliche Darſtellung dieſes Ausnahmerechts. Der wirkliche Grund liegt in der völkerrechtlichen Achtung vor der Unabhängigkeit der repräſentirten Staten in ihrem Verkehr mit einander. Vgl. § 129. Die Fiction wirkt deßhalb nur relativ, ſie wirkt nicht über die wirklichen Gründe der Exemtion hinaus.
136.
Die exterritoriale Perſon wird der Statshoheit des einheimiſchen States in der Regel nicht unterworfen, obwohl ſie thatſächlich in deſſen Gebiet ſich aufhält.
Der einheimiſche Stat bleibt jedoch berechtigt zu fordern, daß die exterritoriale Perſon hinwieder ſeine Unabhängigkeit, Sicherheit und Ehre nicht verletze und die zur Erhaltung derſelben nöthigen Maßregeln zu ergreifen.
Die Exemtion von der einheimiſchen Statsgewalt iſt nur ein negatives Recht, ſie hindert die Ausübung derſelben gegen die exterritoriale Perſon. Aber ſie iſt nicht eine poſitive Befugniß des Exterritorialen, nun ſeinerſeits den Stat anzugreifen, der ihm jene Rückſicht und Gunſt erweist. Der Stat ehrt in dem fremden Souverän einen Genoſſen ſeiner eigenen Souveränetät, aber er braucht nicht einen offenbaren Feind in ſeinem Lande zu dulden. Es iſt wiederholt und mit Recht geſchehen, daß Geſante gefangen geſetzt wurden, weil ſie an einer Verſchwörung wider die Regierung Theil nahmen, in deren Land ſie waren, z. B. der Schwediſche Geſante in England 1716 (Wheaton hist. I. 308). Vgl. unten Abſch. II.
137.
Die exterritoriale Perſon iſt der Policeigewalt des einheimiſchen States nicht unterworfen. Die Policei darf keinen unmittelbaren oder mittelbaren Zwang gegen ſie üben. Aber die Policei iſt nicht gehindert, diejenigen Maßregeln zu ergreifen, welche nöthig ſind, um Rechts- oder
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Völkerrechtliche Organe.
Sicherheitsgefährliche Handlungen der exterritorialen Perſon zu verhindern und die exterritoriale Perſon iſt ihrerſeits verbunden, die allgemeinen policeilichen Anordnungen und Einrichtungen des Landes nicht zu ſtören.
Wollte die exterritoriale Perſon z. B. Schießproben in ihrem Garten vornehmen, welche die Nachbarn bedrohten, oder ein Feuer anzünden, durch welches die anſtoßenden Häuſer in Gefahr verſetzt würden, ſo wäre die Policei im Recht, das zu hindern. Die Rückſicht auf die Würde des fremden Stats muß ſich vereinigen laſſen mit der nothwendigen Sorge für die eigene Sicherheit. Die bau- und feuerpoliceilichen Vorſchriften gelten daher auch für die Wohnungen der Exterritorialen.
138.
Die exterritoriale Perſon iſt nicht ſteuerpflichtig. Inwiefern aber im Lande Gebühren erhoben werden für öffentliche Dienſtleiſtungen, ſo iſt auch die exterritoriale Perſon, inſofern ſie dieſe Leiſtungen benutzt, nicht von Rechts wegen von der Gebühr befreit.
Die Steuerbefreiung erklärt ſich zunächſt wieder aus der Verneinung der Steuerhoheit des einheimiſchen States über den fremden Souverän. Dieſelbe wird aber aus Courtoiſie zuweilen in weiterem Sinne geübt, als die rechtliche Conſequenz des Princips fordert. Es verſteht ſich, daß der Exterritoriale keiner Einkommens- oder Vermögensſteuer, keiner Kriegs- oder Armenſteuer unterworfen iſt und ebenſo, daß er Zoll- und Octroifreiheit genießt für die Effekten und Waaren, welche er mit ſich führt oder zu ſeinem Gebrauche kommen läßt. Aber zweifelhafter iſt ſchon die Befreiung von Weg- und Brückengeldern, weil das Gebühren ſind für die Anlage und Unterhaltung der Wege und Brücken. Indeſſen die Courtoiſie reicht gewöhnlich ſo weit. Nicht ebenſo verhält es ſich mit den Taxen für Erwerb von Grundſtücken oder andern Sachen, oder bezüglich der Gerichtsgebühren in Proceſſen, welche der Exterritoriale freiwillig vor den einheimiſchen Gerichten führt oder führen läßt. Dieſe Gebühren werden meiſtens gefordert und können jedenfalls gefordert werden. Selbſtverſtändlich ſind auch die Poſtgebühren, die Telegraphengebühren, die Koſten für Benutzung der Eiſenbahnen ohne Unterſchied, ob dieſe Anſtalten von Privaten unternommen oder von Stats wegen beſorgt werden, nicht in jener Steuerfreiheit inbegriffen. Wird der Exterritoriale zuweilen auch von den Briefporti befreit, ſo iſt das eine ihm erwieſene Gefälligkeit, keine Rechtspflicht.
139.
Die Landesgerichte nehmen in der Regel keine bürgerliche Klage, insbeſondere keine Schuldklage gegen die exterritorialen Perſonen an und
(0140 : 118)
Drittes Buch.
dürfen gegen dieſelben keine Zwangsmittel anwenden, weder gegen deren Perſon, noch gegen deren Vermögen.
Es iſt das wieder nur eine Folge der perſönlichen Unabhängigkeit des Exterritorialen von anderer Statsgewalt. Die Civilgerichtsbarkeit iſt freilich nur zum Schutz der Privatrechte und des Privatverkehrs eingeführt. Das Privatrecht aber iſt ſeinem Weſen nach für Jedermann dasſelbe und hat mit Statsſouveveränetät nichts zu ſchaffen. Wenn der Souverän ein Haus ſich zufertigen läßt oder ererbt, oder einen Miethvertrag eingeht, oder einen Wechſel ausſtellt, ſo erſcheint er in allen dieſen Rechtsgeſchäften ganz ebenſo als Privatperſon, wie jeder Andere und handelt in denſelben Rechtsformen, nach denſelben Grundſätzen, mit denſelben Wirkungen. Als Privateigenthümer, als Privatgläubiger oder Schuldner iſt er in keiner Weiſe Repräſentant des Stats, nicht Souverän. Wenn trotzdem die civiliſirten Staten ihre Gerichte anweiſen, in der Regel keine Civilklage gegen die exterritorialen Perſonen anzunehmen, ſo liegt der Hauptgrund in der völkerrechtlichen Rückſicht, daß die Durchführung der gerichtlichen Zwangsmittel (Arreſt, Pfändung, Concurs, Verſilberung) gegen die privatrechtliche Perſon und ihr Vermögen mittelbar auch ihre völkerrechtliche Unverletzlichkeit, Unabhängigkeit und Ehre treffen und gefährden würde. Man zieht es daher vor, im Intereſſe der Sicherheit und Würde des ſtatlichen Verkehrs von der ſtrengen Conſequenz des privatrechtlichen Grundſatzes abzuſehen, und will das Gericht nicht der Gefahr ausſetzen, daß ſeine Autorität ſich machtlos zeige. Ueberdem kam dieſer Befreiung der Exterritorialen von der Civilgerichtsbarkeit jene Fiction zu Statten, indem nun fingirt wurde, ſie wohnen nicht innerhalb des Gerichtsbezirkes der inländiſchen Civilgerichte, ſondern ihr Domicil liege in ihrer Heimat. Während daher im Mittelalter noch, welches den privatlichen Charakter des Rechts mit Vorliebe betont, die privatrechtliche Klage gegen Fürſten unbedenklich überall an Hand genommen wurde, wo die Gerichtsbarkeit an ſich begründet erſchien, ſo iſt dagegen in der neuern Zeit die Exemtion der ſouveränen Perſonen auch von der fremden Civilgerichtsbarkeit allgemeiner zur Uebung der gebildeten Völker geworden. Im Jahr 1827 hat ſich das franzöſiſche Civilgericht von Havre ſogar, ungeachtet der abweichenden Meinung der Statsanwaltſchaft, für incompetent erklärt, eine Civilklage gegen den Präſidenten der Negerrepublik von Haiti an Hand zu nehmen. Vgl. Phillimore II. App. IV.
140.
Ausnahmsweiſe wird die einheimiſche Gerichtsbarkeit der Civilgerichte begründet:
a) inſofern die Klage auch dann hierorts anzubringen wäre, wenn der Exterritoriale in Wahrheit außer dem Lande wohnte und die Execution ohne Gefährdung der ſtatlichen Unabhängigkeit und Ehre durchzuführen iſt, wie insbeſondere bei Realklagen auf liegendes Gut;
(0141 : 119)
Völkerrechtliche Organe.
b) inſofern der Exterritoriale eine beſondere Privatſtellung z. B. als Kaufmann im Lande inne hat, oder ein einheimiſches Amt bekleidet und daher in dieſen Eigenſchaften der inländiſchen und Gerichtshoheit untergeordnet iſt;
c) wenn der Exterritoriale vertragsmäßig oder ſonſt in rechtlich wirkſamer Form die hieſige Gerichtsbarkeit anerkannt hat.
Auch in dieſen Ausnahmsfällen iſt jedoch der unmittelbare Zwang gegen die Perſon (Perſonalverhaft) inſoweit zu unterlaſſen, als dadurch die völkerrechtlichen Beziehungen verletzt werden könnten, und es hat ſich die gerichtliche Execution auf vermögensrechtliche Zwangsmittel zu beſchränken.
Zu a) Die Vindication eines Grundſtücks, welches der Exterritoriale im Beſitz hat, iſt nur vor den Landesgerichten durchzuführen, wo das Grundſtück wirklich gelegen iſt. Ebenſo die Klagen am Nachbarrecht (z. B. wegen Waſſerablauf) und auf oder gegen behauptete Dienſtbarkeiten. Dagegen für Arreſtklagen kommt hinwieder die Rückſicht auf die gefährdete Würde und Freiheit des Beklagten hemmend in Betracht, ſowie die Erwägung, daß die moderne Rechtsbildung in Schuldklagen überhaupt nicht geneigt iſt, die gerichtliche Competenz der inländiſchen Gerichte über auswärtige Souveräne oder Geſante zuzulaſſen.
Zu b) Wenn ein Statshaupt zugleich ein Handelsetabliſſement betreibt und als Kaufmann an dem Handelsverkehr Theil nimmt, ſo hat er ſich in dieſer Eigenſchaft des Vorzugs ſeiner Würde begeben und muß vor den Handelsgerichten für ſeine Handelsgeſchäfte Rede ſtehen. Ebenſo hat der engliſche Master of rolls in einem Proceß des entthronten Herzogs von Braunſchweig gegen den König von Hannover und Herzog von Cumberland (13. Jan. 1844) ſein Urtheil dahin ausgeſprochen: „I am of opinion, that his majesty the King of Hanover is and ought to be exempt from all liability of beeng sued in the Court of this country, for any acts done by him as King of Hanover, or in his character of Sovereign Prince, but that, being a subject of the Queen, he is and ought to be liable to be sued in the Courts of this country, in respect of any acts and transactions done by him, or in which he may heve been engaged as subject“. (Phillimore II. App. IV. S. 589).
Zu c) Wenn eine ſouveräne Perſon oder ein anderer Exterritorialer ſich die Klage gegen ihn gefallen läßt, oder wenn er etwa ſelber eine Civilklage in dem fremden Lande anſtellt, ſo muß er, oder ſein Vertreter ſich nach der Proceßordnung des anerkannten Gerichts in dem Proceſſe fügen und kann für ſich kein weiteres Privilegium anſprechen. Im letzteren Fall wird er ſich daher auch der Eidesleiſtung nicht entziehen können, wo dieſe als nothwendig gilt, noch der Bezahlung der Proceßkoſten, wenn er unterliegt. Im Jahr 1828 entſchied das engliſche Obergericht, daß fremde Souveräne ebenſowohl vor den Billigkeits- wie vor den Rechtshöfen Klage führen können (Phillimore II. App. IV. S. 548). In einem andern Fall wurde ebenfalls in der Appellationsinſtanz von den rechtsgelehr-
(0142 : 120)
Drittes Buch.
ten Lords von England der Satz ausgeſprochen, daß ein fremder Souverän, wenn er vor einem engliſchen Gerichte eine Klage verfolge, jedem andern Privatkläger gleich zu behandeln, alſo je nach Erforderniß der Sache ihm auch der Eid aufzulegen ſei. (Proceß zwiſchen dem Könige von Spanien und dem Hauſe Hullet and Widder. Aug. 1833. Phillimore II. App. IV. 3.) Auf eine Widerklage dagegen braucht ſich der Exterritoriale nicht einzulaſſen, weil dieſelbe eine Klage iſt, und alle Gründe, welche gegen die Zulaſſung von Klagen ſprechen, auch auf die Widerklage paſſen.
141.
Die exterritoriale Perſon iſt der Strafgerichtsbarkeit des einheimiſchen States nicht unterworfen. Dieſer Stat hat aber das Recht, theils die nöthigen Maßregeln zu ergreifen, um ein Vergehen des Exterritorialen zu verhindern, theils von dem State des Exterritorialen Genugthuung zu fordern, wenn dieſer die Rechtsordnung des Landes in einer Weiſe verletzt, welche an ſich zu ſtrafgerichtlicher Verfolgung berechtigt.
Auch dieſe Beſtimmung, welche durch den allgemeinen Gebrauch der civiliſirten Völker beſtätigt wird, iſt ſinguläres Recht, weil dieſelbe die an ſich berechtigte Wirkſamkeit der Strafrechtspflege hemmt. Es verhält ſich damit ähnlich wie mit der ſtatsrechtlichen Unverantwortlichkeit der Souveräne. Aber es iſt zweckmäßig, daran zu erinnern, daß es gefährlich iſt, die Haltbarkeit ſolcher Rechtsfictionen auf eine zu harte Probe zu ſetzen.
142.
Wenn die exterritoriale Perſon in dem Lande feindliche Handlungen verübt, ſo darf ſie von der einheimiſchen Regierung als Feind erklärt und behandelt und im Nothfall gefangen genommen werden.
Das iſt nicht Anwendung des Strafrechts, ſondern des Kriegsrechts. Die Gefangenſchaft iſt Kriegsgefangenſchaft, nicht Strafgefängniß. Vgl. oben zu § 130.
143.
Der einheimiſche Stat iſt jeder Zeit berechtigt, der exterritorialen Perſon aus erheblichen Gründen das Gaſtrecht und damit die Fortdauer der Exterritorialität zu kündigen.
Die Kündigung darf nicht auf einen kürzeren Termin geſtellt werden, als es dem Exterritorialen möglich iſt, mit Sicherheit das Land zu verlaſſen.
Vgl. oben zu § 130.
(0143 : 121)
Völkerrechtliche Organe.
144.
Wenn der Exterritoriale andere Perſonen in ihrem perſönlichen, Familien- oder Vermögensrechte gewaltſam angreift oder ernſtlich bedroht, ſo iſt auch ihm gegenüber die Nothwehr erlaubt.
Phillimore II. 105. Der Gewaltthat darf man mit Gewalt begegnen, und wenn in Folge der Nothwehr gegen widerrechtliche Gewaltthat der Exterritoriale umkommt, ſo iſt das keine Verletzung des Völkerrechts. Das Recht der Nothwehr iſt natürliches Menſchenrecht, welches von dem Völker- wie von dem Statsrecht anerkannt werden muß, nicht unterdrückt werden darf.
145.
Die Exemtion von der einheimiſchen Statshoheit wird auch auf die Familiengenoſſen, Beamten, Begleiter und Diener des Exterritorialen ausgedehnt. Sein Gefolge hat indeſſen nur einen mittelbaren Anſpruch auf Exterritorialität, nicht um ſeiner ſelbſt willen, ſondern nur aus Rückſicht auf den exterritorialen Gefolgsherrn.
Die Familiengenoſſen haben Theil an ſeiner Befreiung, inſofern ſie thatſächlich zu ihm gehören, alſo in ſeinem Hauſe wohnen, aber nicht, wenn ſie eine ſelbſtändige Stellung außerhalb ſeiner Familie behaupten. Im letztern Fall ſind ſie fremde Privatperſonen gleich andern Fremden. Die Uebergänge aus dem einen in den andern Zuſtand können freilich zu mancherlei Zweifeln den Anlaß geben. Der Hauslehrer der Kinder des Exterritorialen gehört zu ſeinem Gefolge, aber die übrigen Lehrer am Ort, welche nur einzelne Lehrſtunden geben, gehören nicht dazu.
146.
Der Exterritoriale darf nicht ſein Ausnahmerecht dazu mißbrauchen, um Perſonen, welche im Lande gerichtlich oder policeilich verfolgt werden, durch Aufnahme in ſein Gefolge der einheimiſchen Gerichts- oder Policeigewalt zu entziehen.
Ueberhaupt iſt das Privilegium im Sinn des guten Glaubens zu interpretiren. Als ein Muſiker, um ſeinen Gläubigern zu entgehen, ſich in die Capelle eines Bayriſchen Geſanten in London aufnehmen ließ, wurde dieſe Aufnahme von dem engliſchen Gerichtshof als illuſoriſch behandelt, weil kein wirklicher bona-fide-Dienſt nachgewieſen ſei. In ähnlicher Weiſe wurden noch gegen mehrere andere angebliche Diener dieſes Geſanten verfahren, der offenbar das Privilegium zu einem ungebührlichen Patronate mißbraucht hatte. Siehe die Fälle bei Wildmann I. 124.
(0144 : 122)
Drittes Buch.
147.
Die Perſonen im Gefolge des Exterritorialen ſind in der Regel ebenfalls von der Gerichtsbarkeit des einheimiſchen States befreit. Dieſer Stat iſt aber berechtigt, von dem State des Exterritorialen zu fordern, daß er den einheimiſchen Gläubigern oder andern einheimiſchen Klägern Recht gewähre und wegen der im Lande verübten Vergehen und Verbrechen dieſelben beſtrafe.
Vattel (IV. § 124) berichtet über einen merkwürdigen Fall, der ſich in England ereignete, als ein Edelmann im Gefolge des franzöſiſchen Botſchafters Marquis von Rosny, ſpätern Herzogs von Sully, ſich einer Tödung ſchuldig machte. Derſelbe wurde von dem Botſchafter zum Tode verurtheilt und die Hinrichtung der engliſchen Juſtiz anheimgeſtellt, dann aber trat Begnadigung ein.
148.
Verübt eine Perſon aus dem Gefolge des Exterritorialen ein Vergehen, ſo iſt der Letztere berechtigt, dieſelbe nöthigenfalls gefangen zu nehmen und in ſeine Heimat zur Beſtrafung zu überſchicken.
Die Gefangennahme derſelben durch die einheimiſche Statsgewalt zum Behuf der Ueberlieferung an den Exterritorialen oder deſſen Stat iſt nicht Verletzung, ſondern Anerkennung dieſer mittelbaren Exterritorialität.
Die Gefangennahme geſchieht in dieſem Fall nicht in der Abſicht, die eigene Gerichtsbarkeit auszuüben, auch nicht in der Meinung, den fremden Stat zu verletzen, ſondern in dem Vorſatz, demſelben in der Ausübung ſeiner Gerichtsbarkeit behülflich zu ſein.
149.
Es ſteht den Exterritorialen frei, ihr Gefolge der ortspoliceilichen und gerichtlichen Autorität ebenſo unterzuordnen, wie die andern Bewohner des Ortes es ſind. Keinenfalls dürfen die Gefolgsleute ungeſtraft Störungen der öffentlichen Ordnung des Orts verüben.
Wenn die Gefolgsleute des Exterritorialen Unterthanen des einheimiſchen States ſelber ſind, ſo werden ſie gewöhnlich deſſen Jurisdiction unterſtellt. Es kann das aber unbedenklich auch auf Angehörige des States, den der Exterritoriale repräſentirt, ausgedehnt werden, ſobald dieſer es zweckmäßig findet, denn ſie haben alle kein perſönliches, ſondern nur ein abgeleitetes Recht auf Exterritorialität. Auf dem Friedenscongreß zu Münſter in Weſtphalen am Schluß des dreißigjährigen Kriegs kamen ſo die Geſanten überein, um die Rauf- und Streitluſt ihrer Gefolge im Zaum
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Völkerrechtliche Organe.
zu halten, dieſelben gemeinſam der Ortspolicei zu unterwerfen. Ueberhaupt iſt eine allzu weite Ausdehnung der Exterritorialität für die Rechtsſicherheit und die öffentliche Ordnung durchaus ſchädlich und nicht zu empfehlen. Das Völkerrecht fordert grundſätzlich nur, daß die Ehre und Freiheit der Staten in ihren Repräſentanten geſchützt, und durchaus nicht, daß die Miſſethaten der Individuen begünſtigt werden.
150.
Die Exemtion des Exterritorialen erſtreckt ſich auch auf die Wohnung, welche er inne hat, aber nicht auf den Grundbeſitz, welchen er als Privatmann bewirthſchaftet.
Wenn ein Souverän ein Gut in einem fremden Lande kauft, um ſeine Capitalien darin anzulegen, und ſein Vermögen in ſolcher Weiſe zu bewirthſchaften, nicht um daſelbſt als Souverän zu leben und den Stat repräſentiren zu laſſen, ſo iſt kein Grund da, dieſes Gut als exterritorial zu betrachten. Nur inwiefern das Hotel des Exterritorialen ſeiner Perſon als Wohnung dient und in Folge deſſen ſeine repräſentative Stellung und Freiheit ſichert, gilt dasſelbe als exempt. Dann darf es, ohne ſeinen Willen, nicht von der einheimiſchen Statsgewalt betreten und durchſucht werden. Als die Ruſſiſche Finanzwache am 3. April 1752 in das Hotel des Schwediſchen Geſanten in Petersburg eindrang und ein paar Diener desſelben gefangen nahm, welche beſchuldigt waren, das Statsmonopol verletzt zu haben, gab die Kaiſerin Eliſabeth dem beleidigten Geſanten volle Genugthuung wegen dieſer Verletzung des Völkerrechts. Vattel IV. § 117.
151.
Die Wohnung des Exterritorialen darf nicht zum Aſyl mißbraucht werden für gerichtlich Verfolgte. Der Exterritoriale iſt verpflichtet, ſolchen Flüchtlingen die Aufnahme zu unterſagen, beziehungsweiſe dieſelben an die ordentliche Gerichtsgewalt auszuliefern.
Oft wurde ein ſolches Aſylrecht behauptet und oft auch ausgeübt. Am weiteſten war dieſer Mißbrauch in Rom gediehen, wo auch die Kirchen ein Aſyl gewährten. Im Mittelalter dienten die zahlreichen Aſyle, welche in Herrenhöfen und Kirchen und von Schutzheiligen gewährt wurden, um die wilde Verfolgung der Blutrache, der Fehde und einer barbariſchen Juſtiz zu mäßigen. Mit einer civiliſirten und einer wirkſamen Rechtspflege aber ſind dieſelben nicht mehr vereinbar. Bynkershoek (de jure legatorum c. 21) hat den Beweis geführt, daß keinerlei völkerrechtliche Rechtsgründe für ein derartiges Aſylrecht ſprechen. Seither iſt dieſe Anſicht, die ſchon Hugo de Groot (II. 18, 8) vertrat, allgemein von der Wiſſenſchaft anerkannt worden, wenn gleich einzelne Exterritoriale immer noch von Zeit zu Zeit den Verſuch machten, auch ihr angebliches Aſylrecht auszuüben.
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Drittes Buch.
152.
Ebenſo iſt das Quartier, welches der Exterritoriale auf Reiſen bezogen hat und iſt der Wagen, in dem er fährt, zu Ehren ſeiner Sicherheit und Unabhängigkeit vor policeilicher oder gerichtlicher Gewaltübung gefreit.
153.
Die Exemtion erſtreckt ſich auch auf das dem Exterritorialen gehörige Mobiliar, welches zu ſeinem Gebrauche dient, wie insbeſondere Arbeitstiſche, Schränke, Kiſten und Kaſten, die Ausſtattung ſeiner Wohnung, Wagen und Pferde.
Der alte techniſche Ausdruck für die Befreiung iſt: „Legatus instructus et cum instrumento“. Die Ausdehnung der Befreiung auch auf die Mobilien ſichert beſonders auch die Acten und Correſpondenzen des Exterritorialen. Vgl. unten Abſchnitt 8 dieſes Buches.
4. Die Familiengenoſſen der ſouveränen Perſonen.
154.
Die Ehegatten, Kinder und andere Anverwante einer ſouveränen Perſon haben als ſolche kein Recht der Souveränetät, ſondern ſind Unterthanen.
Sie haben daher auch, wenn ſie in fremdem Lande ſind, keinen Rechtsanſpruch auf Exemtion von der dortigen Statsgewalt noch auf Exterritorialität.
Alle dieſe Perſonen, ſelbſt der Gemal einer regierenden Königin, der nicht zugleich Mitregent iſt, oder die Gemalin eines Königs, obwohl ſie den Titel Königin führt, ſind nicht Repräſentanten des States ſelbſt, noch Träger der Souveränetät, alſo völkerrechtlich ohne Anrecht auf jene Privilegien, welche um der Souveränetät oder Repräſentation des States willen zugeſtanden werden. Die Courtoiſie geht aber hier zuweilen über die Rechtsnothwendigkeit hinaus und befreit zuweilen auch ſolche hohe Perſonen von manchen Beläſtigungen, deren andere Reiſende ausgeſetzt ſind.
155.
Das Statsrecht beſtimmt zunächſt die Titel und den Rang, welche dieſen Perſonen zukommen. Aber damit dieſe Titel und Rangſtufen im völkerrechtlichen Verkehr beachtet werden, müſſen dieſelben dem herkömmlichen Gebrauche entſprechen oder, wenn ſie erhöht werden die Erhöhung von den Mächten anerkannt worden ſein.
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Völkerrechtliche Organe.
Vgl. das Protokoll der fünf Großmächte auf der Conferenz zu Aachen vom 11. Oct. 1818: „Les Cabinets preunent en même tems l’engagement de ne recounaître à l’avenir aucun changement ni dans les titres des souverains ni dans ceux de princes de leurs maisons sans en être préablement convenus entre eux“.
156.
Die Gemalinnen der ſouveränen Fürſten führen in der Regel denſelben Titel und haben denſelben Rang, wie dieſe, aber nicht ebenſo allgemein die Gemale von ſouveränen Fürſtinnen.
Die Gemalinnen der Kaiſer und Könige werden Majeſtäten genannt, obwohl ihnen die eigentlichen Majeſtätsrechte nicht zuſtehn.
Prinz Albert erhielt als Gemal der Königin Victoria von England den Königstitel nicht; dagegen wurde dem Herzog Ferdinand, ebenfalls aus dem Hauſe Coburg, als Gemal der Königin Maria II. da Gloria von Portugal der Königstitel verliehen.
157.
Den Prinzen der ſouveränen Häuſer kommt regelmäßig die nächſtfolgende Rangſtufe in der Titulatur zu.
Aus Kaiſerlichen Häuſern der Titel Kaiſerliche Hoheit, aus Königshäuſern der Titel Königliche Hoheit, in Großherzoglichen Häuſern Hoheit, der Erbprinz auch Königliche Hoheit, aus Herzoglichen Häuſern der Erbprinz Hoheit, andere Verwante von herzoglicher oder fürſtlicher Abkunft Durchlaucht.
158.
Die Princeſſinnen von ſouveränen Häuſern pflegen den angeborenen höheren Titel beizubehalten, wenn ſie in Folge ihrer Heirath nur einen minderen Titel erhielten.
Die Gemalin eines Prinzen, welcher den Titel Hoheit führt, kann ſo den Titel Kaiſerliche oder Königliche Hoheit führen, wenn ſie aus einem Kaiſeroder Königshauſe ſtammt.
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Drittes Buch.
II. Andere Organe des völkerrechtlichen Verkehrs.
5. Recht und Pflicht des völkerrechtlichen Verkehrs.
159.
Jeder Stat iſt als ſouveräne Perſon berechtigt, Geſante und andere Agenten mit dem Auftrag zu ernennen, ſeinen Verkehr mit andern Staten zu vermitteln.
Dieſes ſogenannte „active Geſantſchaftsrecht“ iſt eine Anwendung der Souveränetätsrechte auf die völkerrechtlichen Beziehungen der Staten zu einander.
160.
In zuſammengeſetzten Staten (Statenbünden, Bundesſtaten, Statenreichen) wird dieſes Recht je nach der Verfaſſung derſelben entweder von den Einzelſtaten und dem Geſammtſtate, oder nur von dieſem, oder vorherrſchend von jenen oder von dieſem geübt.
In der alten Deutſchen Reichsverfaſſung hatten die Landesherrn das Geſantenrecht erworben, neben dem Kaiſer und Reich insgeſammt. Der deutſche Bund von 1815 erkannte das vorzugsweiſe Geſantenrecht der Einzelſtaten an, ſchloß aber eine Geſammtvertretung nicht aus. Die Verfaſſung der Vereinigten Staten von Nordamerika von 1787 concentrirt das Geſantenrecht faſt ausſchließlich in der Hand des Präſidenten, ebenſo die ſchweizeriſche Bundesverfaſſung von 1848 in der des Bundesraths; beide Verfaſſungen ſchließen aber eine beſondere außerordentliche Vertretung der Einzelſtaten nicht völlig aus, aber ordnen dieſelbe der Aufſicht der Bundesgewalt unter. Auch einzelnen Türkiſchen Vaſallenſtaten iſt ein beſchränktes Geſantenrecht zugeſtanden worden. Die Verfaſſung des norddeutſchen Bundes weiſt die völkerrechtliche Vertretung desſelben ausſchließlich der Krone Preußen zu, hebt aber das Geſantenrecht der Einzelſtaten in ihren beſondern Intereſſen nicht auf. (Art. 11).
161.
Ausnahmsweiſe wird das Recht, einen Geſanten zu ſenden, auch auf die Vicekönige und die Statthalter entlegener Provinzen oder abhängiger Länder übertragen.
Da dieſe Provinzen oder Länder eine beſondere relative Sonderexiſtenz haben, ſo bedürfen ſie unter Umſtänden auch eine beſondere Vertretung. Da der
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Völkerrechtliche Organe.
Hauptſtat der großen Entfernung wegen nicht in der Lage iſt, dieſe Vertretung wirkſam zu beſorgen, ſo iſt eine Uebertragung dieſes beſchränkten Geſantenrechts auf die beſondere Provincial- oder Landesregierung nicht zu entbehren. Fälle der Art ſind z. B. die Geſanten, welche von den engliſchen Regierungen in Oſtindien, in Auſtralien, von der Holländiſchen Colonialregierung in Oſtaſien verſendet werden. Es bedarf jedoch einer beſondern Ermächtigung von Seite der ſouveränen Hauptregierung.
162.
Die Wahl des Geſanten oder Agenten ſteht dem Abſendeſtate frei. Es wird keine beſtimmte Standeseigenſchaft erfordert.
Das Wahlrecht folgt wieder aus der Souveränetät des Abſendeſtats. Ein beſtimmter Stand, etwa Adels- oder geiſtlicher Stand, iſt auch für die oberſten Claſſen der Geſanten nicht erforderlich, ſo wenig als für andere oberſte Statsämter. Ein Botſchafter aus bürgerlicher Familie hat genau dasſelbe Recht, wie ein Botſchafter von fürſtlicher Abkunft, denn er repräſentirt in beiden Fällen nicht ſeine perſönliche und Standeswürde, ſondern den Stat.
163.
Jeder Stat iſt in Folge des völkerrechtlichen Verbandes aller Staten verpflichtet, den Geſanten eines andern völkerrechtlich anerkannten States zu empfangen und anzuhören. Nur beſonders erhebliche Ausnahmsgründe können eine Abweiſung rechtfertigen.
Die allgemeine Weigerung, Geſante zu empfangen, würde die Möglichkeit eines völkerrechtlichen Verkehrs ausſchließen. Damit aber wäre der völkerrechtliche Verband der Staten unwirkſam gemacht. Dagegen wird die Zulaſſung ſtändiger Geſanten als ein Act des Friedens betrachtet und in Kriegszeiten dieſer friedliche Verkehr gewöhnlich abgebrochen. Von der beſondern Weigerung, eine beſtimmte Perſon zu empfangen, handelt § 164.
164.
Dem Empfangſtate ſteht es zu, gewiſſe ihm anſtößige Perſonen ſich als Geſante oder Agenten zu verbitten.
Mit Grund erregt es Anſtoß, wenn ein Stat einen von einem andern State früher wegen eines Verbrechens Beſtraften oder Verfolgten nun als ſeinen Geſanten bei dieſem State accreditiren will; daher iſt in einem ſolchen Fall die Annahme dieſer Perſon nicht zu erwarten. Bynkershoek (Quaest. Publ. II. v.) erwähnt eines Falles, in dem England als Geſanten nach dem Hag einen Mann ſchickte, welcher zuvor von der Holländiſch-Oſtindiſchen Compagnie verurtheilt worden war,
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Drittes Buch.
daß ihm die Zunge geſchlitzt werde. Derſelbe wurde anfangs widerrechtlich in Holland gefangen geſetzt, dann aber mit Recht zurückgewieſen. Es iſt ſchon ein zureichender Grund, ſich eine Perſon als Geſanten zu verbitten, die ſich zuvor durch beſondere Gehäſſigkeit und Feindſchaft gegen den beſendeten Stat oder deſſen Haupt hervorgethan hat. Dagegen wäre es unpaſſend, wenn etwa ein Stat überhaupt keine bürgerlichen Perſonen oder keine Geiſtlichen, oder keine Frauen als Geſante empfangen wollte; denn die Standes- oder Geſchlechtsunterſchiede bilden keine rechtlichen Erforderniſſe oder Hinderniſſe für das Amt eines Geſanten und können auch keinen Grund zu perſönlichem Anſtoß geben.
165.
Ebenſo kann der Empfangſtat die Annahme eines perſönlich nicht anſtößigen Geſanten dann verweigern, wenn derſelbe als Träger eines das Recht oder die Ehre des Empfangsſtates verletzenden Miſſion erſcheint.
Eine wichtige Anwendung dieſes Satzes iſt die auf die päpſtlichen Legate und Nuncien, die nach den Kirchengeſetzen Vollmachten in Anſpruch nehmen, welche mit dem Verfaſſungsrecht des beſendeten States nicht verträglich ſind. In Folge deſſen wurde ſchon vor der Revolution am franzöſiſchen Hofe kein päpſtlicher Geſanter angenommen, welcher nicht eine beſchränkte Vollmacht vorweiſen konnte. Das franzöſiſche Statsbewußtſein geſtattete nicht, daß die päpſtlichen Geſanten die Anſprüche und Anmaßungen der römiſchen Hierarchie mit den völkerrechtlichen Privilegien der Geſanten decken und ausrüſten.
166.
Ferner gilt es als ein ausreichender Grund, die Annahme eines Geſanten zu verbitten, welcher ein Unterthan des beſendeten States iſt.
Das war eine Zeit lang Maxime des franzöſiſchen und iſt noch Gebrauch des ſchwediſchen Stats, keinen Geſanten zu empfangen, der Unterthan dieſer beſendeten Staten war. Man ſcheut den Conflict zwiſchen den Rechten des Geſanten auf Unabhängigkeit zu Ehren des States, den er repräſentirt und den Pflichten gegen den Stat, dem er als Unterthan zugehört.
167.
Die völkerrechtliche gute Sitte verlangt, daß vor der Abſendung eines Geſanten dem Empfangſtate davon Anzeige gemacht und die Perſon genannt werde. Wird keine Einſprache gemacht, ſo wird angenommen, der Genannte ſei dem Empfangſtate nicht anſtößig.
Durch dieſe Uebung wird auch eine ſchroffe Zurückweiſung vermieden. Es genügt gewöhnlich, daß der zu beſendende Stat ſeine Bedenken gegen die fragliche Perſon eröffnet, um den Abſendeſtat zu beſtimmen, eine andere Perſon zu wählen.
(0151 : 129)
Völkerrechtliche Organe.
168.
Iſt ein Geſanter einmal aufgenommen, ſo genießt er alle Rechte und Ehren ſeiner Stellung und es darf nachträglich nicht eine Einſprache gegen ſeine Perſon erhoben werden aus Gründen, welche ſchon zur Zeit ſeines Empfangs vorlagen und bekannt ſein konnten.
169.
In der Annahme des Geſanten liegt die Anerkennung des Abſendeſtats, beziehungsweiſe der Statsregierung, welche denſelben bevollmächtigt, durch den Empfangſtat.
Es widerſpricht der Einheit des States, der repräſentirt werden ſoll, gleichzeitig zwei verſchiedene Geſante, den einen des vertriebenen Fürſten, der auf Wiederherſtellung hofft, den andern des vielleicht durch Uſurpation zur Gewalt gelangten Fürſten, als Repräſentanten des Einen Stats zu empfangen. Indem der Empfangſtat den einen oder den andern empfängt, erklärt er, daß er deſſen Vollmachtgeber als das wirkliche Statshaupt betrachte. Die Annahme des Geſanten der neuen Regierung iſt daher mit der Entlaſſung des Geſanten der alten Regierung zu verbinden. Vgl. oben § 28 ff.
6. Claſſen und Arten der Geſanten. Diplomatiſcher Körper.
170.
Als Geſante werden diejenigen Perſonen betrachtet, welche von einem State ermächtigt und dazu beglaubigt ſind, deſſen Rechte und Intereſſen bei einem andern State zu vertreten.
Die Ermächtigung allein gewährt noch nicht die Stellung und Rechte eines Geſanten; auch der geheime Agent iſt ermächtigt; es muß die Beglaubigung gegenüber dem beſendeten State hinzutreten.
171.
Das heutige Völkerrecht unterſcheidet drei bis vier Claſſen von Geſanten:
1) die Botſchafter (ambassadeurs);
2) die Geſanten im engern Sinn (envoyès) und die bevollmächtigten Miniſter;
3) die Geſchäftsträger (chargés d’affaires).
Zwiſchen der zweiten und der dritten Claſſe nehmen die Miniſterreſidenten eine Mittelſtellung ein.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 9
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Drittes Buch.
Im Alterthum gab es nur Eine Claſſe von Geſanten, von den Römern Legati genannt. In den weſentlichen Beziehungen ſind ſich auch heute noch alle Claſſen gleich. Die Unterſchiede, welche ſeit dem fünfzehnten Jahrhundert nach und nach aufgekommen ſind, haben vornehmlich einen Bezug auf die Hofſtellung, das Ceremoniel und den Rang.
Auf dem Wiener Congreß wurde von den acht Mächten am 19. März 1815 ein Protokoll unterzeichnet, deſſen Artikel 1 die obigen 3 Claſſen unterſcheidet:
„Les employés diplomatiques sont partagés en trois classes: celle des ambassadeurs, légates ou nonces, celle des envoyés ministres ou autres accrédités auprès des souverains, celle des chargés d’affaires accrédités auprès des ministres chargés des affaires étrangères“.
Dazu kam nun das Protokoll des Aachener Congreſſes der fünf Großmächte vom 21. Nov. 1818, welches die vierte Zwiſchenclaſſe anerkannte: „Il est arrêté entre les cinq cours que les ministres résidens accrédités auprès d’elles formeront par rapport à leur rang une classe intermédiaire entre les ministres du second ordre et les chargés d’affaires“.
172.
Botſchafter werden in der Regel nur von Staten von Königlichem Rang abgeſendet und empfangen. Die Legati und Nuncien des Papſtes haben den Rang der Botſchafter.
Die Botſchafter allein repräſentiren auch die äußere Würde des Souverains, der ſie beglaubigt.
1. Die Beſchränkung der Botſchafter auf die Staten von königlichem Rang beruht weniger auf einem feſten Rechtsgrundſatz als auf der Sitte und hat eine natürliche Unterlage in den größeren für kleinere Staten unverhältmäßigen Koſten ſolcher Vertretung. Da aber nur die Botſchafter die perſönliche Würde des Souveräns repräſentiren, ſo iſt grundſätzlich nicht einzuſehen, weßhalb nicht auch ein ſouveräner Herzog oder ein anderer Fürſt bei außerordentlichem Anlaß ſich nicht ebenfalls in ſeiner perſönlichen Würde vertreten laſſen, d. h. daher nicht ebenfalls einen Botſchafter ſenden dürfte, der dann freilich keinen höheren Rang behaupten könnte, als ſein Vollmachtgeber beſitzt, alſo den Botſchaftern, welche Könige vertreten, nachſtehen müßte.
2. Die Legati a latere oder de latere (die Cardinäle führen dieſen Namen), oder die nuncii (Nicht-Cardinäle), welche der Papſt entſendet, haben durchweg eher kirchliche als politiſche Miſſionen und repräſentiren daher den Papſt vornehmlich in ſeiner Eigenſchaft als Hauptes der römiſch-katholiſchen Kirche. Die Bedeutung und der Rang dieſer päpſtlichen Repräſentanten iſt daher unabhängig von der Fortdauer eines Kirchenſtates.
Protokoll des Wiener Congreſſes vom 19. März 1815 Art. II.: „Les ambassadeurs, légates ou nonces ont seuls le caractère représentatif“.
(0153 : 131)
Völkerrechtliche Organe.
173.
Die Geſanten der zweiten Claſſe werden wie die Botſchafter bei dem Souverän des Empfangſtates perſönlich beglaubigt, aber repräſentiren nicht zugleich mit dem State auch die perſönliche Würde (Dignität) des Souveräns.
Die Internuncien des Papſtes werden ihnen gleichgeſtellt.
Vgl. zu Art. 172. Dahin gehören die ſogenannten bevollmächtigten Miniſter (plena potentia muniti), die außerordentlichen oder ordentlichen Geſanten, die Geſanten ſchlechtweg. Auch der Oeſterreichiſche „Internuncius“ zu Conſtantinopel gehört in dieſe Claſſe. Das iſt die eigentliche Haupt- und Negelclaſſe, über welche ſich die Botſchafter um etwas erheben und welche die folgenden Claſſen nicht völlig erreichen.
174.
Die Geſchäftsträger werden nur bei dem Miniſterium der auswärtigen Angelegenheiten beglaubigt. Für die Rangſtufe iſt es unerheblich, wenn ihnen der Titel Miniſter verliehen wird.
Dagegen erhalten die Miniſterreſidenten, welche bei dem Hofe beglaubigt werden, einen mittleren Rang zwiſchen der dritten und vierten Claſſe.
Vgl. zu § 171.
175.
Die Eigenſchaft einer außerordentlichen Miſſion oder Vollmacht gibt keinen höhern Rang.
Protokoll vom 19. März 1815 Art. III. „Les employés diplomatiques en mission extraordinaire n’out à ce titre aucune supériorité de rang“.
176.
Unter einander nehmen die Geſanten einer jeden Claſſe ihre Rangordnung nach dem Tage der officiellen Anmeldung ihrer Ankunft.
Ebenda Art. IV. „Les employés diplomatiques prendront rang entre eux dans chaque classe d’après la date de la notification officielle de leur arrivée. Le présent règlement n’apportera aucune innovation relativement aux représentans du Pape“.
177.
Die Verwantſchaftsverhältniſſe unter den Höfen haben keinen Einfluß auf den Rang ihrer Geſanten.
9*
(0154 : 132)
Drittes Buch.
Ebenda Art. VI. „Les liens de parenté ou d’alliance de famille entre les Cours ne donnent aucun rang à leurs employés diplomatiques de chaque classe“.
178.
Bei der Unterzeichnung von Acten und Verträgen unter mehreren Staten, welche ſich das Alternat zugeſtehn, entſcheidet das Loos unter den Miniſtern über die Reihenfolge der Unterſchriften.
Ebenda Art. VII. „Dans les actes ou traités entre plusieurs puissances qui admettent l’alternat, le sort décidera entre les ministres, de l’ordre qui devra être suivi dans les signatures“. Statt deſſen wird oft die Reihenfolge nach den Anfangsbuchſtaben der Statennamen gewählt, um jede Eiferſucht der Stellung abzuſchneiden.
179.
Daraus, daß ein Stat ſtändige Geſante eines andern States empfängt, entſteht keine Verpflichtung des letztern States, ebenfalls ſtändige Geſante bei jenem State zu beglaubigen.
Es kann auch ein Stat, ohne ſeinem Rechte oder ſeiner Ehre etwas zu vergeben, fremde Geſante von höherem oder geringerem Rang empfangen, als er hinwieder abſendet.
Unter den Großmächten wird freilich das Intereſſe möglichſter Gleichheit auch in der Repräſentation meiſt dahin wirken, daß ſie ſich durch Geſante von gleich hohem Rang vertreten laſſen. Aber das iſt keine Rechtsnothwendigkeit. Die Beiſpiele ſind nicht ſelten, in denen ein Stat einen Geſanten von höherem Rang empfängt, als er abſendet, oder umgekehrt.
180.
Es gibt ſowohl ſtändige als nichtſtändige Geſante. Zu den letztern gehört auch der Interimsgeſante, welcher für den ſtändigen, aber zur Zeit abweſenden oder verhinderten Geſanten die Geſchäfte beſorgt.
Dieſer Gegenſatz hat keinen Einfluß auf den Rang des Geſanten, ſondern nur auf die Dauer ſeiner Vollmacht.
181.
Die Ceremonialgeſanten (ministres d’étiquette, de cérémonie) vertreten lediglich die perſönlichen Beziehungen der Höfe und Regierungen und bedürfen zur Vertretung in Statsgeſchäften einer beſondern Ermächtigung, in Folge welcher ſie aufhören, bloße Ceremonialgeſante zu ſein.
(0155 : 133)
Völkerrechtliche Organe.
Solche Ceremonialgeſante werden oft zu gewiſſen Feierlichkeiten, bei Krönungen, Heirathswerbungen, Vermählungen, Taufen entſendet und empfangen, oder zu Beglückwünſchungen. Auch die an den Papſt früher geſendeten legati reverentiae der katholiſchen Fürſten gehören hieher.
182.
Die gleichzeitig bei einer Regierung beglaubigten Geſanten aller Claſſen bilden zuſammen den diplomatiſchen Körper (corps diplomatique).
Derſelbe iſt nicht eine juriſtiſche oder politiſche Perſon, ſondern ein freier Verein verſchiedener Perſonen, aber er ſtellt die völkerrechtliche Gemeinſchaft der Staten dar und iſt berechtigt, den gemeinſamen Empfindungen und Meinungen einen Ausdruck zu geben.
Darin liegt ein Keim einer völkerrechtlichen Organiſation, der ſich in der Zukunft weiter entwickeln läßt. Die übereinſtimmende Meinungsäußerung des diplomatiſchen Körpers hat eine gewiſſe völkerrechtliche Autorität, die zu mißachten nicht ungefährlich iſt. Der Sitte nach führt gewöhnlich — wenigſtens bei bloß formellen Aeußerungen des diplomatiſchen Körpers — der älteſte (d. h. am längſten daſelbſt amtirende) Geſante das Wort. Es ſteht aber kein Rechtsgrund der Bezeichnung eines andern Sprechers entgegen.
7. Anfang der diplomatiſchen Sendung.
183.
Dem Abſendeſtat gegenüber beginnt der Charakter eines Geſanten ſchon mit der vollzogenen Ernennung. Im völkerrechtlichen Verkehr mit dem beſendeten State wird die Eigenſchaft des Geſanten durch das Creditiv beglaubigt.
184.
Das Creditiv iſt die ſchriftliche und förmliche Vollmacht, welche der Geſante zum Behuf ſeiner Beglaubigung bei dem beſendeten State erhält und demſelben mittheilt.
185.
Das Creditiv wird gewöhnlich in Form eines Beglaubigungsſchreibens (lettre de créance) ausgeſtellt und in den obern Claſſen von Souverän an Souverän, in der Claſſe der Geſchäftsträger von Miniſter an Miniſter gerichtet.
(0156 : 134)
Drittes Buch.
186.
Schon vor Ueberreichung des Creditivs wird der Geſante, der ſich durch ſeine Päſſe oder in anderer glaubhafter Form als ſolchen ausweist, als eine völkerrechtlich beſonders geſicherte und begünſtigte Perſon behandelt, aber erſt in Folge der Abgabe und Annahme des Creditivs erhält er dem beſendeten State gegenüber volles Geſantenrecht ſeinem Range gemäß.
Das Völkerrecht muß den Geſanten ſchon unterwegs ſchützen, wenn er an den beſendeten Hof reiſt. Aber erſt von der Ueberreichung des Creditivs an iſt er wirklicher Geſanter bei dem beſendeten State. Bis dahin war er deſignirter Geſanter. Auf jenen völkerrechtlichen Schutz hat der Geſante auch in einem fremden Lande, durch welches er reist, einen naturgemäßen Anſpruch. Die Ermordung der franzöſiſchen Geſanten nach Venedig und Conſtantinopel in der Lombardei gab dem Könige Franz I. einen gerechten Grund zu der ernſteſten Beſchwerde gegen Kaiſer Carl V als über eine ſchwere Verletzung des Völkerrechts. Vgl. Vattel IV. § 84.
187.
Der Ueberreichung des Creditivs geht die Notification der Ankunft des Geſanten bei dem Miniſterium des Aeußern vorher. Von da an wird der diplomatiſche Altersrang gerechnet (Art. 176).
Mit der Notification wird die Mittheilung einer Abſchrift des Creditivs verbunden.
188.
Der Unterſchied der verſchiedenen Claſſen der Geſanten hat einen Einfluß auf das bei der Ueberreichung und Annahme des Creditivs übliche Ceremoniel und auf die perſönlichen Beziehungen am Hofe, aber iſt für das ſtatliche Rechtsverhältniß ſelbſt nicht erheblich.
So läßt der Botſchafter ſeine Ankunft durch einen Cavalier der Geſantſchaft oder ſeinen Secretair anmelden, die Geſanten zweiter und dritter Claſſe ſchreiben unmittelbar an den Miniſter des Aeußern. Der Botſchafter wird mit Kanonenſchüſſen bei dem feierlichen Empfang ſalutirt, die übrigen Geſanten nicht; u. dgl.
189.
Das Ceremoniel wird im Einzelnen durch die Landes- und Hofſitte beſtimmt. Aber es iſt eine völkerrechtliche Pflicht des Empfangſtates, in demſelben nichts anzuordnen, was die Ehre des Abſendeſtates verletzt oder
(0157 : 135)
Völkerrechtliche Perſonen.
den Rang desſelben herabſetzt. Dem Geſanten darf keine unwürdige Zumuthung gemacht werden und jeder Geſante hat Anſpruch auf die vollen regelmäßigen Ehren ſeiner Claſſe.
An deſpotiſchen, insbeſondere an orientaliſchen Höfen wird dem Statshaupte oft eine abgöttiſche Verehrung bezeugt und es werden daher an die Geſanten der fremden Staten zuweilen Zumuthungen gemacht, die mit der Würde freier Männer ſich ſo wenig vertragen, als mit der Würde der repräſentirten Staten. Obwohl daher der beſendete Stat ſelber das äußere Ceremoniel beſtimmen kann, ſo iſt doch der Geſante in ſeinem Recht, wenn er ſich derlei Zumuthungen nicht gefallen läßt.
190.
Die Beſuche der Geſanten und bei Geſanten und ebenſo die Einladungen zu Feſten und Tafeln fallen in den Bereich der Höflichkeit und der Sitte, nicht in den des Völkerrechts, ſo lange dabei die Ehre und der anerkannte Rang der Staten und ihrer Vertreter unverletzt bleiben.
Etiketteverſtöße ſind nicht an ſich beleidigend, ſondern nur, wenn darin die Abſicht der Beleidigung offenbar wird. Im vorigen Jahrhundert hatten dieſe Dinge noch mehr Bedeutung, als in unſrer Zeit.
8. Perſönliche Rechte und Pflichten der Geſanten.
191.
Die Geſanten haben das Recht der Unverletzbarkeit.
Wenige Sätze des Völkerrechts haben eine ſo frühe und allgemeine Anerkennung, nicht bloß unter den civiliſirten Staten, ſondern ſogar unter barbariſchen Völkern gefunden, wie die Unverletzbarkeit der Geſanten. Im Alterthum waren dieſelben unter den Schutz der Götter geſtellt und galten inſofern als personae sanctae. Die Scheu vor den Göttern mußte damals noch die Ohnmacht des Völkerrechts erſetzen. Die moderne Welt ſtellt ſie unter den Schutz des menſchlichen Völkerrechts. Vgl. darüber Hugo Grot. II. c. 18. 1.
192.
Der Stat, bei welchem die Geſanten beglaubigt ſind, iſt nicht bloß verpflichtet, ſich jeder Gewaltübung gegen dieſelben zu enthalten, ſondern auch dieſelben vor jeder Vergewaltigung zu ſchützen, welche ihnen von andern Bewohnern des Landes droht.
(0158 : 136)
Drittes Buch.
Dem State liegt freilich auch gegen andere Perſonen die Pflicht ob, ſie wider Gewaltthat zu ſchützen. Aber dieſe allgemeine Schutzpflicht wird zu Gunſten des directen Völkerverkehrs mit Bezug auf die Geſanten geſteigert und gleichſam potenzirt. Der beſendete Stat hat darauf eine beſondere Sorge zu verwenden und je nach Bedürfniß dem Geſanten eine außerordentliche Bedeckung oder Schutzwache zur Sicherung beizuordnen.
193.
Die widerrechtliche Verletzung des Geſanten gilt zugleich als Verletzung des repräſentirten States, und in ſchweren Fällen als Verletzung auch der völkerrechtlichen Statengenoſſenſchaft überhaupt.
Alle Staten ſind dabei betheiligt, daß die Unverletzlichkeit der Geſanten anerkannt und geſchützt bleibe; daher ſind auch die übrigen Staten berechtigt, theils das Begehren um Genugthuung des zunächſt betheiligten States zu unterſtützen, theils ſogar von ſich aus auf Wiederherſtellung des Rechts und Sühne zu dringen. Vgl. Phillimore II. 142.
194.
Wird ein Geſanter in gerechter Nothwehr verletzt, ſo iſt kein Grund zu völkerrechtlicher Beſchwerde da, denn Nothwehr iſt erlaubt.
Vgl. oben § 144.
195.
Ein Geſanter, der ſich in Gefahr begibt, iſt auch den Zufällen dieſer Gefahr ausgeſetzt; wenn er dabei verletzt wird, ſo iſt das keine Beleidigung ſeines States und keine Verletzung des Völkerrechts.
Wenn er z. B., ohne die nöthige Vorſicht zu üben, ſich in einen aufrühreriſchen Haufen begibt, und an dem Straßenkampfe Theil nimmt oder wenn er ſich auf ein Duell einläßt und bei dieſer Gelegenheit verwundet oder gar getödtet wird, ſo trifft dieſe Verletzung ihn nicht als Geſanten und daher auch nicht den von ihm repräſentirten Stat. Es iſt das ein perſönlicher Unfall, für den nicht der Stat verantwortlich gemacht werden kann, der die Unverletzlichkeit des Geſanten zu ſchützen hat.
196.
Ueberdem kommt den Geſanten das Recht der Exterritorialität zu. Dasſelbe erſtreckt ſich auch auf ihr Gefolge und ihre Wohnung (§ 135 ff.).
Die Lehre von der Exterritorialität wurde vornehmlich im Hinblick auf die Ausnahmsſtellung der Geſanten ausgebildet.
(0159 : 137)
Völkerrechtliche Organe.
197.
Der beſondere Schutz und die Exemtion von der einheimiſchen Statsgewalt, welche den fremden Geſanten gewährt werden, beziehen ſich vorzüglich auf ihre Papiere, Acten und Correſpondenzen.
198.
Demgemäß ſind auch die Curiere, welche mit amtlichen Depeſchen von Geſanten und an Geſante geſchickt werden, vor policeilicher oder politiſcher Wegnahme ihrer Depeſchen geſichert.
199.
Die Verletzung des Briefgeheimniſſes bezüglich der amtlich bezeichneten Geſantencorreſpondenz iſt auch als Verletzung des Völkerrechts zu mißbilligen.
Obwohl dieſe Anwendung des Grundſatzes ſelbſtverſtändlich iſt, ſo hat ſich doch die Praxis mancher Staten ſo wenig darnach gerichtet, und ſich ſo oft durch das politiſche Intereſſe verlocken laſſen, die Briefe zu durchſpähen, daß eben dieſer Mißbrauch dahin geführt hat, wichtige Depeſchen in Chiffern zu ſchreiben und dadurch unleſerlich für Dritte zu machen und überdem Depeſchen, die man beſſer ſichern will, gar nicht mehr der Poſt auzuvertrauen, ſondern mit beſondern Curieren zu verſenden.
200.
Mit der Wohnung des Geſanten iſt kein Aſylrecht verbunden. Vielmehr iſt der Geſante verpflichtet, wenn ein von der einheimiſchen Gerichtsoder Policeigewalt Verfolgter ſich dahin geflüchtet hat, entweder den Flüchtling an die zuſtändige Behörde auszuliefern oder die Nachforſchung nach demſelben auch in ſeiner Wohnung zu geſtatten.
Vgl. oben 77. Als ein engliſcher Botſchafter 1726 in Madrid ſich weigerte, den in ſein Hotel geflüchteten Spaniſchen Miniſter, Herzog von Ripperda, auszuliefern, wurde derſelbe gewaltſam herausgeholt. Ueber die Form des Verfahrens hatte England Grund zur Beſchwerde, aber in der Hauptſache war Spanien im Recht (Phillimore II. 204). In Martens Erzählungen (I. 217) findet ſich ein Bericht über den vergeblichen Verſuch des engliſchen Geſanten in Stockholm, den in ſein Hotel geflüchteten, wegen eines Statsverbrechens verfolgten Kaufmann Springer zu retten (1747). Das Hotel wurde von ſchwediſchen Truppen umſtellt und der Flüchtling mußte ausgeliefert werden. Der Geſante aber wurde abberufen, weil er zu weit gegangen war in der Ausdehnung ſeines Schutzes.
(0160 : 138)
Drittes Buch.
201.
Ebenſo wenig kann der Geſante ſich auf die Freiheit ſeiner Equipage berufen, um Flüchtlingen durchzuhelfen, welche er in ſeinen Wagen aufgenommen hat.
Wenn in einem ſolchen Fall die einheimiſche Gerichts- oder Policeigewalt den Wagen anhält und den Flüchtigen verhaftet, ſo iſt das keine Verletzung des Völkerrechts. Ein Beiſpiel aus Rom führt Vattel an (IV. 119), indem ein franzöſiſcher Geſanter vergeblich verſuchte, verfolgte Neapolitaner vor den päpſtlichen Wachen zu retten.
202.
Der Geſante darf ſein Hotel nicht zu feindlichen Handlungen gegen den Stat mißbrauchen laſſen, bei welchem er beglaubigt iſt. Verletzt er dieſe Pflicht, ſo ſchützt ihn auch die Exterritorialität nicht vor denjenigen Maßregeln, welche die Selbſterhaltung und Sicherung des beſendeten States erfordern.
Er darf alſo insbeſondere keine Verſammlungen von Verſchwornen daſelbſt geſtatten, keine Waffenmagazine da einrichten, zur Unterſtützung eines Aufſtandes u. ſ. f. Als der ſchwediſche Geſante in London an einer Verſchwörung gegen den König von England Theil nahm, ließ dieſer den Geſanten verhaften und ſeine Papiere in Beſchlag nehmen. Dieſes Verfahren wurde von den engliſchen Statsſecretären der Diplomatie gegenüber, die anfangs Bedenken ausſprach, gerechtfertigt. Martens Causes Célèbres I. 75. Vgl. auch Vattel IV. 101.
203.
Der Geſante hat das Recht der freien Religionsübung in dem Geſantſchaftshotel, zunächſt für ſich, ſeine Familie, ſein Gefolge und ſeine Dienerſchaft.
Dieſes Privilegium des Geſanten hat ſeinen Werth großentheils verloren, ſeitdem die Cultusfreiheit als allgemeines Recht die frühere Unduldſamkeit in den meiſten civiliſirten Staten endlich verdrängt hat. Aber es iſt heute noch von Bedeutung in den Staten, welche in dieſer Hinſicht hinter dem Fortſchritte der Zeit zurückgeblieben ſind.
204.
Den Geſanten der oberen Claſſen wird allgemein ein ſogenanntes Capellenrecht zugeſtanden, d. h. das Recht, in weiterem Sinne innerhalb der exterritorialen Wohnung für den Gottesdienſt zu ſorgen.
(0161 : 139)
Völkerrechtliche Organe.
Ein völkerrechtlicher Grund, das Capellenrecht auf jene Claſſen zu beſchränken und den Geſchäftsträgern zu verſagen, beſteht nicht. Dasſelbe iſt nur früher zu Gunſten der vornehmern Geſanten geſtattet und anerkannt worden.
205.
In dem Capellenrecht iſt enthalten:
a) eine geſantſchaftliche Capelle für Cultuszwecke zu bauen und zu benutzen,
b) die Befugniß, einen beſondern, der Geſantſchaft beigeordneten Geiſtlichen (Prieſter, Prediger) für den Gottesdienſt zu halten,
c) das Recht, auch andere Perſonen, mindeſtens die Landsleute und Schutzbefohlenen des Geſanten, ſowie andere fremde Glaubensgenoſſen zur Theilnahme an dem geſantſchaftlichen Gottesdienſt zuzulaſſen.
Die neuere Rechtsbildung iſt wie überhaupt der Cultusfreiheit ſo auch einer Ausdehnung des Capellenrechtes günſtig. Indeſſen kommt zuweilen noch ein Verbot in einzelnen Staten für deſſen Unterthanen vor, den andersgläubigen Gottesdienſt zu beſuchen. Gegenwärtig noch iſt es den Römern unterſagt, dem proteſtantiſchen Gottesdienſt in der preußiſchen Geſantſchaftscapelle zu Rom beizuwohnen.
206.
Es iſt nicht nothwendig in dem Capellenrecht auch die Befugniß inbegriffen, den Cultus nach außen hin öffentlich darzuſtellen, wie insbeſondere durch Glockengeläute, Proceſſionen, Erſcheinen des Geiſtlichen außerhalb der eximirten Räume in der Tracht ſeines kirchlichen Amtes.
Innerhalb der Capelle dagegen und in dem Geſantſchaftshotel darf der Geiſtliche ungehindert in der Amtstracht erſcheinen. Er darf daſelbſt Taufen und Trauungen vollziehen und auf dem dazu gehörigen Begräbnißplatze den Trauergottesdienſt abhalten.
Das Capellenrecht des Geſanten iſt zunächſt Hausrecht desſelben und erſtreckt ſich deßhalb nicht auf den öffentlichen Cultus außerhalb des Geſantſchaftshotels und ſeiner Zubehörde, der Capelle.
207.
Die vorübergehende Abweſenheit des Geſanten hindert die Fortdauer des geſantſchaftlichen Gottesdienſtes nicht. Wird aber der geſantſchaftliche Verkehr abgebrochen, ſo erliſcht auch das Capellenrecht.
(0162 : 140)
Drittes Buch.
208.
Die Familie, die Begleiter und Diener des Geſanten haben ebenfalls freie Religionsübung innerhalb des Geſantſchaftshotels je nach ihrer Religion und Confeſſion.
Es gilt das auch dann, wenn dieſe Perſonen eine andere Confeſſion bekennen, als der Geſante ſelbſt. Die Capelle z. B. eines Preußiſchen Geſanten kann proteſtantiſch ſein, während der Geſante ſelbſt katholiſch iſt.
209.
Der Geſante und ſein Gefolge ſind der Strafgerichtsbarkeit des beſendeten States nicht unterworfen. Dieſer Stat aber iſt berechtigt, wenn durch ſolche Perſonen die Rechtsordnung des Landes in ſtrafwürdiger Weiſe verletzt worden iſt, auf diplomatiſchem Wege Genugthuung und je nach Umſtänden Entſchädigung zu fordern.
Vgl. oben zu § 141 f.
210.
Verübt der Geſante ſelber eine ſtrafbare Handlung, ſo kann ſolches der Regierung des Abſendeſtates angezeigt und Abberufung und Beſtrafung des Geſanten gefordert werden. In ſchweren Fällen können auch dem Geſanten ſofort die Päſſe zugeſtellt und er in kurzer Friſt aus dem Lande weggewieſen werden. In Nothfällen und insbeſondere, wenn der Geſante an hochverrätheriſchen oder feindlichen Handlungen gegen das Land theilgenommen hat, bei dem er beglaubigt iſt, kann er, um die Anſprüche des verletzten States auf Genugthuung zu ſichern, gefangen genommen werden. Aber ſogar in dieſem Fall darf das einheimiſche Strafgericht nicht über ihn richten.
Vgl. oben § 142. Ein Beiſpiel iſt die Gefangennahme des Prinzen von Cellamare, Spaniſchen Geſanten in Paris, der ſich an einer Verſchwörung gegen die damalige franzöſiſche Regierung betheiligt hatte, 1718. Manche Juriſten behaupteten früher, der Geſante verwirke das Privilegium durch ein ſchweres Verbrechen gegen den beſendeten Stat oder deſſen Souverän, aber die Meinung von Grotius, daß ſelbſt in ſolchen Fällen die Strafgewalt des beſendeten Stats nicht zur Anwendung komme, iſt die herrſchende geworden. Weil hier leicht die völkerrechtlichen Beziehungen an einer empfindlichen Stelle verwundet werden, darf in ſolchen Fällen nicht eine untergeordnete Behörde, ſondern nur die oberſte Autorität das Nöthige anordnen.
(0163 : 141)
Völkerrechtliche Organe.
211.
Wird das Vergehn von einer Perſon aus dem Gefolge verübt, ſo iſt der Geſante verpflichtet, mitzuwirken, daß der Angeklagte vor Gericht geſtellt und wenn ſchuldig erfunden, geſtraft werde.
212.
Die Befreiung von der Strafgewalt des beſendeten States und die Unterwerfung unter die Strafgewalt des Abſendeſtates erſtreckt ſich auch auf ſolche Diener fremder Geſanten, welche Unterthanen des erſtern ſind.
Es kommt hier auf die Zeit an, in welcher die gerichtliche Verfolgung beginnt. Gegen den wirklichen Diener des Geſanten — bona fides des Dienſtes wird jederzeit vorausgeſetzt — wird ſie aus Rückſicht auf die völkerrechtliche Exemtion vorerſt gehemmt beziehungsweiſe abgelenkt.
213.
Dieſe Befreiung erſtreckt ſich nicht auf Perſonen, welche ohne Amt und ohne Dienſt lediglich aus freier Neigung oder Gewinnſucht ſich einer Geſantſchaft anſchließen, noch auf ſolche, welche nur zum Scheine in ein Dienſtverhältniß eintreten, in Wahrheit aber von dem Geſanten unabhängig und nicht der Geſantſchaft beigeordnet ſind.
Vgl. oben § 146.
214.
Wenn der Geſante in Anbetracht, daß die unabhängige Stellung der Geſantſchaft und die Intereſſen des Abſendeſtats nicht in Frage geſetzt werden, Perſonen ſeines Gefolges oder ſeiner Dienerſchaft, die wegen eines Vergehens entweder auf handhafter That ergriffen worden ſind oder ſonſt in unverdächtiger Weiſe verklagt werden, der ordentlichen Landesgerichtsbarkeit zur Beurtheilung freiwillig überläßt oder überliefert, ſo iſt das Gericht nicht durch völkerrechtliche Rückſichten gehindert, ſeine regelmäßige Gerichtsbarkeit auszuüben.
Inwiefern hier der Geſante die Vorſchriften und Inſtructionen des Abſendeſtats gehörig beachtet habe, iſt eine Frage des Stats- nicht des Völkerrechts, welche in den Bereich der Verantwortlichkeit fällt, die der Geſante ſeiner Regierung ſchuldet. In der Regel darf der Geſante mit Rückſicht auf ſeine völkerrechtliche Stellung und Aufgabe weder für ſich, noch für diejenigen Perſonen, welche mit den
(0164 : 142)
Drittes Buch.
öffentlichen Geſchäften des Amtes bekannt ſind, auf die Befreiung von der einheimiſchen Strafgerichtsbarkeit verzichten und darf weder ſich, noch ſolche Perſonen zum Schaden ſeiner Stellung und ſeiner Amtsthätigkeit dieſer Gerichtsbarkeit freiwillig unterwerfen.
215.
Der einheimiſchen Statsgewalt iſt es nicht verwehrt, Perſonen, welche zur Geſantſchaft gehören, wenn ſie auf handhafter That in Verübung eines Vergehens ergriffen werden, vorläufig in Haft zu nehmen. Nur iſt ſofort dem Geſanten davon Kenntniß zu geben und der Gefangene zu deſſen Verfügung zu ſtellen.
216.
Dem Geſanten kommt wohl eine Disciplinargewalt über ſeine Angehörigen zu, aber in der Regel keine eigentliche Strafgerichtsbarkeit. Ausnahmen bedürfen einerſeits der Ermächtigung des Abſendeſtats, andrerſeits der Zulaſſung des Empfangſtats.
Da der Ausſpruch auf Exterritorialität für ſich allein nur die Ausſchließung der fremden, an ſich berechtigten Strafgerichtsbarkeit, nicht aber die Ausübung der eigenen Strafgewalt von Seite des Exterritorialen begründet, ſo kann es auch nicht von dem Ermeſſen des Abſendeſtates allein abhängen, ſeinen Geſanten dieſe Gewalt zu übertragen. Der beſendete Stat kann ſich jede Ausübung der Strafgewalt in ſeinem Gebiete durch einen Fremden verbitten. Der Geſante iſt in der Regel nur zu denjenigen vorbereitenden Gerichtshandlungen ermächtigt, welche zur Sicherung des nachfolgenden Gerichtsverfahrens nöthig ſind. Ausnahmsweiſe wird den fränkiſchen Geſanten und ſogar den Conſuln in der Türkei und hinwieder muſelmänniſchen Geſanten in Europa eine Strafgerichtsbarkeit dort über ihre chriſtlichen, hier über ihre mohammedaniſchen Landsleute zugeſtanden.
217.
Der Geſante kann den äußern Thatbeſtand des Vergehens, ſoweit derſelbe innerhalb des exterritorialen Bezirks erkennbar iſt, conſtatiren, ſeine Angehörigen einvernehmen und das einheimiſche Gericht auffordern, daß es auch ſeinerſeits in ſeinem Bereich die Thatſachen feſtſtelle und Zeugen einvernehme. Er kann die angeſchuldigte Perſon ſeines Gefolges verhaften und für Ablieferung an das zuſtändige Gericht des Abſendeſtats ſorgen.
218.
Da der Geſante auch der Civilgerichtsbarkeit des Empfangſtates
(0165 : 143)
Völkerrechtliche Organe.
nicht unterworfen iſt, ſo darf er auch nicht vor Gericht geladen werden, um eine Civilkage zu beantworten, noch darf irgend ein Gerichtszwang gegen ſeine Perſon oder ſeine Habe ausgeübt werden.
Vgl. oben zu § 139. 140. In England iſt unter der Königin Anna am 21. April 1709 ein beſonderes Geſetz zum Schutz der Geſanten erlaſſen worden, nachdem zuvor die Verhaftung eines Ruſſiſchen Geſanten wegen Schulden heftige Beſchwerden des Czars Peter über Verletzung des Völkerrechts hervorgerufen hatte. Das Geſetz wurde als Genugthuung für den beleidigten Ruſſiſchen Hof betrachtet. Die Uebungen der Völker gehen in dieſer Befreiung der Geſanten von der Civilgerichtsbarkeit vielleicht weiter, als die inneren Rechtsgründe — insbeſondere die Rückſicht auf die Würde, Sicherheit und Unabhängigkeit des repräſentirten States es erfordern. Es iſt daher oft ſchon arger Mißbrauch von dieſem Privilegium gemacht worden, indem einzelne Geſante dasſelbe zu leichtfertigem Schuldenmachen ausgebeutet haben und dann die Gläubiger zu Schaden gekommen ſind. Uebrigens iſt der Geſante ſo wenig als ein ſouveräner Fürſt gehindert, eine Schuldfrage oder eine andere bürgerliche Rechtsſtreitigkeit, freiwillig an ein Schiedsgericht oder ſelbſt an das ordentliche Gericht des beſendeten Landes zu bringen und deſſen Urtheil anheim zu geben. Die Juriſten, welche ihn daran verhindern wollen, überſpannen das Intereſſe des Abſendeſtates, für deſſen Würde und Sicherheit es je nach Umſtänden ganz unerheblich ſein kann, derariige Civilproceſſe ausſchließlich der eigenen Gerichtsbarkeit vorzubehalten. Ob der Geſante das thun dürfe oder nicht, iſt eher eine Frage des Stats- als des Völkerrechts. Er iſt ſtatsrechtlich verpflichtet, die Inſtruction zu befolgen, die er von ſeiner Regierung empfängt.
219.
Da die Gefolgsleute des Geſanten nicht um ihrer Perſon, ſondern lediglich um der Geſantſchaft willen von der Civilgerichtsbarkeit des Landes befreit ſind, in dem ſie ſich thatſächlich aufhalten, ſo kann der Geſante verſtatten, daß dieſelben von dieſem Landesgericht belangt werden und es kann unter dieſer Vorausſetzung das Gericht die Klage an Hand nehmen, ohne Verletzung der völkerrechtlichen Rückſichten.
Vgl. oben zu § 149.
220.
Dem Geſanten ſteht in der Regel keine bürgerliche Gerichtsbarkeit in Streitſachen zu über ſeine Angehörigen. Eine Ausnahme wird nur durch beſondere Vollmacht des Abſendeſtats und durch Zulaſſung des Empfangſtats begründet.
Vgl. oben § 216.
(0166 : 144)
Drittes Buch.
221.
Dagegen ſind in der Regel die Geſanten befugt, Acte der freiwilligen Gerichtsbarkeit mit Bezug auf die Gefolgsperſonen und überdem mit Bezug auf ihre Landsleute und Schutzbefohlenen vorzunehmen, ſoweit ein derartiges Bedürfniß vorhanden iſt. Insbeſondere können ſie Unterſchriften und Urkunden dieſer Perſonen amtlich beglaubigen, letzte Willenserklärungen aufnehmen, bürgerliche Standesverhältniſſe (Geburt, Ehe, Tod) beurkunden und im Intereſſe der Sicherſtellung von Verlaſſenſchaften ſchützende Maßregeln theils ergreifen, theils veranlaſſen.
Die freiwillige Gerichtsbarkeit hat weniger den Charakter der Gerichtshoheit an ſich, als der gewaltloſen Rechtshülfe. Sie kann daher auch unbedenklich von dem Empfangſtat zugeſtanden werden. Aus ähnlichen Gründen kann der Geſante auch Zeugenausſagen ſeiner Gefolgsleute zu Protokoll nehmen.
222.
Die Steuerfreiheit des Geſanten beruht nur inſofern auf Rechtsnothwendigkeit, als ſie eine Folge der Befreiung derſelben von aller Statshoheit des beſendeten States iſt. Ihre Ausdehnung über dieſes Maß hinaus mag in den Sitten und in der Gaſtfreundlichkeit begründet ſein, aber ihre Beſchränkung auf jenes Maß kann nicht als Verletzung des Völkerrechts betrachtet werden.
Vgl. § 138. Im Einzelnen weichen die Sitten und Verordnungen der einzelnen Staten von einander ab, und es iſt nach Heffters Ausdruck (Völkerr. 217) „eine völlig gleichförmige Regel bei dieſem völkerrechtlichen Privilegium nicht erweislich.“ Es iſt z. B. keine Verletzung des Völkerrechts, wenn von dem Geſanten wie von andern Reiſenden Straßen- und Brückengelder gefordert werden, obwohl das aus Höflichkeit oft unterlaſſen wird.
223.
Der Geſante iſt verpflichtet, die Zollbefreiung, deren er für die Bedürfniſſe ſeines Haushalts genießt, in gutem Glauben zu gebrauchen und er darf dieſelbe weder zu eigenen Handelszwecken ausbeuten, noch zu Gunſten dritter zollpflichtiger Perſonen mißbrauchen. Das Völkerrecht hindert die Zollbehörden nicht, auch die Sendungen von Waaren an den Geſanten einer Prüfung zu unterwerfen, wenn nur das Hotel des Geſanten und diejenigen Räume (Statswagen, Archiv) verſchont werden, für welche er
(0167 : 145)
Völkerrechtliche Organe.
den beſondern Statsſchutz in Anſpruch nimmt und die Verſicherung gibt, daß ſie keine zollpflichtigen Güter in ſich ſchließen.
Wenn der Geſante zugleich Kaufmann iſt, ſo ſind ſeine Handelswaaren der gewöhnlichen Verzollung unterworfen.
224.
In allen zweifelhaften Fällen, wo Conflicte über die Ausdehnung oder Beſchränkung der Exterritorialität mit fremden Geſanten drohen, ſollen die untern Landesbehörden es vermeiden, von ſich aus dem Entſcheide der oberſten Regierungsautorität vorzugreifen und iſt durch Verhandlung dieſer mit der Geſantſchaft ein freundliches Einverſtändniß anzuſtreben.
Es iſt das eine zur Verhütung ſchädlicher Streitigkeiten wichtige Maxime Der Amtseifer der Unterbehörden ſieht leicht nur das Nächſte und beurtheilt das nach dem gewöhnlichen Geſchäftsgang, während die Centralregierung einen weiteren Horizont von höherem Standpunkte aus überſchaut und daher die Rückſichten von Stat zu Stat richtiger zu würdigen verſteht. Der Geſante iſt berechtigt, bei einem drohenden Conflicte mit einem Unterbeamten dieſen darauf hinzuweiſen, daß er wohl thue, an höhere Behörde zu berichten und weitere Befehle abzuwarten.
225.
Der Geſante iſt verpflichtet, die Selbſtändigkeit und Ehre des States, bei welchem er beglaubigt iſt, ſorgfältig zu achten. Er darf ſich nicht in die innern Landesangelegenheiten ungebührlich einmiſchen, und hat ſich aller autoritativen Acte zu enthalten, welche in den Bereich der Statshoheit des beſendeten States eingreifen. Er ſoll alle Aufreizungen oder Drohungen oder Beſtechungen unterlaſſen, durch welche die Freiheit des Volkes, die Autorität der Regierung und die Ehrbarkeit des politiſchen Lebens gefährdet oder verletzt würden.
Bloße Meinungsäußerung und Ertheilung von guten Räthen bezüglich der innern Politik, zumal im Privatverkehr, iſt nicht als unerlaubte Einmiſchung zu betrachten. Aber immerhin iſt auch hier Mäßigung zu empfehlen, damit nicht der Eindruck einer verſuchten Einmiſchung entſtehe, welche der fremden Macht und ihrem Vertreter nicht zukommt. Die Grenze, welche die freie Beſprechung von ungebührlicher Zudringlichkeit unterſcheidet, kann nur durch den ausgebildeten Takt der Perſonen inne gehalten werden.
226.
Ohne Ermächtigung des Abſendeſtats darf der Geſante weder Geſchenke noch Orden von dem Empfangſtate annehmen.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 10
(0168 : 146)
Drittes Buch.
Die repräſentative Stellung des Geſanten erfordert nicht allein, daß der Geſante ſich nicht durch perſönliche Ehren oder Vortheile von dem beſendeten State gewinnen laſſe, ſondern daß er auch den Schein einer ſolchen Gewinnung vermeide. Aber wenn der Abſendeſtat darüber beruhigt iſt und ſeine Zuſtimmung gibt, ſo iſt der Geſante auch nicht gehindert, eine Auszeichnung von dem beſendeten State anzunehmen.
9. Ende der diplomatiſchen Sendung.
227.
Wenn die diplomatiſche Sendung zu einem beſondern Zweck geſchehen iſt, wie vorzüglich bei Ceremonialgeſanten, ſo wird dieſelbe durch Erfüllung des Auftrags beendigt.
228.
Iſt der Geſante in fortdauernder Eigenſchaft beglaubigt, ſo wird ſeine Geſantſchaftsſtellung gewöhnlich durch die Abberufung beendigt. Das dem beſendeten State mitgetheilte Abberufungsſchreiben (lettre de rappel) hebt die Geltung des Creditivs auf.
Dem Abſendeſtat ſteht es jederzeit frei, ſeinen Geſanten abzuberufen. Die Abberufung kann aber erſt für den beſendeten Stat rechtsverbindlich wirken, wenn ihm dieſelbe angezeigt worden iſt.
229.
Der Tod oder die Abdankung des abſendenden Souveräns hebt die Wirkſamkeit des Creditivs nicht nothwendig auf.
Der Grund iſt, weil das Statshaupt fortdauert, wenn gleich die Perſon des Fürſten wechſelt und das Statshaupt den Geſanten ermächtigt hat, nicht das fürſtliche Individuum. Uebungsgemäß wird durch die Notification der Thronfolge ohne Abberufung die Fortdauer des alten Creditivs von Seite des Abſendeſtats beſtätigt.
230.
Wird dagegen der abſendende Souverän durch eine Statsumwälzung entſetzt oder ſonſt gewaltſam entthront, ſo daß die Nachfolge nicht durch die regelmäßige Thronfolge beſtimmt wird, ſo wird die Fortdauer des
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Völkerrechtliche Organe.
alten Creditivs als zweifelhaft betrachtet. Uebungsgemäß wird in ſolchen Fällen ein neues Creditiv erwartet und gegeben.
Wenn aber der Abſendeſtat durch eine bloße Notification das alte Creditiv beſtätigt und der Empfangſtat ſich dabei beruhigt, ſo beſteht kein völkerrechtliches Hemmniß ſeiner Gültigkeit. Der Grund, weßhalb in dieſen Fällen anders gehandelt wird, als in den vorigen Fällen, iſt der, daß ſolche Umwälzungen zugleich eine Wandlung der Politik bedeuten und es daher zweifelhaft erſcheint, ob der von der geſtürzten Regierung ernannte Geſante auch das Vertrauen der neuen Regierung habe.
231.
Wenn der Souverän des Empfangſtates ſtirbt, bei welchem der Geſante perſönlich beglaubigt war, ſo wird übungsgemäß ein neues Creditiv an den Thronfolger ausgeſtellt. Aber es gibt kein völkerrechtliches Hinderniß, das alte Creditiv ſtatlich fortwirken zu laſſen.
Da der Stat und das Statshaupt dieſelben bleiben, wenn gleich die Perſon des Fürſten geändert wird, ſo iſt auch hier kein nöthigender Rechtsgrund vorhanden, um dem anerkannten Creditiv ſeine Wirkſamkeit zu entziehen. Nur die diplomatiſche Sitte hat hier die Ausſtellung eines neuen Creditivs eingeführt, wohl nur in der Abſicht, den Geſanten und ihren Regierungen einen Anlaß zu verſchaffen, um den Verkehr mit dem neuen Fürſten in feierlicher Weiſe einzuleiten. Gegenüber dem Regierungswechſel in Republiken beſteht dieſe Uebung nicht, obwohl das Rechtsverhältniß dasſelbe iſt.
232.
Wird der Souverän des Empfangſtates gewaltſam entſetzt, ſo iſt es zweifelhaft geworden, ob der Geſante ferner bei ſeiner Perſon oder bei der neuen Regierung beglaubigt ſei. Wenn der Abſendeſtat die letztere anerkennt, ſo wird eine Beſtätigung des alten Creditivs oder ſelbſt die Fortſetzung des Geſchäftsverkehrs mit der neuen Regierung als genügend erachtet, um derſelben gegenüber die Fortwirkung des Creditivs zu ſichern.
Vgl. zu § 230. In ſolchen Fällen tritt oft anfangs ein Schwanken und eine Unſicherheit darüber ein, ob der Geſante noch bei dem geſtürzten Souverän oder nun bei der neuen Regierung beglaubigt ſei. Da beide ein Intereſſe haben, den Verkehr fortzuſetzen, der erſtere in der Hoffnung auf Wiederherſtellung ſeiner Autorität, die letztere in der Abſicht auf Sicherung ihrer neuen Stellung, ſo ſind beide bereit, die Fortdauer des Creditivs zu gewähren und geneigt, in dieſem Sinne das Verhalten der Geſanten auszulegen. Daher fordert keine von beiden Regierungen neue Credi-
10*
(0170 : 148)
Drittes Buch.
tive, ſondern hält ſich gerne an die ihrer Auffaſſung günſtigen Aeußerungen oder Handlungen. Vgl. oben § 39 und unten § 237.
233.
Eine Aenderung in der Perſon des Miniſters des Auswärtigen übt auch dann keinen Einfluß auf die Fortdauer des Creditivs aus, wenn dasſelbe lediglich an das Miniſterium gerichtet war.
Das iſt der Fall bei den Creditiven der Geſchäftsträger.
234.
Bei ſchweren Verletzungen der Rechte oder der Ehre ſeines States kann der Geſante, auch ohne ſeine Abberufung abzuwarten, ſeine Päſſe fordern und den diplomatiſchen Verkehr abbrechen.
Seinem State gegenüber wird er freilich für eine ſolche Handlung verantwortlich; und dieſe Rückſicht wird ihn daher gewöhnlich abhalten, ohne beſondern Auftrag einen derartigen Riß zu conſtatiren. Für die äußerſten Fälle aber, insbeſondere wenn ein raſcher Verkehr mit der Abſenderegierung unterbrochen oder allzu ſchwierig iſt, muß dieſes Recht des Geſanten doch anerkannt werden. Dasſelbe abſolut verneinen, hieße in ſolchen Fällen den repräſentirten Stat den größten Gefahren und Beleidigungen vorerſt preisgeben.
235.
Bei ſchwerer Verſchuldung des Geſanten gegen den beſendeten Stat und ebenſo in Folge eines ernſten Streites mit dem Abſendeſtat, kann die beſendete Regierung dem Geſanten ebenfalls einſeitig ſeine Päſſe zurückſtellen und ihrerſeits den diplomatiſchen Verkehr abbrechen.
Der Abbruch des Verkehrs und die Wegweiſung des Geſanten iſt nicht als ein Act der Willkür in das beliebige Ermeſſen der beſendeten Regierung geſtellt, ſondern es bedarf, um dieſe ſchweren Maßregeln völkerrechtlich zu rechtfertigen, eines ernſten Grundes.
236.
Die Beförderung eines Geſanten zu höherer Rangclaſſe veranlaßt übungsgemäß die Uebergabe eines neuen Creditivs. Aber inzwiſchen dauert das Recht der Vertretung auf Grundlage des alten Creditivs fort.
Ein Rechtsgrundſatz liegt dieſer Uebung nicht zu Grunde. Würde der Abſendeſtat die Rangerhöhung einfach notificiren, ſo wäre der Empfangſtat nicht gehindert, das für genügend zu erachten.
(0171 : 149)
Völkerrechtliche Organe.
237.
Eine bloße Unterbrechung der diplomatiſchen Sendung, welche die Fortwirkung des Creditivs zweifelhaft macht, findet Statt:
a) in Folge von Streitigkeiten, welche noch nicht zum Abbruch aber zu einſtweiliger Einſtellung der diplomatiſchen Functionen führen,
b) bei Statsumwälzungen in einem der beiden Länder, deren Ausgang noch ungewiß iſt,
c) wenn der Geſante in Folge perſönlicher Hinderniſſe vorübergehend außer Stande iſt, ſeine Thätigkeit fortzuſetzen.
In zweifelhaften Fällen der erſten und zweiten Claſſe hängt es immerhin von dem Ermeſſen der Staten oder ihrer Geſanten ab, dieſen Zweifeln eine größere oder geringere Wirkung zu verſtatten. In Fällen der dritten Art wird die Verhandlung mit Nothwendigkeit unterbrochen. Dahin gehört z. B. die Abſperrung der Verbindung in Kriegszeiten, oder eine Krankheit des Geſanten, die ihn zur Vertretung unfähig macht — ohne Zwiſchenvertretung — u. dgl. In dieſer Zwiſchenzeit wird die Wirkſamkeit des Creditivs als ſuspendirt betrachtet. Wenn jedoch das Hemmniß beſeitigt, oder die Ungewißheit zu Gunſten der Fortſetzung des diplomatiſchen Verkehrs gehoben wird, ſo tritt das alte Creditiv wieder in volle Kraft und wird angenommen, es habe auch in der Zwiſchenzeit gegolten. Wird umgekehrt dieſe Zwiſchenzeit durch den Abbruch des Verkehrs beendigt, ſo wird angenommen, das ſuspendirte Creditiv ſei unwirkſam geblieben.
238.
Wird die diplomatiſche Sendung in friedlicher Weiſe durch Abberufung des Geſanten beendigt und iſt derſelbe bei dem Souverän perſönlich beglaubigt, ſo kann eine dem feierlichen Empfang entſprechende feierliche Verabſchiedung des Geſanten ſtattfinden. Der Geſante erhält dann gegen das Abberufungsſchreiben von dem Souverän des beſendeten Stats ein Recreditivſchreiben (lettres de récréance) an den Souverän des Abſendeſtats, welches die Beendigung des bisherigen Repräſentationsverhältniſſes beurkundet.
Jene Feierlichkeit und dieſes Recreditiv ſind aber nicht nothwendig, um das frühere Creditiv außer Wirkſamkeit zu ſetzen.
239.
Unter allen Umſtänden, ſelbſt nach einer Kriegserklärung, hat der Empfangſtat die Pflicht, dafür zu ſorgen, daß der ſcheidende Geſante un-
(0172 : 150)
Drittes Buch.
verſehrt das Statsgebiet verlaſſen könne. Wenn nöthig, hat er ihm bewaffnete Bedeckung zum Schutze beizugeben.
Die Unverletzbarkeit des Geſanten iſt wie bei der Herreiſe ſo auch bei der Rückreiſe zu wahren; und es iſt Pflicht des States, die Gefahren, welche ihm, namentlich von aufgeregten Parteien drohen, durch ſeine Schutzmittel zu entfernen. Dabei wird indeſſen vorausgeſetzt, daß der Geſante ohne Verzug, ſobald es die Natur der Verhältniſſe geſtatten, zurückreiſe. Will er dauernd in dem Lande bleiben, in dem er früher als Geſanter fungirt hat, ſo tritt er durchaus in die Stellung eines Privatmanns zurück und hat keinen weitern Anſpruch auf einen beſondern qualificirten Schutz.
240.
Stirbt der fremde Geſante innerhalb des einheimiſchen Statsgebiets, ſo pflegt übungsgemäß die eigene Kanzlei, oder wenn keine geeignete Perſon in derſelben vorhanden iſt, eine befreundete Geſantſchaft die Verlaſſenſchaft unter Siegel zu nehmen und einſtweilen ſicher zu ſtellen. Nur im Nothfall, wenn überall keine derartige Hülfe zur Stelle iſt, wird die Siegelung von der einheimiſchen Behörde vorzunehmen ſein. Unter allen Umſtänden aber hat ſich die fremde einſchreitende Behörde jeder Durchſuchung der Geſantſchaftspapiere zu enthalten und ſich auf Sicherſtellung derſelben zu beſchränken. Die Leiche darf in die Heimat des Geſanten abgeführt werden.
III. Von den Agenten und Commiſſären.
241.
Bloße Beauftragte für nicht völkerrechtliche und nicht internationale Angelegenheiten eines auswärtigen States haben keinen völkerrechtlichen Charakter.
Dahin gehören z. B. Agenten zum Abſchluß eines Darlehens mit Privatgläubigern, zum Ankauf von Lebensmitteln, zur Beſtellung von Waffen in fremden Fabriken u. dgl.
242.
Die geheimen Agenten, welche zwar in der Abſicht entſendet werden,
(0173 : 151)
Völkerrechtliche Organe.
die öffentlichen Intereſſen eines States in fremdem Lande zu wahren, aber ohne als Statsbeauftragte daſelbſt amtlich bezeichnet zu werden, haben auch wenn ſie ſich als geheime Agenten zu erkennen geben, keinen Anſpruch auf einen beſondern völkerrechtlichen Schutz.
Sie werden nur als Privatperſonen, nicht als Repräſentanten des Stats betrachtet, und genießen daher nur den allgemeinen Rechtsſchutz für die Fremden überhaupt. Dahin gehören auch diejenigen Perſonen, welche als Techniker oder Experten die Einrichtungen in einem fremden Lande ſtudiren und darüber Bericht erſtatten ſollen.
243.
Dagegen ſtehen öffentlich ermächtigte Perſonen (Agenten und Commiſſäre), welche ohne den Charakter von Geſanten zu haben, von einem State oder von deſſen Behörden an einen andern Stat oder deſſen Behörden abgeſchickt werden, um gewiſſe öffentliche Geſchäfte daſelbſt abzumachen, unter dem beſondern Schutze des Völkerrechts. Aber auf Exemtion von der Gerichtsbarkeit und auf Exterritorialität haben ſolche Perſonen keinen Anſpruch, wenn nicht und ſo weit nicht durch beſondere Vergünſtigung des beſendeten States ihnen ſolches verſtattet worden iſt.
Solche Sendungen kommen auch in untergeordneten Zweigen der Policeioder Gerichtsverwaltung, in Angelegenheiten des Straßenweſens, der Poſt- und Eiſenbahnverbindung, der Grenzregulirung, des Uferſchutzes und Waſſerbaues, bei internationalen Induſtrieausſtellungen u. ſ. f. vor. Weil ſie entweder eine völkerrechtliche Miſſion haben, inſofern die Beziehungen von Stat zu Stat zu ordnen ſind, oder doch eine internationale und zugleich amtliche Aufgabe in einem fremden State zu löſen berufen ſind, ſo verdienen ſie eine beſondere Berückſichtigung des Völkerrechts.
IV. Von den Conſuln.
244.
Die Conſuln ſind nicht wie die Geſanten beglaubigte Vertreter fremder Staten im völkerrechtlichen Verkehr, aber ſie ſind anerkannte Vertreter und Schützer des internationalen Privatverkehrs der Fremden im Inland,
(0174 : 152)
Drittes Buch.
beziehungsweiſe der Einheimiſchen im Ausland, innerhalb ihres Conſularbereichs.
Das Inſtitut der Conſuln, im Mittelalter aus den ſtädtiſchen Handelskörperſchaften hervorgegangen, hat eher eine geſellſchaftliche als politiſche, eher eine internationale als zwiſchenſtatliche Bedeutung. Die Conſuln dienen vorzüglich dem Privatverkehr der verſchiedenen Nationen auch in der Fremde, nicht dem Verkehr der Staten.
245.
Die Conſuln erhalten, wenn ſie nicht zugleich Geſchäftsträger und daher Geſante ſind, kein Creditiv, aber ein Patent von der Regierung, welche ſie beauftragt. Dieſes Patent (lettre de provision) wird dem Miniſterium des Auswärtigen in dem Lande mitgetheilt, wo das Conſulat ſeinen Sitz hat.
Der Conſul bedarf keines Creditivs, weil er nicht ermächtigt iſt, für den Stat als deſſen Vertreter zu handeln. Aber er bedarf eines Patents, weil er genöthigt iſt, in dem fremden Lande den Auftrag ſeines States zu documentiren.
246.
Damit der fremde Conſul im Inland anerkannt und zu ſeiner Wirkſamkeit legitimirt werde, iſt das ſogenannte Exequatur von Seite der einheimiſchen Statsgewalt nothwendig, d. h. die Anweiſung an die untern Orts- und Bezirksbehörden, mit dem Conſul ſo weit nöthig in amtlichen Verkehr zu treten.
Das Exequatur iſt ein ſchriftlicher Auftrag der Statsregierung an die untergeordneten Behörden, den fremden Conſul in ſolcher Eigenſchaft anzuerkennen und demgemäß zu behandeln. Bevor das Exequatur ertheilt iſt, darf der Conſul keine amtlichen Functionen ausüben.
247.
Es hängt von der einheimiſchen Regierung ab, ob ſie in einzelnen Städten die Errichtung von Conſulaten geſtatten wolle.
Auch dieſer Entſcheid beruht nicht auf bloßer Laune und Willkür. Wo ein großer und bedeutſamer Handelsverkehr ſeinen feſten Sitz hat, wie insbeſondere in den Seeſtädten, die zugleich Handelsſtädte ſind, da wird die Errichtung von Conſulaten im Intereſſe dieſes Verkehrs ſchicklicher Weiſe nicht verſagt werden können
(0175 : 153)
Völkerrechtliche Perſonen.
und würde die unmotivirte Ausſchließung der Conſuln eines States, während andern Staten die Errichtung von Conſulaten verſtattet würde, von jenem State mit Recht als eine Beleidigung angeſehn.
248.
Ebenſo iſt die Landesregierung berechtigt, einer beſtimmten ihr mißfälligen oder ungeeignet erſcheinenden Perſon das Exequatur zu verweigern.
In dem Exequatur liegt auch die Anerkennung, daß der Conſul keine ingrata persona ſei. Die Weigerung, das Exequatur einer beſtimmten Perſon zu ertheilen, bedarf keiner Angabe der beſondern Gründe, aus welchen dieſe Perſon mißfalle.
249.
Ob ein Conſul aus ſeiner Heimat geſendet oder unter den Bewohnern des Conſulatsſitzes, und ſogar unter den Unterthanen des States, wo das Conſulat gelegen iſt, ernannt werde, iſt für den Rang, wie für die Rechte und Pflichten der Conſuln nicht erheblich.
Indeſſen werden den Conſuln, welche ausſchließlich oder doch vorzugsweiſe dem Conſularberufe leben und nicht ein Privatgewerbe als Hauptberuf betreiben, den Berufs- und Amtsconſuln eher die Privilegien der diplomatiſchen Perſonen verſtattet, als den Conſuln, welche das Conſulat nur als Nebengeſchäft verwalten.
Die Ausdehnung der Conſulatsgeſchäfte wird manchenorts ſo groß, daß die Thätigkeit eines ganzen Manns erfordert wird und die Nation hat ein ſo großes Intereſſe, die Rechte ihrer Angehörigen im Auslande ſorgfältig und unparteiiſch gewahrt und umſichtig geſchützt zu wiſſen, daß dafür die bloße Nebenverwendung eines Kaufmanns und ſeiner Commis nicht mehr genügt, ſondern die beſſer geſchulte Thätigkeit von ordentlichen Beamten erfordert wird. So ausgedehnte Amtspflichten werden von beſoldeten Berufsconſuln erfüllt. Die Verbeſſerung des Conſularweſens beruht zu gutem Theil darauf, daß an den wichtigſten Verkehrsknoten Berufs- und Amtsconſulate errichtet werden, an welche ſich dann eine Anzahl von Nebenconſulaten der Kaufleute anſchließen. Die Engländer, die Nordamerikaner und die Franzoſen haben die Nothwendigkeit beſoldeter Conſulate viel früher begriffen, als die Deutſchen (Preußen) und die Schweizer. Vgl. die Zuſammenſtellung bei Quehl d. preußiſche und deutſche Conſularweſen. Berlin 1863. S. 221.
(0176 : 154)
Drittes Buch.
250.
Die Conſuln ſind inſofern auch politiſche und diplomatiſche Agenten, als ſie
a) beauftragt ſind, über die Erfüllung der Handels- und anderer Verkehrsverträge zu wachen und wenn widerrechtlich verfahren würde, die Ortsbehörden um Abhülfe anzugehen, beziehungsweiſe ein höheres Einſchreiten ihrer Geſanten oder Regierung anzuregen,
b) als ihnen von ihrer Regierung aufgetragen wird, über die öffentlichen Zuſtände auch des fremden Landes Bericht zu erſtatten,
c) als ſie beſondere politiſche Vollmachten erhalten.
Ihre amtlichen Acten und ihre Correſpondenz mit ihrer Regierung oder ihrer Geſantſchaft oder andern Conſuln ſtehen unter dem Schutz des Völkerrechts und dürfen von der einheimiſchen Statsgewalt nicht durchſucht werden.
Es beſteht kein Hinderniß für den Stat, der Conſuln beſtellt, ſich derſelben auch zu politiſcher Berichterſtattung zu bedienen. Da die Conſuln gewöhnlich nicht in der Reſidenz, ſondern in einer Provincialſtadt wohnen und nicht mit der dortigen Regierung, ſondern durchweg mit den Bürgern verkehren, ſo werden ihre Wahrnehmungen einen andern Geſichtskreis und einen anderen Charakter haben als die der Geſanten, aber ſie können trotzdem von hohem Werthe ſein für die Kenntniß der Zuſtände und die Beziehungen ſowohl der betreffenden Staten als der Nationen. Wichtiger aber als die politiſchen Berichte, die doch nur ausnahmsweiſe den Conſuln obliegen, ſind die commerciellen Berichte, welche vorzugsweiſe in den Geſchäftskreis der Conſuln gehören. Die Conſuln können für die Handels-, Verkehrsund Culturintereſſen ihrer Landsleute durch einfache Mittheilung ſtatiſtiſchen Materials und ihrer eigenen Wahrnehmungen nach Umſtänden ſehr nützlich wirken. Auch dieſe Seite der internationalen Wirthſchafts- und Culturpflege iſt noch einer fruchtbaren Entwicklung fähig.
251.
Die Conſuln dürfen ihren Statsgenoſſen Päſſe in die Fremde ausſtellen und ebenſo ihren dort erſcheinenden Statsfremden Päſſe in das Statsgebiet, deſſen Auftrag ſie erhalten haben.
Der Paß iſt nur eine Legitimationsurkunde, ausgeſtellt zu Gunſten eines Reiſenden, um denſelben dem Schutz der fernen Behörden zu empfehlen, und allfällige Hinderniſſe der freien Bewegung wegzuräumen. Da die Conſuln vornehmlich die Intereſſen des Fremdenverkehrs zu wahren haben, ſo eignen ſie ſich zur Aus-
(0177 : 155)
Völkerrechtliche Organe.
ſtellung ſolcher Päſſe, die freilich in Folge des allgemeinen und leichter gewordenen Verkehrs glücklicher Weiſe großentheils entbehrlich geworden ſind. Indeſſen hängt es von dem beauftragenden State ab, dieſe Vollmacht der Conſuln zur Paßausſtellung oder ſelbſt zum Paßviſa zu verweigern oder zu beſchränken. Die engliſchen Conſuln z. B. ſind darin beſchränkt. Verordnung von 1846 § 29.
252.
Die Conſuln haben keine Gerichtsbarkeit zu üben, wenn nicht ausnahmsweiſe ihnen eine ſolche übertragen und in dem Lande ihrer Wirkſamkeit anerkannt worden iſt.
Vom Mittelalter her haben die europäiſchen (fränkiſchen) Conſuln in der Levante und in den Mohammedaniſchen Staten, vorzüglich an den Küſten des Mittelländiſchen Meeres eine derartige Ausnahmsſtellung. Auch in den Oſtaſiatiſchen Staten hat dieſelbe eine neue Anwendung erhalten. Vgl. unten § 269.
253.
In Streitigkeiten ihrer Landsleute können ſie zu Schiedsrichtern erwählt werden.
In dieſem Falle haben ſie dafür zu ſorgen, daß auf die Berufung gegen ihren Spruch an die Ortsgerichte verzichtet werde. Ohne dieſe Clauſel iſt Gefahr vorhanden, daß der Spruch des Conſuls, der vielleicht dem Landesrecht der Parteien entſpricht, von den Ortsgerichten, die ein anderes Recht befolgen, verworfen und dadurch auch die Stellung des Conſuls und das von ihm beachtete Recht ſeines States compromittirt werden.
254.
Sie ſind berechtigt und verpflichtet, die Rechte abweſender und nicht gehörig vertretener Statsgenoſſen in dem fremden Gebiete zu ſchützen, indem ſie zu dieſem Behuf die erforderlichen Maßregeln ergreifen und einleiten.
Sie haben weder imperium noch jurisdictio, aber eine Art von Patronat und Procuratur in Nothfällen im Intereſſe ihrer Landsleute. Es iſt durchaus grundlos und unpaſſend, dieſe internationale Rechtshülfe auf die Kaufleute und die Schiffsmannſchaft zu beſchränken. Die andern Reiſenden haben ganz denſelben Anſpruch auf Schutz im Auslande, wie die Handelsleute.
255.
Sie können daher Verlaſſenſchaften ihrer Landsleute unter Siegel
(0178 : 156)
Drittes Buch.
ſtellen und Gelder desſelben, ſowie Waaren, Schuldtitel und andere Vermögensſtücke in amtliche Verwahrung nehmen.
Unter „Landsleuten“ verſtehen wir in dieſem Zuſammenhang die Bürger und Unterthanen des States, dem die Conſuln dienen, im weiteren Sinne werden aber die Perſonen mitbegriffen, welchen der Stat im Ausland als ſeinen Schutzbefohlenen und Schutzverwanten dieſelbe Hülfe gewährt.
256.
Wo es das Recht und die Intereſſen ihrer Landsleute erfordern und dieſe verhindert ſind, für ſich ſelber zu ſorgen, können die Conſuln für dieſelben bei den Orts- und Landesbehörden die zur Sicherſtellung derſelben nöthigen Anträge ſtellen, Beſchwerden erheben, Proteſte einreichen.
Das Recht der Conſuln zur Vertretung für ihre ſchutzbedürftigen Landsleute iſt freilich nur ein Nothrecht und beſchränkt ſich daher auch auf die Nothhülfe. Die Conſuln ſind demnach nicht berechtigt, für dieſelben Speculationsgeſchäfte zu machen, ſondern nur berechtigt, diejenigen Vorſichtsmaßregeln zu ergreifen, welche zur Erhaltung ihres Vermögens und insbeſondere zur Abwendung von drohendem Schaden dienen. Dagegen bedürfen ſie zu einer bloß ſchützenden Vertretung ſelbſt im Proceß vor Gericht keiner beſondern Vollmacht. (Vgl. Kent Comment. I. S. 42.)
257.
Sie ſind als ermächtigt zu betrachten, in Nothfällen diejenige Hülfe zu gewähren, welche erforderlich iſt, um ihren Landsleuten die Rückkehr in ihre Heimat möglich zu machen oder hülfsbedürftigen Landsleuten in Nothfällen die unentbehrliche Unterſtützung auf öffentliche Koſten zu gewähren.
Die Conſuln vertreten die Statshülfe, die ſonſt innerhalb des Statsgebiets in Nothfällen gewährt wird, in der Fremde. Durch ſie erſtreckt der Stat ſeine rettenden Hände über den Erdboden hin. Aber keinenfalls reicht dieſe amtliche Sorge über die Bedingungen und den Umfang der regelmäßig geübten Statshülfe hinaus; denn es iſt kein Grund, die Bürger außerhalb ihrer Heimat beſſer zu ſchützen, als in derſelben. Es darf daher die Ermächtigung zu ſolcher Hülfe nur unter ſehr engen Bedingungen und in engem Umfang verſtanden und keineswegs auf eine allgemeine Unterſtützung aller Perſonen ausgedehnt werden, welche in dem fremden Lande ſich nur ſchwer ernähren können und es vorziehen, auf öffentliche Koſten wieder heimzukehren.
258.
Die Conſuln der Seeſtädte und der an Flüſſen oder Binnenſeen
(0179 : 157)
Völkerrechtliche Organe.
gelegenen Städte, welche mit dem Seeverkehr in Verbindung ſind, üben innerhalb gewiſſer Schranken eine Schiffspolicei aus bezüglich der Handelsund Verkehrsſchiffe ihrer Landsleute.
Sie prüfen und viſiren die Schiffspapiere und ertheilen die erforderlichen Beſcheinigungen zum Ein- und Auslauf.
Dieſe Schiffspolicei findet ihre Schranken a) in der Policeihoheit des States, in deſſen Gebiet ſich die Schiffe finden, b) in der Rückſicht auf die nationalen Intereſſen, welche von dem Conſul im Ausland zu wahren ſind, c) darin, daß dieſelbe ſich nur „innerhalb des Schiffsraums“ geltend machen kann.
259.
Bei Streitigkeiten zwiſchen dem Schiffscapitän und den Schiffsleuten (Matroſen oder Paſſagieren) üben ſie das Vermittleramt aus und ſind berechtigt, erhebliche Thatſachen feſtzuſtellen und zu beurkunden, und unerläßliche Vorſichtsmaßregeln zu treffen zum Behuf des Rechtsſchutzes.
Dieſe vermittelnde Stellung wird von dem Conſul auf Anſuchen einer der beiden Parteien eingenommen, die ſchiedsrichterliche (§ 253) nur im Einverſtändniß beider Parteien. Das deutſche Handelsgeſetzbuch ertheilt den Conſuln ſogar eine proviſoriſche Gerichtsbarkeit über die Schiffsmannſchaft (Art. 537).
260.
Die Gebiets- und Gerichtshoheit über die fremden Schiffe in einheimiſchen Häfen kommt in der Regel dem einheimiſchen State zu. Aber ſoweit die Streitigkeiten auf das Schiff und die darauf fahrenden Perſonen beſchränkt ſind, die Ordnung des Landes oder Hafens nicht gefährdet erſcheint und die einheimiſche Behörde nicht um ihr Einſchreiten angerufen wird, kann der Conſul auch eine Disciplinargewalt üben und das Nöthige im Intereſſe der guten Ordnung und des Friedens anordnen.
Es kann ein ſolches Einſchreiten des Conſuls wichtig werden z. B. in Fällen von Inſubordination der Matroſen oder Unfügſamkeit der Paſſagiere auf den Schiffen oder gegenüber von Willkürlichkeit, Grauſamkeit oder Sorgloſigkeit eines Schiffscapitäns. Der Conſul erſcheint dabei immerhin als eine ſtatlich anerkannte und ermächtigte Autorität, welche in Ermanglung der Landesautorität die ſtatliche Ordnung und Sorge darſtellt und handhabt. Die Grenze ſolcher Disciplinargewalt iſt nicht überall dieſelbe, ſie verſchiebt ſich nach den beſondern Landesſitten und Umſtänden. In einem civiliſirten Lande wird ſie enger zu bemeſſen ſein, als an einer barbariſchen Küſte oder unter Wilden, wo es überhaupt an einer wirkſamen Statsgewalt fehlt. Vgl. unten IV. 323.
(0180 : 158)
Drittes Buch.
261.
Wenn Matroſen deſertiren, ſo kann der Conſul die Landesbehörden angehen, daß dieſelben wieder eingefangen und auf das Schiff zurückgebracht werden.
Die Gefahren für die Schiffahrt und die daran geknüpften Intereſſen ſind in dieſem Falle ſo groß, daß ſie einen perſönlichen Zwang gegen deſertirende Matroſen rechtfertigen. Der Conſul iſt aber wieder berufen, in dieſem Nothfalle dem Schiffsführer hülfreich beizuſtehn.
262.
Die Conſuln ſind auf Begehr der Betheiligten verpflichtet, den Seeſchaden ſowohl der großen (gemeinſchaftlichen) als der beſonderen Haverei, ſoweit derſelbe aus dem thatſächlichen Zuſtande erſichtlich iſt, zu conſtatiren, nöthigenfalls mit Zuzug von Sachverſtändigen und darüber Urkunde auszuſtellen.
Als große Haverei verſteht man „alle Schäden, welche dem Schiff oder der Ladung oder beiden zum Zweck der Errettung beider aus einer gemeinſamen Gefahr von dem Schiffer oder auf deſſen Geheiß vorſätzlich zugefügt werden, ſowie auch die durch ſolche Maßregeln ferner verurſachten Schäden und die Koſten, welche zu dieſem Zweck aufgewendet werden“. Begriffsbeſtimmung des deutſchen Handelsgeſetzbuchs Art. 702. Die große Haverei wird von Schiff, Fracht und Ladung gemeinſchaftlich getragen. Anderer durch einen Unfall verurſachter Seeſchaden wird als beſondere Haverei betrachtet (Deutſches Handelsg. Art. 703) und von den Eigenthümern des Schiffs und der Ladung von jedem einzeln für ſich getragen.
263.
Sie ertheilen nach Bedürfniß Ermächtigung zu den nöthigen Schiffsreparaturen und wenn das Schiff ſeeuntüchtig iſt, ſelbſt zum Verkaufe desſelben.
Natürlich wieder unter der Vorausſetzung, daß nicht der Schiffseigenthümer ſelber zur Stelle iſt oder ſein Bevollmächtigter für ihn handeln kann.
264.
Im Falle eines Schiffbruchs in dem Bereich oder in der Nähe ihres Conſulats ſind ſie ermächtigt, Alles zu verfügen, was nöthig iſt, um die ſchiffbrüchigen Perſonen zu retten und von Schiff und Ladung möglichſt viel Vermögen zu bewahren. Zu dieſem Behuf können ſie auch den Verkauf der geborgenen Güter vornehmen und haben im Nothfall die Liquidation zu beſorgen oder zu überwachen. Sie haben darüber durch Ver-
(0181 : 159)
Völkerrechtliche Organe.
mittlung ihrer Regierung den Betheiligten Rechnung abzulegen, und ſind denſelben für getreue Geſchäftsführung verantwortlich.
Bei Schiffbrüchen wird das Bedürfniß einer Nothhülfe in höchſtem Maße fühlbar. Um deßwillen wird auch die Thätigkeit der Conſuln hier beſonders angeſtrengt, und ihre Vertretungsvollmacht in weiteſtem Umfange ausgelegt.
265.
Je nach ihrem Landesrecht ſind die Conſuln berechtigt, den Civilſtand ihrer Landsleute zu beurkunden und die Standesregiſter zu führen. Sie nehmen demgemäß Act von Geburten und Todesfällen ihrer Landsleute und wirken nach Umſtänden bei Eheſchließungen mit, an der Stelle des bürgerlichen Beamten.
Ob und in welchen Formen die Conſuln auch die Functionen des Civilſtandsbeamten im Auslande zu beſorgen haben, hängt freilich zunächſt von ihren beſonderen Inſtructionen und der Beſchaffenheit des Landesrechts ab, welches für die Statsgenoſſen dieſe Dinge regelt. Wo die Civilſtandsbücher nach der Weiſe des Mittelalters noch vorzugsweiſe oder ausſchließlich durch die Geiſtlichen beſorgt werden, da wird jene Thätigkeit weniger in Anſpruch genommen werden, als wo das Syſtem der bürgerlichen Standesbücher durchgeführt iſt.
266.
Nur ausnahmsweiſe, in Folge beſonderer Ermächtigung ihrer Statsgewalt, ertheilen ſie auch Volljährigkeitserklärungen.
Das iſt ein Act der Statsgewalt im Sinn der jurisdictio; und dieſe hat der Conſul in der Regel nicht zu üben. Indeſſen wird angenommen, wenn der ernennende Stat die Ermächtigung dazu gebe, habe der Stat des Conſulatsſitzes kein Intereſſe, einer ſolchen — weſentlich privatrechtlichen — Verfügung entgegen zu treten. Daher bedarf es keiner beſondern Erlaubniß desſelben.
267.
Den Conſuln wird das Recht der Exterritorialität nicht zugeſtanden. Auch ſind ſie in der Regel von der Ortsgerichtsbarkeit nicht befreit. Sie haben keinen beſondern Anſpruch auf Steuerbefreiung.
Weil ſie nicht den Stat repräſentiren, ſondern, wenn auch im Namen und Auftrag eines fremden Stats hauptſächlich Privatintereſſen vertreten, ſo kommen ihnen die Privilegien der Geſanten nicht zu.
268.
Indeſſen erfordert die internationale und die völkerrechtliche Bedeutung
(0182 : 160)
Drittes Buch.
des Conſulats eine ſchonende Rückſicht auf die Würde des Amts und die Sicherung ſeiner Wirkſamkeit. Insbeſondere iſt eine Verhaftung des Conſuls nur im Nothfall zuläſſig und ſind ſeine Amtspapiere vor unberufener Durchſicht zu bewahren.
Oefter iſt für die Conſuln die Befreiung von jeder Haft gefordert worden. Indeſſen ohne zureichenden Grund. Wenn der Conſul eines Vergehens angeklagt wird, ſo wird auf den Stat, der ihm das Amt übertragen hat, inſoweit Rückſicht zu nehmen ſein, als die Intereſſen des Amts und die Ehre des Stats es erfordern; weiter nicht. Im Uebrigen geht der Proceß in gewohntem Gange fort. Es wird unter Umſtänden rathſam ſein, den Conſul nur in ſeiner Wohnung bewachen zu laſſen, ſtatt in ein öffentliches Gefängniß abzuführen, bis auch der Auftrag gebende Stat unterrichtet ſein und Vorſorge für eine andere Vertretung getroffen haben wird.
269.
Die Conſuln chriſtlicher Staten in nicht chriſtlichen Ländern erhalten gewöhnlich weiter gehende Vollmachten auch der Gerichtsbarkeit und haben dann Theil an einer ausgedehnteren Immunität, ähnlich den Geſchäftsträgern.
Der Grund liegt in der größeren Verſchiedenheit der ganzen Stats- und Rechtsordnung. Sie läßt es als ein Bedürfniß erſcheinen, daß über die Unterthanen der erſtern Staten nicht eine völlig fremdartige Gerichtsbarkeit geübt, ſondern ihre Rechtsverhältniſſe mehr nach ihrem heimiſchen Rechte beurtheilt werden. Zu den Conſulaten in der Levante und in den Mohammedaniſchen Staten des Mittelmeers kommen in neuerer Zeit auch die Conſulate in China und Japan und auf den Inſeln des chineſiſchen und ſtillen Weltmeers hinzu. Dieſe Conſuln repräſentiren dann als Träger der Gerichtsbarkeit auch den Stat in höherm Grade als die gewöhnlichen Conſuln, wenn gleich noch in minderem Grade als die eigentlichen Geſanten. Daher rechtfertigt ſich eine mäßige Ausdehnung der Privilegien der Geſanten auf ſie.
270.
Es iſt Sache des Stats, welcher den Conſul beſtellt, ſei es demſelben eine Beſoldung auszuſetzen, ſei es die Gebühren zu beſtimmen, welche derſelbe für ſeine Verrichtungen erheben darf.
Die einen Conſuln ſind beſoldet, die andern nicht. Daß der Ernennungsſtat das zu beſtimmen hat, iſt ſelbſtverſtändlich. Aber auch das Recht, die Gebühren für die Amtsverrichtungen feſtzuſetzen, ſteht dieſem State zu und es wird darin nicht ein Eingriff in die ausſchließliche Finanzhoheit der Ortsregierung geſehen, weil dieſe Verrichtungen ſich immer nur auf fremde Perſonen beziehen, welche die Thätigkeit des Conſuls in Anſpruch nehmen.
(0183 : 161)
Völkerrechtliche Organe.
271.
Ebenſo ordnet der Ernennungsſtat die Rangclaſſen ſeiner Conſuln. Die Errichtung eines Generalconſulats, welchem andere Conſulate untergeordnet werden, bedarf der Zulaſſung des States, in dem dasſelbe gegründet wird.
Die Unterſcheidungen der Generalconſuln, ferner der Conſuln erſter und zweiter Claſſe und der Viceconſuln haben großen Theils ihre Bedeutung in der verſchiedenen Rangſtufe, weniger in der Verſchiedenheit der Functionen und Aufgaben. Indeſſen kann ein Verhältniß der Ueber- und Unterordnung ſtattfinden. Insbeſondere üben die Generalconſuln gewöhnlich eine Aufſicht über die andern Conſulate eines beſtimmten Bereiches aus; und nehmen die bloßen Conſularagenten überhaupt keine ſelbſtändige Stellung ein, ſondern ſind Hülfsarbeiter eines Conſuls.
272.
Die Conſuln ſind berechtigt, ihre Wohnung mit dem Wappen und der Flagge ihres States zu bezeichnen und damit ihren völkerrechtlichen Charakter auch dem Publicum gegenüber darzuſtellen.
273.
Die Statsgewalt, welche den Conſul beſtellt, kann jederzeit ihren Auftrag zurückziehen. Solches iſt aber der Regierung des Aufnahmeſtates anzuzeigen.
Damit erlöſcht auch die Wirkſamkeit des Exequatur von Rechtswegen.
274.
Ebenſo kann die Statsgewalt des Conſulatſitzes ihr Exequatur widerrufen, wenn dafür ernſte Gründe vorhanden ſind. Sobald dem Conſul das zur Kenntniß gekommen iſt, hat er ſeine amtlichen Verrichtungen einzuſtellen.
275.
Gehört der Conſul nicht dem Lande des Conſulatſitzes an, ſo iſt der Aufnahmeſtat verpflichtet, auch für ſichern Wegzug des abberufenen oder entlaſſenen Conſuls zu ſorgen.
Vgl. zu 125.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 11
(0184 : [162])
(0185 : [163])
Viertes Buch. Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
1. Bedeutung, Erwerb und Verluſt der Gebietshoheit.
276.
Die Statshoheit (Souveränetät) heißt in ihrer Anwendung auf ein beſtimmtes, dem State zugehöriges Gebiet (Reich, Land) Gebietshoheit.
Die Gebietshoheit, als einzelne Anwendung der nach innen gerichteten Souveränetät, iſt zunächſt ein Begriff des Statsrechts; aber inwiefern das Völkerrecht dieſe Anwendung in den Verhältniſſen und Beziehungen der verſchiedenen Staten anerkennt und ſchützt, erhält dieſelbe eine völkerrechtliche Bedeutung.
277.
In der Gebietshoheit liegt nicht das Eigenthum an dem Boden. Inwiefern aber der Boden des Privateigenthums nicht fähig iſt, wie bei öffentlichen Gewäſſern, Wüſten, Gletſchern und ähnlicher Wildniß, oder wenn der Boden zwar des Eigenthums fähig aber noch nicht in Beſitz genommen und zu Eigenthum erworben worden iſt oder wenn derſelbe von den Beſitzern und Eigenthümern wieder verlaſſen worden und ins Freie zurückgefallen iſt, inſoweit ſteht dem State, welcher die Gebietshoheit hat, auch das Recht zu, über ſolchen Boden wirthſchaftlich zu verfügen, beziehungsweiſe Eigenthum daran zu verleihen oder die Beſitznahme zu gewähren.
11*
(0186 : 164)
Viertes Buch.
1. Die Gebietshoheit gehört dem öffentlichen, wie das Eigenthum dem Privatrecht an und beide Arten der Herrſchaft treffen nicht zuſammen. Die Perſon, welcher Gebietshoheit zukommt, iſt und kann nur ſein der Stat, weil nur der Stat die öffentlichen Hoheitsrechte und daher öffentliche Herrſchaft hat. Dagegen das Eigenthum, welches nur Privatherrſchaft iſt, kommt umgekehrt nur den Privatperſonen zu, welche dasſelbe als Privatgut verwerthen können. Wenn der Stat zufällig auch Privateigenthum hat, ſo hat er es nicht als Stat, ſondern ebenſo wie jede andere Privatperſon und verfügt darüber in den Geſchäftsformen des Privatrechts.
2. Nur inſofern macht ſich die öffentlich-rechtliche Statsherrſchaft auch in wirthſchaftlicher Richtung anſtatt des Eigenthums an ſolchem Boden geltend, an welchem entweder Privateigenthum nicht möglich oder nicht (noch nicht oder nicht mehr) vorhanden iſt. In der letztern Hinſicht freilich ſind zwei Meinungen möglich und beide in der Rechtsbildung vertreten. Nach der einen iſt der eigenthumsfähige aber nicht im Eigenthum befindliche Boden als herrenloſe Sache zu betrachten, welche durch freie Beſitznahme (occupatio) ins Eigenthum gelangt. Nach der andern macht ſich die Gebietshoheit an dem eigenthümerloſen Boden nach allen Seiten als urſprüglich ſtatliche Bodenherrſchaft geltend und kann daher nicht Jedermann denſelben willkürlich ſich aneignen, ſondern bedarf man dazu der Ermächtigung des Stats. War die erſte Meinung wenigſtens zum Theil in dem alten römiſchen Recht anerkannt, ſo beherrſcht die letztere Meinung, welche den germaniſchen Rechtsanſichten entſpricht, die moderne Welt. Am großartigſten wird dieſelbe in den Colonien Englands und der Vereinigten Staten von Nordamerika durchgeführt. Die Intereſſen einer geordneten und friedlichen Beſitznahme und Cultivirung des Bodens werden offenbar durch die letztere Rechtsbildung beſſer geſchützt und gefördert als durch die erſtere.
Der unwirthliche, des Eigenthums unfähige Boden kann auch nicht im Eigenthum des Stats ſein, obwohl man die Hoheit des Stats darüber, insbeſondere über die öffentlichen Gewäſſer oft Eigenthum nennt. Die Grenzen des wirthlichen Bodens werden aber durch die fortſchreitende Cultur auf Koſten des unwirthlichen Gebietes beſtändig erweitert, und umgekehrt durch ſchlechte Cultur und Vernachläſſigung wieder verengert. Insbeſondere übt eine geordnete Bewäſſerung und Entwäſſerung einen mächtigen Einfluß aus auf die Culturfähigkeit des Bodens.
278.
An ſtatenloſem Land wird die Gebietshoheit erworben durch die Beſitznahme einer beſtimmten Statsgewalt. Der bloße Wille, Beſitz zu ergreifen, genügt nicht dazu, auch nicht die ſymboliſche oder ausdrückliche Erklärung dieſes Willens, noch ſelbſt eine bloß vorübergehende Beſetzung.
Zur Zeit der großen europäiſchen Entdeckungen überſeeiſcher Länder meinte man, ſchon die bloße Entdeckung unbekannter Länder ſei ein genügender Rechtstitel für die behauptete Gebietshoheit. Während Jahrhunderten begründete die eng-
(0187 : 165)
Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
liſche Krone ihre Herrſchaft über den nordamerikaniſchen Continent damit, daß in ihrem Auftrag ein kühner Seefahrer, der Venetianer Caboto zuerſt, im Jahre 1496, die amerikaniſche Küſte vom 56ſten bis zum 38ſten Grad nördlicher Breite entdeckt habe, wenn gleich er nur der Küſte entlang gefahren war und in keiner Weiſe das ungeheure Land beſetzt hatte. Nicht anders leiteten die Spanier und Portugieſen ihr Recht im Süden und in Centralamerika zunächſt von ihrer Entdeckung her und die Vertheilung der neuen Welt unter die beiden Völker, welche der Papſt Alexander VI. im Jahr 1493 vornahm, war eine Schlichtung und Ausgleichung ihrer ſtreitigen Anſprüche, und eine Beſtätigung ihrer auf die Entdeckung eher als auf die Beſitznahme gegründeten Anſprüche durch die vornehmſte Autorität der Chriſtenheit. Die Entdeckung iſt aber nur ein Act der Wiſſenſchaft, nicht der Politik und daher auch nicht geeignet, Statsgewalt zu begründen. Vielmehr beſteht die öffentlich-rechtliche Beſitznahme in der thatſächlichen Ausübung der ordnenden und ſchützenden Statsgewalt, verbunden mit dem Willen, das ſtatenloſe Land auf die Dauer ſtatlich zu beherrſchen. Die Symbole der Herrſchaft, wie Auſpflanzen einer Fahne u. dgl. können dieſe Abſicht klar machen, aber nicht den Mangel einer realen Statsherrſchaft erſetzen.
279.
Dieſe Beſitznahme kann auch im Auftrag oder mit Vollmacht einer Statsgewalt durch Privatperſonen, insbeſondere durch Coloniſten vollzogen werden, aber nur, indem ſie in dem bisher ſtatenloſen Lande eine öffentliche Gewalt aufrichten oder ſogar ohne vorherigen Auftrag, aber unter der Vorausſetzung nachheriger Genehmigung durch die Statsgewalt.
Die Erweiterung der europäiſchen Statsherrſchaft in den außereuropäiſchen Ländern iſt großentheils durch ſolche Vermittlung der Coloniſten bewirkt worden, welche ſich in unbewohnten und verlaſſenen Gegenden anſiedelten und ihre heimiſche Statsordnung dahin verpflanzten. Der vorherige Auftrag des durch ſolche Vermittler Beſitz ergreifenden Stats kann unbedenklich durch die nachherige Genehmigung erſetzt werden. Es hindert nichts, in dieſer Beziehung die Analogie der privatrechtlichen Occupation anzuwenden. Auch kann im Princip nicht beſtritten werden, daß ſogar ohne Statsvollmacht und Statsgenehmigung eine ganz neue Statenbildung dadurch entſtehen kann, daß Auswanderer auf einer unbewohnten Inſel einen neuen Stat gründen, wie es z. B. die ausgewanderten Norweger auf Island während des Mittelalters gethan haben. Eine Reihe neuer Staten in Nordamerika ſind in dieſer Weiſe durch Privaten gegründet worden und erſt ſpäter iſt die Anerkennung, früher des europäiſchen Mutterſtats, ſpäter der Amerikaniſchen Union hinzugekommen. Wenn aber neue Staten ſo entſtehen können, ſo können noch eher vorhandene Staten in dieſer Weiſe erweitert werden.
280.
Iſt die ſtatenloſe Gegend im Beſitz und Genuß von barbariſchen
(0188 : 166)
Viertes Buch.
Stämmen, ſo dürfen dieſelben nicht willkürlich und gewaltſam von den civiliſirten Coloniſten verdrängt werden, ſondern ſind zum Behuf geregelter Anſiedlung von denſelben friedlich abzufinden. Zum Schutze der Anſiedlung und zur Ausbreitung der Cultur darf der coloniſirende Stat ſeine Statshoheit auch über das von Wilden beſeſſene Gebiet erſtrecken.
Es iſt die Beſtimmung der Erdoberfläche, der menſchlichen Cultur zu dienen und die Beſtimmung der fortſchreitenden Menſchheit, die Civiliſation über die Erde zu verbreiten. Dieſe Beſtimmung iſt aber nicht anders zu erfüllen, als indem die civiliſirten Nationen die Erziehung und Leitung der wilden Stämme übernehmen. Dazu iſt die Ausbreitung der civiliſirten Statsautorität nothwendig. Die wilden, ohne Stat lebenden Stämme kennen gewöhnlich das Grundeigenthum ſo wenig als den Stat, aber ſie benutzen das Land zu ihren Viehweiden und Jagdgründen. Ein Recht der höher geſitteten Nationen, ſie zu vertreiben, läßt ſich durch Nichts begründen, ſo wenig als ein Recht, ſie zu tödten und auszurotten. Das natürliche Menſchenrecht erkennt voraus die Exiſtenz aller menſchlichen Weſen an und ſchützt das Leben und die erlaubten Genüſſe des Wilden ſo gut, wie das Eigenthum der Civiliſirten. Im Mittelalter noch waren die Chriſten ſehr geneigt, alle Nichtchriſten als rechtloſe Weſen zu betrachten und die Päpſte haben freigebig den Königen das Recht zugeſtanden, alle nichtchriſtlichen Nationen, ſelbſt wenn dieſe in Staten lebten, ihrer Herrſchaft zu unterwerfen. Selbſt die heutige Praxis verfährt gelegentlich, freilich nicht mehr aus religiöſer Ueberhebung, noch ſehr rückſichtslos gegen unciviliſirte Raſſen. Das richtige Verhalten iſt aber ſchon ziemlich früh erkannt und auch angewendet worden, beſonders von den Puritanern in Neu-England und William Penn in Pennſylvanien, welche den Indianern den Boden abkauften, den ſie urbar machen und zu Grundeigenthum gewinnen wollten. Wenn erſt die rechtliche Möglichkeit der Anſiedlung gewonnen iſt und in Folge deſſen ſtatliche Menſchen da leben können, dann iſt auch die Nothwendigkeit klar, daß dieſe Anſiedlung ſowohl des Statsſchutzes als der Sicherung des Grundeigenthums bedarf und die Wege zur Erziehung auch der wilden Nachbarn ſind eröffnet. Wenn Heffter (§ 70) zwar anerkennt, daß „der Stat überhaupt ſeine Herrſchaft über die Erde ausdehne“, aber nicht zugibt, daß ein beſtimmter Stat ſich ſtatenloſen Stämmen aufdringen dürfe, ſo heißt das ein theoretiſches Princip anerkennen, aber ſeine practiſche Anwendung verwerfen, denn „der Stat überhaupt“ lebt nur in der Geſtalt beſtimmter Staten. Wenn die deutſche Nation ihren Culturberuf erfüllen und nicht immer wie bisher ihre auswandernden Nachkommen zur Auflöſung in fremde Nationen verurtheilen will, ſo wird auch ſie dem Vorbild der civiliſirten Weſtvölker folgen und nicht bloß „in abstracto“ denken, ſondern ihren Stat „in concreto“ coloniſirend und civiliſirend ausbreiten. Vgl. Vattel I. 1. 5. 81. Phillimore I. 244 f.
281.
Kein Stat iſt berechtigt, ein größeres unbewohntes oder unſtatliches
(0189 : 167)
Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
Gebiet ſich ſtatlich anzueignen, als er ſtatlich zu ordnen und zu civiliſiren die Macht hat, und dieſe Macht thatſächlich ausübt.
Der Rechtsgrund der Occupation liegt nur in der ſtatlichen Natur und Beſtimmung des Menſchengeſchlechts. Indem ein Stat, wie das von England in Nordamerika und in Auſtralien, von Spanien und Portugal in Südamerika und von den Niederlanden auf den Inſeln des ſtillen Oceans geſchehen iſt ſeine angebliche Statsherrſchaft über unermeßliche, unbewohnte, oder nur von Wilden bewohnte Länder erſtreckt, die er in Wahrheit weder zu cultiviren noch ſtatlich zu beherrſchen die Macht hat, ſo wird jene ſtatliche und Culturbeſtimmung nicht erfüllt, ſondern im Gegentheil ihrem Fortſchritt ein Hemmniß entgegengeſtellt, indem andere Nationen verhindert werden, ſich da anzuſiedeln und andere Staten verhindert, ſich daſelbſt civiliſirend einzurichten. Nur die wahrhafte und dauernde Beſetzung iſt als wirkliche Occupation zu betrachten, die bloße ſcheinbare Occupation kann höchſtens den Schein des Rechts, nicht wirkliches Recht gewähren. Ein Stat verletzt daher das Völkerrecht nicht, wenn er ſich einer Gegend bemächtigt, welche nur angeblich und ſcheinbar von einem andern Stat früher in Beſitz genommen worden iſt. Wenn auch darüber leicht Streit entſtehen kann zwiſchen den beiden Staten, ſo iſt das nur eine politiſche Rückſicht, die zu erwägen, nicht eine rechtliche Schranke, die zu beachten iſt.
282.
Geſchieht die Beſitznahme von der Seeküſte aus, ſo wird angenommen, daß das hinter der Küſte liegende Binnenland inſoweit mitbeſetzt ſei, als es durch die Natur, insbeſondere durch die ins Meer einmündenden Flüſſe mit derſelben zu einem natürlichen Ganzen verbunden iſt.
Dieſer Grundſatz wurde von den Vereinigten Staten in einer Verhandlung mit Spanien über das Gebiet von Louiſiana am beſten ausgeſprochen. (Vgl. Phillimore I. 237.) Die europäiſchen Colonien gingen gewöhnlich von einem Seehafen der Küſte aus, welcher dann als das eigentliche Centrum der ganzen Colonie und der Herrſchaft über das Land angeſehen wurde. Eine engere Beſchränkung iſt ebenſo unpractiſch, wie eine weitere Ausdehnung, jene weil die Civiliſation und Statenbildung genöthigt iſt, von da aus ihre Macht zu erſtrecken und das Hinterland und Flußgebiet genöthigt iſt, auf dieſem Wege in den Verkehr mit andern Nationen einzutreten, und dieſe, weil je größer die Entfernungen ſind und je weiter die Länder ſich im Innern erſtrecken, auch der Zuſammenhang mit der Küſte ſchwächer wird und ganz neue ſelbſtändige Verhältniſſe möglich ſind. Der obige Grundſatz hat daher auch keine abſolute, ſondern nur eine relative Geltung. Wo große Ströme, wie der Miſſiſippi, einen ganzen Continent durchfließen, kann aus dem Beſitz der Mündung natürlich nicht die Herrſchaft über das ganze Flußgebiet abgeleitet werden. In der alten Welt ſehen wir oft, daß umgekehrt von den Quel-
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Viertes Buch.
len der Flüſſe her allmählich das Statsgebiet ſich über deren Gebiet und bis an die Mündung ausgedehnt hat. Von den Quellen des Indus und Ganges her iſt die alte indiſch-ariſche Eroberung allmählich vorgedrungen bis ans Meer. Am Oberrhein ſetzten ſich die alten Germanen früher feſt, als an den Ausläufen des Rheins ins Meer und der öſterreichiſch-ungariſche Donauſtat iſt nicht im Beſitz der Sulinamündungen. Die Behauptung engliſcher Publiciſten und Statsmänner, daß England im Beſitz der amerikaniſchen Seeküſte auch eine Herrſchaft habe über den ganzen nördlichen Continent Amerikas, von Meer zu Meer, war offenbar phantaſtiſch übertrieben und wurde von den andern coloniſirenden Mächten auch nicht anerkannt.
283.
Wenn zwei Staten von zwei benachbarten Punkten aus ſich coloniſirend feſtſetzen und ſtatlichen Beſitz ergreifen und nicht durch die Rückſicht auf den natürlichen innern Zuſammenhang zweier verſchiedener Flußgebiete und eine Bergſcheide ihre Gebiete ſich naturgemäß unterſcheiden, ſo wird eine mittlere Linie zwiſchen den beiden Gebieten als Grenze angenommen.
Vgl. Phillimore a. a. O. Selbſtverſtändlich kann vertragsmäßig auch eine andere Grenzlinie verabredet werden.
284.
Das Statsgebiet iſt in der Regel unveräußerlich und untheilbar.
Die Veräußerlichkeit und die Theilbarkeit des Statsgebiets widerſtreitet der organiſchen Natur der Dauerhaftigkeit und der Einheit des Stats. Weil das Statsbewußtſein im Mittelalter wenig ausgebildet war und das Statsgebiet wie ein im Eigenthum des Landesherrn befindliches Grundſtück betrachtet wurde, ſo meinte man damals Territorien, wie Landgüter verkaufen und unter mehrere Erben vertheilen zu dürfen. Freilich ſchon damals ſuchten die Stände oft ſolchen Uebeln durch Verträge zu begegnen, welche ſie mit den Fürſten abſchloſſen. Aber nur allmählich iſt die richtige Regel erkannt und in das allgemeine Statsrecht der neuern Zeit aufgenommen worden.
285.
Ausnahmsweiſe kann ein Stat einen Theil ſeines Gebiets aus politiſchen Gründen und in öffentlich-rechtlicher Form an einen andern Stat abtreten.
Es iſt das nicht eine ſachliche, dem Privatverkehr entlehnte Veräußerung, ſondern eine ſtatliche, in Inhalt und Form öffentlich-rechtliche Abtretung. Am
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
öfterſten kommt dieſelbe in Friedensſchlüſſen, nachdem ein Krieg die politiſche Nothwendigkeit derſelben klar gemacht hat. Sie kann aber auch ohne Krieg aus Einſicht in die politiſche Zweckmäßigkeit und freiwillig vollzogen werden. Eines der merkwürdigſten und rühmlichſten Beiſpiele dieſer Art iſt im Jahr 1863 die Abtretung der Joniſchen Inſeln an das Königreich Griechenland von Seite der engliſchen Krone. Andere neuere Beiſpiele einer friedlichen Abtretung ſind die Abtretungen Savoyens an Frankreich 1860 von Seite Italiens, die des öſterreichiſchen Antheils an dem Fürſtenthum Lauenburg an Preußen 1865 und die der ruſſiſchen Beſitzungen in Nordamerika an die Vereinigten Staten 1867.
286.
Die Rechtsgültigkeit einer derartigen Abtretung ſetzt voraus:
a) die zuſammenſtimmende politiſche Willenserklärung ſowohl des abtretenden als des empfangenden States,
b) die thatſächliche Beſitzergreifung von Seite des erwerbenden States,
c) mindeſtens die Anerkennung von Seite der politiſch berechtigten Völkerſchaft, welche das abgetretene Gebiet bewohnt und nun in einen neuen Stat übertritt.
Durch den Vertrag allein wird die Abtretung nicht vollzogen, ſondern nur vorbereitet. Ohne Statsregierung gibt es keine Statshoheit. Die letztere muß alſo durch die erſtere bewährt werden und das geſchieht durch die dauernde Beſitzergreifung. Die Anerkennung der politiſch berechtigten Völkerſchaft iſt deßhalb unerläßlich, weil dieſelbe nicht ein willen- und rechtloſer Gegenſtand der Veräußerung iſt, ſondern ein lebendiger Beſtandtheil des Stats, und der Widerſtand der Bevölkerung eine friedliche Beſitzergreifung unmöglich macht. Es genügt aber die Anerkennung der Nothwendigkeit, und es iſt nicht nöthig, wenn auch wünſchenswerth, die freie und freudige Zuſtimmung der Bevölkerung. Auch die Nothwendigkeit, der man ſich widerwillig und ungern, aber aus Einſicht in das Unvermeidliche unterordnet, begründet in öffentlichen Verhältniſſen neues Recht. Dieſe Anerkennung liegt daher ſchon in dem Gehorſam, welchen man der neuen Landesregierung erweist und in dem Unterlaſſen des Widerſtandes gegen dieſelbe. Die freie Zuſtimmung dagegen iſt zugleich eine active Billigung der Abtretung. Beſſer iſt es unzweifelhaft, wenn die letztere gewonnen werden kann und der erwerbende Stat nicht genöthigt iſt, ſich vorerſt mit der erſtern zu begnügen. Vgl. unten § 288. 289.
287.
Wird das ganze Statsgebiet abgetreten, ſo iſt das zugleich Unter-
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Viertes Buch.
gang des bisherigen Stats und Einverleibung desſelben in den erwerbenden Stat.
Es iſt das daher ſtrenge genommen nicht mehr Abtretung, ſondern nur Einverleibung. Den Schein der Abtretung hat dieſelbe, inſofern ſie in Form der Abtretung der Hoheitsrechte von Seite des bisherigen Fürſten an ein anderes Statshaupt geſchieht, wie z. B. in der rühmlichen Abtretung der Hohenzolleriſchen Fürſtenthümer an die Krone Preußen. Aber dem Weſen nach iſt das Einverleibung, weil im entſcheidenden Augenblick des Uebergangs nur Ein Stat übrig bleibt.
288.
Ohne Uebertragung des abtretenden Stats kann ein Statsgebiet, oder ein Theil desſelben von einem andern State in Beſitz genommen und rechtmäßig einverleibt werden:
a) in Folge der Verzichtleiſtung der bisherigen Statsgewalt auf die Statsherrſchaft,
b) in Folge der wohlbegründeten Beſeitigung der bisherigen Statsgewalt durch die Bevölkerung und des freien Anſchluſſes derſelben an den erwerbenden Stat,
c) in Folge des nothwendigen Fortſchritts in der Entwicklung eines nationalen Stats.
In allen dieſen Fällen iſt die Anerkennung der neuen Statsgewalt durch die politiſch berechtigte Bevölkerung des erworbenen Gebiets eine Bedingung des rechtmäßigen Erwerbs.
1. Dieſe Anerkennung (vgl. zu § 189) iſt nicht nöthig zu thatſächlicher Unterwerfung und Beherrſchung, aber ſie iſt nothwendig, um dem neuen Erwerb den Stempel des Rechts aufzudrücken. In der Anerkennung wird die dauernde Nothwendigkeit d. h. das Recht der veränderten Zuſtände offenbar.
2. Dem ausgeſprochenen Verzicht ſteht das thatſächliche Verlaſſen des beſeſſenen Gebietstheiles gleich.
Als die Römer ihre Beamten und ihre militäriſchen Stationen aus den Germaniſchen Ländern hinter die Grenzwälle und den Rhein zurückzogen, war das ein thatſächlicher Verzicht auf ihre Herrſchaft außerhalb dieſer Grenzen. Wenn ein moderner coloniſirender Stat eine bisher beſetzte Inſel oder Küſtengegend, ohne für den Statsſchutz zu ſorgen, verläßt, ſo kann ein anderer Stat rechtmäßiger Weiſe ſich dieſes Gebiets bemächtigen.
3. Wohlbegründet iſt die Beſeitigung der bisherigen Statsherrſchaft, wenn dieſelbe in einen ernſten und dauernden Widerſpruch gerathen iſt mit dem Recht oder mit der Wohlfahrt der Bevölkerung, ſo daß die geſicherte Exiſtenz oder die Entwicklung derſelben eine Aenderung fordert, oder wenn dieſelbe nothwendig erſcheint, um
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
den Fortſchritt einer größeren (nationalen) Lebensgemeinſchaft möglich zu machen, zu welcher die Bevölkerung ſich verwandt und zugehörig fühlt. Beiſpiele ſind in neuerer Zeit die Beſeitigung des ſouveränen Fürſtenthums Neuchatel und der Eintritt dieſes Cantons in den ſchweizeriſchen Bundesſtat, und noch deutlicher die Einverleibung der italieniſchen Fürſtenthümer Toscana, Modena und Parma in das Königreich Italien.
4. Wenn ſich ein neuer Stat bildet, vielleicht aus einer größern Zahl von verbundenen alten Staten, oder aus Stücken derſelben, ſo entſteht immer zugleich eine neue Gebietshoheit jenes Stats und eine theilweiſe oder gänzliche Verdrängung der bisherigen Gebietshoheit der alten Staten. Die Grundſätze über neue Statenbildung und Anerkennung neuer Staten (§ 28 ff.) finden ſomit hier wieder Anwendung. Ganz wie die urſprüngliche Statenbildung, ſo iſt auch die Statsentwicklung, ſobald ſie als nothwendig ſich erweist, geeignet, eine bisherige Gebietshoheit zu Gunſten einer neuen Statshoheit zu beſeitigen. Dieſe Umgeſtaltung kann möglicher Weiſe von der Bevölkerung der einverleibten Theile nicht gewünſcht werden und dennoch nothwendig und deßhalb gerechtfertigt ſein. Die Säculariſation der geiſtlichen Fürſtenthümer in Deutſchland und die Einverleibung ihrer Gebiete in die benachbarten Staten zu Anfang dieſes Jahrhunderts, die gleichzeitige Mediatiſirung zahlreicher bisher reichsunmittelbarer Herrſchaften, und wenigſtens theilweiſe auch die im Jahr 1866 vollzogene Einverleibung von Hannover, Kurheſſen, Naſſau, Schleswig-Holſtein und Frankfurt in Preußen ſind aus dieſer nothwendigen Entwicklung des modernen deutſchen Statslebens zu erklären. Indem ſich die Nation als Eins fühlt, und zum Volke wird, ſchafft ſie ſich mit Recht die Bedingungen ihres ſtatlichen Geſammtlebens, und es ſteht den Theilen das Recht nicht zu, das Leben des Ganzen zu verhindern.
289.
Obwohl die Eroberung eines ſtatlichen Gebietstheils im Krieg zunächſt in der Form kriegeriſcher Gewalt vollzogen wird, ſo begründet ſie dennoch die Statshoheit über das eroberte Gebiet und wird als rechtmäßige Erwerbart betrachtet, inſofern durch den Friedensſchluß oder auch ohne ſolchen durch Aufhören des Widerſtandes und Anerkennung von Seite der politiſch berechtigten Bevölkerung die Fortdauer des neuen Statsverbandes als nothwendig ſich darſtellt.
Von Alters her wird die Eroberung als Begründung einer neuen Statshoheit des Siegers über das eroberte Gebiet betrachtet, und man beruft ſich dabei auf den Consensus gentium. Trotzdem ſträubt ſich das feiner empfindende Rechtsgefühl der heutigen Menſchheit gegen dieſe Annahme; denn die Eroberung erſcheint zunächſt in der Geſtalt eines Gewaltacts und nicht als Rechtsact. Die Gewalt iſt aber keine natürliche Rechtsquelle, ſondern umgekehrt das Recht hat
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Viertes Buch.
die Aufgabe, der Gewalt Schranken zu ſetzen. In der That hat die Eroberung, inſofern ſie nur als phyſiſche Unterwerfung mit Gewalt unter die Herrſchaft des Siegers erſcheint, für ſich die Kraft nicht, neues Recht zu ſchaffen, außer höchſtens das vorübergehende Nothrecht des Kriegs. Damit die Eroberung Recht bildend wirke, muß noch ein anderes rechtliches Moment zu dem der thatſächlichen Ueberlegenheit des Siegers hinzukommen, es muß insbeſondere die Nothwendigkeit der Umgeſtaltung offenbar geworden ſein. Dann ergibt ſich daraus, daß jene Gewalt ſelbſt nicht rohe und bloße Gewalt war, ſondern daß ſich in ihr die Macht der natürlichen Verhältniſſe und ihrer Entwickelung gezeigt habe, und in dieſer Macht iſt allerdings der ſtärkſte Trieb zu ſtatlicher Rechtsbildung zu erkennen. Das wird im Friedensſchluß voraus klar gemacht; denn indem die kriegführenden Parteien Frieden ſchließen, erkennen ſie die dauernde Nothwendigkeit der im Frieden bekräftigten Ordnung an. Dem Frieden ſteht aber die Anerkennung der Bevölkerung beziehungsweiſe das gänzliche Erlöſchen jedes Widerſtands gleich. Die offenbar gewordene Unfähigkeit und Unmöglichkeit, den Kampf fortzuſetzen oder zu erneuern, macht jene Recht bildende Macht ebenfalls offenbar. Die Ausdehnung ſchon der alten Jüdiſchen Statshoheit über Paläſtina iſt in grauſamſter und roheſter Form der Eroberung vollzogen worden und dennoch in ihrem Erfolg anerkannt worden. Die Gründung der meiſten germaniſchen Staten auf römiſchem Boden iſt ebenſo durch Eroberung geſchehen und öfter durch Anerkennung der Bevölkerung als durch Friedensſchlüſſe beſtätigt worden.
290.
Auch wenn es an einem beſondern Rechtstitel für den Erwerb fehlt oder ſogar erweislich die anfängliche Beſitznahme gewaltſam und mit Verletzung des Rechts vollzogen worden iſt, aber der Beſitzſtand ſo lange Zeit ruhig fortdauert, daß derſelbe nunmehr von dem Bewußtſein des Volks als fortdauernd nothwendig anerkannt wird, ſo iſt anzunehmen, der urſprüngliche Gewaltzuſtand ſei von der reinigenden Macht der Zeit in den entſprechenden Rechtszuſtand umgewandelt worden.
Eine Verjährung in dieſem Sinne, freilich ohne daß eine beſtimmte Anzahl Jahre wie in der privatrechtlichen Erſitzung fixirt werden kann, und ohne daß die privatrechtlichen Bedingungen dafür gelten, iſt völkerrechtlich geradezu unentbehrlich, wenn nicht die Entwicklung der geſchichtlichen Statenbildung und Statenerweiterung einer nie endenden Beſtreitung Preis gegeben werden ſoll. Dieſelbe iſt denn auch in der Hauptſache ſchon von Hugo Grotius II. 4,1 als nothwendig erklärt worden. Nur indem die reinigende und Recht bildende Macht der Zeit anerkannt wird, kann das Gefühl der Rechtsſicherheit unter den Völkern befeſtigt und der allgemeine Friede geſichert werden. Vgl. oben § 37. 38. Phillimore I. 255 ff.
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
291.
Ueberhaupt iſt jede neue Statenbildung zugleich Begründung einer neuen Gebietshoheit.
Vgl. darüber oben § 28 f. Die Gebietshoheit iſt nur eine einzelne Eigenſchaft und Richtung der Statshoheit, und dieſe die folgerichtige Eigenſchaft der Exiſtenz des Stats.
292.
Die Formen des privatrechtlichen Verkehrs und der privatrechtlichen Willenserklärung in Kauf- und Tauſchverträgen, Zufertigung im Grundbuch, Verpfändung, Erbeinſetzung und Vermächtniß, Erbvertrag, obwohl im Mittelalter vielfältig auch auf die Landesherrſchaft angewendet, ſind nicht mehr anwendbar auf den Erwerb moderner Statshoheit.
Ein Tauſch iſt heute noch möglich, aber nur in völkerrechtlicher und ſtatsrechtlicher Form, z. B. in einem Friedens- oder einem andern Statsvertrag, nicht mehr in privatrechtlicher Form. Der Verkauf dagegen, durch welchen auf der einen Seite die Statshoheit veräußert und auf der andern Seite dafür eine Summe Geldes bezahlt wird, iſt unſers Zeitalters unwürdig. Wohl aber laſſen ſich ſchicklicher Weiſe auch mit ſtatsrechtlich und völkerrechtlich motivirten Abtretungen Geldleiſtungen verbinden. Weil die Gebietshoheit kein Privatrecht, kein Eigenthum iſt im privatrechtlichen Sinn, ſondern Statsrecht, ſo paſſen auch die von der Privatwillkür benutzten Formen des Privatrechts nicht auf die Regulirung dieſer öffentlichen Verhältniſſe.
293.
Das Erbrecht dynaſtiſcher Häuſer kann inſofern noch den rechtmäßigen Erwerb einer Statshoheit begründen, als dasſelbe zugleich als Thronfolgerecht eine verfaſſungsmäßige Geltung hat oder die Anerkennung der politiſch berechtigten Bevölkerung hinzutritt.
Am längſten haben ſich die mittelalterlichen Anſichten eines Familienerbrechts in den dynaſtiſchen Häuſern und vorzüglich noch in den Anſchauungen deutſcher Volksſtämme erhalten. In unſern Tagen glaubte man noch, freilich zum Erſtaunen fremder Völker, in Deutſchland die Frage des Erbrechts in den Nordalbingiſchen Herzogthümern Schleswig und Holſtein weſentlich aus dem verwickelten Studium des mittelalterlichen Privatfürſtenrechts allein entſcheiden zu können. Das Thronfolgerecht in dem modernen State aber iſt nichts als ein Stück Statsverfaſſung und ganz denſelben Umgeſtaltungen und Veränderungen ausgeſetzt wie dieſe. Da Niemand einen privatrechtlichen Anſpruch auf die Regierung eines Volkes
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Viertes Buch.
hat, noch in dem entwickelten State haben kann, ſondern alle Thronfolge ſtatsrechtliche Succeſſion iſt, ſo legt die moderne Rechtsbildung den dynaſtiſchen Erbanſprüchen nur dann Wirkſamkeit bei, wenn ſie auch in der Statsverfaſſung begründet ſind oder allgemeine Anerkennung im Lande finden und keine öffentlichen Rechtsgründe entgegenſtehen.
294.
Das beſtehende Statsgebiet kann erweitert werden durch Zuwachs, insbeſondere durch Erhebung der Seeküſte durch Aufſchwemmungen, oder durch künſtliche neue Anlagen und Bauten auf bisher unſtatlichem Boden. Es kann ebenſo vermindert werden durch Verſenkung der Küſte, durch Wegſchwemmung der Ufer und durch erneuerte Verödung und Rückzug der ſtatlichen Cultur.
Die einen Erweiterungen und Verminderungen des Statsgebiets ſind eine nothwendige Wirkung der Natur, die andern das freie Werk der Menſchen. Da das Meer nicht Statsgebiet, ſondern frei von jeder Statsgewalt iſt, ſo verändert naturgemäß der Rückgang oder das Vordringen des Meers auch den Umfang des Statsgebiets. Bedeutende Aenderungen der Art ſind noch in geſchichtlicher Zeit, größere freilich in vorgeſchichtlicher Zeit vorgekommen und im Kleinen ſind fortwährend Aenderungen wahrzunehmen. Die Veränderungen, welche der Menſch durch Uferbauten oder durch Cultivirung am Wüſtenrande verwirkt, ſind durchweg auf einen engen Raum beſchränkt.
295.
Wenn ſich neue Inſeln im Strome oder Fluſſe bilden, ſo gehören ſie, abgeſehen von beſondern Verträgen, dem zunächſt gelegenen Uferſtate zu. Entſtehen ſie in der Mitte des Fluſſes, ſo unterliegen ſie der Theilung der beiden Uferſtaten nach der Mitte.
Aehnliche Grundſätze hat das römiſche und deutſche Privatrecht bezüglich des Grundeigenthums auf der neuen Inſel ausgeſprochen (L. 7. § 3. D. de adq. rer. dom. Sachſenſpiegel II. 56. § 2). Das Grundeigenthum iſt freilich nicht die Grundlage der Statshoheit, und die Analogie ſeiner Grundſätze nur mit Vorſicht auf das Statsrecht anzuwenden. So muß für dieſes der Satz anerkannt werden, daß die neue Landbildung innerhalb der Grenzen eines States, auch wenn ſie nachweisbar durch Wegſchwemmung fremden Bodens bewirkt und deßhalb dem frühern Grundbeſitzer zu Eigenthum verbleiben würde, aus ſtatsrechtlichen Gründen dennoch zu dem Gebiete gehört, in dem ſie entſteht; denn unmöglich kann ein Stat ſich durch bloße Erdanſpülung von dem Ufer wegdrängen und einen fremden Stat ſich da feſtſetzen laſſen, bloß weil das Eigenthum an den Erdſtücken von einem zum
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
andern Ufer verſetzt wird. Wer Eigenthümer ſei, iſt für die Statshoheit ganz gleichgültig, und weder die Ausdehnung ſeiner Macht noch die Sicherheit ſeiner Grenze von der Frage, wem das Grundeigenthum gehöre, abhängig zu machen. Vgl. darüber auch Oppenheim III. 7.
Durch Neubildung von Inſeln kann überdem die Landesgrenze inſofern erweitert werden, als nun von dem Ufer der Inſel aus nach dem Meere hin der Stat ſeine Macht weiter als bisher von dem Flußufer her erſtrecken kann. Ein Beiſpiel einer ſolchen Erweiterung durch Inſelbildung in der Mündung des Miſſiſippi führt Phillimore an I. 240. Der Uferſtat kann, ſchon um ſeiner Sicherheit willen, nicht zugeben, daß die im Meere, d. h. auf ſtatenloſem Boden entſtandene Inſel der freien Occupation, vielleicht einer rivaliſirenden Macht offen ſtehe, ſondern vielmehr begründet die Statshoheit über das Flußgebiet und über die Mündung des Fluſſes ein natürliches Anrecht auf die Beſetzung der Inſeln, die durch Anſchwemmungen des Fluſſes in bisher freiem Meer gebildet werden.
2. Grenzen des Statsgebiets.
296.
Wo zwei Statsgebiete zuſammenſtoßen, ſind die Nachbarſtaten verpflichtet, die Grenzlinie gemeinſam zu ordnen und möglichſt klar zu bezeichnen.
Die Pflicht der Grenzbeſtimmung folgt aus dem friedlichen Nebeneinanderſein der Staten. Jeder von beiden iſt berechtigt, bis an ſeine Grenze zu herrſchen und jeder verpflichtet, nicht darüber hinaus in das Nachbargebiet überzugreifen. Daher haben beide Recht und Pflicht, die Grenze, die ſie von einander ſcheidet und ihnen gemeinſam iſt, auch gemeinſam ins Klare zu ſetzen. Die Analogie des privatrechtlichen judicium finium regundorum findet hier Anwendung, immerhin natürlich mit Berückſichtigung der Unterſchiede zwiſchen dem Grundeigenthum der Privatperſonen und der öffentlich-rechtlichen Natur der Gebietshoheit. Als Grenzzeichen werden Markſteine oder Grenzpfähle geſetzt, Graben gezogen, eine Lichtung durch den Wald hergeſtellt, Wälle und Mauern gebaut, ſchwimmende Tonnen befeſtigt u. dgl.
297.
Wenn ein Gebirgszug die Grenze bildet zwiſchen zwei Ländern, ſo wird im Zweifel angenommen, daß der oberſte Berggrat und die Waſſerſcheide die Grenze beſtimmen.
(0198 : 176)
Viertes Buch.
Die Bergzüge ſind ſehr oft Völkerſcheiden. Iſt die Höhe des oberſten Berggrats erreicht, ſo iſt zugleich die Waſſerſcheide gefunden. Wie die Waſſer zu Thal fließen, und ſich da zu Bach und Fluß einigen, ſo ſammelt ſich auch der Verkehr der Menſchen von allen umliegenden Höhen her in dem einigenden Thal. Frühe ſchon haben aufgeweckte Nationen das bemerkt und daher an jener Linie die natürliche Grenze erkannt.
298.
Bildet ein Fluß die Grenze und iſt derſelbe nicht in den ausſchließlichen Beſitz des einen Uferſtates gelangt, ſo wird im Zweifel angenommen, die Mitte des Fluſſes ſei die Grenze.
Bei ſchiffbaren Flüſſen wird im Zweifel der Thalweg als Mitte angenommen.
Weit öfter bilden die Flüſſe nicht die Grenze zwiſchen zwei Ländern, ſondern dienen zur Verbindung und zum Verkehr der beiderſeitigen Uferbewohner. Gewöhnlich finden wir dieſelbe Nation und denſelben Stamm auf beiden Ufern angeſiedelt. Daher fließen ſehr viele große Ströme und Flüſſe innerhalb desſelben Statsgebiets und gehören dann zu dieſem Statsgebiet. Der Nyl in Aegypten, der Indus und Ganges in Indien, der Tigris und der Euphrat in Aſſyrien, Medien und Perſien, der Po in Norditalien, die Weſer und die Elbe in Norddeutſchland, aber auch der Miſſiſippi in den Vereinigten Staten von Nordamerika u. ſ. f. gehörten faſt in allen Zeiten meiſtens auf beiden Seiten derſelben Nation und demſelben State an. Auch der Rhein iſt auf beiden Ufern von deutſchen Stämmen bewohnt, und die Donau fließt durch Bayeriſches, Oeſterreichiſches, Ungariſches und Türkiſches Gebiet. Aber zuweilen werden die Flüſſe allerdings zur Grenze benutzt zwiſchen zwei Ländern, ſei es weil verſchiedene Nationen nur bis an den Fluß kamen, aber ſich nicht darüber hin wagten, ſei es weil hauptſächlich militäriſche Gründe auf dieſe Art der Beſchränkung einwirkten. So zog ſich das ſpätere römiſche Kaiſerreich auf die Südſeite der Donau und auf die Weſtſeite vom Rhein zurück, um ſich beſſer gegen die Einfälle der Germanen zu vertheidigen.
Die Flußgrenze iſt für die Vertheidigung des Gebiets inſofern nützlich, als dem feindlichen Uebergang natürliche Hinderniſſe im Wege ſtehen, welche durch die Kriegskunſt noch verſtärkt werden können. Sie iſt überdem inſofern auch eine klare Grenze, als die Ufer, als je dem einen oder andern State angehörig, ſcharf bezeichnet ſind. Aber im Uebrigen iſt die Flußgrenze nicht zweckmäßig, weil die eigentliche Grenzlinie inmitten des Fluſſes beſtändig verwiſcht und auch verändert wird und wenn die Flüſſe ſchiffbar ſind, die Schiffahrt ſich gerade auf der Grenzlinie bewegt, daher die Unterſcheidung der Statshoheit während der Fahrt entweder zweifelhaft wird, oder nach andern Erwägungen als der Grenzlinie beſtimmt werden muß. Man unterſucht daher gewöhnlich nicht, ob das Schiff eher dießſeits oder jenſeits der Mittellinie ſich bewegt habe, wenn etwa die gerichtliche
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
Competenz über ein verübtes Vergehen zu ermitteln iſt, ſondern nimmt im Zweifel an, daß je nachdem das Schiff dem einen oder andern Uferſtat angehöre oder auch nur da ſtationirt ſei, die Gerichtsbarkeit des betreffenden Stats im Zweifel begründet ſei. Der Thalweg ſelbſt gilt dann als eine gemeinſame Grenze. Mit Unrecht wird er als neutral bezeichnet. Er gehört nicht keinem der beiden, ſondern eher jedem der beiden Gebiete an, ſoweit das überhaupt möglich iſt. Er wird daher von beiden Nationen frei zur Schiffahrt benützt, und keiner der beiden Staten darf dieſen Gebrauch hemmen. Vgl. unten § 303.
2. Die Mitte des Fluſſes kann auch von dem feſten Uferrand aus bemeſſen werden. In neuerer Zeit aber zieht man bei ſchiffbaren Flüſſen den Thalweg vor, weil eben da der Hauptfluß ſich bewegt, welcher als Grenze dient. Der Ausdruck iſt ſogar in den franzöſiſch geſchriebenen Friedensvertrag von Luneville vom 9. Febr. 1801 Art. III. übergegangen: „le Thalweg de l’Adige servant de ligne de démarcation“ und iſt auch für die Rheingrenze zwiſchen Frankreich und Deutſchland anerkannt. Reichsdeputationsbeſchluß von 1853 § 30.
299.
Die Flußgrenze iſt inſofern veränderlich, als der Fluß ſein Bett und ſeinen Thalweg gelegentlich verändert.
Wenn aber der Fluß ſein Bett ganz verläßt und eine neue Richtung einſchlägt, dann bleibt das alte Flußbett die Grenze.
Die Veränderung des Thalwegs kann auch künſtlich durch Waſſerbauten bewirkt werden. Schon deßhalb, weil dadurch die gemeinſame Grenze afficirt wird, darf kein Uferſtat willkürlich ſolche Uferbauten vornehmen, welche jene Aenderung nach ſich ziehen. Wird dagegen die Flußcorrection in wechſelſeitigem Einverſtändniß vollzogen, ſo wird unbedenklich auch der künſtlich veränderte Thalweg als Grenze anerkannt.
Wenn der Fluß eine ganz andere Richtung nimmt und ein neues Bett gräbt, ſo iſt das nicht mehr die unvermeidliche Wandelbarkeit der Flußgrenze, ſondern ein neuer Einſchnitt in das eine oder andere unzweifelhafte Statsgebiet hinein in Abweichung von der bisherigen Landesgrenze. Das darf natürlich keinen Gebietsverluſt des einen und keine Gebietserweiterung des andern Stats begründen. Vgl. Hugo Grotius II. 3. § 16.
300.
Inſoweit nicht die Nationalität eines Schiffes entſcheidend einwirkt, ſteht beiden Uferſtaten eine concurrirende Gebietshoheit (Policeigewalt und Gerichtsbarkeit) über die auf der Grenzlinie hinfahrenden Schiffe zu.
Vgl. zu § 298. 316.
301.
Ebenſo wird die Mitte eines Landſees als Grenze zwiſchen den ent-
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 12
(0200 : 178)
Viertes Buch.
gegengeſetzten Uferſtaten vermuthet, wenn nicht durch Verträge oder Uebung eine andere Grenze beſtimmt iſt. Daneben wird die freie Schiffahrt auf dem See für beiderlei Uferbewohner als Regel anerkannt.
Hier muß die Mitte von beiden Ufern ausgemeſſen werden, da es einen Thalweg nicht gibt, oder wenigſtens derſelbe nicht ebenſo deutlich iſt, wie bei Flüſſen.
302.
Bildet das freie Meer die Grenze des Statsgebiets, ſo wird angenommen, der naſſe Küſtenſaum ſei noch ſo weit der Statshoheit unterworfen, als die Statsmacht vom Ufer her ſich darüber erſtreckt, alſo auf Kanonenſchußweite.
Eine genauere oder engere Grenze, wie insbeſondere die von drei Seemeilen von der Küſte — zur Zeit der Ebbe — kann vertragsmäßig oder ſtatsrechtlich beſtimmt werden.
1. Dieſe Ausdehnung der Gebietshoheit über das feſte Land hinaus in den Bereich des ſeiner Natur nach ſtatenloſen Meeres iſt freilich nur eine beſchränkte, keine vollſtändige. Vgl. darüber unten § 310. 322 ff. Das Maß der Ausdehnung iſt überdem ſeit Erfindung der weittragenden gezogenen Geſchütze erheblich größer geworden; indeſſen iſt dieſe Erweiterung nur die natürliche Wirkung der geſteigerten Statsmacht. Anfangs mochte der Hammerwurf, dann der Pfeilſchuß die engere Grenze bezeichnen, dann kam die Erfindung und der große Fortſchritt der Feuerwaffen in einer Reihe von Abſtufungen von den unſichern und nur in kurzer Flugbahn wirkenden erſten Geſchützen bis zu der ſcharf und weittreffenden gezogenen Kanone der Gegenwart. Immer iſt der leitende Gedanke der: „Terrae dominium finitur, ubi finitur armorum vis“.
2. Die Seegrenze von 3 Seemeilen iſt z. B. in den Verträgen zwiſchen England und den Vereinigten Staten von Amerika vom 28. Oct. 1818 (Art. 1) und von Frankreich und England in dem Vertrag vom 2. Aug. 1839 (Art. 9 und 10) anerkannt. Vgl. Oppenheim Völkerrecht III. § 6. Phillimore I. 240.
303.
Wenn zwei Staten, welche an das freie Meer grenzen, einander ſo nahe ſind, daß der Küſtenſaum je des einen Stats in den Küſtenſaum des andern hinüberreicht, ſo ſind ſie verpflichtet, einander in dem gemeinſamen Gebiet wechſelſeitig den Küſtenſchutz zuzugeſtehen, oder über eine Scheidelinie ſich zu vereinbaren.
Das Verhältniß der beiden Uferſtaten wird hier ähnlich wie in den Fällen der Fluß- oder Seegrenze. Es tritt eine concurrirende Gebietshoheit ein.
(0201 : 179)
Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
3. Oeffentliche Gewäſſer. Die Meeresfreiheit.
304.
Das Meer iſt von Natur zur Sonderherrſchaft ungeeignet und dem gemeinen Gebrauch aller Nationen geöffnet. Das Meer iſt frei.
An dem offenen, freien Meer iſt keine Gebietshoheit eines einzelnen States oder mehrer verbundener Staten möglich und zuläſſig.
Noch im ſiebzehnten Jahrhundert verſuchten es einzelne Staten, ſich eine ausſchließliche Seeherrſchaft über beſtimmte Meere anzumaßen und andern Nationen die Schiffahrt oder Fiſcherei daſelbſt zu verbieten. So z. B. Portugal und Spanien in den Oſt- und Weſtindiſchen Meeren unter Berufung auf die Verleihung des Papſtes. Auch England behauptete ein beſonderes Recht auf die Meere zu haben, welche die britiſchen Inſeln umfließen. Gegen dieſe Anmaßung erhob ſich Hugo Groot in ſeiner berühmten Schrift „mare liberum“ (Utrecht 1609) mit wiſſenſchaftlichen Gründen. Dem heutigen Rechtsbewußtſein der Menſchheit iſt die Freiheit des Meeres von jeder Statsherrſchaft nicht mehr zweifelhaft; und die ſeefahrenden Völker üben dieſe Freiheit in allen Richtungen unangefochten aus. In Folge deſſen iſt der größere Theil der Erdoberfläche allen Völkern gemeinſam und dient ſo dem menſchlichen Verkehr.
305.
Das heutige Völkerrecht geſtattet nicht mehr die Abſchließung eines Meeres von dem Weltverkehr, welches von Natur oder durch menſchliche Cultur der Schiffahrt zugänglich und mit der offenen freien See verbunden iſt, auch dann nicht, wenn jenes Meer von einem Statsgebiet umſchloſſen iſt.
In alter Zeit war dieſe Regel noch nicht anerkannt. Die Phönizier und Karthager betrachteten das mittelländiſche Meer großen Theils als ihre See, ebenſo ſpäter die Römer. Dänemark machte eine Zeit lang ähnliche Anſprüche der Herrſchaft über das Baltiſche Meer; die Republik Venedig wollte im Adriatiſchen Meer allein herrſchen, die Republik Genua im liguriſchen Meer, die Türkei behauptete, daß das Aegäiſche wie das Marmarameer ihr Eigenthum ſei, Rußland weigerte fremden Nationen die Seefahrt auf dem ſchwarzen Meer. Alle dieſe Prätenſionen mußten ſchließlich der ſteigenden Anerkennung der Meeresfreiheit weichen. Durch die Pariſer Congreßacte von 1856 Art. II. iſt der Satz ausgeſprochen worden: „La mer Noire est neutralisée, ouverte à la marine marchande de toutes les nations“.
12*
(0202 : 180)
Viertes Buch.
306.
Geſchloſſene Meere werden nur inſofern anerkannt, als ſie für die Schiffahrt vom offenen Meer her unzugänglich und von dieſem völlig abgetrennt ſind. Dieſelben ſind dann ähnlich, wie die Binnenſeen mit ſüßem Waſſer, der Statshoheit unterworfen.
Ein von jeher anerkanntes Beiſpiel iſt das Todte Meer in Syrien. An dem Kaspiſchen Meer begegnen ſich verſchiedene Nationen und Staten, aber eine Verbindung mit dem Weltmeer iſt nicht da. Die Möglichkeit, daraus ein Ruſſiſches Meer zu machen, liegt daher nicht ſehr ferne.
307.
Auf offenem Meere iſt ſowohl die Schiffahrt als die Fiſcherei für alle Nationen und für Jedermann völlig frei.
Die Schiffahrt iſt zunächſt als Handels- und Verkehrsſchiffahrt frei. Eben für den Weltverkehr iſt das Meer offen. Neben der Schiffahrt zum Verkehr kommt als zweite Hauptnutzung des Meeres die Fiſcherei in Betracht. Auch in dieſer Hinſicht hat kein Stat ein Recht, für ſeine Fiſcher ein Privilegium anzuſpreſchen und die fremden Fiſcher davon auszuſchließen. Die reichen Schätze des Meeres ſind der ganzen Menſchheit offen. Noch im achtzehnten Jahrhundert maßte ſich die Krone Dänemark das ausſchließliche Recht der Fiſcherei an in den Gewäſſern der Nordſee in der Nähe von Island und Grönland und gerieth darüber mit den Vereinigten Staten der Niederlande in Streit. Auch die Beſchränkung dieſes Rechts auf 15 Seemeilen von der Küſte weg, welche die däniſche Regierung ſchließlich zugeſtand, iſt durchaus ungenügend und wurde von den andern Staten nicht anerkannt. In unſerm Jahrhundert entſtand wiederholt Streit zwiſchen England und den Vereinigten Staten von Nordamerika über die ergiebige Fiſcherei in den Gewäſſern von Neufundland. Ein Vertrag vom 2. Auguſt 1839 geſtand den Amerikaniſchen Fiſchern die Fiſcherei zu bis auf drei Meilen von der Küſte. Vgl. darüber Phillimore I. 189 ff.
308.
Das Recht der freien Schiffahrt auf offenem Meere wird nicht verletzt, ſondern nach Umſtänden geſchützt durch völkerrechtliche Beſchränkungen der Kriegsmarine in beſtimmten Meeren.
Ein Beiſpiel iſt die Beſchränkung der Zahl der Ruſſiſchen Kriegsſchiffe im ſchwarzen Meer, welche der Pariſerfriede von 1856 angeordnet hat.
(0203 : 181)
Die Statshoheit im Verhaltniß zum Land. Gebietshoheit.
309.
Einer beſchränkten Gebietshoheit unterworfen ſind:
a) der das Land beſpülende Küſtenſaum (§ 212),
b) die Seehäfen,
c) die Meereseinbrüche,
d) kleinere zwiſchen zwei Vorſprüngen des Landes gelegene Buchten.
Die nahe Beziehung ſolcher Theile des Meeres zum Lande und zum Stat rechtfertigt eine relative Ausdehnung der Gebietshoheit. Dieſelben werden als Zugehörigkeit des Landes betrachtet, deſſen Macht und Schutz ſich darüber erſtreckt. Die Sicherheit des States und ſeiner Rechtsordnung iſt dabei ſo offenbar intereſſirt, daß der gewohnte Maßſtab der Kanonenſchußweite bei Buchten nicht immer als genügend erachtet wird. Indeſſen iſt dieſe Ausdehnung doch nur da zuzugeſtehn, wo ihre Gründe wirkſam ſind und nicht wo der Umfang der Bucht ſich weiter erſtreckt, und lediglich als Theil des offenen Meeres erſcheint, wie z. B. in der Hudſons-Bai, und in dem Meerbuſen von Mexico. Unbeſtritten iſt die Seeherrſchaft Englands zwiſchen der Inſel Wight und der Engliſchen Küſte, aber keineswegs gutzuheißen in dem ganzen Kanal oder in dem Meer zwiſchen England und Irland, wenn gleich der engliſche Admiralitätshof die Lehre von den „Engen Meeren“ (Narrow Seas) oft mit Erfolg über Gebühr ausdehnte und große Stücke des offenen Meeres als ſogenannte „Königskammern“ (King’s chambers) in Beſchlag zu nehmen verſuchte. Ebenſo kann die Herrſchaft der Türkei über die Meerengen der Dardanellen und des Bosphorus nicht bezweifelt werden, wenn gleich das neuere Völkerrecht für die freie Schiffahrt auch durch dieſe Meerengen ins ſchwarze Meer ſorgt.
310.
In Folge dieſer beſchränkten Gebietshoheit iſt der Stat berechtigt, alle zum Schutze ſeines Gebietes und ſeiner Rechtsordnung nöthigen Maßregeln auch über dieſe Theile des Meeres auszudehnen, policeiliche Anordnungen zu treffen bezüglich der Schiffahrt und der Fiſcherei, aber er iſt nicht berechtigt, im Frieden die Durchfahrt oder die Benutzung dieſer Gewäſſer für die Schiffahrt willkürlich zu unterſagen oder mit Steuern zu beſchweren.
So kann der Uferſtat im Intereſſe ſeines Zollſyſtems die fremden Schiffe anweiſen, nur an beſtimmten Stellen zu landen und ſich des Verkehrs mit den Küſtenbewohnern zu enthalten, im Intereſſe der Sicherheit die Annäherung von bewaffneten Schiffen verhindern u. ſ. f. Selbſt Verbote der fremden Fiſcherei kommen hier noch vor und werden anerkannt. Die Regulirung der Fiſcherei in dieſen Gewäſſern iſt ganz unbedenklich.
(0204 : 182)
Viertes Buch.
2. Eine ſehr ſtarke und im Grunde ungerechte Benutzung der Seeherrſchaft geſchah durch Dänemark, indem es während Jahrhunderten im Beſitz der beiden Erdzungen, welche den Sundpaß einengen, auf der einzigen Fahrſtraße aus dem baltiſchen Meere in die Nordſee den ſogenannten Sundzoll erhob. Den mittelalterlichen Rechtsanſichten war dieſe Zollerhebung nicht ebenſo anſtößig, wie dem modernen Rechtsbewußtſein. Die europäiſchen Staten ließen ſich daher dieſe Beläſtigung gefallen und ſuchten nur durch Verträge eine weitere Erſchwerung zu verhüten. Erſt der offene und entſchiedene Widerſpruch der Vereinigten Staten von Amerika nöthigte Dänemark über Ablöſung des Sundzolls zu verhandeln. Seit dem Jahr 1857 iſt nun dieſe Beſchwerde der Schiffahrt von den übrigen Staten vertragsmäßig losgekauft und die freie Schiffahrt am 1. April 1857 hergeſtellt worden.
311.
Die Ströme und Flüſſe gehören, wenn ſie innerhalb eines Landes fließen, zu dem Statsgebiet des Landes, wenn ſie zwiſchen zwei Staten die Grenze bilden, im Zweifel je zur Hälfte bis in die Mitte den beiderſeitigen Uferſtaten zu.
Vgl. oben zu Art. 298.
312.
Schiffbare Ströme und Flüſſe, welche das Gebiet mehrerer Staten durchfließen, begründen ein gemeinſames Recht und Intereſſe aller dieſer Staten an der geordneten und freien Benutzung derſelben zur Schiffahrt.
Jeder der betheiligten Staten iſt verpflichtet, auf ſeinem Gebiet ſowohl für die Offenhaltung des Fahrwegs für die Schiffe als für den Unterhalt der Leinpfade zu ſorgen.
Es iſt das einer der wenigen Fortſchritte, welche die Entwicklung des Völkerrechts hauptſächlich auf Betrieb des Preußiſchen Geſanten Wilh. v. Humboldt den Verhandlungen des Wiener Congreſſes verdankt. Die Wiener Congreßacte von 1815 Art. 108 lautet: „Les Puissances, dont les états sont séparés ou traversés par une même rivière navigable, s’engagent à regler d’un commun accord tout ce qui a rapport à la navigation de cette rivière. Art. 113. Chaque état riverain se chargera de l’entretien des chemins de halage qui passent par son territoire et des travaux nécessaires pour la même étendue dans le lit de la rivière, pour ne faire éprouver aucun obstacle à la navigation“. Der Fluß bildet ein natürliches Band, welches die Länder verbindet, die er durchfließt. Sein Gewäſſer ergibt ſich nicht völlig der Sonderherrſchaft eines States, es fließt weiter, unbekümmert um die ſtatliche Grenze. Es dient daher auch der gemeinſamen Schiffahrt, ſoweit der Fluß ſchiffbar iſt. Es iſt nur eine An-
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
erkennung dieſer natürlichen Verhältniſſe, wenn die Rechtsordnung dieſen Zuſammenhang und dieſe Gemeinſchaft ſchützt, und nicht geſtattet, daß einer der Uferſtaten einſeitige Hemmniſſe bereite, ſondern vielmehr alle Uferſtaten verpflichtet, zur Erhaltung der Schiffahrt die nöthigen Maßregeln (z. B. Reinigung des Flußbetts, Herſtellung der Reckwege und Leinpfade) anzuordnen.
313.
Die Fluß- und Schiffahrtspolicei ſoll, ſoweit ſie gemeinſame Intereſſen betrifft, auch gemeinſam nach denſelben Rechtsgrundſätzen geordnet werden. Ausnahmen erfordern eine beſondere Begründung.
„Règlement pour la libre navigation des rivières. Art. II. La navigation dans tout le cours des rivières indiquées —; du point où chacune d’elle devient navigable jusqu’à son embouchure, sera entièrement libre et ne pourra, sous le rapport du commerce, être interdite à personne, en se conforment toutefois aux règlements qui seront arrêtés pour sa police d’une manière uniforme pour tous, et aussi favorable que possible au commerce de toutes les nations. Art. III. Le système qui sera établi, tant pour la perception des droits que pour le manitien de la police, sera, autant que faire se pourra, le même pour tout le cours de la rivière, et s’étendra aussi, à moins que des circonstances particulières ne s’y opposent, sur ceux de ces embranchemens et confluens qui dans leur cours navigable séparent ou traversent différens états.“
314.
Wenn die ſchiffbaren Ströme oder Flüſſe mit dem offenen Meer in Verbindung ſtehen, ſo ſind dieſelben den Schiffen aller Nationen im Frieden offen zu halten. Die freie Schiffahrt darf nicht zum Nachtheil einzelner Nationen gehemmt, noch ungebührlich beläſtigt werden.
Die Wiener Congreßacte ſprach dieſen Grundſatz zunächſt nur für die europäiſchen Flüſſe und nur unter der Vorausſetzung aus, daß ein Fluß durch zwei oder mehrere Statsgebiete fließt. Art. 109. „La navigation dans tout le cours des rivières indiquées dans l’article précédent sera entièrement libre.“ Aber ganz dieſelben Gründe, welche die freie Flußſchiffahrt in Europa als völkerrechtliche Forderung rechtfertigen, finden auch auf die amerikaniſchen Ströme und in allen Welttheilen Anwendung. Das neue völkerrechtliche Princip muß alſo allmählich überall zur Geltung gebracht werden. Sodann iſt die Beſchränkung des Grundſatzes auf die ſogenannten Gemeinflüſſe deßhalb unhaltbar, weil die Schiffahrt auf dieſen nicht bloß für die Schiffe der Uferſtaten, ſondern für den Weltverkehr frei iſt und nicht einzuſehen iſt, weßhalb die zwei oder mehreren Uferſtaten verpflichtet ſein ſollen, fremde Schiffe zuzulaſſen, während ein einzelner
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Viertes Buch.
Flußſtat dieſelben an der Einfahrt verhindern könnte. Der Eine Stat, deſſen Gebiet der Fluß allein durchfließt, kann nicht mehr Rechte und keine größere Herrſchaft haben, als die mehreren Uferſtaten an einem Gemeinfluſſe zuſammen. Es gibt keinen innern Grund, weßhalb für fremde Nationen die Schiffahrt auf dem Rhein freier ſein ſollte, als auf der Themſe, ſonſt müßte man zu der unſinnigen Schlußfolgerung kommen, daß die Einigung eines ganzen Flußgebietes, das früher unter mehrere Staten getheilt war, in Einem Statsgebiete die Aufhebung der freien Schiffahrt für fremde Nationen nach ſich zöge, die zur Zeit der Vielſtaterei als Völkerrecht gegolten hatte. So war z. B. der Miſſiſippi früher ein Gemeinſtrom und iſt jetzt ganz in dem Gebiet der Vereinigten Staten. Ebenſo iſt nun der Po ein italieniſcher Fluß, der früher ein Gemeinfluß geweſen war. Die Freiheit der Weltſchiffahrt auf dieſen Flüſſen gründet ſich nicht auf die Betheiligung mehrerer beſtimmter Staten an dem Flußufer und der Flußhoheit, ſondern auf den Zuſammenhang des Fluſſes mit dem freien Meer und auf die Verbindung der Gewäſſer, welche den Verkehr der Menſchen vermitteln. Die ins Meer mündenden Ströme ſammt ihren Nebenflüſſen, welche ſie während ihres Laufes aufnehmen, gehören, ſoweit der Weltverkehr ſich darauf bewegt, zum Meer und es wirkt deſſen Freiheit auf ihre Freiheit zurück.
315.
Es dürfen nur ſolche Gebühren der Benutzung der dem Weltverkehr offenen Gewäſſer auferlegt werden, welche als Gegenleiſtung für die Anſtalten, Werke und Arbeiten zu rechtfertigen ſind, für welche der Stat im Intereſſe der Schiffahrt und eines geordneten Zuſtandes ſorgt. Ebenſo dürfen die Vorſchriften über Stapel- und Landungsplätze nicht dazu mißbraucht werden, durch Nöthigung zum Anlanden und Umladen die Schifffahrt zu erſchweren.
Nur allmählich gelingt es, dieſe Folge des Princips der freien Schiffahrt zur Geltung zu bringen und die zahlreichen Laſten, womit die mittelalterliche Landeshoheit den Verkehr beſchwert hat, abzuſchütteln. Einzelne Beſtimmungen bezüglich der Gemeinflüſſe hat wieder die Wiener Congreßacte. Art. III.: „Les droits sur la navigation seront fixés d’une manière uniforme, invariable et assez indépendante de la qualité différente des marchandises pour ne pas rendre nécessaire un examen détaillé de la cargaison autrement que pour cause de fraude et de contravention. — Le tarif une fois réglé, il ne pourra plus être augmenté que par un arrangement commun des états riverains ni la navigation grévée d’autres droits quelconques, outre ceux fixés, dans le règlement.“ Art. 114: „On n’établira nulle part des droits d’étappe, d’échelle ou de relâche forcée.“ Selbſtverſtändlich iſt die Erhebung von Waarenzöllen eine ganz andere Angelegenheit und hat grundſätzlich mit der financiellen Belaſtung der Schiffahrt nichts zu ſchaffen.
(0207 : 185)
Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
316.
Die Binnenſeen gehören ebenſo dem Statsgebiete zu, von dem ſie umſchloſſen werden. Liegen dieſelben zwiſchen mehreren Staten, ſo werden ſie analog den Strömen behandelt. Abgeſehen von beſondern Verträgen und Verhältniſſen breitet jeder Uferſtat ſeine Statshoheit vom Ufer aus bis in die Mitte des Sees. Die Benutzung des Sees iſt jedoch gemeinſam für die Schiffahrt aller Uferbewohner und wenn der See mit dem Meere in ſchiffbarer Verbindung ſteht, auch für die Schiffahrt aller Nationen.
Die Binnenſeen ſind gewöhnlich nur ausgebreitete und in Folge der Ausbreitung ruhig gewordene Flußbecken. Daher iſt das Flußrecht auf dieſe Seen analog auszudehnen, und der Zuſammenhang mit Fluß und Meer wohl zu beachten. Eine Abgrenzung der Mittellinie iſt freilich hier noch ſchwieriger als auf Flüſſen und man iſt aus practiſchen Gründen genöthigt, eine concurrirende Gewalt leichter zuzugeſtehen oder die Nationalität der Schiffe zu berückſichtigen. Vgl. oben zu § 300.
4. Schiffsrecht.
317.
Die Schiffe werden als ſchwimmende Gebietstheile des Landes betrachtet, dem ſie nach ihrer Nationalität angehören und deſſen Flagge ſie zu führen berechtigt ſind.
Die völkerrechtliche Annahme, daß die Schiffe, welche von dem Lande her, welchem ſie angehören, auf die offene See hinausfahren, gleichſam wandernde oder ſchwimmende Theile des Territoriums ſeien, iſt ſchon ziemlich alt, und hat einen natürlichen Grund in dem fortwirkenden nationalen Zuſammenhang des Schiffs mit dem Land, der in der Flagge ſymboliſch dargeſtellt wird, in dem Schutzbedürfniß des Schiffs gegen feindliche Angriffe und in der Ausdehnung der nationalen Macht und des nationalen Verkehrs durch die Kriegs- und Handelsmarine. Daher iſt es auch ſehr wichtig, die Nationalität der Schiffe klar zu ſtellen. Die engliſchen Juriſten ſträubten ſich einige Zeit gegen die Anerkennung jenes Satzes bezüglich der Handelsſchiffe. Für Kriegsſchiffe war dieſelbe unvermeidlich, weil in dem Kriegsſchiff die beſtimmte Statsmacht handgreiflich fühlbar war.
(0208 : 186)
Viertes Buch.
Aber die Angehörigkeit der Handelsſchiffe an den Stat, deſſen Flagge ſie führen, iſt ebenſo unzweifelhaft.
318.
Wenn die Schiffe auf offener See fahren, ſo erſtreckt ſich die Gebietshoheit ihres States ungehemmt auf den Bereich der Schiffe und den Theil des Meeres, in welchem das Schiff ſich gerade befindet.
Eine bloße Folge dieſes Satzes iſt die Begründung der ſtatlichen Gerichtsbarkeit in allen Vergehensfällen, welche ſich während der Seefahrt ereignen, und die Ausſchließung einer fremden Gerichtsbarkeit. Das gilt aber nicht bloß von Vergehen, die innerhalb des Schiffes, ſondern auch von ſolchen, welche etwa von ſchwimmenden Schiffsgenoſſen um dasſelbe her verübt worden ſind.
319.
Wenn aber die Schiffe in ein fremdes Statsgebiet einfahren, indem ſie in einem fremden Seehafen Anker werfen oder einen Strom oder Fluß befahren u. dgl., ſo werden ſie der fremden Statshoheit ſo lange untergeordnet, als ſie ſich in deren Bereich aufhalten.
Die fremden Schiffe können ſich ſo wenig als fremde Reiſende der Statshoheit entziehen, in deren Herrſchaftsbereich ſie gekommen ſind. Es gibt keinen Grund, dieſe Statshoheit innerhalb ihres Gebiets zu hemmen, und fremden Schiffen Immunitätsrechte zuzugeſtehen. Die Policei des Hafenſtats erſtreckt ſich daher über alle fremde Schiffe im Hafen und die Gerichte desſelben ſind competent zur Verwaltung der Rechtspflege, auch wenn die Schiffsleute Streit unter einander haben oder ein Vergehen verüben, weil dieſelben ſich innerhalb dieſes Statsgebiets befinden.
320.
Indeſſen wirkt die Unterordnung der Schiffe und ihrer Mannſchaft unter ihre nationale Statsgewalt inſoweit fort, als entweder das Völkerrecht dieſelbe verlangt oder die Statsgewalt des Aufenthaltsorts dieſelbe gewähren läßt. Die Conſuln vermitteln jene Unterordnung unter die nationale Statshoheit.
Vgl. oben § 260. Die franzöſiſche Jurisprudenz erkennt die fremde Gerichtsbarkeit in den Fällen an, wo lediglich unter den fremden Schiffsleuten Streit iſt, ohne daß derſelbe die gemeine Ordnung und den Frieden gefährdet, und ebenſo in Disciplinarfällen der Schiffsmannſchaft. Sogar als ein Matroſe des amerikaniſchen Schiffs The Sally im Hafen von Marſeille
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
von einem Schiffsofficier verwundet wurde, weil er den Befehlen desſelben nicht folgen wollte, überließ der Statsrath (1806) die Beurtheilung dem amerikaniſchen Conſul. Phillimore I. 349. Das Gutachten des Statsraths vom 20. Novbr. 1806 ſpricht darüber folgende Grundſätze aus: Considérant qu’un vaisseau neutre ne peut être indéfiniment considéré comme lieu neutre et que la protection qui lui est accordée dans les ports français ne saurait dessaisir à la juridiction territoriale, pour tout ce qui touche aux intérêts de l’état. — Qu’ainsi, le vaisseau neutre admis dans un port de l’état est de plein droit soumis aux lois de police qui régissent le lieu où il est reçu. — Que les gens de son équipage sont également justiciables des tribunaux, du pays pour les délits qu’ils y commettraient, même à bord, envers des personnes étrangères à l’équipage, ainsi que pour les Conventions civiles qu’ils pourraient faire avec elles; — Mais, que si jusque-là, la juridiction territoriale est hors de doute, il n’eu est pas ainsi à l’égard des délits qui se commettent à bord du vaissau neutre de la part d’un homme de l’équipage; — Qu’en ce cas, les droits de la puissance neutre doivent être respectés, comme s’agissant de la discipline intérieure du vaissau, dans la quelle l’autorité locale ne doit pas s’ingérer, toutes les fois que son secours n’est pas réclamé ou que la tranquillité du port n’est pas compromise.
321.
Ausnahmsweiſe gelten als exterritorial und von der einheimiſchen Statsgewalt befreit
a) fremde Schiffe, welche ſouveräne Perſonen oder fremde Geſante an Bord haben und zu deren ausſchließlicher Verfügung ſind, (§ 150. 152),
b) fremde Kriegsſchiffe, inſofern ſie mit Erlaubniß des States in deſſen Eigengewäſſer eingelaufen ſind.
1. Die erſte Ausnahme iſt nur eine Anwendung der regelmäßigen Exterritorialität der Souveräne und Geſanten und reicht eben deßhalb nicht über die ſonſtigen Grenzen derſelben hinaus. Wenn z. B. ein Souverain oder Geſante nur ein Poſtſchiff benutzt neben andern Paſſagieren, ſo beſchränkt ſich ſeine Immunität und Exterritorialität nur auf die Räume, die er mit ſeinem Gefolge und ſeinen Effekten in Beſchlag genommen hat.
2. Die Exterritorialität der Kriegsſchiffe beruht noch weniger auf einer naturrechtlichen Nöthigung als die Exterritorialität der Souveräne, ſondern iſt ein Zugeſtändniß, welches die Seeſtaten einander wechſelſeitig und der Völkerſitte gemäß gewähren, und hat ſeinen Grund nicht bloß in der gegenſeitigen Freundlichkeit, ſondern vielmehr in der Schwierigkeit und Gefahr, die örtliche Policei- und Statsgewalt gegenüber der wohl bewaffneten fremden Schiffsmannſchaft thatſächlich gelten zu machen. Die Grundbedingung dieſes Zugeſtändniſſes iſt aber immer die, daß dem frem-
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Viertes Buch.
den Kriegsſchiff der Einlauf in das Eigengewäſſer erlaubt worden iſt, ebenſo wie die Privilegien fremder Souveräne im Inland die freiwillige Aufnahme derſelben vorausſetzen. Dieſe Befreiung von der Ortsgerichtsbarkeit und Ortspolizei bezieht ſich aber nur auf die Ordnung im Schiff und findet wieder ihre natürliche Grenze, wenn etwa von dem Schiffe aus rechts- oder ordnungswidrige Handlungen gegen die übrigen Schiffe oder die einheimiſche Bevölkerung verübt würden. In dieſem Falle iſt die Ortsbehörde vollkommen berechtigt, die zum Schutze des Hafens nöthigen Maßregeln zu ergreifen, nöthigenfalls auch das fremde Kriegsſchiff aus dem Hafen wegzuweiſen. Ebenſo wenn die Mannſchaft des Kriegsſchiffs auf dem Lande Vergehen verübt, kann dieſelbe der einheimiſchen Gerichtsgewalt unterworfen werden. Indeſſen iſt in ſolchen Fällen dem Commandanten des fremden Kriegsſchiffs ohne Verzug Anzeige zu machen und ein Einverſtändniß über die weitere Verfolgung und Beſtrafung der Schuldigen, ſei es durch die Ortsgerichte, ſei es durch die Juſtiz des fremden Kriegsſchiffs zu verſuchen. Die ſtrenge Conſequenz des Rechts ſpricht für die Anwendung der Landesgerichtsbarkeit, aber die Rückſicht auf die Völkerſitte und die freundlichen Beziehungen zu den auswärtigen Staten empfiehlt öfter eine Ausdehnung der fremden Marinegerichtsbarkeit.
322.
Schiffe, welche bloß durch den Küſtenſaum eines fremden States hindurch fahren, werden der Statshoheit des Küſtenſtates nur in ſo weit vorübergehend unterworfen, als ſie die militäriſchen und policeilichen Ordnungen beachten müſſen, welche derſelbe zum Schutz ſeines Gebietes und der Küſtenbewohner für nöthig erklärt hat.
Vgl. oben § 302. 310. Die Gerichtsbarkeit des Küſtenſtats erſtreckt ſich in der Regel nicht anders auf dieſen Küſtenſaum, als ſoweit die Handhabung der Militär- und Policeihoheit das nöthig macht. In allen übrigen Beziehungen wird das Schiff betrachtet, als wäre es auf offener See, d. h. als ein ſchwimmender Theil ſeines nationalen Stats.
323.
Die fremden Schiffe haben ſich der Hafenordnung und insbeſondere den ſeepoliceilichen Vorſchriften über Lootſen, Remorqueurs, und den geſundheitspoliceilichen Anordnungen der Hafenobrigkeit zu fügen.
Bei dieſen Verordnungen ſind jedoch die verſchiedenen ſeefahrenden Nationen nach denſelben Rechtsgrundſätzen zu behandeln.
Der erſte Satz iſt eine Folge des in § 319 ausgeſprochenen Princips. Dahin gehören die Vorſchriften über die Signale der Annäherung, über das Anlegen der Schiffe, Feſtmachen derſelben, Feuer an Bord, die La-
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
ternen, die Benutzung der Hafenanſtalten, aber auch die Verordnungen der Sanitätspolicei zur Abwehr von anſteckenden Krankheiten, je nach Umſtänden die Nöthigung zu den Contumazanſtalten.
Der zweite Satz ſchützt das allgemeine Recht des Weltverkehrs gegen den Mißbrauch der Policeigewalt zum Ausſchluß einzelner Nationen.
324.
Zunächſt iſt es das Recht eines jeden States, die Bedingungen feſtzuſetzen, unter denen er die Angehörigkeit (Nationalität) ſeiner Schiffe anerkennt, dieſelben ermächtigt, ſeine Flagge zu führen und ſie unter ſeinen Schutz nimmt.
Wie es offenbar die Sache des Statsrechts iſt, die Bedingungen feſtzuſetzen, unter denen ein Stat einzelne Perſonen und Familien in ſeine Statsgenoſſenſchaft aufnimmt, ſo fällt ebenſo in den Bereich des Statsrechts auch die Feſtſetzung der Bedingungen, unter denen ein Stat die Schiffe als ſtatsgenöſſig anerkennt. Die Flagge iſt das Symbol und Kennzeichen dieſer Angehörigkeit zu einem beſtimmten State. Indeſſen ſo einleuchtend jener Rechtsſatz iſt, ſo wird er doch noch nicht vollſtändig anerkannt.
Auch die Wahl der Flagge iſt zunächſt Sache des betreffenden Stats und nur inſofern völkerrechtlich beſchränkt, als nicht eine bereits vorhandene Flagge gewählt werden darf. Die Flagge ſoll die verſchiedenen Nationen darſtellen und unterſcheiden. Vgl. oben § 82.
325.
Auch den Binnenſtaten, nicht bloß den Küſtenſtaten ſteht das Recht zu, nationale Schiffe zu haben und eine nationale Flagge zu führen. Dagegen wird das Recht der freien Schiffahrt und der nationalen Flagge nur denjenigen Völkern zugeſtanden, welche ihrerſeits die völkerrechtlichen Pflichten anerkennen.
Wie alle Nationen an dem Welthandel Theil haben, ſo haben auch alle an der freien Weltſchiffahrt Theil. Es beſteht kein Rechtsgrund, um irgend eine Nation zu nöthigen, ſich für ihren Handel fremder Schiffe zu bedienen, ſtatt eigene dazu zu verwenden. Wenn in neueſter Zeit in der Schweiz der Vorſchlag einer nationalen Flagge gemacht wurde, ſo können keinenfalls Rechtsgründe der Annahme dieſes Vorſchlags im Wege ſtehen. Nur die Zweckmäßigkeit einer derartigen Neuerung kann in Frage kommen, und je nach politiſchen Erwägungen kann ſie verſchieden beurtheilt werden.
Dagegen wird den Schiffen barbariſcher Stämme, welche die Sicherheit
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Viertes Buch.
des Welthandels und der civiliſirten Schiffahrt gefährden, kein Recht der freien Schiffahrt zugeſtanden und werden dieſelben auch auf offener See nicht geduldet.
Zuweilen wird die Flagge nur von einzelnen Städten geübt, ſogar zum Unterſchiede von der Landesflagge, wie z. B. die Flagge von Roſtock ſich von der Mecklenburgiſchen unterſcheidet. Indeſſen iſt das eher ein Ueberreſt mittelalterlicher Zuſtände, als eine Erſcheinung des modernen Lebens und jedenfalls bedarf der beſondere Gebrauch einer ſtädtiſchen Flagge der Erlaubniß und Anerkennung des States, welchem die Stadt zugehört. Völkerrechtlich ſtehen doch nur die Staten miteinander in unmittelbarer Verbindung.
326.
Zum Beweiſe der Nationalität dienen die öffentlich beurkundeten Schiffspapiere, welche von dem Schiffscapitän nöthigenfalls vorzuweiſen ſind.
Als ſolche Schiffspapiere ſind in Uebung:
a) der Beilbrief, ein Zeugniß über den Bau und das Signalement des Schiffs. Er gibt Aufſchluß über die Herkunft (Bauart), das Baumaterial, die Größe und den Namen des Schiffs, und dient auch dazu, die Identität des Schiffs erkennbar zu machen.
b) der Seebrief oder Seepaß, eine Legitimation zur Seefahrt unter nationaler Flagge. Derſelbe iſt meiſtens auf den Namen des Schiffsführers (Capitäns) ausgeſtellt;
c) ein Eigenthumscertificat des Rheders;
d) die Muſterrolle (rolle d’équipage), Verzeichniß über die Schiffsmannſchaft und deren Nationalität.
Es können auch in Einer Urkunde die meiſten oder alle vorgenannte Zwecke zuſammen berückſichtigt werden. Das Einzelne gehört nicht der völkerrechtlichen, ſondern der ſtatsrechtlichen Beſtimmung zu. Nur die Nothwendigkeit einer authentiſchen Beurkundung der Nationalität iſt völkerrechtlich nothwendig.
327.
Nach bisheriger Uebung ſetzen auch die Seemächte ihrerſeits die Bedingungen feſt, unter welchen ſie die Nationalität fremder Schiffe innerhalb ihres Gebietes (in Seehäfen und Flüſſen) anerkennen. Es darf das aber nicht in ſo beſchränkender Weiſe geſchehen, daß dadurch der freie Schiffahrtsverkehr einer fremden Nation unmöglich gemacht oder ungebührlich erſchwert ſind.
Die gegenwärtigen Hafenordnungen gerade der großen Seemächte ſind noch nicht ganz von dem engherzigen Geiſte der frühern Ausſchließung der
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
fremden Schiffe und der Begünſtigung der eigenen Schiffe befreit. Man wollte jenen doch noch den Verkehr erſchweren, wenn gleich man denſelben nicht mehr verhindern wollte. Die engliſche zur Zeit der Republik unter Cromwell erlaſſene Navigationsacte, damals für die Entwicklung der engliſchen Marine nützlich, war ausſchließlich in dem Sonderintereſſe der engliſchen Rhederei und Schiffahrt erlaſſen. Andere Staten ahmten dieſelbe nach und ſo hinderte jeder hinwieder den andern in der freien Thätigkeit. Die neuere engliſche Navigationsacte vom 29. Juni 1849 beſeitigt einen Theil der alten Schranken, aber fordert immer noch Nationalität des Schiffscapitäns und von ¾ der Mannſchaft, wofür es keine zureichenden Rechtsgründe gibt. Es iſt nicht einzuſehen, weßhalb ein nationaler Rheder nicht auch einen Fremden als Capitän oder fremde Matroſen anſtellen dürfte, indem die Nationalität einer Fabrik oder einer Handelsfirma auch keinen Abbruch erleidet, wenn fremde Techniker, Commis und Arbeiter von derſelben beſchäftigt werden. Dieſelbe weitgehende Forderung hat die franzöſiſche Geſetzgebung. Die Vereinigten Staten von Nordamerika fordern die Nationalität von ⅔ der Mannſchaft, Rußland dagegen nur ¼, und Preußen ſieht ganz ab von dieſem Erforderniß. Schon dieſe Vergleichung zeigt, wie willkürlich dieſe Beſchränkung iſt. Am liberalſten iſt das Preußiſche Seerecht, welches nur Angehörigkeit des Capitäns und nationales Eigenthum des Schiffs fordert.
328.
Es beſteht kein völkerrechtliches Hinderniß für die einzelnen Staten, auch urſprünglich fremden Schiffen in Friedenszeiten Aufnahme in die eigene Nationalität zu gewähren oder dieſelben vorübergehend unter den Schutz der eigenen Flagge zu ſtellen. Nur darf das nicht in betrügeriſcher Abſicht geſchehen, noch zur Schädigung beſtehender Rechtsverhältniſſe damit Mißbrauch getrieben werden.
Wie der Uebergang der Perſon aus einem Statsverband in einen andern möglich iſt, ſo auch der Uebergang eines Schiffes in eine andere Nationalität. Dem State kommt das Recht zu, die Bedingungen feſtzuſetzen, unter denen er die Aufnahme eines bisher fremden Schiffes in ſeinen Verband geſtattet. Aber auch hier, wie überhaupt im Staten- und Völkerverkehr iſt die bona fides zu beachten. Würde ein Stat fremden Schiffen nur in der Abſicht vorübergehend ſeine Flagge geſtatten und dieſelben als ſeine Schiffe bezeichnen, um die Zollgeſetze des befahrenen States zu umgehen und dieſen Schiffen Zollbefreiungen zuzuwenden, an denen ſie ihrer wahren Nationalität nach keinen Antheil haben, ſo würde ſich der letztere Stat das nicht gefallen laſſen müſſen.
In früherer Zeit wurden im Mittelländiſchen Meer oft die Schiffe der norddeutſchen Seeſtädte unter den Schutz der Däniſchen Flagge geſtellt, um dieſelben gegen die Piratenſchiffe der muhammedaniſchen Küſtenſtaten zu ſichern, mit welchen Dänemark, aber nicht die Hanſeſtädte Verträge hatten. Dieſe Leihe des Schutzes
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Viertes Buch.
hat nun für Deutſchland ihr Ende gefunden. Aber für Staten mit Handelsmarine ohne Kriegsmarine können auch heute ähnliche Bedürfniſſe ſich zeigen.
329.
Der Gebrauch einer fremden Flagge ohne Erlaubniß des betreffenden Stats iſt unterſagt und wird inſofern als Vergehen beſtraft, als darin ſei es eine betrügeriſche, ſei es eine die Ehre des States gefährdende Handlung zu erkennen iſt.
Sowohl der Stat, deſſen Flagge mißbraucht wird, als der Stat, welchem gegenüber der Mißbrauch geübt wird, haben ein Recht und Intereſſe ſei es Beſtrafung zu fordern ſei es, ſoweit die Umſtände es verſtatten, ſelber die Strafgerichtsbarkeit anzuwenden. Zuweilen werden aber fremde Flaggen ohne ſtrafbare Abſicht aufgezogen, und dann iſt auch kein Grund, eine Strafe zu verhängen.
330.
Auf offener See ſollen ſich die begegnenden Schiffe in der Regel rechts ausweichen. Jedoch ſind die Dampfſchiffe vorzugsweiſe verpflichtet, den Segelſchiffen und vor dem Winde ſegelnde Schiffe den bei dem Winde liegenden auszuweichen.
Alle dieſe Regeln haben nur einen relativen Werth und wird natürlich vorausgeſetzt, daß das Ausweichen möglich ſei. Dann aber iſt es billig, daß das Schiff, deſſen Bewegung leichter zu leiten und größer iſt, auch vorzugsweiſe ausweiche. Die engliſche Schiffahrsacte von 1854 (17. u. 18. Vict. c. 104) enthält darüber in § 296 die Regel: „the helms of both ships shall be put to port so as to pass on the portside of each other“.
331.
In engem Fahrwaſſer ſollen die Dampfſchiffe, ſoweit es ſicher und thunlich iſt, die Seite des Fahrwaſſers oder diejenige Mitte des Fahrwegs halten, welche auf der Steuerbordſeite liegt.
Engl. Schiffahrsacte von 1854 § 296.
332.
Bei Nachtzeit, d. h. in der Zeit zwiſchen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang, ſollen die Segelſchiffe auf der Fahrt und wenn ſie an Stellen ankern, wo eine Begegnung mit andern Schiffen ſtattfinden kann,
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
ein helles weißes Licht aufſtecken, Dampfſchiffe aber außer dem hellen weißen Licht auf dem Fockmaſt ein grünes Licht auf der Steuerbordſeite und ein rothes Licht auf der Backbordſeite haben.
Das weiße Licht an der Maſtſpitze ſoll in dunkler Nacht und bei klarer Luft wenigſtens auf 5 Seemeilen hin ſichtbar ſein.
Auch hier hat eine Verordnung der Brittiſchen Admiralität Grundſätze ausgeſprochen, welche im Verfolg von den andern Seeſtaten gutgeheißen und von der Uebung angenommen worden ſind. Es dient die Beachtung derſelben wieder zur Vermeidung eines gefährlichen Zuſammenſtoßes der Schiffe. Nach engliſchem Recht kann der Eigenthümer eines durch den Zuſammenſtoß verletzten oder in den Grund gebohrten Schiffs dann auf Schadloshaltung mit Erfolg gegen den Vertreter des andern Schiffs klagen, wenn das zweite Schiff jene Vorſchriften mißachtet und den Zuſammenſtoß verſchuldet hat und zugleich die Mannſchaft des erſten Schiffs den nöthigen Fleiß vergeblich aufgewendet hat, um der Gefahr zu entgehn. Vgl. Abbott (Lord Tenterden.) Treatise of the law relative to Merchant Ships and Seamen. Ed. 10 bei W. Shee. London 1856. Ueber das deutſche Recht vgl. das deutſche Handelsgeſetzbuch Art. 736 ff.
333.
Niemals darf einem in Seegefahr befindlichen Schiffe und deſſen Mannſchaft der Weg zur Rettung nach dem Lande verſchloſſen noch die Benutzung der zur Rettung vorhandenen öffentlichen Anſtalten verſagt werden.
Heffter, Völkerrecht § 79. 1. Es iſt das ein Gebot der Menſchlichkeit, welches die civiliſirten Staten als verpflichtend in neuerer Zeit wechſelſeitig anerkennen und deſſen Mißachtung zu gegründeten Reclamationen berechtigt. Auch den barbariſchen Stämmen gegenüber, welche dieſe Menſchenpflicht verletzen, ſind die civiliſirten Staten berechtigt, dieſe Forderung mit Zwang durchzuſetzen. Ausführliche Beſtimmungen über dieſe Pflicht enthält das engliſche Schiffahrtsgeſetz von 1854 § 439 f.
334.
Niemand darf ſich an den Perſonen oder an den Gütern der Schiffbrüchigen vergreifen. Das ſogenannte Strandrecht wird als ein barbariſcher und völkerrechtswidriger Mißbrauch nicht mehr geduldet.
Im Mittelalter noch waren die Schiffbrüchigen und ihre Güter der Gefahr ausgeſetzt, von den Küſtenbewohnern als Beute behandelt zu werden. Die Perſonen wurden oft zu Sclaven gemacht oder ihnen ein Löſegeld aufgezwungen, die Güter
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Viertes Buch.
wurden weggenommen. Man ſuchte dieſes Raubrecht damit zu vertheidigen, daß die hülfloſen Fremden Feinde und als ſolche rechtlos und ihre Güter herrenlos geworden ſeien. Die humanere Rechtsbildung der neuen Zeit verwirft dieſe Barbarei und achtet auch in dem Fremden ſowohl das Recht der Perſon als das Eigenthum.
335.
Die Schiffstrümmer (Wrack) und die geſtrandeten Waaren ſind kein Gegenſtand der freien Occupation, außer wenn die Eigenthümer in unzweideutiger Weiſe auf ihr Eigenthum verzichtet haben. Sie können von den Eigenthümern jederzeit ſo lange angeſprochen werden, als nicht die Eigenthumsklage verjährt iſt.
Dasſelbe Recht ſteht auch den Perſonen zu, welche auf dieſe Güter verſichert ſind. Das engliſche Schiffahrtsgeſetz von 1854 § 477 verpflichtet die ganze Ufergemeinde für den Schaden einzuſtehn, welcher von den Uferbewohnern an dem Wrackgute verübt worden iſt, und bedroht überdem alle, welche ſich an dieſer unerlaubten Wegnahme betheiligt haben, auch wenn kein anderes Vergehen darin liegt, mit einer Geldbuße.
336.
Dagegen iſt ein mäßiger Anſpruch auf Rettungs- und Bergelohn von Seite der rettenden und bergenden Uferbewohner wohl begründet.
Der eigentliche Bergelohn (Salvage) ſetzt einen Schiffbruch oder doch das Verlaſſen des Schiffs in Seenoth durch die Schiffsmannſchaft voraus. In andern, beziehungsweiſe mindern Fällen, in denen der Schiffsmannſchaft nur dritte Perſonen zu Hülfe kommen, iſt nur von Hülfslohn die Rede. Vgl. über dieſen Unterſchied das deutſche Handelsgeſetzbuch Art. 742. Der Ausdruck Rettungslohn bezieht ſich vorzüglich auf die Rettung von Menſchenleben. In allen dieſen Fällen ſind die Perſonen, welche gewöhnlich mit eigener Gefahr und ſchwerer Arbeit hülfreiche Dienſte leiſten, berechtigt, einen Lohn zu fordern. Aber es darf dieſe Forderung nicht ſo weit geſpannt werden, daß dieſelbe in der Praxis wieder zu einem verdeckten Raubrecht wird. Es darf nicht auf das Unglück und die Noth der Seefahrer ſpeculirt, ſondern nur Erſatz für nützliche Dienſte verlangt werden. Das deutſche Handelsgeſetzbuch ſetzt für Bergelohn als äußerſtes Maß den dritten Theil des Werthes der geborgenen Güter feſt, welches nur in einzelnen Ausnahmen bis auf die Hälfte des Werthes erhöht werden darf, Art. 748. 749. Im Einzelnen entſcheidet, wenn über das richtige Maß Streit entſteht, das richterliche Ermeſſen mit billiger Erwägung aller Umſtände. Ebenda 744. Von einem Rettungslohn für Menſchen iſt in dem Geſetz nicht die Rede. Indeſſen, wenn auch das Leben ein unſchätzbares Gut iſt, ſo iſt doch die Arbeit für Erhaltung des Lebens wohl zu ſchätzen und es iſt zweckmäßiger, im Intereſſe der Lebensrettung, von Rechts wegen
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
für dieſen Lohn zu ſorgen, der aus dem geretteten Gut zu bezahlen iſt, als Alles von dem guten Willen der Betheiligten abhängig zu machen. Die Beſtimmungen der engliſchen Schiffahrtsacte von 1854 finden ſich Art. 458 f. Vgl. v. Kaltenborn, Seerecht II. § 147. 148.
337.
Die Uferſtaten ſind völkerrechtlich verpflichtet, nicht bloß die zur Rettung in Seenoth befindlicher Schiffe vorhandenen öffentlichen Anſtalten auch im Dienſte der gefährdeten fremden Schiffe, ohne Unterſchied der Nationalität oder Religion zu verwenden und die ſchiffbrüchigen Perſonen und Güter möglichſt zu ſchützen und zu bewahren.
In England werden die Beamten, welche den Auftrag haben, die zur Rettung und zum Schutze der gefährdeten Schiffe und ihrer Bemannung nöthigen Maßregeln anzuordnen, receivers genannt. Sie ſind berechtigt, die allgemeine Beihülfe der Küſtenbewohner und der in der Nähe befindlichen Boote aufzurufen. Schiffahrtsacte von 1854 § 439 f.
338.
Jeder Stat iſt berechtigt, für die Ausgaben, welche er zur Rettung und zum Unterhalt des Lebens fremder Schiffbrüchiger gemacht hat, nöthigenfalls von deren Heimatsſtate Erſatz zu fordern, wenn dieſelben nicht in der Lage ſind, dieſe Koſten ſelber ohne Verzug zu erſetzen. Vorbehalten bleibt dem Heimatsſtate der Regreß auf die betheiligten Privatperſonen. Die allgemeinen Anſtalten dagegen für Rettung Schiffbrüchiger, welche der Stat getroffen hat, fallen auf ſeine Koſten, und es iſt dafür der andere Stat nicht zum Erſatze verbunden.
Dieſe Erſatzforderung des States an den Stat hat ihren Grund in der ſubſidiären Pflicht des States, das Leben ſeiner Angehörigen im Nothfall zu ſchützen, einer Pflicht, welche freilich noch immer nicht in dem Umfang anerkannt iſt, wie ſie es verdiente. Indem der eine Stat für die Fremden in ihrer Noth ſorgt, leiſtet er daher auch dem Heimatsſtate derſelben einen Dienſt und leiſtet das, was dieſer nach natürlichem Recht in der Noth ſeiner Angehörigen für dieſelben zu leiſten hätte. Wird dieſes Recht anerkannt, ſo wird eher und beſſer für Hülfe geſorgt, und zugleich das richtige Verhältniß der Küſtenländer gegenüber den Binnenländern gewahrt. Natürlich iſt der Küſtenſtat nicht genöthigt, jene Forderung geltend zu machen und es ſprechen auch manche Gründe der Zweckmäßigkeit, freilich nur unter der Vorausſetzung einer hohen Civiliſationsſtufe dafür, daß ein Küſtenſtat alle dieſe im Intereſſe der Humanität auch für Fremde gemachten Verwendungen auf ſeine
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Viertes Buch.
eigenen Koſten übernimmt. Wird dieſe Sorge wechſelſeitig von den Uferſtaten geübt, ſo liegt darin im Großen auch wieder die Ausgleichung der Koſten. Jedenfalls aber gehören die Rettungsanſtalten zu den policeilichen Einrichtungen eines States, welche zunächſt dem eigenen Statszweck dienen und ſind daher nicht in Anrechnung zu bringen.
339.
Keinem State kommt im Zuſtande des Friedens eine öffentliche Gewalt über fremde Schiffe auf offener See zu. Die Flagge deckt das Schiff.
Es iſt das die Conſequenz der beiden Sätze a) daß das offene Meer von jeder beſondern Statsgewalt frei iſt und b) daß die Schiffe ſchwimmende Theile ihres nationalen Statsgebiets ſind. Auf jedem Schiff dauert alſo das einheimiſche Recht und die einheimiſche Statsgewalt fort, wenn es auf offener See iſt und von jedem Schiff iſt alſo fremde Statsgewalt ausgeſchloſſen.
340.
Dagegen iſt jeder Stat verpflichtet, für Beſchädigungen oder Beleidigungen, welche durch die Mannſchaft ſeiner Schiffe gegen fremde Schiffe oder deren Mannſchaft auf offener See verübt werden, den Klägern gutes Recht zu halten. Auch auf offener See iſt die friedliche Rechtsordnung wechſelſeitig zu achten und die gewaltſame Selbſthülfe nur in Nothfällen geſtattet.
Die Statenloſigkeit des Meeres bedeutet nicht Rechtloſigkeit, ſondern im Gegentheil friedliche Rechtsgemeinſchaft aller Nationen. Als Nothfälle, welche die Selbſthülfe im Gegenſatze zu der regelmäßigen Gerichtshülfe rechtfertigen, gelten a) alle Fälle der Nothwehr (vgl. unten § 348) gegen böswilligen Angriff, b) die Fälle, in denen zur eigenen Rettung gegen die Gefährdung von Seite eines andern Schiffes, auch wenn dieſelbe nicht beabſichtigt und nicht als Vergehen zu betrachten iſt, durchgreifende Maßregeln nothwendig erſcheinen, c) die Fälle der vorherigen Rechtsverweigerung von Seite des fremden Stats.
341.
In Friedenszeiten iſt kein Stat berechtigt, fremde Schiffe in ihrer Fahrt auf offener See aufzuhalten, noch ſie durch ſeine Officiere zu beſuchen und Vorzeigung ihrer Papiere zu fordern oder gar ihre Schiffsräume durchſuchen zu laſſen.
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
Da kein Stat eine Policeigewalt über fremde Schiffe auf offener See hat, ſo darf er auch keine Handlungen vornehmen, welche ſich nur aus einem Rechte der Policeiaufſicht erklären und begründen ließen. Die fremden Schiffe ſind durchaus nicht ſchuldig, anzuhalten, ſondern berechtigt, ohne Rückſicht auf die Zumuthungen eines andern Schiffs ihre Reiſe fortzuſetzen. Zuweilen haben wohl ſeemächtige Staten weiter gehende Anſprüche gemacht und gelegentlich eine Art von Seepolicei auch über fremde Schiffe üben wollen. Aber es wird das heute nicht mehr zugeſtanden und dieſe Anmaßung iſt wenigſtens thatſächlich ſelbſt von England aufgegeben.
342.
Wenn jedoch die Mannſchaft eines fremden Schiffes in den Eigengewäſſern eines States oder auf dem Lande ein Vergehen verübt hat und deßhalb von der einheimiſchen Strafgerichtsbarkeit verfolgt wird, ſo darf die Verfolgung gegen das fliehende Schiff über die Eigengewäſſer hinaus in die offene See fortgeſetzt werden.
Iſt aber einmal das Schiff dieſer Verfolgung entgangen, ſo darf es ſpäter nicht mehr auf offener See von den Schiffen des verletzten States angegriffen werden.
Die Verfolgung auf die offene See hinein gilt dann nur als Fortſetzung der in den Eigengewäſſern begonnenen Verfolgung und die Rechtfertigung dieſer wird auf jene ausgedehnt. Dieſe Ausdehnung iſt aber nöthig, um die Wirkſamkeit des Strafrechts zu ſichern. Dieſelbe findet ihre nothwendige Grenze, wenn die Verfolgung abgebrochen werden muß.
343.
Die Piratenſchiffe werden wegen ihrer Gemeingefährlichkeit nicht geduldet. Sie haben keinen Anſpruch auf den Schutz der Flagge und können jeder Zeit auch auf offener See angegriffen und weggenommen werden.
Als Piraten-, Räuber-, Seeräuberſchiffe werden die Schiffe betrachtet, welche ohne Ermächtigung eines kriegführenden States auf Beute fahren, ſei es auf Menſchenraub, ſei es auf Raub von Gütern (Schiffen oder Waaren) oder auch auf böswillige Zerſtörung von fremden Gütern ausgehen.
Schon Cicero erklärt den „pirata“ einen „communis hostis omnium“ (de offic. I. 3, 29). Die Seeräuber gelten als Feinde des Menſchengeſchlechts und ihre Unterdrückung wird als ein Recht und eine Pflicht aller
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Viertes Buch.
civiliſirten Staten betrachtet. Deßhalb wird auch gegen Seeräuber das Recht der freien Schiffahrt und der beſondern Nationalität nicht gewahrt. Das Intereſſe der allgemeinen Verkehrsſicherheit rechtfertigt die Beſchränkung der allgemeinen Schiffahrtsfreiheit. Die Seeräuber, welche jene fortwährend als Feinde bedrohen, dürfen ſich nicht auf dieſe berufen.
In den meiſten Erklärungen des Begriffs wird die gewinnſüchtige Abſicht der Seeräuber, der animus furandi, als Hauptmerkmal hervorgehoben. Die meiſten Fälle des Seeraubes haben auch unzweifelhaft dieſen Charakter. Aber wenn ein Schiff in der Abſicht ausfährt, fremde Schiffe, vielleicht einer verhaßten Nation zu zerſtören und ihre Güter zu verſenken oder an dem Ufer Verheerungen anzurichten, die Häuſer in Brand zu ſtecken, und das Alles nicht aus Gewinnſucht, ſondern aus Haß oder Rache, ſo wird auch ein ſolches Schiff als Piratenſchiff zu betrachten ſein, weil die Gemeingefährlichkeit dieſelbe und das Verbrecheriſche ſolcher Unternehmungen ebenſo offenbar iſt. Der Richter Jenkins erklärte folgende 3 Merkmale für nöthig zum Begriff des Seeraubs: a) gewaltſamer Angriff, b) Wegnahme fremden Guts, c) Erregung von Furcht des Veraubten. Phillimore I. § 335. Dem zweiten Merkmal fügen Andere mit Recht zu oder Mord oder Menſchenraub. Daß das dritte nothwendig ſei, darf billig verneint werden, denn die Seelenſtimmung des Verletzten iſt für das Verbrechen ohne Bedeutung. Auch wenn die Angegriffenen ſich nicht fürchten und den Kampf mit den Seeräubern ſiegreich durchfechten, ſind dieſe dennoch als Seeräuber zu beſtrafen.
344.
Wenn ein ernſter Verdacht beſteht, daß ein Schiff ein Räuberſchiff ſei, ſo iſt jedes Kriegsſchiff eines jeden Stats als ermächtigt zu betrachten, dasſelbe anzuhalten und zu unterſuchen, ob jener Verdacht begründet ſei.
Wenn einige Schriftſteller auch in dieſem Falle den Kriegsſchiffen das Recht abſprechen, Seepolicei zu üben und ein verdächtiges Piratenſchiff anzuhalten, ſo verkennen ſie das dringende Bedürfniß aller Nationen, von der Seeräuberei befreit zu werden. Würde die ſonſtige Regel, daß kein Stat auf offener See über fremde Schiffe eine Macht üben dürfe, abſolut feſtgehalten, ſo wäre damit die Verfolgung der Seeräuber in den meiſten Fällen unmöglich gemacht. Jene Regel aber wird anerkannt im Intereſſe der Sicherheit und Freiheit der friedlichen Seefahrer. In demſelben Intereſſe wird derſelben die ergänzende Ausnahme hinzugefügt, daß alle Staten gleichmäßig berechtigt ſind, die Raubſchiffe als Feinde zu verfolgen. Zu dieſem Behuf müſſen ſie dieſelben auch ihrerſeits angreifen können, wenn ſie ſich zeigen.
345.
Ergibt ſich bei der Prüfung, daß der Verdacht unbegründet ſei, ſo
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
iſt das angehaltene Schiff berechtigt, Genugthuung und je nach Umſtänden Schadenserſatz zu fordern.
Es iſt das die Garantie gegen Mißbrauch jenes Verfolgungsrechts zum Nachtheil der rechtmäßigen Schiffahrt.
346.
Erſcheint der Verdacht begründet, ſo wird das Räuberſchiff als Priſe genommen. Dasſelbe kann in jeden Hafen eines civiliſirten States, nicht nothwendig des Nehmeſtates, gebracht und daſelbſt die Mannſchaft vor Gericht geſtellt und beſtraft werden. Das betreffende Priſengericht entſcheidet auch über Schiff und Gut.
Dem Recht der Verfolgung, woran alle civiliſirten Staten gleichmäßig Theil haben, entſpricht das Recht der Beſtrafung, worin wieder alle Staten concurriren. Aber das gilt nur von der völkerrechtlich anerkannten Seeräuberei und iſt keineswegs auf die Fälle auszudehnen, welche nur nach beſonderem Landesgeſetz als Piraterie behandelt werden. Für ſolche Fälle gelten die gewöhnlichen Grundſätze der Gerichtsbarkeit. Vgl. Wheaton, Intern. Law. édit. 8. by H Dana. Boſton 1866. § 124.
347.
Inſoweit keine andern Eigenthumsrechte als der Räuber ſelbſt in Betracht kommen, wird das genommene Räuberſchiff ſammt der Bewaffnung und Ladung als gute Seebeute dem State zugeſprochen, deſſen Schiff das Räuberſchiff genommen hat. Es hängt von dieſem State ab, die Mannſchaft des Kriegsſchiffes dafür zu belohnen.
Es iſt das eine analoge Anwendung des Kriegsrechts auf Seebeute, welche wieder damit erklärt wird, daß die Seeräuber Feinde aller Staten ſind.
348.
Wird ein Privatſchiff von einem Seeräuberſchiff angegriffen, aber dieſes von jenem überwunden und iſt der Sieger außer Stande, die gefangenen Räuber ſicher zu verwahren und nach einem geeigneten Seehafen, der in ſeiner Richtung liegt, abzuliefern, ſo iſt derſelbe berechtigt, ſtandrechtlich über die Räuber zu richten und ein Todesurtheil ſofort zu vollziehen. Es iſt jedoch in ſolchen Fällen ein ſorgfältiges Protokoll über die Zuſammenſetzung und
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Viertes Buch.
die Verhandlung des Gerichts, die Ausſagen der Zeugen und die Vertheidigung der Angeklagten aufzunehmen.
Die Vertheidigung der Handelsſchiffe gegen die Seeräuber iſt, wenn irgend eine Ausſicht auf Erfolg vorhanden iſt, nicht bloß ein Recht, ſondern eine Pflicht der Mannſchaft. (Vgl. Kaltenborn, Seerecht I. S. 181.) Es iſt das ein Fall berechtigter Selbſthülfe (oben § 243), in welchem die Gewalt des Capitäns ſich bis zur Gerichtsgewalt ſteigert. „Es geht den Räubern an die Raa“, iſt die alte Seemannsdrohung. Aber wenn hier der Selbſthülfe eine ſo eingreifende Wirkſamkeit verſtattet wird, ſo iſt es auch eine Rechtspflicht derer, welche ſie üben, den Ausnahmefall genau und ſorgfältig zu conſtatiren, und zugleich eine Garantie gegen den möglichen Mißbrauch jenes Nothrechts zu ungerechter Gewaltthat.
349.
Da kein Stat im Frieden berechtigt iſt, Seebeute zu machen, ſo darf auch kein Stat im Frieden Schiffe ermächtigen, auf Beute auszufahren. Geſchieht es dennoch, ſo macht ſich der Stat der Piraterie ſchuldig. Alle civiliſirten Staten ſind in dieſem Falle berechtigt, den Piratenſtat als einen gemeinſamen Feind zu bekämpfen, und denſelben zu zwingen, daß er für den verübten Schaden Erſatz leiſte, Genugthuung und Garantien für künftige Beachtung des Völkerrechts gebe.
1. Während langer Zeit erniedrigten ſich die europäiſchen Staten dazu, an die Piratenſtaten der nordafrikaniſchen Seeküſte Tribut zu bezahlen, um dadurch für ihre Handelsſchiffe Sicherheit gegen den Seeraub zu erkaufen. Erſt in unſerer Zeit iſt endlich das Mittelländiſche Meer von dieſer Gefahr befreit und hat die unwürdige Duldung von Piratenſtaten nun aufgehört.
2. Auch in dieſen Fällen ſind die Kriegsſchiffe aller Staten veranlaßt und ermächtigt, ſolche Piratenſchiffe auf offener See anzugreiſen und wegzunehmen. Die Mannſchaft derſelben kann aber in dieſem Falle, weil ſie die Erlaubniß ihres States für ſich hat, nicht wegen Piraterie gerichtet werden, ſondern iſt in der Regel als kriegsgefangen zu behandeln. So wurde von dem engliſchen Admiralitätsgerichtshof (Richter Sir Jenkins) im Jahr 1668 entſchieden, als Algieriſche Piraten an der Iriſchen Küſte gefangen wurden. Phillimore I. 355. Wildman I. S. 202.
3. In dem großen amerikaniſchen Bürgerkriege erklärte der Präſident Lincoln (19. April 1861) alle ſüdſtatliche Kaperſchiffe als Piratenſchiffe und bedrohte dieſelben mit der Strafe der Seeräuber. Indeſſen erklärte ſich das engliſche Oberhaus gegen dieſe Ausdehnung des Begriffs als nicht im Völkerrecht begründet; und thatſächlich wurden auch in den Nordſtaten gefangene Seeleute ſolcher Kaperſchiffe als Kriegsgefangene behandelt. Wheaton Intern. Law. § 125. Anm.
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
350.
Wenn von Schiffsleuten eines nationalen Schiffes, d. h. eines Schiffes, welches ſich nicht dem Verbande mit einem geordneten State entzogen hat, auf offener See Raub oder Mord oder andere Verbrechen verübt werden, ſo iſt die völkerrechtliche Gerichtsbarkeit über Seeräuber nicht begründet, ſondern nur die ſtatsrechtliche des States, welchem das Schiff zugehört.
Anders iſt es, wenn die aufrühreriſche Schiffsmannſchaft eines unter nationaler Flagge fahrenden Schiffs nun ſich von der Statsordnung losgeſagt, und eigenwillig Räuberei betreibt. Dadurch wird das Schiff zum Piratenſchiff. Ueber einen Fall der Art aus den Chileſiſchen Gewäſſern berichtet Phillimore I. 357. Wenn gleich die von einem engliſchen Kriegsſchiff gefangene Mannſchaft an die Gerichte von Chili zur Beſtrafung überliefert wurde, ſo erachtete ſich doch der engliſche Admiralitätshof ebenfalls für zuſtändig. Dagegen gilt für alle andern Verbrechen, die nicht völkerrechtlich als Seeräuberei betrachtet werden, die ordentliche Gerichtsbarkeit.
351.
Das freie Meer darf nicht zur Zufuhr von Sclaven über See mißbraucht werden.
Die Schiffe, welche gegen das völkerrechtliche Verbot Sclaven führen, unterliegen aber zunächſt der Gerichtsbarkeit des States, welchem ſie angehören.
Das heutige Völkerrecht verwirft die Inſtitutionen der Sclaverei als einen Widerſpruch des natürlichen Menſchenrechts. Vgl. darüber Buch V. Abſchnitt 1. Früher galt der Handel insbeſondere mit farbigen Sclaven als erlaubt, und noch in dem Frieden von Utrecht von 1713 ließ ſich England von Spanien ausdrücklich das Recht zuſichern, eine beſtimmte Anzahl Negerſclaven alljährlich in die Spaniſchen Colonien einzuführen. Seither hat das moderne Rechtsgefühl dieſen Handel als ein Verbrechen gegen die Menſchlichkeit gebrandmarkt. Auf dem Wiener Congreß erklärten am 8. Febr. 1815 im Anſchluß an den Zuſatz des Pariſerfriedens zwiſchen England und Frankreich vom 30. Mai 1814 die verſammelten Mächte ihr Verlangen „de mettre un terme au fléau qui avait si longtemps désolé l’Afrique, dégradé l’Europe et affligé l’humanité“ und verſprachen einander beizuſtehen in der möglichſt baldigen „abolition universelle de la traite des nègres“ (Wheaton histoire I. 183). Auf den Congreſſen von Aachen 1818 und Verona 1822 wurde die Abſchaffung des Negerhandels neuerdings im Princip ausgeſprochen. Vor allen andern Staten war England bemüht, dieſen ſchändlichen Seehandel zu unterdrücken und ſchloß mit einer großen Anzahl von Staten darüber beſondere Verträge ab. Das Verzeichniß dieſer Verträge gibt Phillimore I. § 307. Von größter Bedeutung waren insbeſon-
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Viertes Buch.
dere die Verträge mit Frankreich (Verträge von 1831. 1833. 1845), mit Spapien (1817. 1822. 1835), mit Portugal (1826), mit den europäiſchen Nordund Oſtmächten Oeſterreich, Preußen und Rußland (1845), mit den Vereinigten Staten von Nordamerika (1842).
In vielen Verträgen und Geſetzen wird dieſer verbotene Handel der Seeräuberei gleichgeſtellt und werden die Sclavenſchiffe wie Piratenſchiffe bedroht. Indeſſen iſt dieſe Gleichſtellung durchaus nicht ſelbſtverſtändlich und es läßt ſich der völkerrechtliche Begriff der Piraterie nicht ohne weiters auf ganz andere Handlungen übertragen. Die Piraterie gefährdet die Sicherheit des geſammten Seeverkehrs, der Sclavenhandel bedroht den Seeverkehr gar nicht, ſondern bedroht nur das Menſchenrecht in ſeiner eigenen Ladung. Die Piratenſchiffe erkennen keine geordnete Statsgewalt über ſich an, die Sclavenſchiffe fahren unter nationaler Flagge. Die Unterdrückung des Sclavenhandels hat daher auch nicht denſelben nationalen Charakter wie die Verfolgung der Seeräuber. Deßhalb beſteht auch keine allgemeine Concurrenz aller Staten in der Gerichtsbarkeit über das weggenommene Sclavenſchiff, ſondern iſt zunächſt die nationale Gerichtsbarkeit begründet.
352.
Soweit durch Statenverträge ein Beſuchs- oder Durchſuchungsrecht gegen die eigenen Schiffe fremden Kriegsſchiffen zu dem Behuf geſtattet worden iſt, um verdächtige Sclavenſchiffe anzuhalten und je nach Umſtänden zur Verantwortung zu ziehen, iſt dieſelbe auszuüben.
Aber es verſteht ſich ein ſolches Recht nicht von ſelbſt, auch nicht gegen Schiffe eines Stats, welcher die Zufuhr von Negerſclaven mit den Strafen gegen Seeraub bedroht.
Die Schwierigkeit, das Verbot des Sclavenhandels auf offener See durchzuführen, ohne zugleich die völkerrechtliche Selbſtändigkeit der Flagge und die freie Schiffahrt zu gefährden, iſt bei den diplomatiſchen Verhandlungen ſehr entſcheidend hervorgetreten. Als eine engliſche Parlamentsacte vom Jahr 1839 die engliſchen Kreuzer ermächtigte, auf verdächtige Portugieſiſche Sclavenſchiffe zu fahnden, wurde dieſelbe vielſeitig als eine völkerrechtswidrige Anmaßung Englands getadelt. Durch den Vertrag Englands mit Portugal von 1842 wurde ein wechſelſeitiges Unterſuchungsrecht (right of search) zugeſtanden. In dem Vertrag der fünf europäiſchen Großmächte von 1841 war erklärt, daß die Sclavenſchiffe „den Schutz der Flagge“ einbüßen und daß die Mächte ihren bevollmächtigten Kreuzern das Recht wechſelſeitig zugeſtehn, jedes Schiff, das einer der betreffenden Nationen angehört, aus verſtändigen Verdachtsgründen zu unterſuchen. Indeſſen ſoll dieſes Recht, „droit de visite“ genannt, nicht im Mittelländiſchen Meer und nur bis zum 32° nördlicher und zum 45. Grad ſüdlicher Breite in dem atlantiſchen Meere geübt werden. Indeſſen wurde dieſer Vertrag von dem franzö-
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
ſiſchen Könige nicht ratificirt, eben weil gegen dieſes Unterſuchungsrecht ſich ernſte Bedenken erhoben. Die Diplomatie fing nun an, genauer zwiſchen einem Beſuchsrecht, droit de visite, im engern Sinn und einem Durchſuchsrecht, droit de perquisition, zu unterſcheiden. Endlich kam im Jahr 1845 ein Vertrag zwiſchen England und Frankreich zu Stande, in welchem zwar das alte Droit de visite (im weitern Sinn) aufgegeben, aber doch in Art. 7 beſtimmt wurde, daß die beiderſeitigen Kreuzer an der afrikaniſchen Küſte ermächtigt ſeien, die wirkliche Nationalität der Schiffe zu prüfen, welche unter engliſcher oder franzöſiſcher Flagge fahren, und vielleicht nur unter dieſer Flagge ihren Sclavenhandel oder andere Verbrechen zu verbergen ſuchen. Zu dieſem Behuf muß aber natürlich das fremde Schiff doch beſucht und ſeine Papiere müſſen eingeſehen werden. Ergibt ſich dabei, daß das Schiff wirklich einer Nation zugehört, deren Regierung das Unterſuchungsrecht nicht anerkennt, ſo muß dasſelbe ohne Verzug verlaſſen und jedenfalls über das ganze Verfahren genaues Protokoll geführt werden. Die Inſtructionen der beiden Staten an ihre Kreuzer ſind genau und werden wechſelſeitig mitgetheilt. Die lebhafteſte Einſprache machten die Vereinigten Staten von Nordamerika gegen das Durchſuchungsrecht, indem ſie die Gefahr für die freie Schiffahrt lebhaft betonten, welche eine derartige Seepolicei vorzüglich Englands zur Folge haben würde. Der Präſident Webſter behauptete, daß das Droit de visite und das rhigt of search bisher immer als dasſelbe Recht betrachtet und nur als Kriegsrecht, nicht im Frieden anerkannt worden ſei. Die Vereinigten Staten erklärten daher, ein derartiges Recht keiner Seemacht zuzugeſtehen. Dagegen verſtanden ſich die Vereinigten Staten dazu, an der afrikaniſchen Küſte gemeinſam mit England Kreuzer zu halten, um den Sclavenhandel möglichſt zu verhindern. Man ſieht, der Widerſpruch der Vereinigten Staten war von Einfluß auch auf das Verhalten von Frankreich. Auch mit Braſilien gerieth England über dieſe Seepolicei im Jahr 1845 in Streit. Seither hat ſich die Gefahr einer ungebührlichen Seeherrſchaft Englands erheblich vermindert, indem auch andere Staten eine anſehnliche Kriegsmarine inzwiſchen geſchaffen haben und England die Freiheit des Meers im Princip und in deſſen Conſequenzen umfaſſender als früher anerkennt. Mir ſcheint, daß ein wechſelſeitiges Beſuchsrecht gegenüber von Schiffen, welche verdächtig ſind, eine falſche Flagge zu führen und zugleich als Sclavenſchiffe benutzt zu werden, wenn dieſes Recht in wohlgeordneten Formen und mit den nöthigen Garantien gegen Mißbrauch ausgeübt wird, gefahrlos für den redlichen Schiffahrtsverkehr und dennoch ein nothwendiges Mittel ſei, das Verbot der Negerzufuhr wirkſam zu machen. Das andere Mittel, eigene Kreuzer zu halten, welche fortwährend eine Küſte beaufſichtigen, iſt zu koſtbar und in der Praxis ohne Anhalten der verdächtigen Schiffe doch nicht durchzuführen. Der Beſuch des vermeintlichen Sclavenſchiffs hat ſich jedoch fürs erſte auf die Prüfung der Nationalität des Schiffs zu beſchränken und darf nur, wenn weitere Verdachtsgründe ſich ergeben, zu einer Durchſuchung führen.
(0226 : 204)
Viertes Buch.
4. Von den Statsdienſtbarkeiten.
353.
Wenn die Gebietshoheit eines States zu Gunſten eines andern States — oder ausnahmsweiſe auch zu Gunſten einer unter völkerrechtlichem Schutze ſtehenden Körperſchaft oder Familie — vertragsmäßig und dauernd beſchränkt wird, ſo wird dieſe Beſchränkung Statsdienſtbarkeit genannt.
Wir nennen diejenigen Beſchränkungen der Gebietshoheit, welche aus dem völkerrechtlichen Zuſammenhang der Staten und aus der allgemeinen Natur der Verhältniſſe mit Rechtsnothwendigkeit ſich ergeben, wie die Pflicht zum Geſantenverkehr und Fremdenſchutz, die Gewährung der freien Schiffahrt auf den großen Strömen und am Küſtenſaum u. dgl. nicht Dienſtbarkeiten, weil ſie zu der regelmäßigen Rechtsordnung gehören, weil hier die Statshoheit ſelbſt als ein dadurch nothwendig beſchränktes Recht erſcheint. Die eigentlichen Statsdienſtbarkeiten verſtehn ſich nicht von ſelber, ſondern bedürfen einer beſondern Begründung im einzelnen Fall. Sie ſind ein jus singulare, für welches keine Vermuthung ſpricht.
Die Analogie der privatrechtlichen Grundſätze über die ſogenannten Prädialſervituten darf nur mit Vorſicht angewendet werden, weil es ſich hier nicht um Verhältniſſe handelt, welche der Wilkür von Privatperſonen anheimfallen, ſondern um Zuſtände, bei welchen das Wohl der Völker betheiligt iſt. Die Sicherheit und Unabhängigkeit der Staten iſt doch ein ganz anderes Ding als das Grundeigenthum und daher eine Beſchränkung derſelben von ganz anderer Wirkung als eine Privatſervitut.
354.
Der Begründung einer Statsdienſtbarkeit durch Vertrag ſteht die Berufung auf unvordenklichen Beſitz gleich, inſofern aus der fortdauernden Ausübung ſolcher Beſchränkung ohne Widerſpruch des beſchränkten States auf die Anerkennung der Dienſtbarkeit durch dieſen geſchloſſen werden kann.
Es iſt unmöglich, die herkömmlichen Statsdienſtbarkeiten zu ignoriren, aber man darf doch nicht leichthin derartige Beſchränkungen als urſprünglich gewillkürte annehmen. Vielmehr bedarf es eines ſtrengen Beweiſes dafür, daß nicht etwa der beſchränkte Stat bloß gutwillig und aus Freundlichkeit für den Nachbarn, aber ohne Rechtsverbindlichkeit ſich die thatſächliche Beſchränkung habe gefallen laſſen, ſondern dieſelbe als nothwendig und bindend anerkannt habe.
(0227 : 205)
Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
355.
Die Statsdienſtbarkeiten beſtehen entweder darin, daß der dienende Stat um derſelben willen verhindert wird, ſeine Statshoheit in einer beſtimmten Richtung vollſtändig auszuüben oder darin, daß derſelbe genöthigt wird, eine ſtatliche Action des fremden berechtigten States innerhalb ſeines Gebietes zu dulden, die er ohne die Dienſtbarkeit verwehren dürfte.
Die erſtern Dienſtbarkeiten beſtehen im Nichtthun (in non faciendo) und ſind von negativer Wirkung, die letztern dagegen ſind poſitiv und beſtehn im Dulden eines Thuns (in patiendo) von Seite des berechtigten Stats.
356.
Negative Dienſtbarkeiten ſind:
a) die Beſchränkung eines States in der Größe ſeines Heeres oder in der Anlage und Zahl ſeiner Kriegsſchiffe oder in der von Feſtungen u. ſ. f.,
b) die Verpflichtung eines Stats, ſich jeder an ſich begründeten Gerichtsbarkeit über die Angehörigen des berechtigten States zu enthalten,
c) die Schranken, welche der Ausübung der Kirchenhoheit aus Rückſicht auf den berechtigten Stat geſetzt werden,
d) die theilweiſe Befreiung gewiſſer Körperſchaften, Stiftungen oder Stände von der Steuerpflicht in dem dienenden State, wenn dieſelbe mit Rückſicht auf einen berechtigten Nachbarſtat zugeſtanden worden iſt,
e) die Verhinderung von Zollſtationen zu Gunſten des freien Grenzverkehrs der Nachbarn.
Es ſind das nur einzelne Beiſpiele, welche öfter vorkommen und meiſtens in Friedensverträgen näher beſtimmt oder bei Gebietsabtretungen vorbehalten worden ſind.
357.
Beiſpiele von poſitiven Dienſtbarkeiten ſind:
a) das Recht eines fremden Stats, die inländiſchen Straßen zu ſeinen Truppenmärſchen zu benutzen (Etappenſtraßen),
b) das Recht eines fremden Stats, einen inländiſchen Gebietstheil unter Umſtänden mit ſeinen Truppen zu beſetzen,
(0228 : 206)
Viertes Buch.
c) das Recht eines fremden Stats, ſeine Gerichtsbarkeit oder Policeigewalt oder Steuerhoheit auf einen inländiſchen Gebietstheil auszudehnen,
d) das Recht, Zollſtationen daſelbſt anzulegen und zu unterhalten, Durchſuchungen dort vorzunehmen,
e) das Recht, Poſtanſtalten daſelbſt zu errichten und das Poſtregal auszuüben.
358.
Im Zweifel iſt allezeit zu Gunſten der dienſtfreien Statshoheit und die anerkannte Dienſtbarkeit als ein Ausnahmerecht in beſchränkendem Sinne zu interpretiren.
Je größer der Werth iſt, welchen die moderne Statsentwicklung der Einheit und Freiheit des Stats zuſchreibt, um ſo weniger günſtig werden dieſe Dienſtbarkeiten betrachtet, welche immer jener Einheit Abbruch thun, indem ſie die wenn auch beſchränkte Herrſchaft eines fremden States begründen, und immer dieſe Freiheit hemmen, indem ſie den einheimiſchen Stat verhindern, ſeine Souveränetät vollſtändig auszuüben. Sie ſind daher weit hinfälliger als die privatrechtlichen Servituten, indem ſie unter Umſtänden von einer neuen Statsentwicklung verdrängt und beſeitigt werden. Vgl. § 359.
359.
Eine Statsdienſtbarkeit geht unter
a) durch einen Befreiungsvertrag des pflichtigen mit dem berechtigten Stat,
b) durch Verzicht des berechtigten Stats. Als Verzicht iſt auch ein über ein Menſchenalter fortgeſetzter Nichtgebrauch anzuſehen, wenn die Veranlaſſung zum Gebrauch wiederholt gegeben war,
c) wenn dieſelbe aufgehört hat, mit der Entwicklung des Völkerrechts verträglich zu ſein,
d) wenn dieſelbe mit der naturgemäßen Fortbildung der Statsverfaſſung oder mit den öffentlichen Zuſtänden und Bedürfniſſen des pflichtigen Landes unverträglich und deßhalb unleidlich und unausführbar geworden iſt.
Da das Statsrecht und ebenſo das Völkerrecht nur um der gemeinſamen öffentlichen Bedürfniſſe willen als nothwendige Ordnung der öffentlichen Zuſtände beſteht, ſo kann es auch im Einzelnen nicht aufrecht
(0229 : 207)
Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
erhalten werden, inſofern es mit der allgemeinen Entwicklung nicht zugleich fortdauern kann. Dieſe Entwicklung kann und darf nicht durch Verträge, welche einer andern vergangenen Zeit angehören und damals einen Sinn hatten, der inzwiſchen verloren gegangen iſt, verhindert werden. Denn das hieße die Staten und die Menſchheit an der Erfüllung ihrer Beſtimmung verhindern und das Weſen des Rechts ſelber verderben. In dieſer Weiſe ſind unzählige Statsdienſtbarkeiten, welche im Mittelalter entſtanden waren und damals zu der herrſchenden Lehensverfaſſung paßten, ſeit der Ausbildung des modernen States mit dem Lehensrechte untergegangen. Wenn ein Stat in ſeinem Innern Einheit und Gleichheit der Rechtspflege einführte und in Folge deſſen die patrimoniale Gerichtsbarkeit der Grundherrn abſchaffte, ſo ließ er ſich auch nicht abhalten, aus denſelben Gründen und einfach durch ſeine Verfaſſungs- und Geſetzesreform die patrimoniale Gerichtsbarkeit eines fremden Landesherrn in ſeinem Lande abzuſchaffen, welche mit jener grundherrlichen Gerichtsbarkeit des einheimiſchen Adels weſentlich identiſch und ganz eben ſo wenig mit den modernen Grundſätzen der Rechtspflege verträglich iſt. In ähnlicher Weiſe iſt beſonders ſeit der franzöſiſchen Revolution die vom Mittelalter überlieferte Verflechtung verſchiedener Landeshoheiten auf demſelben Gebiete gelöst und ein einfacheres und gleichmäßigeres Rechtsverhältniß hergeſtellt worden.
(0230 : [208])
(0231 : [209])
Fünftes Buch. Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
1. Schutz der perſönlichen Freiheit.
360.
Es gibt kein Eigenthum des Menſchen am Menſchen. Jeder Menſch iſt Perſon, d. h. ein rechtsfähiges und mit Recht begabtes Weſen.
Dieſer natürliche Rechtsſatz, der ſchon von den römiſchen Juriſten erkannt wurde, iſt während Jahrtauſenden von den meiſten Völkern gegen ihr beſſeres Gewiſſen mißachtet und verdunkelt worden. Im Alterthum hat man ſich, um die unnatürliche Sclaverei zu rechtfertigen, auf die gemeine Rechtsübung der Völker, das jus gentium berufen. Nur ganz allmählich und langſam hat die europäiſche Civiliſation jenen ſchändlichen Mißbrauch der Gewalt des herrſchenden über den dienenden Menſchen, den man Eigenthum nannte und mit dem Eigenthum an Hausthieren auf Eine Linie ſtellte, gemildert und endlich abgeſchafft und das natürliche Menſchenrecht der Perſon anerkannt. Als bereits in Italien, in England und in Frankreich die Eigenſchaft aufgehoben war, beſtand dieſelbe noch in einigen deutſchen Ländern fort, und ſpäter als in Deutſchland, erſt in unſern Tagen wurde ſie in Rußland beſeitigt. So bildete ſich nach und nach das europäiſche Recht aus, welches die Sclaverei nicht mehr als wirkliches Recht in Europa gelten ließ, ſondern die perſönliche Freiheit als Menſchenrecht ehrte. Nachdem die Vereinigten Staten von Nordamerika ſich ebenfalls gegen die Sclaverei der Schwarzen erklärt und innerhalb ihres Machtbereichs die widerſtrebenden Staten genöthigt haben, die perſönliche Freiheit und die bürgerlichen Rechte auch der dunkeln Raſſen anzuerkennen, iſt jenes Menſchenrecht auch in Amerika durchgedrungen und nunmehr zu allgemeiner
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 14
(0232 : 210)
Fünftes Buch.
Anerkennung in dem Rechtsbewußtſein der chriſtlichen Welt gelangt. Die chineſiſche Cultur in Oſtaſien hatte ſchon lange vorher denſelben natürlichen Rechtsſatz anerkannt. Man darf daher in Zukunft nicht mehr wie bisher die Berufung auf die Souveränetät einzelner Staten gelten laſſen, welcher es nicht verwehrt werden dürfe, bei ſich die Sclaverei feſtzuhalten oder einzuführen. Höchſtens dürfen Uebergangsbeſtimmungen, welche aus der herkömmlichen Sclaverei ſchrittweiſe zur perſönlichen Freiheit hinüberleiten, geachtet werden. Die Souveränetät der Staten darf nicht mehr ſo ausgeübt werden, daß dadurch das höhere und allgemeinere Recht der Menſchheit vernichtet wird, denn die Staten ſind menſchliche Organismen und pflichtig, das allgemein erkannte Menſchenrecht zu reſpectiren.
361.
Das Völkerrecht erkennt kein Recht der Sclaverei an, weder wenn Einzelne noch wenn Staten ſie behaupten.
Es iſt das nur der negative Ausdruck des obigen Princips der perſönlichen Freiheit, welche das Völkerrecht anerkennt.
362.
Wenn fremde Sclaven den Boden eines freien States betreten, ſo werden ſie ſofort von Rechts wegen als Freie betrachtet und ohne daß es einer Freilaſſung des Herrn bedarf, auch gegen dieſen in ihrer Freiheit geſchützt.
Die Luft des freien Stats macht noch ſchneller und entſchiedener frei, als im Mittelalter die Luft der freien Stadt. Damals bedurften die eigenen Leute, welche in die Stadt geflüchtet waren, einer Erſitzung der Freiheit von Jahr und Tag und waren meiſtens vor Ablauf derſelben der Vindication der nachjagenden Herrn ausgeſetzt. Wenn heute ein fremder Herr mit ſeinen Sclaven als Dienern in ein freies Land kommt, wohin auch die Fahrt in freiem Schiffe auf offener See gehört, ſo ſind die letztern berechtigt, gegen jede Gewalt des Herrn den Schutz der Gerichte und je nach Umſtänden der Policei anzurufen. Dieſer Schutz wird unbedenklich gewährt, ohne daß der betreffende Sclavenſtat ſich deßhalb als über die Mißachtung ſeines nationalen Rechts beſchweren kann, denn das Völkerrecht hält die Sclaverei nirgends mehr für Recht.
363.
Es wird weder überſeeiſcher Handel mit Sclaven, noch werden Sclavenmärkte geduldet.
(0233 : 211)
Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
Vielmehr iſt es das Recht und die Pflicht der civiliſirten Staten, wo ſolche Mißbräuche noch geübt werden, deren Abſtellung zu fördern.
England gebührt der Ruhm, die Barbareskenſtaten zuerſt theils durch diplomatiſchen Einfluß, theils durch kriegeriſchen Zwang (Beſchießung von Algier im Auguſt 1816) dahin gebracht zu haben, daß ſie auf die Chriſtenſclaven Verzicht leiſteten, für Gegenwart und Zukunft. Auch Frankreich wirkte in derſelben Richtung. Die europäiſche Diplomatie erreichte auch in Conſtantinopel ähnliche Zugeſtändniſſe. Aber noch iſt die Sclaverei, und ſind ſelbſt die Sclavenmärkte abgeſehen von Südamerika, wo ſie nun im Erlöſchen begriffen ſind, bei den rohen Nationen von Mittelaſien und im Innern von Afrika, welche von der Bewegung der chriſtlichariſchen Civiliſation bisher wenig berührt ſind und der Ausbreitung der Humanität noch viele Hinderniſſe entgegenſetzen, noch in voller Uebung. Zuletzt werden aber auch dieſe barbariſchen Raſſen oder halbbarbariſchen Nationen der wachſenden Macht des humaner gewordenen modernen Völkerrechts ſich nicht entziehen können.
2. Von der Statsgenoſſenſchaft.
364.
Jedem Stat ſteht das Recht zu, ſelbſtändig feſtzuſetzen, unter welchen Bedingungen ſeine Statsgenoſſenſchaft (Statsangehörigkeit) erworben und verloren werde.
Es iſt das zunächſt eine innere Angelegenheit des States und daher eine ſtatsrechtliche, nicht eine völkerrechtliche Frage. Aber inſofern als die Angehörigkeit eines Individuums zu einem beſtimmten State auch von fremden Staten zu beachten iſt, ſchließen ſich internationale Wirkungen an den ſtatsrechtlichen Entſcheid an und hat ſich das Völkerrecht damit zu befaſſen.
Die Grundſätze, welche in den verſchiedenen Ländern beachtet werden, ſind noch ſehr verſchieden. In den einen Staten wird vorzugsweiſe auf den perſönlichen Familienzuſammenhang (Abſtammung und Ehe) geſehen, in den andern mehr auf die örtliche Beziehung zum Lande (Geburtsort, Wohnort) der Nachdruck gelegt. Vgl. Bluntſchli, Allgem. Statsrecht. Buch II. Cap. 20 (19).
365.
Im Zweifel wird angenommen, daß die Ehefrau durch die Heirat in die Statsgenoſſenſchaft ihres Ehemannes eintrete, und daß die ehelichen
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(0234 : 212)
Fünftes Buch.
Kinder mit der Geburt und ſo lange ſie in dem väterlichen Hauſe leben, der Statsgenoſſenſchaft ihres Vaters folgen.
Der Ehemann und der Vater als Haupt des Hauſes verbindet auch die Glieder des Hauſes, die Frau und die Kinder mit dem State, zu dem er gehört. Dabei wird jedoch vorausgeſetzt, daß die Ehe in dieſem State als rechtsgültig anerkannt werde, und daß nicht etwa beſondere Vorbehalte gemacht und zugeſtanden worden ſind oder andere geſetzliche Vorſchriften in einem Lande beſtehen. So gibt es Länder, welche wohl den ehelichen Kindern bei ihrer Geburt die Statsgenoſſenſchaft zuerkennen, aber nicht ohne weiteres geſtatten, daß dieſelben ihrem Vater folgen, wenn derſelbe ſpäter ein anderes Statsbürgerrecht erwirbt.
366.
Die unehelichen Kinder erhalten, wenn ſie nicht von dem State des geſtändigen oder ermittelten Vaters aufgenommen werden, das Heimatsrecht in dem State der Mutter, aber folgen dieſer nicht in einen andern Statsverband nach, wenn ſie ſpäter durch Heirath eine neue Statsgenoſſenſchaft erwirbt.
Der erſte Satz folgt aus der ſichern Abſtammung des Kindes von der Mutter. Nur in der Ehe gilt die Abſtammung vom Vater als ebenſo ſicher und entſcheidet überdem die Rückſicht auf die leitende Stellung des Vaters im Hauſe und die bedeutſam hervortretende Beziehung desſelben zum State. Außer der Ehe und außerhalb des Hauſes kann zunächſt nur die Abſtammung von der Mutter über die Angehörigkeit zunächſt entſcheiden. Indeſſen nehmen manche Rechte der Einzelſtaten auch die unehelichen Kinder in das Heimatsrecht auf, das der Vater beſitzt, wenn er dieſelben als ſeine Kinder anerkennt oder ſogar, wenn er als Vater gerichtlich erwieſen und erklärt worden iſt.
Der zweite Satz hat ſeinen Grund darin, daß die Mutter nicht als Haupt ſondern als Glied der Familie in die Ehe kommt und damit in einen neuen Statsverband eintritt, daher auch ihre Kinder nicht ſelbſtändig nachziehen kann.
367.
Es iſt möglich, daß Jemand einen feſten Wohnort in einem Lande beſitzt und daſelbſt niedergelaſſen iſt, ohne in den Statsverband dieſes Landes einzutreten und ebenſo, daß Jemand Grundeigenthum in einem Lande erwirbt und bewirthſchaftet, ohne Statsgenoſſe daſelbſt zu werden.
Wenn Heffter § 59 alle „in einem Lande Domicilirten“ d. h. jeden, der darin eine feſte häusliche Einrichtung für ſich getroffen hat (Landſaſſen im weiteſten Sinne des Wortes) als Statsangehörige nach völkerrechtlichen Grundſätzen be-
(0235 : 213)
Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
zeichnet, ſo geht er meines Erachtens zu weit. Es gibt in vielen civiliſirten Staten eine große Anzahl anſäſſiger fremder Kaufleute, Fabrikanten u. ſ. f., welche nicht in den Statsverband ihres Wohnorts aufgenommen ſind, ſondern in dem nationalen Statsverband verbleiben, dem ſie vor ihrer Niederlaſſung in fremdem Lande angehört haben. Die Niederlaſſung und der Gewerbsbetrieb geſchieht zunächſt aus privatrechtlichen Motiven, und es iſt keineswegs nothwendig, daß damit die ſtatsrechtliche Abſicht, aus einem Statsverband in einen andern überzugehen, verbunden wird. Der Code civil (§ 17) erklärt ausdrücklich, daß die kaufmänniſche Etablirung in einem fremden Lande im Zweifel nicht als Auswanderung anzuſehen ſei. Sie geſchieht nicht „sans esprit de retour“.
368.
Jeder Stat iſt verpflichtet, ſeine Angehörigen wieder in ſeinem Lande aufzunehmen, wenn ſie von andern Staten aus öffentlich-rechtlichen Gründen heimgewieſen oder zugeſchoben werden.
Die Heimweiſung und der Zuſchub findet hauptſächlich aus zwei Gründen Statt, a) wenn die Individuen außer Stande ſind, ſich ſelber zu ernähren und der Hülfe bedürfen, b) wenn dieſelben die Rechtsſicherheit in dem fremden Lande bedrohen. Der Heimatsſtat kann ſich in beiden und in ähnlichen Fällen überhaupt nicht weigern, ſeine Landsleute aufzunehmen, da ſie zu ſeinem Lande gehören. Eben darum iſt auch die Strafe der Verbannung nur unter der Vorausſetzung durchzuführen, daß die verbannten Perſonen ſich in der Fremde zu erhalten im Stande ſind und nicht überall zurückgewieſen werden. In neuerer Zeit beklagen ſich die Vereinigten Staten von Nordamerika und wohl noch andere außereuropäiſche Colonialſtaten darüber, daß die europäiſchen Staten ihre Gefängniſſe dadurch entleeren, daß ſie Verbrecher und liederliches Geſindel dorthin auswandern laſſen und ihre Ueberſiedlung unterſtützen. Dieſe Beſchwerde iſt nicht ohne Grund und es entſtehen aus einer ſolchen Praxis für die Colonien ernſtliche Gefahren. Die überſeeiſchen Staten können ſich gegen ſolchen Mißbrauch ihres Gebiets dadurch wahren, daß ſie ihren Entſchluß ankündigen, ſie werden ſolche Verbrechercoloniſten wieder in den abſendenden Heimatsſtat zurückbringen laſſen. Dazu ſind ſie ohne Zweifel berechtigt, und der Heimatsſtat, der ſeine Angehörigen aufnehmen muß, wird in Zukunft nicht mehr das fremde Land als einen bequemen Ort für Verbrecher-Coloniſten betrachten.
369.
Zur Vermeidung der Heimatloſigkeit iſt die Annahme begründet, daß aus dem Wohnort in einem beſtimmten State oder ſelbſt aus lange fortgeſetztem Aufenthalt in einem Lande, in Ermanglung anderer Gründe für einen andern Statsverband, auf Statsangehörigkeit geſchloſſen werde.
(0236 : 214)
Fünftes Buch.
Heimatloſe werden die Perſonen genannt, deren Statsangehörigkeit unſicher iſt. In der civiliſirten Statenwelt beſteht ein allgemeines Intereſſe, daß es keine Heimatloſen gebe. Sie ſind eine Ausnahme von der wichtigen Regel, daß die Individuen im Statsverbande leben und meiſtens auch eine Gefahr für die Sicherheit der Geſellſchaft. Daher die Verſuche, die Fälle der Heimatloſigkeit möglichſt zu beſchränken. Die Convention der deutſchen Staten vom 15. Juni 1851 beſtimmt, daß jeder Stat Perſonen, welche keinem der Staten erweislich zugehören, dann als Angehörige bei ſich aufnehmen müſſe, wenn dieſelben fünf Jahre lang als Volljährige ſich in ſeinem Gebiete aufgehalten oder als Eheleute daſelbſt auch nur ſechs Wochen lang gewohnt oder daſelbſt ihre Ehe geſchloſſen haben, eventuell, wenn ſie in dieſem Lande geboren ſind. Der wechſelſeitige Zuſchub von heimatloſen Perſonen von einem State zum andern iſt nicht bloß inhuman, ſondern auch mit Gefahren für die Sittlichkeit und die Sicherheit verbunden und eine Quelle von unnützen Streitigkeiten zwiſchen den Nachbarſtaten.
370.
Wie der freie Menſch nicht an die Scholle gebunden iſt, ſo iſt auch der freie Statsbürger nicht an das Land ſeiner Heimat gebunden.
Die Verhältniſſe in beiden Fällen ſind allerdings nicht gleich, denn im erſten Fall wird nur das Verhältniß einer Perſon zu einer Sache, dem Grundſtück gelöst und es iſt ſelbſtverſtändlich, daß der Sache kein Recht zukommt, die Perſon an ſich zu feſſeln. Im zweiten Fall dagegen wird der Verband zwiſchen dem einzelnen Statsgenoſſen und dem ganzen Stat gelöst, alſo der Verband zwiſchen zwei Perſonen, von denen überdem die letztere der erſtern übergeordnet iſt. Indem die frühere Rechtsbildung dieſe Abhängigkeit betonte, ſprach ſie den entgegengeſetzten Grundſatz aus, daß kein Statsgenoſſe willkürlich auf ſeine Statsangehörigkeit verzichten, beziehungsweiſe aus ſeinem Unterthanenverband austreten dürfe. Heute noch hält das engliſche Statsrecht dieſen Grundſatz im Princip feſt, wenn gleich es in der Praxis der Auswanderung keine ernſten Hinderniſſe bereitet. Viele Statsrechte legen wenigſtens noch auf die Form der „Entlaſſung“ aus dem Statsverband einen Werth. Aber allmählich hat doch die Anſicht Geltung erlangt, daß es des States unwürdig ſei, ſeine Angehörigen wider Willen feſt zu halten, als wären ſie Statshörige, und daß es für die heutige Civiliſation und den reicheren Wechſelverkehr der Nationen weit erſprießlicher ſei, die volle Auswanderungsfreiheit anzuerkennen.
371.
Durch die vollzogene Auswanderung wird das Band gelöst, durch welches der Auswanderer bisher mit ſeinem frühern Heimatlande verbunden war.
(0237 : 215)
Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
Die Auswanderung wird dadurch vollzogen, daß der bisherige Statsgenoſſe ſein Heimatland in der Abſicht verläßt, die Statsgenoſſenſchaft mit demſelben aufzugeben und von einem andern State in deſſen Statsverband aufgenommen wird.
Es kann Jemand ſein Vaterland in der Abſicht verlaſſen, anderwärts ein Etabliſſement zu gründen oder irgend einen Beruf zu treiben, ohne daß er die Abſicht hat, ſein Statsbürgerrecht aufzugeben. Das iſt nicht Auswanderung. Aber auch die Abſicht allein genügt nicht zur Löſung des Bandes. Abgeſehen von der in manchen Staten geforderten Entlaſſung aus dem Statsverband, iſt als entſcheidend die Aufnahme in eine neue Statsgenoſſenſchaft anzuſehn. Denn es beſteht ein allgemeines völkerrechtliches Intereſſe, keine neue Heimatloſigkeit aufkommen zu laſſen. Daher dauert die alte Statsgenoſſenſchaft in völkerrechtlichem Sinne dennoch fort, bis die neue an ihre Stelle getreten iſt; aber auch nicht darüber hinaus, gegen den Willen des Betheiligten, weil ſonſt leicht Conflicte zwiſchen den beiden Staten entſtehen, die im Intereſſe des friedlichen Verkehrs zu vermeiden ſind. Der neue Statsverband verdient deßhalb den Vorzug vor dem ältern, weil dieſer nicht mehr, wohl aber jener mit dem Willen des Auswanderers und mit den thatſächlichen Verhältniſſen desſelben zuſammen ſtimmt. Die franzöſiſche Geſetzgebung (Cod. civ. § 17) ſpricht das richtige Princip aus: „La qualité de Français se perdra par la naturalisation en pays étranger.“
372.
Wenn der Auswanderer die Pflichten verletzt, welche er nach dem Geſetze ſeines Landes zu erfüllen hat, bevor er auswandern darf, ſo kann er von dem verlaſſenen State auch dann noch innerhalb deſſen Gerichtsbarkeit zur Rechenſchaft und Strafe gezogen werden, wenn er eine neue Statsgenoſſenſchaft erworben hat, aber er hat trotzdem Anſpruch auf den Schutz ſeines neuen Heimatſtats dafür, daß nicht durch jene Beſtrafung ſein gegenwärtiger Rechtsverband mißachtet werde.
Nach Preußiſchem Rechte wurden ſo Preußiſche Auswanderer, welche ſich der geſetzlichen Militärpflicht entzogen hatten, wenn ſie ſpäter wieder nach Preußen zurückkamen, vor Gericht geſtellt und geſtraft. Darüber kam es mit den Vereinigten Staten von Amerika wiederholt zu Erörterungen, indem ſich dieſe ihrer Einwanderer und neuen Bürger annahmen. Der Conflict der beiden Staten läßt ſich, abgeſehen von beſonderen Verträgen, nur dadurch löſen, daß jedem State ſein Recht wird, dem vormaligen Heimatſtate ſein Recht, die Fahnenflüchtigen wegen der unbeſtreitbaren Pflichtverletzung zu ſtrafen, aber auch dem neuen Heimatſtate ſein Recht, nunmehr ſeinerſeits den Neubürger als ſolchen zu ſchützen und deſſen militäriſche Dienſte vorzugsweiſe in Anſpruch zu nehmen.
(0238 : 216)
Fünftes Buch.
373.
In der Regel iſt jedes Individuum nur mit Einem State verbunden und iſt die Statsgenoſſenſchaft wie das Statsbürgerrecht auf Ein Land beſchränkt.
Die Natur der Statsgenoſſenſchaft, welche hinwieder eine Vorbedingung iſt des Statsbürgerrechts, iſt ſo entſcheidend für das ganze perſönliche Rechtsverhältniß und der Verband des Einzelnen mit dem State iſt ein ſo enger, daß eine Spaltung der Einen Perſon nach zwei Staten hin oder eine zwiefache Verbindung derſelben erhebliche Schwierigkeiten und ernſte Bedenken gegen ſich hat. Man kann ohne Bedenken zugleich Mitglied verſchiedener Actiengeſellſchaften, aber nicht ebenſo leicht Bürger in zwei Staten ſein. Daher iſt in manchen Ländern die geſetzliche Beſtimmung vorgeſchrieben, daß Niemand neu als Statsgenoſſe aufgenommen (naturaliſirt) werde, wenn er nicht aus ſeinem bisherigen Statsverbande entlaſſen worden ſei. Man will dadurch den möglichen Conflicten einer zwiefachen Statsgenoſſenſchaft entgehen. Aber es läßt ſich in dieſer Form nicht immer helfen, weil möglicher Weiſe der eine Stat die Entlaſſung verweigert, während der andere die Naturaliſation für gerechtfertigt und zweckmäßig hält.
In zuſammengeſetzten Staten (Bundesſtaten und Statenreichen) kommt regelmäßig eine doppelte Beziehung der Statsangehörigkeit und des Statsbürgerrechts vor, einmal gegenüber dem Geſammtſtate und ſodann gegenüber dem Einzelſtate. Dieſe beiden Verbände widerſtreiten ſich nicht, weil der zuſammengeſetzte Stat in ſich ſelber denſelben Gegenſatz zwiſchen Einem Geſammtſtat und mehreren Einzelſtaten friedlich zu einigen weiß.
374.
Ausnahmsweiſe können ein Einzelner und deſſen Familie mit zwei oder mehreren einander fremden Staten als Statsgenoſſen verbunden ſein.
Wenn aus dieſer Doppelbeziehung ſich ein Conflict der Statsrechte und der Bürgerpflichten ergeben ſollte, ſo wird angenommen, daß der Statsverband vorzugsweiſe wirkſam ſei, in deſſen Lande der Doppelbürger gegenwärtig wohnt und daß die Wirkſamkeit des Statsverbands ſuspendirt ſei, in deſſen Lande der Doppelbürger zur Zeit nicht wohnt.
Vgl. die ähnliche Entſcheidung in § 371. Derartige Ausnahmen kommen unleugbar vor. Die ſtandesherrlichen Familien in Deutſchland gehören öfter gleichzeitig dem Statsverbande zweier oder mehrerer deutſcher Staten an und ihre Häupter haben dann Stimmrecht in den Erſten Kammern verſchiedener Staten. Ebenſo finden ſich manche andere Beiſpiele, daß Angehörige eines Stats, ohne den Verband mit ihrem alten Vaterland abzulöſen, in einen fremden Statsdienſt eingetreten und in Folge deſſen auch Statsgenoſſen eines andern Stats geworden ſind. Ich
(0239 : 217)
Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
hatte früher angenommen, daß in dem Conflictfall das ältere Recht vorgehe. Aber ich habe mich ſeither überzeugt, daß der Grundſatz der Auswanderungsfreiheit und zugleich der thatſächlich nähere Verband mit dem State des Wohnorts als entſcheidend anerkannt werden muß. Vgl. v. Bar, Internat. Privat- und Strafrecht S. 88.
3. Hoheitsrecht und Schutzpflicht des States gegenüber ſeinen Statsgenoſſen im Ausland.
375.
Der Stat iſt berechtigt, aus öffentlich-rechtlichen Gründen, insbeſondere zur Erfüllung der Kriegspflicht, ſeine Angehörigen aus einem fremden Lande weg- und heimzurufen.
Der fremde Stat iſt aber nicht verpflichtet, demſelben bei dem Vollzug dieſes Befehls beizuſtehen und ſolche Fremde aus ſeinem Gebiete wegzuweiſen.
Man nennt dieſen Recht jus avocandi. Es iſt eine Folge der Herrſchaft des Stats über ſeine Angehörigen, aber dieſe Herrſchaft iſt nicht eine abſolute, ſondern eine verfaſſungsmäßig beſchränkte. Es darf daher der Rückruf nicht aus bloßer Laune geſchehen. Aber auch den wohl begründeten Rückruf braucht der Aufenthaltsſtat nicht zu unterſtützen, da das ganze Verhältniß nur der Beziehung des Statsgenoſſen zu ſeinem Heimatſtat angehört, der Aufenthaltsſtat aber kein Intereſſe daran und daher keinen Grund hat, die perſönliche Freiheit der fremden Reiſenden oder derer, die ſich in ſeinem Gebiete aufhalten wollen, zu beſchränken.
376.
Die Steuerpflicht gegen den Stat wird in der heutigen Rechtsbildung regelmäßig von dem Wohnort, und nicht von dem Statsverband abhängig gemacht.
Ausnahmsweiſe aber kann der Heimatſtat von ſeinen im Ausland lebenden Bürgern oder Angehörigen gewiſſe Steuern (z. B. Armenſteuern) fordern. Wenn aber das geſchieht, ſo iſt der Stat des Wohnorts oder Aufenthaltsorts in keiner Weiſe verbunden, bei der Steuererhebung mitzuwirken.
(0240 : 218)
Fünftes Buch.
Der Wohnort iſt der Centralort des perſönlichen Lebens, Wirkens, Genießens der Steuerpflichtigen und ihres Haushalts. Um deßwillen hält ſich der Stat, wenn er Steuern fordert, vorzugsweiſe an dieſen Ort. Die Beitreibung von Steuern im Auslande iſt überdem thatſächlich ſchwer durchzuführen, weil der Stat dort keine Steuererheber hat und keine Zwangsmittel anwenden kann, und der fremde Stat ſeine Anſtalten und ſeine Zwangsmittel ihm für ſolche Zwecke nicht zur Verfügung ſtellt.
377.
Grundſtücke und Gewerbe werden in der Regel nur da verſteuert, wo jene liegen und dieſe betrieben werden.
Der Stat, in dem dieſelben ſich befinden, hat gerade ein Intereſſe, ſich einer Beſteuerung durch den fremden Stat zu widerſetzen, auch dann, wenn der Eigenthümer des Grundſtücks oder des induſtriellen oder Handelsetabliſſements ein Statsgenoſſe dieſes letzteren States iſt. Denn doppelte Beſteuerung von demſelben Steuerobject iſt Ueberbürdung desſelben mit Steuern, und wirkt in nationalwirthſchaftlicher Hinſicht ſchädlich.
378.
Der Stat kann über die Statsgenoſſen in fremdem Lande ſeine Gerichtsbarkeit nicht üben, wenn nicht ausnahmsweiſe der fremde Stat das zugeſteht.
Beiſpiele ſolcher Ausnahmen ſiehe oben § 216. 220.
379.
Es hängt von der Landesgeſetzgebung ab, zu beſtimmen, inwiefern die Privatgeſetze für die Statsgenoſſen auch im Auslande rechtsverbindlich ſeien.
In der Regel wirkt auch die Civilgeſetzgebung nur innerhalb des Landes; d. h. das ſogenannte Territorialprincip iſt entſcheidend. Das entgegengeſetzte Perſonalprincip wirkt am eheſten in den perſönlichen und Familienverhältniſſen, wie z. B. den Bedingungen der Ehe, dem Vormundſchaftsrecht, dem geſetzlichen Erbverband u. dgl.
380.
Der Heimatsſtat iſt berechtigt und im Verhältniß zu ſeiner Macht
(0241 : 219)
Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
auch verpflichtet, ſeinen Angehörigen im Ausland den den Umſtänden angemeſſenen Schutz durch völkerrechtliche Mittel zu gewähren,
a) wenn der fremde Stat ſelber in völkerrechtswidriger Weiſe wider ſie verfahren hat,
b) wenn die Mißhandlung oder Verletzung jener Perſonen zwar nicht unmittelbar dem fremden State zur Laſt fällt, aber dieſer keinen Rechtsſchutz dagegen gewährt.
Der Heimatsſtat iſt in ſolchen Fällen berechtigt, von dem fremden State Beſeitigung des Unrechts, Genugthuung und Entſchädigung, nach Umſtänden auch Garantien gegen ähnliche Verletzungen zu fordern.
Fälle der Art ſind z. B.: Der fremde Stat nimmt die Reiſenden ohne Grund gefangen, macht ſie zu Sclaven, nöthigt ſie zu einem andern Religionsbekenntniß, beraubt ſie ihres Vermögens, behandelt ſie ſonſt in grauſamer Weiſe, verletzt an ihnen die zum Schutz des Handels- und Fremdenverkehrs abgeſchloſſenen Verträge oder die gute Sitte des internationalen Verkehrs. Nur die Staten, nicht die Privatperſonen ſind völkerrechtliche Perſonen im eigentlichen Sinne, aber auch dieſe haben durch Vermittlung jener einen Anſpruch auf völkerrechtlichen Schutz.
Wird der Inländer im Auslande zunächſt nicht durch den fremden Stat d. h. durch deſſen Organe (Beamte, Diener) oder der von der Statsgewalt begünſtigten Bevölkerung in ſeiner Perſon oder ſeinem Vermögen verletzt, ſondern durch Privatperſonen, denen allein die Rechtsverletzung als Schuld angerechnet werden kann, z. B. durch Räuber, Diebe, Raufer u. ſ. f., ſo tritt keineswegs in erſter Linie der heimatliche Statsſchutz ein, ſondern es hat zunächſt der Stat, in deſſen Gebiet die Rechtsverletzung geſchehen iſt, durch ſeine Rechtspflege für Beſeitigung des Unrechts und je nach Umſtänden Beſtrafung der Verbrecher zu ſorgen. Mit gutem Grunde würde dieſer Stat, dem allein die Gerichtsbarkeit in ſeinem Lande zukommt, eine unzeitige Einmengung eines fremden Stats in die Verwaltung ſeiner Rechtspflege ſich verbitten. Der beleidigte oder verletzte Angehörige eines andern States muß ſich demnach zunächſt an die Behörden des States um Rechtshülfe wenden, in dem er wohnt. Nur wenn ihm der Rechtsweg abgeſchnitten und der Rechtsſchutz verweigert wird, vorher nicht, iſt Grund zu einer Intervention ſeines Heimatsſtates vorhanden. Man hat ſich hier vor zwei Extremen zu hüten, dem einen, welches die Statsangehörigen im Ausland ſchutzlos der Bedrängniß und Mißhandlung Preis gibt, — es war das bis auf die neuere Zeit die wohl begründete Klage der Angehörigen deutſcher Klein- und Mittelſtaten — und dem andern, einer ungebührlichen Einmiſchung in die fremde Rechtspflege und Verwaltung zu Gunſten von Statsangehörigen, welche die diplomatiſche Unterſtützung da anrufen, wo ſie gleich andern Privatperſonen nur berechtigt ſind, ordentliche Rechtsmittel anzuwenden — eine Ueberſpannung des Statsſchutzes, die man nicht ohne Grund zuweilen England vorgeworfen hat. Im erſtern Fall wird die Sicherheit
(0242 : 220)
Fünftes Buch.
der Privatperſonen im Ausland gefährdet, im zweiten die Rechtsgleichheit der Staten und die Selbſtändigkeit der Rechtspflege bedroht.
In allen dieſen Verhältniſſen wird übrigens bona fides vorausgeſetzt. Wenn unter dem Schein der geordneten Rechtspflege die fremden Landesgerichte unſern Statsangehörigen offenbar als rechtlos behandeln oder ſeiner Nationalität wegen bedrücken, wenn ſie ihm nur ſcheinbar Rechtsſchutz gewähren, in Wahrheit aber ihn der Verfolgung Preis geben, ſo iſt auch in ſolchen Fällen der Heimatsſtat berechtigt, ſich ſeines Statsgenoſſen diplomatiſch anzunehmen. Nicht weil er einen Proceß verliert, den er gewinnen zu müſſen meinte, auch nicht, weil vielleicht nach der Meinung der einheimiſchen Juriſten das fremde Urtheil unrichtig iſt, hat er Anſpruch auf Schutz des Heimatsſtats, ſondern nur, weil der fremde Stat in ihm das Völkerrecht mißachtet.
4. Hoheitsrecht und Rechtsſchutz gegenüber den Ausländern im Inland.
381.
Kein Stat iſt berechtigt, den Fremden überhaupt die Betretung ſeines Gebiets zu unterſagen und ſein Land von dem allgemeinen Verkehr abzuſperren.
Der Schutz des friedlichen Verkehrs innerhalb der Menſchheit iſt eine Pflicht des civiliſirten Völkerrechts. Die ältere Lehre, von der Souveränetät des States ausgehend, folgerte daraus die Berechtigung der Statsgewalt, alle Fremden auszuſchließen. Aber die Staten ſind Glieder der Menſchheit und deßhalb verpflichtet, die Verbindung der Menſchen zu achten, und ihre Souveränetät iſt kein abſolutes Recht, ſondern ein durch das Völkerrecht beſchränktes Recht. Die allgemeine Abſchließung von jedem Fremdenverkehr iſt in den verſchiedenen Zeitaltern von einzelnen Staten verſucht worden, und nicht bloß von barbariſchen Stämmen, welche alle Fremde als Feinde haſſen, ſondern von Culturvölkern, wie im Alterthum von Aegypten, und in neuerer Zeit von Paraguay und Japan. Das heutige Völkerrecht duldet aber dieſe Abſchließung nicht mehr. Vgl. oben § 163.
382.
Jeder Stat iſt berechtigt, einzelnen Fremden aus Gründen ſowohl des Rechts als der Politik den Eintritt in ſein Land zu unterſagen.
(0243 : 221)
Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
Die Ausſchließung bedarf der Motivirung mit Gründen der ſtatlichen Ordnung und Sicherheit oder des öffentlichen Wohls. Sonſt wäre ſie im Widerſpruch mit dem völkerrechtlichen Grundſatz des freien Verkehrs. Die Beurtheilung der Gründe ſteht aber bei dem State, der innerhalb ſeines Gebiets die Statshoheit auszuüben berufen iſt.
383.
Ebenſo iſt der inländiſche Stat berechtigt, aus öffentlichen Gründen einzelne Fremde, welche ſich nur vorübergehend in ſeinem Lande aufhalten, aus ſeinem Gebiete wegzuweiſen. Haben ſie aber einen feſten Wohnſitz daſelbſt erworben, ſo genießen ſie auch den damit verbundenen erhöhten Rechtsſchutz.
Das ſogenannte Droit du renvoi darf wieder nicht als ein abſolutes Recht des States betrachtet werden, ſonſt wäre das Recht des allgemeinen Weltverkehrs neuerdings bedroht. Der Stat iſt kein abſoluter Herr weder über das Land noch über die Menſchen im Lande. Auch in dieſer Hinſicht iſt die ältere Lehre zu ſehr von der mittelalterlichen Vorſtellung des Eigenthums am Land und von der abſolutiſtiſchen Idee einer unbeſchränkten Souveränetät mißleitet worden. Meiſtens wird noch der Statsgewalt die Macht zugeſtanden, nach eigenem Ermeſſen durch bloße Verwaltungs- und Regierungsacte über die Wegweiſung von Fremden zu entſcheiden, ohne daß die davon Betroffenen einen genügenden Rechtsſchutz bei den Gerichten finden.
384.
Wird ein gehörig legitimirter Fremder ohne Grund verhindert, das Land zu betreten oder grundlos oder in ungebührlicher Form weggewieſen, ſo iſt ſein Heimatsſtat veranlaßt, wegen Verletzung des völkerrechtlichen Verkehrs Beſchwerde zu führen und je nach Umſtänden Genugthuung zu fordern.
In ſeinen Angehörigen kann auch der Stat verletzt werden, der berufen iſt, ſie zu ſchützen. Die bloß willkürliche und gehäſſige Wegweiſung kann daher zu diplomatiſchen Erörterungen führen, und der Fremde, der davon betroffen wird, iſt jedenfalls veranlaßt, die Beihülfe ſeines Conſuls oder die Dazwiſchenkunft ſeines Geſanten anzurufen.
385.
Es iſt Sache der Landesgeſetzgebung, zu beſtimmen, ob und unter
(0244 : 222)
Fünftes Buch.
welchen Bedingungen Landesfremde Grundeigenthum erwerben und Handel oder Gewerbe in dem Lande ſelbſtändig betreiben dürfen.
Das Völkerrecht entſcheidet darüber nicht, ſondern das Statsrecht, außer wenn durch Statenverträge nähere auch dem andern Stat gegenüber bindende Beſtimmungen getroffen ſind.
386.
Die Fremden haben einen rechtmäßigen Anſpruch auf den geſetzlichen und landesüblichen Rechtsſchutz ihrer Perſönlichkeit, ihrer Familien- und Vermögensrechte.
Im Alterthum und im Mittelalter verſtand ſich dieſes Recht der Fremden keineswegs. Vielmehr wurden ſie als rechtloſe Leute betrachtet, wenn ſie nicht unter den beſondern Schutz eines Gaſtfreundes oder Patrones oder eines Grundherrn oder angeſehenen Bürgers geſtellt waren. Die Fremden von heute dagegen ſtehen unter dem Schutze des humaner gewordenen Rechtes der civiliſirten Völker. Auch der früher beliebte Vorzug der Einheimiſchen vor den Ausländern in der Geltendmachung von Forderungen und insbeſondere im Concurſe wird immer mehr als ungerecht und der heutigen auf Gleichheit gegründeten Rechtsbildung zuwiderlaufend allmählich überall beſeitigt. Zunächſt freilich entſcheidet die Landesgeſetzgebung über die Bedingungen und die Ausdehnung des den Fremden zukommenden Rechtsſchutzes. Aber offenbare Unbill, welche der Stat gegen die Fremden üben wollte, würde Reclamationen der Staten rechtfertigen, welchen dieſelben angehören.
387.
Kein Stat iſt verpflichtet, fremden Perſonen Privilegien oder ſolche perſönliche und Standesrechte zuzugeſtehn, welche mit der Verfaſſung und den Grundrechten desſelben nicht vereinbar ſind. Vorbehalten bleiben die Rechte ſouveräner Perſonen und ihrer Vertreter.
Ein Stat, deſſen Verfaſſung keinen Adel duldet, wie z. B. die Vereinigten Staten von Nordamerika, kann daher auch fremden Adlichen keine beſondern Adelsrechte zugeſtehen. Strenge genommen braucht aber auch ein Stat, in dem es noch Adelsprivilegien gibt, dieſelben fremden Adlichen deßhalb nicht einzuräumen, weil die Inſtitution des Adels von weſentlich öffentlich-rechtlichem Urſprung und ein Theil der beſondern Statsverfaſſung iſt, welche als ſolche nicht auf ein anderes Land übertragbar iſt. Indeſſen werden die Ehrenvorzüge, welche dem eigenen Adel zukommen, der Sitte gemäß gewöhnlich auch den Fremden von ähnlicher Rangſtellung eingeräumt, und auch inſofern eine möglichſt gleichmäßige Behandlung der Einheimiſchen und der Fremden angeſtrebt.
(0245 : 223)
Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
388.
Die Fremden ſind verpflichtet, die Verfaſſung und Rechtsordnung des Landes zu beachten und dürfen dieſelben nicht verletzen. Sie ſind der einheimiſchen Statsgewalt zwar nicht in Folge des Statsverbands aber inſofern unterworfen, als dieſelbe allein in dem Lande Autorität und Macht hat.
Die Exterritorialität, von der oben § 135 die Rede war, iſt eine Ausnahme von der Regel, daß ſich die Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt über Einheimiſche und Fremde erſtreckt. Andere Ausnahmen gründen ſich zuweilen auf beſondere Verträge oder auf Herkommen. Immerhin aber wirkt die Rückſicht darauf, daß die Fremden nicht perſönlich dem State verbunden ſind, wo ſie gerade ſich aufhalten, ſondern einem andern State angehören, ſehr bedeutend ein und vermindert und ermäßigt die Ausübung der einheimiſchen Statsgewalt gegen Fremde. Selbſt bei Verwaltung der Strafrechtspflege und der Policeigerichtsbarkeit verdient das vielleicht mangelhafte Verſtändniß der einheimiſchen Vorſchriften und Sitten von Seite der Fremden eine billige und ſchonende Rückſicht.
389.
Die Fremden, welche nur vorübergehend ihren Aufenthalt im Lande nehmen, dürfen nicht zu den Landesſteuern beigezogen werden. Wohl aber ſind ſie ſchuldig, die Gebühren für öffentliche Leiſtungen wie die Einheimiſchen zu bezahlen und es kann ihnen auch eine mäßige Gebühr für den Aufenthalt auferlegt werden.
Die regelmäßige Steuerpflicht ſetzt entweder Statsangehörigkeit der Steuerpflichtigen oder Landesangehörigkeit der beſteuerten Güter (inländiſche Grundſtücke und Etabliſſements) voraus. In dieſen beiden Beziehungen ſind die durchreiſenden Fremden nicht ſteuerpflichtig. Inwiefern dagegen von der Verzehrung von Gütern mittelbar eine Steuer erhoben wird (Conſumtionsſteuer) oder von der Bewegung der Handelsgüter Zölle bezogen werden, ſo treffen natürlich dieſe Abgaben die Fremden, welche jene Güter conſumiren und zollbare Waaren einoder ausführen, ganz ebenſo wie die Einheimiſchen.
390.
Fremde, welche im Lande anſäſſig ſind, oder Grundbeſitz im Lande haben, ſind im Zweifel gleich Einheimiſchen den Landesſteuern und der Grundſteuer unterworfen.
Vgl. oben § 280.
(0246 : 224)
Fünftes Buch.
391.
Landesfremde ſind im Inland nicht militärpflichtig. Vorbehalten bleiben Nothfälle zur Vertheidigung eines Ortes wider Räuber oder Wilde.
Die Militärpflicht iſt weſentlich politiſche Pflicht und daher von der Statsgenoſſenſchaft nicht zu trennen. Wie den Fremden in der Regel nicht politiſche Rechte eingeräumt werden, ſo dürfen ihnen auch nicht ſo ſchwere politiſche Pflichten auferlegt werden. Würden die Fremden genöthigt, Militärdienſte in fremdem Lande zu thun, ſo würden ſie unter Umſtänden genöthigt, für ihnen fremde Statsintereſſen und gegen die politiſchen Intereſſen ihres Vaterlandes ihr Leben einzuſetzen, was offenbar unnatürlich wäre. Selbſt wenn die Fremden anſäſſig im Lande ſind, ſo dürfen ſie höchſtens zu ſolchen Militärdienſten herbeigezogen werden, welche den Zweck haben, Perſonen und Eigenthum durch locale Kraftentwicklung zu ſchützen, alſo zur Vertheidigung des Orts, aber nicht zu politiſcher Kriegsführung.
392.
Den Fremden muß der freie Wegzug jederzeit offen ſtehn.
Im Mittelalter war dieſes Recht auch in den europäiſchen Staten keineswegs anerkannt. Heute wird es nur in barbariſchen Ländern noch beſtritten. Es folgt aus dem natürlichen Recht des menſchlich-freien Verkehrs.
393.
Auch der Wegzug des Vermögens oder der Verlaſſenſchaft von Fremden darf in der Regel nicht verwehrt, noch mit beſondern Steuern oder Abzügen beläſtigt werden.
Bis in unſer Jahrhundert hinein galten in den meiſten europäiſchen Ländern noch andere Grundſätze. Der Wegzug insbeſondere von Capitalvermögen wurde noch vielfältig mit Abzugsſteuern beſchwert und noch mehr der Wegzug von Verlaſſenſchaften. Die mittelalterlichen Landesherrn behaupteten öfter ein ausſchließliches Recht auf die Verlaſſenſchaft der Fremden zu haben, welche ſich in ihrem Territorium vorfand, ſelbſt mit Ausſchluß der ausländiſchen Erben. Man nannte das jus albinagii, droit d’aubaine. War es nicht mehr möglich, den Fremden ſelbſt als ein rechtloſes Weſen zu behandeln, ſo behandelte man doch ſeine Verlaſſenſchaft als ein herrenloſes Gut. Unſere heutige Rechtsbildung erkennt darin eine widerrechtliche Barbarei und gibt auch die ermäßigte Form der Abzugsſteuern nicht mehr zu. In einer ſehr großen Anzahl von Statenverträgen ſind dieſe Abzugsgelder vertragsmäßig während unſers Jahrhunderts abgeſchafft worden. Allmählich iſt aber aus dieſem Vertrags- und Geſetzesrecht allgemeines interna-
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Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
tionales Recht geworden, ſo daß heute die Einführung ſolcher Abgaben als Verletzung des internationalen Verkehrs empfunden und zu völkerrechtlichen Beſchwerden der Staten Anlaß geben würde.
5. Ausführungspflicht und Aſylrecht.
394.
Jeder Stat iſt kraft ſeiner Selbſtändigkeit berechtigt, Fremden den Aufenthalt in ſeinem Lande zu geſtatten.
Dieſes Recht des States, Fremde aufzunehmen und zu ſchützen, kann ausgeübt werden, ungeachtet der Heimatsſtat derſelben ſeine Statsangehörigen zurückruft oder deren Auslieferung begehrt.
Vgl. oben § 375. Freilich läuft der Stat, welcher längere Zeit Fremden gegen den Willen ihres Heimatſtats in ſeinem Lande Aufenthalt gewährt, die Gefahr, daß der Heimatsſtat dieſelben ihrer Statsgenöſſigkeit für verluſtig erklärt und er genöihigt wird, dieſelben nun zu behalten, beziehungsweiſe in ſeine Angehörigkeit aufzunehmen.
395.
Eine Pflicht, flüchtige fremde Verbrecher oder eines Verbrechens angeklagte Flüchtlinge dem verfolgenden Gerichte auszuliefern, wird nur inſofern anerkannt, als dieſelbe entweder durch beſondere Statenverträge (Auslieferungsverträge) begründet oder zur Sicherung eines allgemeinen Rechtszuſtandes als nothwendig erſcheint.
Im letztern Fall iſt die Auslieferungspflicht jedenfalls auf ſchwere und gemeine Verbrechen beſchränkt, und ſetzt voraus, daß die Rechtspflege des verfolgenden Stats hinreichende Garantien gebe für eine civiliſirte Verwaltung der Gerechtigkeit.
Die Meinungen über die Auslieferungspflicht und das Aſylrecht ſind noch ſehr getheilt ſowohl in der Statenpraxis als in der Wiſſenſchaft. Noch machen ſich extreme Meinungen geltend. Zuweilen wird ein unbeſchränktes Aſylrecht der Staten behauptet, welches nur durch Auslieferungsverträge beſchränkt werde. Die Vertheidiger dieſer Anſicht — Puffendorf, Martens, Story und andere — führen dafür an, daß dieſe Flüchtlinge nicht die Rechtsordnung des
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 15
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Fünftes Buch.
Aſylſtats verletzt haben, und daher auch nicht von dieſem zu verfolgen ſeien, daß die Strafgewalt ihrem Weſen nach territorial und nicht international ſei, daß jedenfalls geringe Sicherheit für eine im Sinne des Aſylſtates geübte Juſtiz vorhanden ſei und daß daher der Aſylſtat keine Veranlaſſung habe, einer fremden Gerichtsbarkeit zu dienen und keine Verpflichtung, ſeine Schutzhoheit zu beſchränken.
Aber auch für die entgegengeſetzte Meinung haben ſich jederzeit gewichtige Stimmen erhoben, wie die von Grotius, Vattel, Kent u. ſ. f., welche auf das allgemeine Intereſſe an der Handhabung der Gerechtigkeit und die Nothwendigkeit der Beſtrafung der Verbrecher hinweiſen, auf die Gefahren aufmerkſam machen, welche daraus für die Geſellſchaft entſtehen, wenn Verbrecher leicht einen Zufluchtsort finden, in dem ſie ſich ſicher fühlen und von wo aus ſie ihre Angriffe auf die Rechtsordnung erneuern, und daraus die Pflicht der Staten ableiten, einander in der wirkſamen Handhabung der Strafrechtspflege zu unterſtützen.
Meines Erachtens würde ein unbeſchränktes Aſyl die allgemeine menſchliche Rechtsordnung und Rechtsſicherheit bedrohen, zumal bei der Beweglichkeit der heutigen Verkehrsmittel. Es iſt ein allgemeines Intereſſe, nicht ein bloßes Landesintereſſe, daß Mörder, Räuber, grobe Betrüger und große Diebe beſtraft werden. Vortrefflich hat der franzöſiſche Miniſter Rouher (Rede vom 4. März 1866) die Gründe für die Auslieferungspflicht mit wenigen Worten ausgeſprochen: „Der Grundſatz der Auslieferung iſt der Grundſatz der Solidarität, der wechſelſeitigen Verſicherung unter Regierungen und Völkern gegen ein überall drohendes Uebel (contre l’ubiquité du mal)“.
Aber auch eine abſolute Auslieferungspflicht würde in manchen Fällen die Intereſſen der Humanität und der Freiheit ernſtlich gefährden, und man darf nicht vergeſſen, daß manche Verbrechen ausſchließlich den davon betroffenen Stat und nicht die menſchliche Geſellſchaft verletzen und daß auch die Vertheidiger des Aſyls gute Gründe anführen, auf welche innerhalb der nöthigen Schranken billige Rückſicht zu nehmen iſt.
Wo die Statenverträge die Auslieferung im Einzelnen näher ordnen, und das iſt in neuerer Zeit ſehr oft geſchehen, da kommen natürlich die vertragsmäßigen Beſtimmungen zur Anwendung. Wenn keine Verträge binden, ſo muß man ſich an die allgemeinen Rechtsgrundſätze halten. Da aber dieſe heute noch nicht gleichmäßig und nicht allgemein anerkannt ſind, ſo hängt es thatſächlich noch von dem Ermeſſen des Aſylſtates ab, zu beſtimmen, in wie weit er ſich durch die allgemeine Rechtsordnung für gebunden erachte. Es iſt aber möglich und ſogar wahrſcheinlich, daß allmählich einige Hauptgrundſätze in der civiliſirten Welt ſich allgemeine Billigung erringen und ſo weit das geſchieht, wird dann die Willkür der einzelnen Staten beſchränkt.
396.
Den politiſchen Flüchtlingen darf jeder Stat freies Aſyl gewähren. Der Aſyl gebende Stat iſt nicht verpflichtet, auf Begehren des verfolgenden
(0249 : 227)
Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
Stats dieſelben auszuliefern oder wegzuweiſen. Aber der Aſylſtat iſt verpflichtet, nicht zu geſtatten, daß das Aſyl dazu mißbraucht werde, um die die Rechtsordnung und den Frieden der andern Staten zu gefährden, und völkerrechtlich verbunden, diejenigen Maßregeln zu treffen, welche nöthig ſind, um ſolchen Mißbräuchen zu wehren.
Der von vielen Criminaliſten beſtrittene Gegenſatz der politiſchen und der gemeinen Verbrechen wird in den neuern Statenverträgen und noch mehr in der gegenwärtigen Statenpraxis anerkannt, und ſogar von ſolchen Staten, welche eine allgemeine Auslieferungspflicht ſelbſt von politiſchen Verbrechern im Princip für nothwendig erklären, thatſächlich dann gemacht, wenn ihre politiſchen Sympathien den fremden Flüchtling decken. Die politiſchen Verbrechen beziehen ſich nothwendig auf die Verfaſſung und die politiſchen Zuſtände eines beſtimmten Stats und ſind deßhalb für andere Staten kein Gegenſtand der Sorge. Eine Solidarität der politiſchen Intereſſen beſteht nicht nothwendig und es iſt ebenſo möglich, daß die politiſchen Grundſätze und Richtungen des verfolgenden und des Aſylſtats einander widerſtreiten. Der verfolgte politiſche Verbrecher in einem Land wird in einem andern Lande vielleicht als ein Märtyrer der Freiheit verehrt; und die im Namen des Rechts verfolgenden Gewalthaber des einzelnen Stats werden vielleicht in dem andern State als Unterdrücker des Rechts gehaßt. Selbſt wo die Gegenſätze der Beurtheilung nicht ſo ſchroff auftreten, erinnert man ſich doch, daß die Verwaltung der Rechtsflege in politiſchen Strafproceſſen nach dem Zeugniß der Geſchichte leichter von den Leidenſchaften bald der Machthaber bald einflußreicher Parteien mißleitet wird als die Strafgerichtsbarkeit über gemeine Vergehen und man nimmt Rückſicht darauf, daß zuweilen ehrbare und edle Menſchen aus Vaterlandsliebe die politiſche Rechtsordnung ihres Heimatſtats verletzt haben. Die Intereſſen der Politik, der Gerechtigkeit und der Humanität vereinigen ſich daher, um über die politiſchen Flüchtlinge den Schutz des Aſyls auszubreiten.
Aber indem der Stat den fremden politiſchen Flüchtlingen ein Aſyl gewährt, iſt er nicht von der Pflicht entbunden, den Mißbrauch des Aſyls zu verhüten. Das Aſyl ſchützt den Flüchtigen vor Verfolgung, aber es darf nicht zu einer ſichern Stätte für die Fortſetzung des politiſchen Verbrechens werden. Der Flüchtling findet hier Ruhe und einen Ort der Zuflucht in ſeiner Gefahr, aber er darf nicht die Angriffe auf die Verfaſſung und das Recht ſeines States von da aus ungeſtraft erneuern. Der Aſylſtat hat auch gegenüber dem Heimatsſtat desſelben Rückſichten des Friedens und der Freundſchaft zu nehmen. Ein Stat, welcher den fremden Räubern Schlupfwinkel eröffnet, aus denen ſie ihr verbrecheriſches Handwerk mit beſſerem Erfolg und mit geringerer eigener Gefahr betreiben, macht ſich ſicherlich einer ſchweren Verletzung der Nachbarpflichten ſchuldig; und nicht weniger wird ein Stat, welcher auf ſeinem Gebiete feindliche Unternehmungen von fremden Flüchtlingen gegen einen benachbarten Stat begünſtigt, dafür verantwortlich gemacht von dem bedrohten State.
15*
(0250 : 228)
Fünftes Buch.
397.
Es ſteht jedem State zu, die Bedingungen feſtzuſetzen, unter welchen er fremden Flüchtlingen ein Aſyl gewährt. Die Flüchtlinge ſelber haben keinen Rechtsanſpruch auf Gewährung des Aſyls gegen den fremden Stat.
Der Flüchtling kann ſich nicht wie ein anderer Reiſender auf das Recht des freien Verkehrs berufen, denn eine Grundbedingung dieſes Rechts iſt Unbeſcholtenheit der Reiſenden. Kein Stat iſt verpflichtet, Verbrecher oder eines Verbrechens Angeklagte bei ſich aufzunehmen und zu dulden, weil ſolche Fremde auch die Sicherheit ſeiner Bewohner oder unter Umſtänden des Stats ſelbſt gefährden. Es gilt das auch von politiſchen Verbrechern. Aber wohl hat der Stat die moraliſche Pflicht, dabei nicht inhuman zu verfahren. Die Zurückweiſung insbeſondere von politiſchen Flüchtlingen oder gar ihre Auslieferung kann, ſelbſt wenn ſie keine Rechtsverletzung iſt, doch eine tadelnswerthe Grauſamkeit ſein.
398.
Der Schutzſtat, welcher das Aſyl gewährt hat, iſt auch, wenn dasſelbe mißbraucht wird, berechtigt, und bei fortdauernder Gefahr für den befreundeten Heimatsſtat des Flüchtlings auch verpflichtet, das Aſyl zu entziehen oder inſoweit zu beſchränken, daß jene Gefahr beſeitigt wird.
In mindern Fällen wird eine ſchärfere Aufſicht über den Flüchtling oder die Internirung desſelben von der Grenze weg, ins Innere des Landes genügen, in ſchweren Fällen die Wegweiſung in vorgeſchriebener Richtung nöthig ſein.
399.
Zur Auslieferung von Einheimiſchen an einen fremden Stat, in deſſen Gebiet dieſelben ein Verbrechen verübt haben, iſt der Heimatsſtat niemals verpflichtet.
Dieſe gegenwärtig auch von ſolchen Staten anerkannte Regel, welche eine Auslieferungspflicht bei gemeinen Verbrechen annehmen, macht freilich dann eine bedenkliche Lücke in das Strafrecht, wenn dieſelben im Inlande nicht für ein auswärts begangenes Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden können. Sie bleiben in dieſem Falle ſtraflos, obwohl die allgemeinen Rechtsgrundſätze eine Beſtrafung ihres Verbrechens erfordern. Aber man zieht es vor, dem Individuum dieſen Glücksfall zuzugeſtehen, als die Statsgenoſſen einer fremden Strafgerichtsbarkeit zu überliefern.
(0251 : 229)
Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.
400.
Die Auslieferung geſchieht in der Regel auf Koſten des States, welcher dieſelbe begehrt. Die Geſtattung des Aſyls dagegen fällt dem Schutzſtate allein zur Laſt.
Selbſtverſtändlich iſt nur von den nöthigen Koſten hier die Rede, welchen ſich die Staten nicht entziehen können. Soweit die Flüchtlinge für ſich ſelber zu ſorgen im Stande ſind, iſt von keiner Statspflicht die Rede.
401.
Die Auslieferung eines flüchtigen Verbrechers kann auch in bedingter Weiſe gewährt werden.
Z. B. der ausliefernde Stat verlangt, daß der Ausgelieferte nur wegen eines gemeinen, nicht auch wegen eines politiſchen Verbrechens geſtraft werde, oder er liefert nur aus, wenn ihm die Zuſicherung ertheilt wird, daß keine Todesſtrafe verhängt werde. Der Stat, welcher auf ſolche Bedingungen hin den Ausgelieferten empfängt, iſt dann dem Auslieferungsſtat gegenüber verpflichtet, demgemäß zu verfahren.
In der Regel wird die Auslieferung von dem verfolgenden State begehrt, von dem Zufluchtsſtat gewährt. Es iſt aber auch möglich, daß dieſelbe von dieſem angeboten wird, ja ſogar, daß der Stat, dem dieß Anerbieten gemacht wird, die Uebernahme des Flüchtlings als eine Verlegenheit zu vermeiden wünſcht. In ſolchen Fällen kann ſich der Heimatſtat zwar nicht der Aufnahme ſeines Statsgenoſſen in ſeinem Lande entziehen (oben § 368), aber wenn er dieſelben nicht weiter verfolgt, ſo geht das den ausliefernden Stat nichts an.
(0252 : [230])
(0253 : [231])
Sechstes Buch. Völkerrechtliche Verträge.
1. Erforderniſſe und Wirkſamkeit der völkerrechtlichen Verträge.
402.
Die Staten können als ſelbſtändige Perſonen ihre beſondern Rechtsverhältniſſe auch durch Verträge unter einander ordnen, ſo daß daraus eigentliches Vertragsrecht entſteht.
Verſchieden von dieſen Verträgen, welche beſonderes Vertragsrecht unter den Vertragsparteien begründen, iſt eine völkerrechtliche Uebereinkunft mehrer Staten, welche eine allgemeine Rechtsregel ausſpricht. Im letztern Fall iſt das pactum instar legis, und es entſteht ein Geſetz, wenn auch in der vielköpfigen Form der Vereinbarung. Sehr viele Beſtimmungen der völkerrechtlichen Congreſſe haben dieſen letztern und nicht den erſteren Charakter und begründen daher nicht conventionelles, ſondern nothwendiges Recht. Vgl. oben § 12. 13. In dieſem Buch iſt nur die Rede von dem eigentlichen Vertragsrecht.
403.
Jeder Stat kann als Perſon auch Vertragspartei werden, und jede unabhängige Macht gilt im Völkerverkehr im Zweifel als vertragsfähig. Wenn aber ein Stat in der Ausübung des Vertragsrechts verfaſſungsmäßig beſchränkt erſcheint, ſo iſt ſolche Beſchränkung auch im Verkehr der Staten zu beachten.
(0254 : 232)
Sechstes Buch.
Wenn ein Stat der Schutzhoheit eines andern Stats unterworfen iſt, ſo kann ihm das Recht, ſelbſtändig mit andern Staten Verträge abzuſchließen, gänzlich oder theilweiſe entzogen ſein. Ebenſo ſind in den zuſammengeſetzten Staten regelmäßig die Einzelſtaten ſehr erheblich in der Vertragsbefugniß beſchränkt, ſei es indem ihnen unterſagt iſt, gewiſſe Verträge abzuſchließen, die ausſchließlich dem Geſammtſtate vorbehalten ſind, z. B. Allianzen, Handels- und Zollverträge, ſei es indem ſie genöthigt ſind, ſich der diplomatiſchen Organe des Geſammtſtates zu bedienen und der Zuſtimmung des Geſammtſtates bedürfen. Verträge, welche im Widerſpruch mit dieſen Schranken abgeſchloſſen werden, ſind nicht verbindlich.
404.
Damit der Vertrag den Stat verbinde, müſſen die Perſonen, welche denſelben im Namen des States abſchließen, zur Vertretung des States ermächtigt ſein.
Es gilt das ſowohl von der Repräſentationsbefugniß des jeweiligen Inhabers der Statsgewalt (oben § 116), als von der Vollmacht der Geſanten, welche den Vertrag unterhandeln und unterzeichnen (oben § 159 f.).
405.
Wird für einen Stat ein Vertrag von einer Perſon unterhandelt und abgeſchloſſen, welche nicht dazu ermächtigt iſt, ſo wird der Stat ſo lange nicht verpflichtet, als er nicht durch nachträgliche Gutheißung jenen Mangel der Vollmacht hebt. Bis dahin ſteht auch der andern Vertragspartei der Rücktritt frei, wenn ſie nicht darauf verzichtet hat.
Man heißt Verträge, welche von nichtbevollmächtigten Vertretern, gewöhnlich in der Hoffnung auf ſpätere Ratihabition abgeſchloſſen werden, Sponſiones; in Erinnerung an die perſönliche sponsio der alten Römer. Der Ausdruck, welcher in Rom eine ſtrenge und formelle Vertragspflicht bedeutete, iſt freilich nicht geeignet, derartige in ihrer Wirkſamkeit höchſt zweifelhafte Verträge zu bezeichnen, während wir im Gegenſatze zu den Römern die rechtsverbindlichen Verträge der Staten pacta heißen.
406.
Wird der von einem nicht ermächtigten Vertreter abgeſchloſſene Vertrag von dem State nicht genehmigt, ſo iſt überall kein Vertrag zu Stande gekommen.
Der Stat wird nicht verpflichtet, weil er nicht wirklich vertreten war, und der Geſchäftsführer (sponsor) nicht, weil er kein Stat iſt und als Privat-
(0255 : 233)
Völkerrechtliche Verträge.
perſon nicht über öffentliche Rechte und Verbindlichkeiten verfügen kann. Wenn er den andern Stat betrogen hatte, indem er ſich für ermächtigt angab, ohne ermächtigt zu ſein, ſo mag er dieſes Betrugs wegen verantwortlich gemacht und beſtraft werden. Das hat mit der Gültigkeit des Vertrags nichts zu thun. — Das alt-römiſche Fecialrecht befolgte andere Grundſätze. Der Sponſor haftete mit ſeiner Perſon für die Erfüllung des von ihm eingegangenen Vertrags und wurde daher von dem nicht genehmigenden State zur Sühne an den andern Stat ausgeliefert. Die moderne Rechtsbildung iſt inſofern conſequenter, als ſie die öffentlich-rechtliche Natur der Statenverträge vollſtändiger beachtet. Würde ein dritter Stat ohne Ermächtigung für einen andern Stat einen Vertrag abſchließen, ſo würde er ſich allerdings als Stat verpflichten können, für die Genehmigung zu ſorgen.
407.
Hat der Stat Vortheil von dem Vertragsgeſchäft gezogen, das für ihn, aber ohne ſeine Vollmacht abgeſchloſſen worden iſt, ſo iſt er im Fall der Nichtgenehmigung des Vertrags verpflichtet, den ohne Grund empfangenen Vortheil, ſo weit das nach der Lage der Dinge möglich iſt, wieder aufzugeben, beziehungsweiſe eine empfangene Bereicherung zurück zu erſtatten.
Z. B. Der Unterhändler hat den Loskauf von Gefangenen vermittelt und vorläufig eine Summe bezahlt. Wird der Vertrag nicht genehmigt, und werden die Gefangenen zurückbehalten, ſo muß auch dieſe Summe wieder herausgegeben werden. Oder ein Gouverneur einer Colonie geſtattet gegen zugeſicherte Handelsvortheile einem andern State die Gründung eines Marineetabliſſements innerhalb der Colonie. Wird der Vertrag nicht genehmigt, ſo iſt auch dieſes Etabliſſement wieder zu räumen. Hat aber ein Stat im Vertrauen auf die nachfolgende Genehmigung durch den andern Stat einen momentanen Vortheil ſeiner Machtſtellung aus der Hand gegeben, und wird der Vertrag nicht ratificirt, ſo iſt er ſelten in der Lage, jenen Vortheil wieder zu gewinnen und muß die Folgen ſeiner unvorſichtigen Handlungsweiſe tragen. Das Beiſpiel der Samniter, welche das römiſche Heer in den Candiniſchen Päſſen gefangen hatten und nachdem Rom den Frieden nicht ratificirte, ihr Uebergewicht nicht mehr herſtellen konnten, bleibt eine Warnung der Geſchichte.
408.
Es wird angenommen, die Willensfreiheit des States ſei nicht aufgehoben, wenn gleich der Stat in ſeiner Noth und Schwäche genöthigt iſt, den Vertrag einzugehen, wie ihn ein übermächtiger anderer Stat ihm vorſchreibt.
(0256 : 234)
Sechstes Buch.
Im Privatrecht hindert eine ernſte Drohung und die gewaltſame Nöthigung die Gültigkeit des Vertrags. Im Völkerrecht aber wird angenommen, der Stat ſelbſt ſei alle Zeit frei und willensfähig, wenn nur ſeine Vertreter perſönlich frei ſind. Das Statsrecht erkennt auch ſonſt die Nothwendigkeit der Verhältniſſe als entſcheidend an; es iſt ſeinem Weſen nach die als nothwendig erkannte Ordnung der öffentlichen Verhältniſſe. Daher hindern zwingende Einwirkungen, in denen ſich jene Nothwendigkeit offenbart, die Gültigkeit des Statswillens nicht, wenn er denſelben Rechnung trägt. Es gilt das insbeſondere auch von Friedensſchlüſſen. Vgl. unten Buch VIII. Cap. 10. Würde man die Verträge der Staten aus dem Grunde als ungültig aufechten können, daß der eine Stat aus Furcht vor dem andern und durch deſſen Drohungen geſchreckt ohne freien Vertragswillen den Vertrag abgeſchloſſen habe, ſo gäbe es kein Ende des Völkerſtreits und wäre niemals ein geſicherter Friedensſtand zu erwarten.
409.
Wenn jedoch die individuelle Willensfreiheit derjenigen Perſonen, welche den Stat bei dem Vertragsſchluß vertreten, durch Geiſtesſtörung aufgehoben oder durch Beſinnungsloſigkeit verwirrt oder durch Gewalt oder ernſte und nahe Bedrohung gebunden iſt, dann ſind dieſelben nicht fähig, für den Stat verbindliche Erklärungen abzugeben.
Wenn z. B. der Geſante, der zum Vertragsabſchluß ermächtigt iſt, wahnſinnig wird, oder wenn er ſo berauſcht iſt, daß er nicht mehr weiß, was er thut, ſo iſt ſeine Unterſchrift nicht bindend. Ebenſo würde auch die Unterſchrift eines Souveräns nicht den Stat verpflichten, wenn demſelben gewaltſam die Hand zum Unterzeichnen geführt oder er mit Lebensdrohung zur Unterſchrift genöthigt würde. Oder wenn, wie das dem Polniſchen Reichstag widerfahren iſt, die nothwendige Zuſtimmung zu einem Vertrag damit erzwungen wird, daß die Rathsverſammlung mit Truppen umſtellt und die Stimmenden mit dem Tode oder dem Gefängniß bedroht werden, ſo iſt auch ein ſolcher Vertrag ungültig, nicht weil der Stat keinen freien Willen hat, ſondern weil es den Vertretern des Stats an der nöthigen Willenfreiheit fehlt.
410.
Die Rechtsverbindlichkeit der Statenverträge beruht auf dem Rechtsbewußtſein der Menſchheit, und iſt ein nothwendiger Beſtandtheil der völkerrechtlichen Weltordnung.
Verträge, deren Inhalt das allgemein anerkannte Menſchenrecht oder die bindenden Geſetze des Völkerrechts verletzen, ſind deßhalb ungültig.
Der alte Streit über den Rechtsgrund der Verbindlichkeit der Verträge dauert noch fort. Das Völkerrecht kann der Frage nicht damit entgehen,
(0257 : 235)
Völkerrechtliche Verträge.
daß es auf die Autorität eines Geſetzes hinweist, wie das wohl im Privatrecht oft genügt. Meines Erachtens läßt ſie ſich nicht auf den freien Willen der Staten gründen. Der Satz, daß die Willensfreiheit auch in der Freiheit ſich zu binden, zeigen und bewahren müſſe, iſt offenbar nicht richtig; denn die Willensfreiheit für ſich allein bindet nur, weil ſie will und daher nur auf ſo lange ſie will. Sie erklärt die Wirkſamkeit des Willensacts, während der wirkende Wille fortdauert, aber nicht mehr, wenn der Wille wechſelt. Der freie Menſch kann und darf ſeine Willensfreiheit nicht aufgeben, ſie begleitet ihn fort durch ſein ganzes Leben, ſie iſt ein Theil ſeiner Exiſtenz, ſeiner Perſon. Er kann und darf ſich nicht durch freien Willen um den freien Willen bringen, ſich nicht ſelber zum Sclaven machen. Der individuelle Wille iſt überdem für ſich allein nicht Rechtsbildend, nicht die erſte Urſache des Rechts. Wäre er es, ſo müßte alles Gewollte Recht ſein. Es müßte z. B. im Privatrecht möglich ſein, eine Ehe auf ein Jahr zu ſchließen, Grundeigenthum ohne die Grundbücher zu übertragen, Wechſelverbindlichkeiten ohne die Wechſelform einzugehen. Das iſt aber ſo wenig im Privatrecht wie im Völkerrecht der Fall. Die Rechtsverbindlichkeit der Verträge iſt alſo nicht die nothwendige Wirkung der Willensfreiheit, ſondern ſetzt die Exiſtenz einer nothwendigen, nicht von der Willkür geſchaffenen Rechtsordnung der Gemeinſchaft voraus. Der Willensact der einzelnen Perſonen, ſelbſt der Staten im Völkerrecht, iſt demnach nicht die primäre, ſondern erſt eine ſecundäre Urſache der Rechtsbildung. Der Einzelwille bewirkt Recht, nur gemäß und nur innerhalb der gemeinſamen Rechtsordnung. Die Verbindlichkeit der Verträge iſt ſelber ein nothwendiger Rechtsſatz. Sie iſt nothwendig, weil ohne ſie kein geſicherter Rechtsverkehr und kein friedlicher Rechtszuſtand der Völker möglich wäre. In ihr äußert ſich die nachhaltige fortdauernde Wirkung der Rechtsordnung. Man nehme den guten Glauben weg in die Wahrhaftigkeit der völkerrechtlichen Erklärung und die Wirkſamkeit der ertheilten Zuſage und alle Rechtsſicherheit ſtürzt in dem Widerſtreit der wechſelnden Meinungen und Intereſſen rettungslos zuſammen. Die Willenserklärung noch iſt eine Aeußerung der Freiheit, das Halten des Worts aber iſt eine Forderung der Treue, welche bewahrt, was die rechtmäßige Freiheit ſchafft.
411.
Dem anerkannten Menſchenrecht zuwider und daher ungültig ſind insbeſondere Verträge, welche
a) die Sclaverei einführen oder verbreiten und ſchützen (§ 360 f.),
b) die Fremden als rechtlos erklären (§ 381 f.),
c) die freie Schiffahrt auf offener See verhindern (§ 307 f.),
d) Verfolgungen des Glaubens wegen anordnen.
Von den Fällen a—c war oben ſchon die Rede. Der vierte gehört erſt der modernen Rechtsbildung an. Die gereifte Menſchheit legt mit Recht auf die religiöſe
(0258 : 236)
Sechstes Buch.
Freiheit einen ſo hohen Werth, daß ſie allgemeine Glaubensverfolgungen nicht mehr als rechtsverbindlich betrachtet, ſelbſt wenn ſie durch Statsverträge verabredet wären. Die Zeit der Kreuzzüge iſt vorbei. Anders freilich iſt’s, wenn eine Sekte, wie z. B. die Mormonen, die bürgerliche Rechtsordnung, wenn auch aus ſcheinbaren oder wirklichen religiöſen Motiven ernſtlich verletzt.
412.
Völkerrechtswidrig und deßhalb ungültig ſind z. B. Verträge
a) welche die Univerſalherrſchaft eines Einzelſtats über die Welt oder
b) die gewaltſame Unterdrückung eines friedlichen und lebensfähigen States bezwecken.
Vgl. oben § 98 f.
413.
Statenverträge, deren Inhalt das beſtehende Verfaſſungs- und Geſetzesrecht eines States außer Wirkſamkeit ſetzt oder abändert, ſind, wenn ſie von der repräſentativen Statsautorität abgeſchloſſen worden ſind, nicht von Anfang an als völkerrechtlich ungültig zu betrachten, aber ſie ſind nach Umſtänden nicht vollziehbar und inſofern wird ihre Wirkung gehemmt.
Die Schwierigkeit iſt in dieſen Fällen nicht eine völkerrechtliche, denn das Völkerrecht behaftet den Stat, deſſen Vertreter den Vertrag abſchließt und nimmt an, es ſei Aufgabe der Statsgewalt, durch die nöthigen Aenderungen des Statsrechts die völkerrechtlichen Zuſagen zu verwirklichen. Aber es iſt denkbar, daß innerhalb des Landes eine ſolche Beſtimmung Widerſtand findet und da gilt keineswegs ein abſolutes Vorzugsrecht des Völkerrechts vor dem Statsrecht in jedem Conflictfall. Sonſt könnte in der Form völkerrechtlicher Verträge alles Verfaſſungsrecht des Landes entkräftet, und könnten alle geſetzlichen Freiheiten der Bürger beſeitigt werden. Der ſtatsrechtlich begründete Widerſpruch gegen die Ausführung ſolcher verfaſſungswidriger Vertragsbeſtimmungen muß alſo als ein rechtliches Hinderniß ihrer Ausführung anerkannt und kann nicht durch bloße Gewalt durchbrochen, ſondern muß in Rechtsform gelöst werden. Eine Ausnahme machen die Friedensverträge, mit Rückſicht auf die zwingende Nothwendigkeit, welche in ihnen zur Anerkennung gelangt. Vgl. unten Buch VIII.
414.
Verträge, deren Inhalt älteren Verträgen mit andern Staten wider-
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Völkerrechtliche Verträge.
ſtreitet, ſind inſofern unwirkſam, als der früher berechtigte Stat ihrer Ausführung entgegen tritt.
Solche Verträge ſind nicht an ſich ungültig. Wenn der Stat, deſſen ältere Vertragsrechte durch Ausführung des neuen Vertrags verletzt werden, ſich dieſe Aenderung gefallen läßt, ſo ſind dieſelben vollwirkſam. Aber im Widerſtreit geht das beſtehende (ältere) Vertragsrecht dem jüngern vor.
415.
Auch ungünſtige Vertragsbeſtimmungen und läſtige Verſprechen ſollen gehalten werden. Vorbehalten bleibt das Recht eines States, ſich von Verträgen loszuſagen, welche mit ſeiner Exiſtenz oder ſeiner nothwendigen Entwicklung unverträglich ſind.
Die bloße Gefährlichkeit oder Schädlichkeit eines Vertrags hindert ſeine Verbindlichkeit nicht. Würde man jedem Contrahenten geſtatten, ſich einer Vertragspflicht zu entledigen, ſobald ihm dieſelbe läſtig erſchiene, ſo würde die Sicherheit des Vertragsrechts gänzlich zerfallen, und damit die Fortdauer der Weltordnung aufs höchſte gefährdet. Aber die Verbindlichkeit des Vertrags hat doch ihre natürliche Grenze in den Grundrechten des States auf ſeine Exiſtenz und ſeine nothwendige Entwicklung. Im Conflict mit dieſen urſprünglichſten und unveräußerlichen Rechten muß das ſecundäre Vertragsrecht zurückſtehn.
416.
Die Gültigkeit der Statenverträge iſt von der Regierungsform der contrahirenden Staten ſowie von der Religion der Staten oder ihrer Vertreter unabhängig.
Im Mittelalter nahm man an, Verträge mit Nichtchriſten (Ungläubigen) binden nicht. Sogar im ſiebzehnten Jahrhundert noch wurde von der römiſchen Curie und von katholiſchen Biſchöfen behauptet, daß die katholiſchen Fürſten nicht verpflichtet ſeien, die den ketzeriſchen (proteſtantiſchen) Fürſten gegebenen Zuſagen zu halten. Dem heutigen Völkerrecht iſt es nicht mehr zweifelhaft, daß die Vertragspflicht eine allgemein-menſchliche Rechtspflicht ſei, welche Chriſten und Muhammedaner, Juden und Buddhiſten gleichmäßig verbinde. Ebenſo iſt der Unterſchied der Stats- und Verfaſſungsformen zwar erheblich für die Frage der Stellvertretung, aber nicht erheblich für die Gültigkeit der Verträge. Monarchien und Republiken, abſolute und conſtitutionelle Monarchien, Ariſtokratien und Demokratien können ihre Verhältniſſe vertragsmäßig ordnen.
(0260 : 238)
Sechstes Buch.
2. Form der Verträge.
417.
Die bloße einſeitige Willenserklärung eines States, auch wenn ſie einem andern State gegenüber geſchieht, wirkt nur inſofern als Vertragserklärung, wenn
a) die Abſicht des erklärenden States, ſich durch die Erklärung zu binden, offenbar geworden und
b) jener Erklärung die Annahme des Verſprechens von Seite des andern States gefolgt iſt.
Wenn ein Stat in ſeinen diplomatiſchen Aeußerungen lediglich die freien Entſchlüſſe mittheilt, die er auszuführen die Abſicht hat, ſo entſteht kein Vertragsrecht, ſo wenig als durch die Mittheilung einer Privatperſon über ihre freien Vorſätze. Es muß die Abſicht, ſich zu binden, ausgeſprochen ſein.
418.
Die ſogenannten Tractate, d. h. die Aufzeichnung deſſen, worüber ſich die unterhandelnden Staten vorläufig verſtändigt haben, werden nur als Entwurf zu einem Vertrage betrachtet und ſind daher noch nicht verpflichtend.
Solche Punctationen und Tractate ſind nur ausnahmsweiſe verbindlich, wenn die unterhandelnden Vertreter dieſe Verbindlichkeit ausdrücklich gewollt und zugeſtanden haben.
419.
Die Unterzeichnung des bereinigten Vertragsprotocolls oder der fertigen Vertragsurkunde durch die bevollmächtigten Geſanten oder Agenten der contrahirenden Staten wirkt für die vertretenen Staten verbindlich, wenn dieſelbe ohne Vorbehalt und ohne Bedingung geſchehen iſt. Der Vorbehalt der nachfolgenden Ratification der Statsgewalt wird aber unter Umſtänden als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt.
Wenn die Vertreter der unterhandelnden Staten ermächtigt ſind, die definitive verbindliche Willenserklärung derſelben abzugeben, ſo muß auch ihre Erklärung binden, und die Unterzeichnung des Vertragsprotokolls oder der Vertragsurkunde wird als eine ſolche Vertragserklärung angeſehen. Das ſchließt freilich die Möglichkeit
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Völkerrechtliche Verträge.
mündlicher Verträge nicht aus; aber man wird, der Sitte gemäß, nicht geneigt ſein dürfen, mündliche Verabredungen als bindende Verträge anzuerkennen und auszulegen. Die ſchriftliche Vertragsform iſt gegenwärtig ſo allgemeine Uebung, daß eine Abweichung davon und die Ausnahme eines mündlich abgeſchloſſenen Vertrags nur ſchwer Glauben findet und daher die vollſtändige Beweisführung ſchwierig wird.
Der Vorbehalt der nachfolgenden Ratification wird oft ausdrücklich gemacht und dann iſt es klar, daß die Unterzeichnung noch nicht definitiv bindet. Aber derſelbe kann auch aus den Umſtänden als wirkliche Meinung der unterzeichnenden Vertreter geſchloſſen werden und wirkt dann ebenſo. Die vorbehaltene Auswechslung der Vertragsurkunden bedeutet gewöhnlich wieder den Vorbehalt der Ratification, welche durch die Auswechslung der Urkunden erwieſen und vollzogen wird.
420.
Die grundloſe Verweigerung der Ratification kann zwar je nach Umſtänden als eine Verletzung der ſchicklichen Rückſichten betrachtet werden, das Vertrauen zu dem verweigernden State ernſtlich erſchüttern und die freundlichen Beziehungen gefährden, aber ſie darf ſelbſt dann nicht als ein Rechtsbruch erklärt werden, wenn der unterhandelnde Geſante innerhalb ſeiner Vollmacht gehandelt und gemäß ſeinen Inſtructionen unterzeichnet hat.
Einige ältere Publiciſten behaupteten, die Ratification dürfe nicht verſagt werden, wenn der Geſante ſeine Vollmacht gezeigt und ſeine Inſtructionen nicht überſchritten habe. Sie beriefen ſich dabei auf die Analogie des Privatrechts. Aber bei der großen Wichtigkeit dieſer Statenverhältniſſe und bei der thatſächlichen Nöthigung, den Geſanten allgemeine Vollmachten mitzugeben, damit ſie zweckmäßig unterhandeln können, hat der Ratificationsvorbehalt doch den Sinn einer nochmaligen Prüfung.
421.
Wird die vorbehaltene Ratification ertheilt, ſo wird, abgeſehen von andern Verabredungen, die Gültigkeit des Vertrags auf den Zeitpunkt der vorherigen Unterzeichnung des Schlußprotokolls durch die Geſanten oder Agenten der contrahirenden Staten zurückgeführt.
Dieſe Regel entſpricht der Völkerſitte. Sie hat aber auch einen natürlichen Grund darin, daß durch die erſte Unterzeichnung alle Verhältniſſe gleichzeitig geordnet werden, und die ſpätere, an verſchiedenen Tagen nachfolgende Ratification nur
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Sechstes Buch.
den Mangel der vollſtändigen Autoriſation hebt, welcher der ſofortigen Wirkung noch im Wege war. Die Ratification wird daher in der Regel nach dem Willen der Ratificanten auf den Zeitpunkt des früheren Abſchluſſes zurückbezogen.
Auch ohne förmliche Ratificationserklärung und ohne Auswechslung der Vertragsurkunden iſt aus dem Vollzug des Vertrags oder aus andern concludenten Handlungen auf Ratification zu ſchließen.
422.
Völkerrechtliche Verträge können in jeder Form gültig abgeſchloſſen werden, welche den Vertragswillen der contrahirenden Staten offenbar macht.
Die ſchriftliche Form entſpricht der heutigen Uebung am beſten. Es können aber unter Umſtänden auch mündliche Verträge, ja ſogar, wie insbeſondere im Krieg durch Zeichen Verträge geſchloſſen werden. Vgl. oben zu 419.
423.
Die ſchriftliche Form kann durch gemeinſame Unterzeichnung eines Protokolls oder durch Eine Vertragsurkunde, welche in mehreren Originalexemplaren von den Bevollmächtigten oder den Häuptern der Staten gemeinſam unterzeichnet wird, oder durch einſeitig unterzeichnete Erklärungen der ſich verpflichtenden Staten an den berechtigten Stat vollzogen werden.
Im letztern Falle muß die Abſicht ſich zu binden, klar gemacht ſein, ſonſt iſt zu vermuthen, daß nur ein Act der freien Autorität zur Mittheilung gelangt ſei.
424.
Die Veröffentlichung der Verträge iſt keine Bedingung ihrer Gültigkeit und Wirkſamkeit, wenn gleich die Beachtung öffentlicher Verträge beſſer geſichert iſt.
Geheime Verträge ſind noch immer unter gewiſſen Umſtänden unvermeidlich, ebenſo geheime Beſtimmungen in Verträgen, die im übrigen veröffentlicht ſind. Für die Bevölkerung freilich iſt der geheime Vertrag nicht verbindlich, da ſie ihn nicht kennt, ſo wenig als ein geheimes Geſetz. Aber der Stat, welcher den geheimen Vertrag kennt und ſich verflichtet hat, deſſen Inhalt zu vollziehen, iſt dem andern State gegenüber ebenſo gebunden, wie durch einen offenen Vertrag.
(0263 : 241)
Völkerrechtliche Verträge.
3. Verſtärkung der Verträge. Garantieverträge.
425.
Der Eid fügt dem beſchworenen Vertrage nur eine religiöſe nicht auch eine rechtliche Verſtärkung bei. Ebenſo hat die Bekräftigung mit dem Ehrenwort nur eine moraliſche keine rechtliche Bedeutung.
Der Eid war noch im ſiebzehnten Jahrhundert im Gebrauch, kommt aber heute faſt nur noch gegen barbariſche Völker vor, deren Rechtsverſprechen man nicht vertraut, wenn es nicht durch die Furcht vor den angerufenen Göttern verſtärkt wird. Da die Päpſte öfter die contrahirenden Statshäupter ihrer eidlichen Verpflichtung entbanden, ſo wurde zuweilen in den europäiſchen beſchwornen Verträgen die Clauſel beigefügt, daß keine Eidesentbindung begehrt, oder daß dieſelbe, wenn gewährt, ungültig ſein ſolle. Ein Beiſpiel der Spaniſche Ceſſionsvertrag vom Jahre 1703. Ein merkwürdiges Beiſpiel eines mit Königlichem Ehrenwort bekräftigten Vertrags zwiſchen Frankreich und Spanien von 1659, der nicht gehalten wurde, findet ſich bei Laurent „Études sur l’histoire de l’humanité. XI. 424. 434.
426.
Werden zur Verſtärkung eines Vertrags Geiſeln gegeben, ſo kann der berechtigte Stat die Geiſeln zurückhalten, bis der Vertrag vollzogen oder der Vollzug hinreichend geſichert iſt. Wenn aber dieß geſchehen iſt, ſo dürfen die Geiſeln nicht um anderer Forderungen willen an der Heimkehr verhindert werden. Auch wenn der Vertrag nicht erfüllt wird, ſo darf den Geiſeln kein anderes Uebel zugefügt werden, als daß ihnen die Freiheit der Heimkehr entzogen bleibt.
Wenn früher die Geiſeln ſogar am Leben bedroht wurden, inſofern der Vertrag nicht erfüllt ward, ſo wird das ſchon lange nicht mehr als Rechtsübung, ſondern als widerrechtliche Barbarei anſehen.
427.
Werden Geiſeln genommen, nicht gegeben, ſo iſt der Nehmer verpflichtet, auf ſeine Koſten für angemeſſenen Lebensunterhalt der Geiſeln zu ſorgen.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 16
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Sechstes Buch.
428.
Wird zur Verſtärkung einer Vertragsverbindlichkeit ein öffentlich-rechtliches Unterpfand gegeben, indem dem berechtigten Stat die Beſitznahme eines Platzes oder andern Gebietstheiles zur Sicherung eingeräumt wird, ſo dauert das Recht dieſes Beſitzes ſo lange fort, bis der Vertrag vollzogen oder in anderer befriedigender Weiſe für den Vollzug geſorgt iſt. Geht die Ausſicht auf Vertragserfüllung gänzlich unter, ſo wird angenommen, die urſprünglich bloß pfandweiſe übertragene Gebietshoheit werde zu dauerndem und nun eigenem Rechte der Statsgewalt, welche das Gebiet thatſächlich beſitzt.
Nur von der öffentlich-rechtlichen Verpfändung der Gebietshoheit iſt hier die Rede. Auch ſie kam früher öfter vor, als heute; im Mittelalter freilich nach Analogie der privatrechtlichen Verpfändung des Grundeigenthums, in Form der Satzung und nicht ſelten zur Sicherung für Geldſchulden des verpfändenden Stats. Manche Gebietserweiterungen, beſonders der Städteſtaten des Mittelalters ſind ſo begründet und erreicht worden, daß denſelben benachbarte Herrſchaften verpfändet und nicht wieder gelöst wurden. Das heutige Recht unterſcheidet ſchärfer zwiſchen der ſtatlichen Verpfändung eines Gebiets und der privatrechtlichen Hypothek. Die Entſtehungsform — dort Statenvertrag, hier Fertigung im Grundbuch —, der Inhalt — dort Beſitz der Gebietshoheit, hier Sachenbeſitz — und die Wirkungen — dort im Nothfall Aneignung, hier gerichtliche Verſteigerung oder Zuſprechung — ſind verſchieden.
429.
Die gewaltſame Pfandnahme fremden Statsgebietes, zur Sicherung für völkerrechtliche Forderungen an den Stat, dem dieſes Gebiet zugehört, iſt nur unter denſelben Vorausſetzungen geſtattet, unter denen der Krieg gerechtfertigt iſt, es wäre denn, daß dem Pfand nehmenden State die Oberhoheit zuſtände über den bepfändeten Stat.
Wenn ſich der bepfändete Stat widerſetzt, ſo iſt der Krieg offenbar; wenn nicht, ſo kann die Pfandnahme immer noch als Selbſthülfe im Frieden betrachtet werden. Aber ſie erſcheint ſo ſehr in Form der Gewalt über fremdes Gebiet, daß das Völkerrecht dieſelbe nicht als regelmäßiges Executionsmittel billigen kann, ſondern nur dann, wenn es auch die gewaltſame Selbſthülfe im Krieg zulaſſen müßte.
430.
Die Erfüllung eines Vertrags kann auch im Ganzen oder in ein-
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Völkerrechtliche Verträge.
zelnen Artikeln unter die Garantie (Gewährſchaft) einer dritten Macht geſtellt und dadurch geſichert werden.
Dieſer Garantievertrag iſt ein acceſſoriſcher Nebenvertrag, durch welchen der Hauptvertrag verſtärkt wird. Der Garant (Gewähre) erſcheint als ein acceſſoriſcher Paciſcent. Zur Entſtehung dieſes Garantievertrags genügt daher nicht nur die Willenserklärung des Garanten, ſondern es iſt auch die Zuſtimmung der Staten erforderlich, deren Vertrag gewährleiſtet werden ſoll. Dieſe Art der Garantie kann nicht aufgenöthigt werden, weil dadurch die Selbſtändigkeit des States gefährdet würde, über den die Garantie ſich ſchützend erſtreckt.
431.
Wenn die Garantie eines dritten States nur zur Verſtärkung des Hauptvertrags dient, ſo darf und ſoll der Garant nur dann einſchreiten und ſeinerſeits auf Vertragserfüllung dringen, wenn
a) der vorgeſehene Fall des Bedürfniſſes einer Hülfe eingetreten iſt und
b) der Garant von der berechtigten Vertragspartei um Hülfe angerufen worden iſt.
Es ſind das die Folgen des Grundcharakters dieſes Garantievertrags als bloßen Nebenvertrags, verbunden mit dem allgemeinen völkerrechtlichen Intereſſe, gegen die Einmiſchung dritter Mächte und für die Selbſthülfe der betheiligten Hauptparteien. Der Garant darf daher nicht willkürlich interveniren, wenn kein Bedürfnißfall vorliegt, alſo keine widerrechtliche Zögerung oder Weigerung der Erfüllung vorhanden iſt, aber er darf es auch noch nicht, wenn zwar ein äußerer Grund zum Einſchreiten ſich zeigt, aber die zunächſt berechtigte Hauptpartei der Hülfe des Garanten nicht bedarf oder ſie nicht will, ſondern es vorzieht, ſich ſelber zu helfen.
432.
Nur wenn der Garantievertrag als ſelbſtändiger Vertrag zum Schutz einer allgemeinen völkerrechtlichen oder ſtatsrechtlichen Anordnung abgeſchloſſen worden iſt, ſind die Garanten berechtigt, je nach Umſtänden auch von ſich aus einzuſchreiten, wenn ihr eigenes Intereſſe an jener Anordnung verletzt oder bedroht erſcheint.
Es ſind offenbar zwei verſchiedene Rechtsverhältniſſe, welche unter dem einen Namen der Garantie zuſammengefaßt werden: a) der Nebenvertrag, durch wel-
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Sechstes Buch.
chen der dritte Garant einer Vertragspartei Hülfe verſpricht (Bürgſchaftsgarantie), und b) der Hauptvertrag, durch welchen eine Anzahl Mächte einen völkerrechtlichen Rechtszuſtand unter ihren ſelbſtändigen Schutz nehmen (Garantiebeſchluß). Im erſten Fall erſcheint die Pflicht und das Recht abhängig von dem Recht des States, zu deſſen Gunſten die Garantie übernommen worden iſt. Im zweiten Fall iſt ſie davon unabhängig, weil ſie überhaupt nicht bloß oder nicht hauptſächlich für eine andere Hauptpartei, ſondern weſentlich aus Gründen und Intereſſen der Garanten ſelber und von dieſen in ſelbſtändiger Weiſe verabredet wird. Wenn z. B. ein Geſammtſtat den Beſtand und die Verfaſſung der Einzelſtaten gewährleiſtet (garantirt), ſo iſt unter Umſtänden eine Intervention desſelben gerechtfertigt, wenn gleich dieſelbe nicht angerufen worden iſt. Oder wenn die europäiſchen Mächte die Neutralität Belgiens aus Gründen des allgemeinen europäiſchen Intereſſes (Vertrag von 1839) oder die relative Selbſtändigkeit der Donaufürſtenthümer (1856) garantirt haben, ſo wären die Garantiemächte unzweifelhaft zum Einſchreiten gegen eine einzelne fremde Macht berechtigt, welche jene Neutralität oder dieſe Selbſtändigkeit ernſtlich mißachtete, auch wenn ſie von dieſen bedrohten Ländern nicht um Hülfe angerufen würden.
433.
Erſtreckt ſich die Garantie auf den Rechtsſchutz der Unterthanen eines Stats, wie z. B. zur Erhaltung von beſondern Stiftungen und Anſtalten, oder im Intereſſe der ungehemmten Religionsübung oder beſtimmter hergebrachter Freiheiten, ſo können auch dieſe betheiligten Privatperſonen die Hülfe der Garanten anrufen, aber nur, wenn zuvor ihre gerechten Beſchwerden oder Begehren bei der eigenen Statsgewalt in dem ordentlichen Rechtsverfahren angebracht, aber kein Rechtsſchutz gewährt worden iſt.
So weit die regelmäßigen ſtatsrechtlichen Mittel ausreichen, um die Rechtsanſprüche der Statsangehörigen zu ſichern, darf nicht die völkerrechtliche Intervention der fremden Garantiemacht angerufen werden, theils weil Handhabung des Rechtsſchutzes zunächſt Sache des eigenen und nicht eines fremden States iſt, theils weil jede Einmiſchung eines fremden Stats für die Selbſtändigkeit und Freiheit des eigenen States gefährlich iſt, theils weil die Garantie des fremden States ihrem Weſen nach nur eine ſubſidiäre Rechtshülfe iſt. Aber im Nothfall darf auch dieſe Hülfe von denen angerufen werden, zu deren Gunſten dieſes völkerrechtliche Hülfsmittel verabredet worden iſt.
Der Garant iſt nicht verpflichtet, Hülfe zu leiſten, ſo lange der Hülfe Begehrende der Hülfe nicht bedarf, und er bedarf ihrer nicht, ſo lange er im Stande iſt, ſich ſelber zu helfen.
(0267 : 245)
Völkerrechtliche Verträge.
434.
Bei der Leiſtung der Hülfe darf der Garant nur völkerrechtlich erlaubte und nur verhältnißmäßige Mittel anwenden.
Die Waffengewalt iſt nur als äußerſtes Mittel und nur dann zu rechtfertigen, wenn die friedlichen Mittel nicht ausreichen.
435.
Keinenfalls darf der Garant mehr fordern, als die Hauptpartei verlangt, deren Anſpruch er nur unterſtützt. Aber er darf und ſoll die Forderungen der Hauptpartei nur in dem beſchränkten Maße unterſtützen, in welchem er dieſelben als berechtigt anerkennen muß.
Niemand iſt verpflichtet, mehr zu leiſten, als er verſprochen hat. Wenn daher der Hülfe begehrende Stat übertriebene Anſprüche erhebt und unzeitgemäße Forderungen ſtellt, ſo kann dem Garanten nicht zugemuthet werden, dafür ſeine Kräfte anzuſtrengen. Die Auslegung freilich darf auch nicht in die Willkür des Garanten gegeben werden, ſondern ſoll bona fide geſchehen.
436.
Wird der Garant von beiden Hauptparteien angerufen, ſo hat er ſeine Hülfe jeder Partei in ſo weit zu leiſten, als er ſich von ihrem Rechte überzeugt.
437.
Wenn die garantirte Beſtimmung widerrechtlich iſt oder unausführbar erſcheint, ſo iſt der Garant auch nicht verbunden, ſeine Beihülfe zu ihrer Durchführung zu gewähren.
Da die Vertragsverbindlichkeiten überhaupt nur innerhalb der völkerrechtlich anerkannten und zu ſchützenden Rechtsordnung gelten, ſo ermäßigt ſich auch die Hülfspflicht der Garanten. Fälle der Art ſind:
a) die garantirte Beſtimmung ſteht mit den Rechten eines dritten States, vielleicht aus einem älteren Vertrage, im Widerſpruch, und dieſer Stat widerſpricht die Ausführung jener;
b) ſie verletzt anerkannte Menſchenrechte, z. B. der perſönlichen Freiheit oder des freien Verkehrs;
c) ſie läßt ſich nicht mehr mit den Fortſchritten des Völkerrechts vereinigen,
(0268 : 246)
Sechstes Buch.
wie z. B. ſie will den Schiffahrtsverkehr auf Strömen verhindern, welche dem Weltverkehr neu eröffnet worden ſind;
d) die nothwendige Entwicklung und Wandlung der öffentlichen Rechts- und Statszuſtände läßt das Feſthalten an der älteren Vertragsbeſtimmung als unnatürlich und nicht mehr zeitgemäß erſcheinen.
438.
Den Hauptparteien, in deren Intereſſe der Garantievertrag als bloßer Nebenvertrag abgeſchloſſen worden iſt, ſteht es allezeit frei, die Garanten ihrer Währſchaftspflicht zu entbinden und damit den Garantievertrag aufzulöſen.
Das gilt natürlich nicht von ſolchen Garantieverträgen, welche nicht als bloße untergeordnete Nebenverträge zur Verſtärkung des Hauptvertrages eingegangen worden ſind, ſondern eine ſelbſtändige Bedeutung auch im Intereſſe des Garanten haben. Vgl. zu § 432.
439.
Haben zwei oder mehrere Garanten einen Vertrag gewährleiſtet, ſo kann zunächſt jeder derſelben von den Betheiligten um Hülfe angerufen werden. Aber der angerufene Garant iſt ſeinerſeits berechtigt, bevor er einſeitige Hülfe leiſtet, ein Einverſtändniß mit den übrigen Garanten zu verſuchen.
Sobald mehrere Garanten desſelben Vertrags vorhanden ſind, ſo beſteht mindeſtens eine objective Verbindung derſelben, inſofern ſie denſelben ſtatlichen Zweck durch ihre Beihülfe erreichen ſollen, alſo im Ziel zuſammentreffen und demnach auch in den Mitteln, mit denen das Ziel zu erreichen iſt, einander ergänzen und unterſtützen. Deßhalb iſt alle Zeit ein vorheriges Einverſtändniß zu verſuchen, ſo weit die Umſtände einen Aufſchub erlauben. Die Verbindung kann aber auch von Anfang als perſönliche Gemeinſchaft der Garanten gewollt ſein und dann darf nicht einſeitige Hülfe gefordert werden, ſo lange die Möglichkeit der Gemeinhülfe offen bleibt. Vgl. darüber § 440.
440.
Iſt die Garantie zweier oder mehrerer Staten ausdrücklich als eine gemeinſame nicht als eine mehrfache Einzelgarantie verabredet worden (Collectivgarantie), ſo ſind die garantirenden Staten zugleich um Beiſtand anzugehen oder zur Vertheidigung des garantirten Zuſtandes aufzurufen.
(0269 : 247)
Völkerrechtliche Verträge.
Der Garantiefall iſt gemeinſam von denſelben zu prüfen und ſo weit es nöthig und thunlich erſcheint, gemeinſame Hülfe oder Abhülfe zu gewähren. Können ſich die Garanten nicht unter einander verſtändigen, ſo iſt jeder Einzelne berechtigt und bona fide verpflichtet, nach ſeinem Ermeſſen dem Vertrag Folge zu geben.
Die Collectivgarantie findet ſich öfter, wenn ein völkerrechtlicher Zuſtand durch dieſelbe geſchützt werden ſoll, z. B. zum Schutz der Neutraliſirung eines Gebiets (Garantiebeſchluß) als zur Verſtärkung einer andern Hauptverpflichtung (Bürgſchaftsgarantie), es widerſtreitet aber der bona fides, derſelben nur eine moraliſche Bedeutung deßhalb beizulegen, weil es ſchwierig ſei, die Einſtimmigkeit zu erzielen, und jeder einzelne Garant, zufolge ſeiner Souveränetät, die Macht habe, durch ſeinen Widerſpruch eine gemeinſame Action zu verhindern. So unſicher die völkerrechtlichen Verpflichtungen ſind, ſo darf ihre rechtliche Verbindlichkeit doch nicht verkannt werden. Die Garanten, welche den garantirten Zuſtand, z. B. die angefochtene Neutralität von Belgien nicht wider den Angreifer vertheidigen, obwohl ſie das ſollen und können, erfüllen ihr Verſprechen nicht und handeln inſofern rechtswidrig. Inſoweit ein gemeinſames Intereſſe der Collectivgarantie zu Grunde liegt, haben auch alle Betheiligten ein Recht, die andern Theilnehmer zur Ausübung ihres Rechts und zur Erfüllung ihrer Pflicht zu mahnen. Vgl. die Erörterungen über den Garantiebeſchluß der Londoner Conferenz von 1867 über die Neutralität des Großherzogthums Luxemburg.
441.
Wenn ein Stat für die Verbindlichkeiten eines andern States als Bürge eintritt, ſo verpflichtet er ſich, ſelber für den andern Stat die Leiſtung zu erfüllen, wenn dieſer in der Erfüllung ſeiner Vertragspflicht ſich ſäumig erweist.
Der Garant iſt von dem eigentlichen Bürgen zu unterſcheiden. Jener verbindet ſich, die verpflichtete Hauptpartei zur Erfüllung anzuhalten, beziehungsweiſe den Berechtigten in der Durchführung ſeiner Forderung zu unterſtützen. Dieſer dagegen iſt verpflichtet, ſelber ſubſidiär oder unter Umſtänden ſogar gleichzeitig neben dem Hauptverpflichteten anſtatt desſelben die Leiſtung zu erfüllen. Die Bürgſchaft kann eine privatrechtliche ſein, wenn ſie ſich auf Bezahlung einer Geldſchuld bezieht, ſie kann aber auch öffentlich-rechtlich ſein, in dem ſie ſich auf einen öffentlich-rechtlichen Inhalt bezieht.
(0270 : 248)
Sechstes Buch.
4. Arten der völkerrechtlichen Verträge.
442.
Als völkerrechtliche Verträge im eigentlichen Sinne gelten
a) voraus die ſogenannten Statenverträge, d. h. die Verträge zwiſchen zwei oder mehreren Staten von öffentlich-rechtlichem Inhalt;
b) ſodann die zwiſchen untergeordneten Aemtern oder Gliedern verſchiedener Staten innerhalb ihrer Amts- oder Rechtsſphäre abgeſchloſſenen Verträge über öffentliche Verhältniſſe.
1. In der erſten Claſſe erſcheinen die Staten ſelber als handelnde Vertragsperſonen, in der zweiten Claſſe untergeordnete Gewalten oder Körperſchaften im State, aber mit ſtatlicher Ermächtigung. Beiderlei Verträge haben einen öffentlich-rechtlichen Inhalt. Es iſt das ſelbſt dann der Fall, wenn etwa ein Statenvertrag für die privatrechtlichen Verhältniſſe der eigenen Landesangehörigen in fremdem Lande ſorgt, denn er ordnet und ſchützt hier das Privatrecht mit ſtatlicher Autorität, ähnlich wie in der Landesgeſetzgebung oder durch die ordentliche Rechtspflege. Dagegen ſind Verträge von bloß privatrechtlichem Inhalt, wenn gleich von zwei Staten abgeſchloſſen, nicht völkerrechtlich, weil inſofern die Staten nicht als Staten, ſondern gleich Privatperſonen contrahiren. Von der Art ſind z. B. Darlehns-, Kauf- und Miethverträge, wobei es ganz gleichgültig erſcheint, ob Staten oder ob Privaten dieſelben contrahiren. — Aus ſolchen privatrechtlichen Verträgen entſteht nur eine privatrechtliche Forderung oder Schuld, welche dem Fiscus, als dem perſonificirten Privatvermögen des States zugehört. Nur wenn ausnahmsweiſe ſolche Verträge unter den Schutz des Völkerrechts geſtellt worden ſind, ſo daß ſie einen Beſtandtheil wirklicher Statenverträge bilden, oder eine ſtatliche Garantie erhalten haben, dann fallen ſie inſofern in das Gebiet des Völkerrechts.
2. Bloß partielle völkerrechtliche Verträge der zweiten Claſſe ſind z. B. Verträge über Grenzregulirung, welche den Provinzialregierungen überlaſſen ſind, gerichtliche Requiſitionen, denen Folge gegeben wird, ohne die Intervention der höchſten Statsautoritäten, provincielle Flußregulirung, Verträge mit einzelnen Truppencommando’s über die Einquartierung, den Durchmarſch, die Ernährung der Truppen, Verträge zwiſchen Nachbargemeinden verſchiedener Staten über Gemeindeverhältniſſe u. dgl.
443.
Als uneigentliche völkerrechtliche Verträge, weil nicht beiderſeits durch Staten geſchützt, gelten:
(0271 : 249)
Völkerrechtliche Verträge.
a) Verträge zwiſchen ſouveränen Perſonen oder Dynaſtien unter ſich oder mit fremden Staten über perſönliche oder dynaſtiſche Anſprüche auf Landesregierung oder Thronfolge;
b) Verträge des States mit fremden Privatperſonen über öffentliche Rechtsverhältniſſe, wenn dieſelben ausnahmsweiſe unter den Schutz des Völkerrechts geſtellt ſind;
c) Verträge des States mit der Kirche über ſtats- und kirchenrechtliche Verhältniſſe, insbeſondere die Concordate der Staten mit dem päpſtlichen Stuhl.
1. Zu a. Hieher gehören z. B. Verträge eines States mit einem entthronten fremden Fürſten über Wiedereinſetzung desſelben in die Herrſchaft, Verträge zum Schutz einer beſtimmten Dynaſtie in dem Beſitz des Throns, oder mit einem auf Herrſchaft verzichtenden Fürſten, oder Erbverträge zwiſchen zwei Linien einer Dynaſtie oder zwei Dynaſtien, wenn dieſelben verſchiedenen Staten angehören. Ein dynaſtiſches Hausgeſetz oder eine dynaſtiſche Erbverbrüderung innerhalb desſelben States hat nur eine ſtatsrechtliche, keine völkerrechtliche Bedeutung.
2. Zu b. Z. B. Die Verträge der deutſchen Staten mit der Familie Thurn und Taxis über das Poſtregal, ſo lange dieſelben unter den Schutz des deutſchen Bundes geſtellt waren. Abgeſehen von ſolchem Schutz, der über die Hoheit und Macht eines States hinaus wirkt, haben ſolche Verträge nur einen privatrechtlichen, höchſtens einen ſtatsrechtlichen Charakter.
3. c. Die kirchlichen Concordate zwiſchen einzelnen Staten und dem römiſchen Papſtthum als Haupt und Repräſentanten der römiſch-katholiſchen Kirche ſind keine völkerrechtlichen Verträge im eigentlichen Sinn, weil der Papſt nicht als Landesfürſt, ſondern als Kirchenhaupt dieſelben eingeht, alſo nur auf der einen Seite ein Stat Vertragsperſon iſt, auf der andern die Kirche. Aber die Analogie der völkerrechtlichen Verträge kommt inſofern zur Anwendung, als zwei weſentlich ſelbſtändige Mächte als öffentliche Perſonen mit einander über öffentlich-rechtliche Dinge ſich vereinbaren. Der völkerrechtliche Schutz iſt bei dieſen Verträgen ein unvollſtändiger, weil wohl der contrahirende Stat die Macht hat, zum Schutz ſeines Rechts die völkerrechtlichen Mittel, nöthigenfalls die Gewalt, zu gebrauchen, die Kirche dagegen dieſe Mittel nicht beſitzt und ſtatt derſelben andere der religiöſen Autorität benutzen kann, welche nicht durch das Völkerrecht geordnet werden. Sie bilden demnach eine eigenthümliche Gattung für ſich, auf welche die Grundſätze der völkerrechtlichen Verträge nur mit Vorſicht überzutragen ſind.
Zunächſt ſind auch dieſe Concordate als rechtsverbindlich zu betrachten, ſowohl für den Stat als für die Kirche. Aber dieſe Verbindlichkeit bleibt beſchränkt, mehr noch ſogar als die Verbindlichkeit der eigentlichen Statenverträge, weil hier neben den politiſchen auch die religiöſen Rückſichten in Betracht kommen. Von den Vertheidigern des kirchlichen Standpunktes wird hier der Kirche das Recht vindicirt,
(0272 : 250)
Sechstes Buch.
jeder Zeit aus religiöſen Gründen kraft ihrer Gewiſſenspflicht von früheren Verträgen ſich loszuſagen. Wenn das als ein ſelbſtverſtändliches Recht der religiöſen Lebensgemeinſchaft behauptet wird, weil die religiöſe Gewiſſenspflicht ſich nicht durch äußere Rechtsformen dauernd binden läßt, ſo entſpricht dem in derſelben Weiſe ein einſeitiges Rücktritts- und Kündigungsrecht des Stats aus politiſchen Gründen und kraft ſeiner Pflicht, für das Volkswohl zu ſorgen. Muß der Stat der Kirche jene Freiheit gewähren, ſo kann die Kirche dem State nicht dieſelbe Freiheit verſagen; und es iſt nur auf beiden Seiten bona fides zu verlangen. Insbeſondere können Dinge wohl dauernd und feſt rechtlich geordnet werden, welche der religiöſen Betrachtung als indifferent, oder doch als nicht durch die religiöſen Pflichten mit Nothwendigkeit beſtimmt erſcheinen, oder für die Exiſtenz und Fortentwicklung des Stats nicht verderblich ſind. Aber immer erſcheint um ſolcher Rückſichten willen die Rechtsverbindlichkeit ſolcher Concordate nur als eine einſtweilige gemeinſame Regulirung, welche zu wirken und zu binden aufhört, wenn eine der beiden Vertragsperſonen kündigt.
444.
Weder die ungleiche Macht und Stellung der paciſcirenden Staten, noch die ungleiche Belaſtung eines States zum Vortheil des andern iſt ein Hinderniß für die Gültigkeit der völkerrechtlichen Verträge.
1. Es können für’s erſte gültige Statenverträge auch zwiſchen einer Schutzmacht und einem ſchutzbedürftigen State, zwiſchen einem oberherrlichen und einem Vaſallenſtate, zwiſchen einem Geſammt- und einem Einzelſtate geſchloſſen werden. Es wird zu völkerrechtlichem Vertragsrecht nicht Gleichheit noch auch nur gleiche Unabhängigkeit der Staten vorausgeſetzt.
2. Fürs zweite iſt das Gleichgewicht der wechſelſeitigen Leiſtungen kein nothwendiges Erforderniß der Statenverträge. Es iſt möglich, daß der mächtigere Stat ſchwerere Pflichten übernehme, als der ſchwächere, z. B. die militäriſche Schutzpflicht. Bedenklicher freilich iſt es, wenn einem kleinen State von dem großen ſchwere Leiſtungen zugemuthet werden, denen keine vertragsmäßige Gegenleiſtung entſpricht. Indeſſen auch das foedus iniquum iſt ein rechtsgültiger Vertrag. Es kann darin die Nothwendigkeit der Lage ſich richtig darſtellen.
445.
Dem Gegenſtande nach ſind die völkerrechtlichen Verträge ſo mannigfaltig, als die Rechtsverhältniſſe ſind, in denen Staten mit Staten ſich befinden können.
Nur einzelne Anwendungen ſind z. B. a) Grenzverträge, b) Verträge über Abtretung von Statsgebiet, c) Succeſſionsverträge über die Regie-
(0273 : 251)
Völkerrechtliche Verträge.
rungsfolge, d) Verträge über Statsdienſtbarkeiten, e) Handelsverträge, f) Zollverträge, g) Verträge über Poſt-, Eiſenbahn- und Telegraphenweſen, h) Verträge über gemeinſame Statsinſtitutionen, i) Verträge über die Freizügigkeit und das Paßweſen, über die Niederlaſſung, k) Auslieferungsverträge, l) Bündniß und Bundesverträge, m) Verträge während des Kriegs über Truppenaufnahme, Capitulationen, Auswechslung von Gefangenen, Waffenruhe und Waffenſtillſtand u. dgl., n) Friedensverträge.
5. Von den Allianzen insbeſondere.
446.
Als Allianz wird ein Statenvertrag bezeichnet, durch welchen ein Stat einem andern Stat für gemeinſame politiſche Zwecke ſeine Mitwirkung und ſeinen Beiſtand verſpricht.
Oft ſind die Allianzen auf den Kriegszuſtand berechnet und dann entweder Defenſivallianzen, inſofern ausſchließlich die Vertheidigung des gegenwärtigen Rechts- oder Beſitzſtandes beabſichtigt wird, oder Offenſivallianzen, wenn auch ein Angriffskrieg vorgeſehen wird, oder beides zugleich, Defenſiv- und Offenſivallianzen, Bündniſſe zu Schutz und Trutz. Eine Allianz kann ſich aber auch auf politiſche Zwecke beziehn, die im Frieden zu erreichen ſind, ohne Rückſicht auf einen Krieg. Von der Art ſind politiſche Allianzen zu gemeinſamer Haltung und Einwirkung auf einem bevorſtehenden Congreß oder auch ohne ſolchen in der diplomatiſchen Verhandlung und Richtung überhaupt. Immer aber hat die Friedensallianz eine gemeinſame Politik und nicht etwa bloß einzelne gemeinſame Einrichtungen oder Unternehmungen zum Zweck. In den letztern Fällen ſpricht man wohl von Verbindungen zweier Staten, aber nicht von Allianzen im eigentlichen Sinne. Die ſogenannte heilige Allianz von 1815 (oben § 101) iſt ein Beiſpiel einer umfaſſenden Friedensallianz.
447.
Die nothwendige Vorausſetzung der kriegeriſchen Allianzen iſt ein gerechter Krieg. Verträge zu gemeinſamem Kriegsangriff, ohne rechtmäßige Kriegsurſache, ſind völkerrechtswidrig und daher nicht verbindlich. Es be-
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Sechstes Buch.
ſteht keine Pflicht für den Alliirten in einem offenbar ungerechten Kriege Hülfe zu leiſten.
1. Die Defenſivallianz wird abgeſchloſſen zur Vertheidigung entweder des beſtehenden Rechts oder doch des Beſitzſtandes wider feindliche Gewalt. Es iſt nicht erforderlich, daß dabei wenigſtens einer der Alliirten als künftige Kriegspartei gedacht wird. Es kann auch eine bewaffnete Allianz der neutralen Staten vereinbart werden, zur Behauptung der Neutralität während eines Krieges zwiſchen dritten Mächten und zum Schutz der Rechte der Neutralen. Von der Art war die bewaffnete Neutralität der nordiſchen Seemächte von 1780.
2. Aber auch die Offenſivallianz darf wie der Krieg ſelbſt nur völkerrechtlich erlaubte Ziele anſtreben. Sie hat die Verfolgung gerechter Anſprüche entweder im Sinne der beſtehenden Rechtsordnung oder im Sinne der nothwendigen Entwicklung zum Zweck. Würde ſie abgeſchloſſen, lediglich um auf Eroberung auszugehen oder um mit vereinter Gewalt andere Staten zu unterdrücken, ſo wäre ſie völkerrechtswidrig. (Vgl. oben oben § 98, 412.)
3. Inſofern iſt die ſtillſchweigende Vorausſetzung (clause tacite) einer jeden Allianz auf den Kriegsfall, daß die kriegeriſche Hülfe völkerrechtlich erlaubt ſei, d. h. daß die Partei, welche die Hülfe des Alliirten begehrt, berechtigt erſcheine, entweder ſich zu vertheidigen oder anzugreifen. Niemals iſt der Alliirte ſchuldig, auch dann Hülfe zu leiſten, wenn es ihm offenbar iſt, daß der Hülfe fordernde Stat Unrecht verübt, ſei es indem dieſer rechtmäßige Forderungen zu erfüllen ohne Grund verweigert, ſei es indem derſelbe ohne Grund einen andern Stat mit Gewalt mit Krieg überzieht. In einem offenbar ungerechten Kriege die Hülfe verweigern, das heißt nicht die Allianz brechen, ſondern die völkerrechtliche Pflicht üben.
448.
Die Pflicht der Alliirten, Hülfe zu gewähren, wird ermäßigt und beſchränkt durch die nähere Pflicht der nothwendigen Selbſtvertheidigung. Der Alliirte muß nur Hülfe leiſten, ſoweit er im Stande iſt, über Hülfskräfte zu verfügen.
Es iſt das eine ſtillſchweigende Vorausſetzung der Allianzen. Einem Stat, welcher alle ſeine Kräfte zuſammenhalten muß, um ſein eigenes Gebiet gegen feindlichen Angriff zu vertheidigen, kann man nicht zumuthen, daß er ſich ſelber Preis gebe, um einem andern Stat Hülfe zu leiſten. Die Exiſtenz des eigenen States zu bewahren iſt die erſte und höchſte Pflicht jeder Statsgewalt. Nur wenn es damit verträglich iſt, dürfen die Statskräfte für einen befreundeten Stat eingeſetzt werden. Wenn das eigene Haus brennt, ſo gebietet die Pflicht der Selbſterhaltung vorerſt da und nicht bei dem Nachbar zu löſchen. Es kann freilich dieſer Satz mißbraucht und die Nothwendigkeit der Selbſthülfe als Vorwand benutzt
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Völkerrechtliche Verträge.
werden, um ſich der Pflicht zur Bundeshülfe zu entziehn. Das iſt oft ſchon geſchehen und wird wieder geſchehn. Aber ſo tadelnswerth der Mißbrauch iſt, ſo unentbehrlich und unbeſtreitbar iſt jener Rechtsſatz ſelber, wenn er bona fide verſtanden und angewendet wird. Wenn militäriſche Gründe einer wirkſamen Kriegsführung verlangen, daß die Truppen aller Bundesgenoſſen zuſammengezogen und einſtweilen das Gebiet eines States Preis gegeben werden, ſo widerſtreitet dieſe Forderung nicht der obigen Regel, denn dieſe Maßregel gibt nicht der Bundeshülfe den Vorzug vor der Selbſthülfe, ſondern ſchließt die Selbſthülfe in ſich. Wenn die Bundesgenoſſen in Folge der Concentrirung aller ihrer Kräfte ſiegen, ſo wird auch jedem verbündeten State am ſicherſten geholfen und das vorübergehende Leiden feindlicher Beſitznahme am ſicherſten geheilt. Im Uebrigen gilt das Ultra posse nemo tenetur ganz vorzüglich, wenn Verbindlichkeiten der Staten in Frage ſind.
449.
Bei der Auslegung und Anwendung der Allianzverträge iſt beiderſeits mit ehrlicher Treue, in gutem Glauben und aufrichtiger Freundſchaft zu verfahren.
1. Dieſe moraliſchen Rückſichten dürfen überhaupt bei der Interpretation der Statenverträge nicht überſehen werden. Bei den Allianzen, die ein Freundſchaftsverhältniß unter den Alliirten begründen, iſt es im höchſten Grade nöthig, daß dieſelben ſorgfältig beachtet werden. Wird der Glaube und das Vertrauen der Alliirten auf aufrichtige Unterſtützung zerſtört, ſo iſt die Allianz eine todte Form, aus der das Leben gewichen iſt, und muß zerfallen. Die Frage, ob wirklich der vorgeſehene Fall eingetreten ſei, in welchem die Hülfe des Alliirten begehrt werden darf und geleiſtet werden muß (der ſogenannte casus foederis), kann ſelten anders als nach Erwägung aller Umſtände durch freies Ermeſſen entſchieden werden und dafür iſt die bona fides unentbehrlich. Ebenſo ſind die Art, die Größe und die Dauer der Hülfe in den Verträgen nicht leicht zum voraus genau zu fixiren und muß man wieder mit bona fides das Bedürfniß und die verfügbaren Mittel beſtimmen.
2. Auch die Frage, inwiefern es gegen den guten Glauben und die Treue verſtoße, wenn ein Alliirter durch Unterhandlungen mit einem dritten State die Intereſſen des andern Alliirten gefährdet oder verletzt, läßt ſich nicht durch eine formelle Rechtsregel ohne moraliſche Erwägungen richtig entſcheiden. Die Treue der Alliirten iſt jedenfalls nur als wechſelſeitiges Recht und gegenſeitige Pflicht aufrecht zu erhalten.
(0276 : 254)
Fünftes Buch.
6. Aufhören der Vertragsverbindſichkeit.
450.
Die Vertragsverbindlichkeit hört von Rechts wegen auf
a) wenn die verabredete Leiſtung abſchließen erfüllt iſt,
b) inſofern der Vertrag unter einer auflöſenden Bedingung geſchloſſen worden iſt, durch Eintritt der Bedingung,
c) inſofern der Vertrag auf eine beſtimmte Zeitfriſt eingegangen worden iſt, mit Ablauf dieſer Zeitfriſt.
Dieſe Sätze enſprechen dem gewohnten Vertragsrecht, wie es auch in Privatverhältniſſen angewendet wird.
451.
Iſt ein Vertragsverhältniß zunächſt nur auf eine beſtimmte Zeitdauer abgeſchloſſen, ſo wird auch ohne ausdrückliche Erklärung die einſtweilige Fortſetzung dieſes Verhältniſſes über jene Zeitgrenze hinaus vermuthet, wenn thatſächlich demſelben weitere Wirkung gegeben wird.
Es iſt das eine ſtillſchweigende Vertragserneuerung, welche als Fortſetzung des alten Rechtsverhältniſſes gilt. Sie wirkt aber nur unter der Vorausſetzung des beiderſeitigen Einverſtändniſſes und iſt immerhin der freien Kündigung ausgeſetzt.
452.
Ueberdem wird das Vertragsverhältniß durch eine auflöſende Willensübereinkunft beendigt.
Das Ende entſpricht dem Anfang. Wie durch Willensübereinkunft ein Vertragsverhältniß geknüpft wird, ſo kann es durch eine ſolche auch wieder gelöst werden. Der mutuus dissensus iſt die Negation des früheren mutuus consensus. Unter Umſtänden kann auch aus dem beiderſeitigen thatſächlichen Verhalten auf den Willen der Vertragsperſonen geſchloſſen werden, auseinander zu gehen und den Vertrag aufzulöſen.
453.
Ebenſo hört eine Vertragsverbindlichkeit auf, wenn der Berechtigte darauf Verzicht leiſtet.
(0277 : 255)
Völkerrechtliche Verträge.
454.
Durch einſeitige Kündigung einer Vertragspartei wird der Vertrag nur dann beendigt, wenn entweder das Recht freier Kündigung vorbehalten worden iſt, oder wenn ſich aus den Umſtänden ein Recht zur Kündigung ergibt.
Die Natur des öffentlichen Rechts nöthigt dazu, in manchen Fällen ein Recht zur Kündigung anzunehmen, wo ein ſolches nicht vorbehalten worden iſt. Bei den Statenverträgen iſt die Wohlfahrt der langlebigen Völker betheiligt, und es darf nicht ein Geſchlecht die folgenden Geſchlechter für alle Zukunft binden. Wenn gleich die jeweiligen Repräſentanten eines States dieſen ſelbſt und auf die Dauer durch ihre Erklärungen verpflichten können, ſo muß man ſich doch daran erinnern, daß dieſes Repräſentativrecht kein abſolutes iſt, und daß die Repräſentanten von heute weder die Einſicht noch die Macht haben, die öffentlichen Zuſtände für die Ewigkeit zu ordnen. Ein Beiſpiel eines ſolchen ſelbſtverſtändlichen Kündigungsrechts ſiehe oben § 443, andere in den folgenden Artikeln.
455.
Wenn eine Vertragspartei ihre Verbindlichkeiten nicht erfüllt, oder die Vertragstreue bricht, ſo iſt die verletzte Partei zum Rücktritt von dem Vertrage berechtigt.
In dem gewohnten Vertragsrechte der Privatverträge findet ſich dieſe Regel nur ausnahmsweiſe. Die Nichterfüllung begründet dort zunächſt eine Klage des Verletzten auf Erfüllung, aber nur in wenigen Vertragsacten den freien Rücktritt oder die Kündigung desſelben. Aber im Völkerrecht muß jene Regel anerkannt werden, ſchon weil es da an einem Richter fehlt, welcher den ſäumigen Theil zur Erfüllung nöthigt, und die Selbſthülfe durch Krieg in allen Fällen bedenklich, in vielen unthunlich und unwirkſam iſt.
456.
Wenn die thatſächlichen Zuſtände, welche die ausdrückliche oder ſtillſchweigende Vorausſetzung und Grundlage der übernommenen Vertragspflicht geweſen ſind, ſich im Laufe der Zeit in dem Maße ändern, daß die Erfüllung der Vertragsverbindlichkeit unnatürlich oder ſinnlos geworden iſt, ſo erliſcht ſolche Verbindlichkeit.
Zu weit gehen einzelne Völkerrechtslehrer, wenn ſie behaupten, daß die Clauſel: „rebus sic stantibus“ ſtillſchweigend allen Verträgen der Staten beigefügt
(0278 : 256)
Sechstes Buch.
ſei, und daß demgemäß „rebus mutatis“ die Gebundenheit aufhöre. So weit gefaßt würde der Satz alles Vertragsrecht ganz unſicher machen, da alle öffentlichen Zuſtände ſich fort und fort mit der Zeit ändern. Aber auch das entgegengeſetzte Extrem iſt zu verwerfen, wornach die Vertragspflicht unverändert fortdauert, wie immer inzwiſchen die Zuſtände ſich ändern. Nicht jede Aenderung der Zuſtände wirkt auf die Fortwirkung des Vertrags ändernd ein, aber gewiſſe Aenderungen müſſen auch für dieſe Folgen haben. Dahin iſt voraus der Fall zu rechnen, wenn ein beſtimmter öffentlicher Zuſtand die Vorausſetzung und Grundlage eines Vertrages war, und nun ſo erhebliche Aenderungen erfährt, daß er nicht mehr als Grundlage des ſpätern Rechtsverhältniſſes betrachtet werden kann, dann ſtürzt mit der Baſis des Vertrags auch deſſen Wirkſamkeit zuſammen. Z. B. Ein Vertrag, welcher die katholiſche oder proteſtantiſche Confeſſion der Bevölkerung vorausſetzt, verliert ſeine Kraft, wenn die Bevölkerung zu einer andern Confeſſion übergeht. Ober ein Vertrag, welcher die republikaniſche oder monarchiſche Verfaſſung eines Landes als Grundlage ſeiner Beſtimmungen vorausſetzt, wird unwirkſam, wenn das Land dieſe Verfaſſungsform mit einer andern entgegengeſetzten vertauſcht.
457.
Ebenſo verlieren die Vertragsverbindlichkeiten ihre bindende Kraft, wenn dieſelben mit der Entwicklung des anerkannten Menſchen- und Völkerrechts in Widerſtreit gerathen ſind.
Vertragsbeſtimmungen, welche zur Zeit des Vertragsabſchluſſes als erlaubt und rechtmäßig galten, z. B. der Ausbreitung der Sclaverei oder der Behinderung der freien Schiffahrt, oder über Kaperſchiffe können unrechtmäßig werden, wenn im Verlauf der Zeit humanere und freiere Rechtsgrundſätze zu allgemeiner Anerkennung in der civiliſirten Welt gelangen.
458.
Ferner können Verträge, deren Beſtimmungen mit der als nothwendig erkannten Fortbildung der Verfaſſung eines States oder mit der nothwendigen Wandlung des Privatrechts unverträglich geworden ſind, von dieſem State gekündigt werden.
Das Vertragsrecht darf nicht zum bleibenden Hinderniß werden der Entwicklung der Statsverfaſſung und Rechtsordnung eines Volkes. Um ſein Leben zu bewahren und ſeine nothwendige Entwicklung zu ſichern, muß der Stat ſich von Beziehungen zu andern Staten löſen können, welche er unter ganz andern Rechtsgrundlagen eingegangen iſt. Das beſtreiten, würde heißen, das Weſen der Form opfern und die Vertragstreue bis zum Selbſtmord treiben, was der Natur und der
(0279 : 257)
Völkerrechtliche Verträge.
Beſtimmung der ganzen öffentlichen Rechtsordnung widerſpricht. So weit dürfen ſich die folgenden Geſchlechter von den frühern nicht binden laſſen, und ſo weit können dieſe auch nicht vernünftiger Weiſe jene binden wollen. Preußiſches Manifeſt vom 9. October 1806: „Vor allen Tractaten haben die Nationen ihre Rechte“.
459.
Iſt die Erfüllung einer Vertragsverbindlichkeit dauernd unmöglich oder unausführbar geworden, ſo wird der Verpflichtete von derſelben frei.
Das „ultra posse nemo tenetur“ kommt dem State hier zu Gute und zwar nicht bloß dann, wenn die Erfüllung abſolut unmöglich geworden iſt, ſondern auch dann, wenn ihre Erfüllung einen unverhältnißmäßigen Kraftverbrauch erfordern ſollte, oder an rechtlichen Hinderniſſen ſcheitern müßte. Vgl. oben § 411 f.
460.
Der verpflichtete Stat kann angehalten werden, auch eine ihm läſtige und nachtheilige Verbindlichkeit zu erfüllen, aber niemals darf ihm zugemuthet werden, daß er ſeine Exiſtenz oder ſeine nothwendige Entwicklung der Vertragstreue zum Opfer bringe.
Würde die bindende Kraft der Verträge nur für vortheilhafte, nicht auch für läſtige und nachtheilige Beſtimmungen anerkannt, ſo würde alles Vertragsrecht überhaupt ſchwankend und unſicher. Aber die Laſt muß erträglich ſein und die Nachtheile dürfen nicht bis zum Verderben des States ſelber geſteigert werden. Die Verbindlichkeit der Verträge hat ihre Grenzen. Das gewillkürte Recht iſt immer nur ſecundär, es ſetzt das nothwendige und urſprüngliche Recht des Lebens voraus und darf daher nicht das Leben des States ſelber zerſtören. Es kann nur gelten, ſoweit es mit dem Leben ſich vereinbaren läßt. Da alles Recht nur als Ordnung und Bedingung des Geſammtlebens Werth und Sinn hat, ſo gibt es kein Recht, das Geſammtleben zu verderben. Deßhalb ſind ſtatsverderbliche Verträge nicht verbindlich und es hört ihre Wirkſamkeit in dem Augenblick auf, in welchem dieſe Verderblichkeit offenbar geworden iſt.
461.
Die Gültigkeit der Verträge iſt nicht an die Fortdauer des Friedensſtandes gebunden und hört nicht von Rechts wegen auf, wenn es unter den Vertragsparteien zum Kriege kommt.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 17
(0280 : 258)
Sechstes Buch.
Die früher oft vertheidigte Meinung, daß der Krieg alle Verträge aufhebe zwiſchen den Kriegsparteien, beruhte auf der willkürlichen und unrichtigen Vorausſetzung, daß die Rechtsordnung überhaupt nur im Frieden gelte, und im Krieg der angebliche Naturzuſtand der Rechtloſigkeit eintrete. Das Recht wirkt aber auch im Kriege fort und daher gibt es keinen Rechtsgrund, aus welchem die Kraft der Verträge von ſelber mit dem Krieg erlöſche. Die Ausführbarkeit der Verträge wird durch den Krieg großentheils unterbrochen und gehemmt und einzelne Verträge gehen im Kriege unter, wenn ihre Grundlagen durch den Krieg zerſtört werden; aber nicht die Verträge überhaupt. Davon wird ſpäter in Buch VIII. die Rede ſein.
(0281 : [259])
Siebentes Buch. Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
1. Im Allgemeinen.
462.
Wenn ein Stat ſeine völkerrechtliche Verbindlichkeit gegen einen andern Stat lediglich nicht erfüllt, ſo hat der berechtigte Stat die Wahl, entweder die Erfüllung, beziehungsweiſe Schadenserſatz wegen Nichterfüllung zu verlangen, oder von dem Vertragsverhältniß zurückzutreten, deſſen Beſtimmungen nicht erfüllt worden ſind.
Auch im Völkerrechte bewährt ſich die Macht der Rechtsordnung dadurch, daß aus der Verletzung derſelben neues Recht entſpricht. Das verübte Unrecht wird zum Recht des Verletzten, je nach Umſtänden von dem Verletzer Wiederherſtellung, Entſchädigung, Genugthuung oder Strafe zu verlangen. Wenn das Unrecht nur in der Nichterfüllung einer übernommenen Verbindlichkeit beſteht, ohne Beleidigung und ohne Friedensbruch, ſo iſt das dem Civilunrecht vergleichbar, welches die verletzte Privatperſon zur Civilklage berechtigt, womit ſie Wiederherſtellung des Rechtszuſtandes (z. B. Herausgabe der Sache, Bezahlung der Schuld oder Schadenerſatz) begehrt. Auch das Völkerrecht begnügt ſich in dieſen Fällen nur mit der Beſeitigung des Unrechts und der Herſtellung des Rechts. Die Alternative zwiſchen der Erfüllungs- oder Erſatzforderung auf der einen und dem Rücktritt von dem Vertragsverhältniß auf der andern Seite iſt durch die Schwierigkeit erklärt, jene erſte Forderung durchzuſetzen. Vgl. oben § 455.
17*
(0282 : 260)
Siebentes Buch.
463.
Wird die Ehre eines andern Stats verletzt oder ſeine Würde mißachtet, ſo iſt der beleidigte oder gekränkte Stat berechtigt, entſprechende Genugthuung zu fordern.
Es unterſcheidet ſich dieſe Art der Rechtsverletzung von der vorhergehenden durch den idealen Charakter des gekränkten Rechts und durch die tiefere Empfindung des beleidigten Statsbewußtſeins. Die Genugthuung geht daher auch einen Schritt über die bloße Wiederherſtellung hinaus. Sie kann nach Umſtänden in der Beſtrafung derjenigen Perſonen beſtehen, welche jene Beleidigung begangen und die Würde des verletzten States mißachtet haben. Die Genugthuung kann nicht bloß gewährt, ſie kann unter Umſtänden auch genommen werden. Die Art derſelben wird oft durch die Sitte beſtimmt. Unſittliches darf man nicht verlangen.
464.
Beſteht die Verletzung in dem thatſächlichen Eingriff in das Rechtsgebiet (Rechtsbruch) oder in widerrechtlicher Beſitzſtörung eines andern States, ſo iſt der verletzte Stat berechtigt, nicht bloß Aufhebung des Unrechts und Wiederherſtellung des geſtörten Rechts- oder Beſitzſtandes beziehungsweiſe Schadenserſatz zu begehren, ſondern überdem Genugthuung und Sühne und je nach Umſtänden weitere Garantien gegen Erneuerung des Rechtsbruchs zu fordern.
Der Rechtsbruch iſt eine ſchwerere Verletzung, als die bloße Nichterfüllung und daher eher dem ſtrafbaren Unrecht der Privatperſonen zu vergleichen. Da es aber im Völkerrechte keine eigentliche Strafgerichtsbarkeit gibt, ſondern die Selbſthülfe des Völkerrechts noch auf derſelben Stufe ſich befindet, wie die alte Rache der in ihrem Frieden verletzten Barbaren, ſo muß die Beſtimmung der Sühne großentheils dem Ermeſſen des verletzten States und den Verhandlungen mit dem Verletzer überlaſſen werden.
465.
Wird der Rechtsbruch bis zu gewaltſamem Friedensbruch geſteigert, ſo wird auch das Recht des verletzten States auf Züchtigung des Friedebrechers erweitert.
Zwiſchen Rechtsbruch und Friedensbruch beſteht ein ähnlicher Unterſchied, wie zwiſchen Vergehen und Verbrechen im Strafrecht, der ſchwer zu definiren
(0283 : 261)
Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
iſt und doch überall hervortritt und ſich bemerkbar macht, ein Unterſchied eher des Grades, als der Art. Der gewaltſame Friedensbruch iſt um ſeiner Form willen gefährlicher als anderer Rechtsbruch und verlangt daher auch eine energiſchere Gegenwirkung. Der Satz des Strafrechts, daß ideale Perſonen (Körperſchaften, universitates) nicht geſtraft werden können, findet im Völkerrecht keine Anerkennung. Ein Stat, der einen Friedensbruch verübt, kann dadurch ſeine Exiſtenz in Gefahr bringen und durch den Krieg, den er hervorruft, verſchlungen werden. Das aber iſt die Strafe des Völkergerichts, das in der Weltgeſchichte ſeine Macht kund gibt.
466.
Wird die Verletzung ohne Ermächtigung oder Auftrag der Statsgewalt von Statsbeamten oder Privatperſonen verübt, ſo kann der verletzte Stat nur fordern, daß der Stat, dem dieſe Perſonen angehören, ſie dafür zur Rechenſchaft ziehe, und für Abſtellung des Unrechts, beziehungsweiſe Beſtrafung der Schuldigen ſorge.
Es wäre offenbar ungerecht, die Miſſethat des Einzelnen, welche der Stat weder veranlaßt noch erlaubt, dem nichtſchuldigen State als Schuld anzurechnen. Aber dieſer Stat iſt doch verpflichtet, inſofern für ſeine Angehörigen einzuſtehen, als er zu ſorgen hat, daß die völkerrechtlichen Beziehungen zu andern Staten nicht durch ſeine Angehörigen mißachtet und verletzt werden. Er darf das Unrecht auch nicht durch ſein Nichtsthun ſchützen und begünſtigen. Jede Connivenz, welche er in dieſer Hinſicht übt, wird ihm ſelber zum Vorwurf und macht ihn verantwortlich.
Das Alterthum ging darin weiter als das heutige Völkerrecht, daß jenes die Forderung der Auslieferung ſchuldiger Perſonen an den verletzten Stat gut hieß, damit dieſer dieſelben beſtrafe, während dieſes keine ſolche Pflicht der Auslieferung mehr anerkennt. Wohl aber kann auch heute noch ein Stat ſich von aller weiteren Verantwortlichkeit für die Vergehen ſeiner Angehörigen dadurch entlaſten, daß er die Schuldigen freiwillig dem verletzten State zur Beſtrafung übergibt.
467.
Wenn ſich die Rechtspflege eines States unzureichend erweist, um andere Staten gegen Verletzungen des Völkerrechts wirkſam zu ſchützen, ſo wird der Stat ſelber dem verletzten State verantwortlich.
Die Beſtrafung eines Vergehens oder Verbrechens geſchieht im einzelnen Fall nach Vorſchrift der im Lande geltenden Strafgeſetzgebung und Strafproceßordnung. Die repräſentative Statsgewalt darf ſich in der Regel in die Verwaltung der Strafrechtspflege nicht einmiſchen. Daher wird, wenn nicht für
(0284 : 262)
Siebentes Buch.
völkerrechtliche Vergehen ein anderes Verfahren vorgeſchrieben iſt, der ordentlichen Strafjuſtiz auch in ſolchen Fällen die Beurtheilung überlaſſen werden müſſen. Der verletzte Stat iſt zunächſt nicht berechtigt, eine Abweichung von dem ordentlichen Gang der Rechtspflege zu fordern und er muß ſich’s gefallen laſſen, wenn der Angeklagte freigeſprochen oder in eine geringere Strafe verurtheilt wird, als er für gerecht hält. Dabei werden aber zwei Dinge immer vorausgeſetzt:
1) daß das Landesrecht in Harmonie ſei mit dem Völkerrecht und auch den völkerrechtlichen Rechts- und Friedensbruch, wenn er von Privaten verübt wird, mit Strafe bedrohe. Würde die Strafgeſetzgebung des Landes nicht dafür ſorgen, d. h. das Völkerrecht nicht anerkennen und nicht beachten, ſo wäre das unzweifelhaft dem State zum Vorwurf zu machen, für welchen das Völkerrecht verbindlich iſt, und die andern Staten wären in ihrem vollen Recht, wenn ſie die Ergänzung und Verbeſſerung der Landesgeſetzgebung forderten.
2) Der Stat iſt auch dafür verantwortlich, daß die Strafrechtspflege, ſoweit ſie zum Schutz des Völkerrechts dient, bona fide gehandhabt werde. Die bloß formelle Berufung auf ein rechtskräftiges Urtheil ſichert zwar immer den freigeſprochenen oder milde beſtraften Angeſchuldigten vor weiterer Strafe, aber nicht immer auch den Stat vor jeder weiteren Forderung. Sollte ſich zeigen, daß die Richter oder Geſchwornen ihre Pflicht, das Völkerrecht zu ſchützen, nicht geübt, ſondern vielleicht ihren Landsmann oder die politiſche Partei in ungehöriger Weiſe begünſtigt haben, ſo iſt das ſtatliche Connivenz; denn die Verwaltung der Rechtspflege iſt eine ſtatliche Function, für welche der Stat ſelber völkerrechtlich einzuſtehen hat. Keine Rechtspflege üben oder ſie ſchlecht üben, das iſt beides Mißachtung der völkerrechtlichen Pflicht, welche die Staten verbindet. Dafür wird wieder der Stat verantwortlich gemacht. Eben deßhalb erfordert die Rechtspflege bei völkerrechtlichen Beſchwerden eine ganz beſondere Sorgfalt und Gewiſſenhaftigkeit und iſt es ganz zweckmäßig, entweder durch die Gerichtsorganiſation ſelber dafür zu ſorgen, daß nur ſolche Behörden urtheilen, für deren Kenntniß des Völkerrechts und für deren redlichen Willen, dasſelbe zu beachten, beſondere Garantien vorhanden ſind, oder doch die ordentlichen Gerichte auf dieſe ſchwere Pflichtübung und die eigenthümliche Gefahr der ſtatlichen Verantwortlichkeit beſonders aufmerkſam zu machen, beziehungsweiſe ſie anzuweiſen, ſich mit der Repräſentativgewalt des States ins Einvernehmen zu ſetzen.
468.
Eine völkerrechtliche Verletzung kann auch dadurch verübt werden, daß zwar nicht ein anderer Stat unmittelbar in ſeinem Rechte gekränkt, ſondern deſſen Angehörige oder Schutzbefohlene völkerrechtswidrig behandelt werden.
Vgl. oben § 380.
(0285 : 263)
Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
469.
Art und Maß der Entſchädigung, der Genugthuung, der Sühne richten ſich nach der Art und dem Umfang der Verletzung. Je größer die Schuld, um ſo ſchwerer ihre Folgen. Zwiſchen beiden iſt der Grundſatz der Verhältnißmäßigkeit zu beachten. Uebertriebene Forderungen ſind widerrechtlich.
Im Privat- und Strafrecht werden die Folgen des Unrechts zum voraus geſetzlich geregelt. Im Völkerrecht fehlt es daran. Vielmehr iſt das Einzelne dem Einverſtändniß oder dem Kampf der Parteien überlaſſen, die keinen Richter über ſich haben. Man kann daher nur den allgemeinen Grundſatz der Verhältnißmäßigkeit ausſprechen, welcher dem natürlichen Rechtsbewußtſein als nothwendig erſcheint. Bei Entſchädigungsforderungen iſt das ſelbſtverſtändlich und doch haben auch da einzelne mächtige Staten zuweilen unverhältnißmäßige Summen gefordert und die Forderung durchgeſetzt. Schwieriger iſt es, bei politiſchen Verlangen das richtige Maß zu beſtimmen. Insbeſondere ſteigern ſich im Krieg die Anſprüche ſo ſehr, daß der urſprüngliche Streitgegenſtand nicht mehr als maßgebend zu betrachten iſt. Vgl. unten Buch VIII.
470.
Wenn für Ehrenkränkungen und Verletzungen der Statswürde Genugthuung gefordert wird, ſo darf doch dem dafür verantwortlichen State keine mit der Fortdauer und Würde eines ſelbſtändigen States unverträgliche Demüthigung zugemuthet werden.
Je feiner das ausgebildete Ehrgefühl der civiliſirten Welt iſt, um ſo ſorgfältiger iſt dieſe Regel zu beachten. Im Verhältniß der ſtarken Staten wird dieſelbe ſchon aus Klugheit eher beachtet; ſchwachen Staten wird leichter Ungebührliches aufgenöthigt. Indeſſen kann ein Stat, der die perſonificirte Rechtsordnung und Ehre eines Volkes iſt, eine offenbare Schmach nicht ertragen, ohne in ſeiner Exiſtenz gefährdet zu werden. Daher muß das Völkerrecht, welches für den geſicherten Fortbeſtand der Staten ſorgt, eine derartige Demüthigung eines Stats unterſagen. Verdient ein Stat nicht mehr als eine ehrenhafte Perſon behandelt zu werden, ſo iſt es beſſer, ihm überhaupt nicht mehr eine ſtatliche Selbſtändigkeit zuzugeſtehn.
471.
Wenn die Verletzung des Völkerrechts gemeingefährlich iſt, ſo iſt nicht allein der verletzte Stat, ſondern es ſind die übrigen Staten, welche
(0286 : 264)
Siebentes Buch.
das Völkerrecht zu ſchützen die Macht haben, veranlaßt, dagegen zu wirken und für Herſtellung und Sicherung der Rechtsordnung einzuſtehn.
Gemeingefährliche Verletzungen bedrohen die allgemeine Weltordnung und regen in Folge deſſen alle Staten auf. Wie im Strafrecht die Popularklage die Klage des Verletzten ergänzt und erſetzt hat, ſo hat aus einem ähnlichen Bedürfniß, den Weltfrieden und die Weltordnung beſſer zu ſichern, das Völkerrecht dieſe erweiterte Rechtshülfe gebilligt. Zunächſt ſind alle Staten in gleicher Weiſe berechtigt, aber man kann doch eine wirkſame Hülfe nur von den Staten erwarten, deren Macht zu activer Politik ausreicht, in der Regel alſo nur von den Großmächten. Wenn in Europa eine Zeit lang die ſogenannte Pentarchie der fünf europäiſchen Großmächte ſich vorzugsweiſe als Protectorat des Völkerrechts gerirt hat, ſo findet das in dieſer Rückſicht eine relative Begründung.
472.
Von der Art ſind insbeſondere:
a) die Seeräuberei (Piraterie) (§ 343 f.),
b) die Beraubung und Rechtloserklärung der Fremden überhaupt (§ 381 f.),
c) die Zerſtörung der Weltverkehrswege (§ 307),
d) die Anmaßung einer ausſchließlichen Meeresherrſchaft (§ 100. 305),
e) die drohende Univerſalherrſchaft Eines States über die andern Staten und die Störung des allgemeinen Gleichgewichts (§ 98. 99. 412),
f) der Bruch des Geſantenrechts (§ 191 f.),
g) der gewaltſame Ueberfall fremder Statsgebiete ohne Kriegsurſache (§ 481),
h) die Unterdrückung fremder und ſelbſtändiger Völker durch rohe Uebermacht (§ 81. 412),
i) die Einführung der Sclaverei (§ 361 f.),
k) die offenbare und grauſame Tyrannei wider Andersgläubige (§ 411).
Ueberhaupt kann jeder ſchwere und unzweifelhafte Bruch und offenbare Verhöhnung des Völkerrechts das Einſchreiten auch der übrigen nicht unmittelbar betroffenen Staten veranlaſſen und rechtfertigen.
473.
Die übrigen Staten können in ſolchen Fällen ihre diplomatiſche Ver-
(0287 : 265)
Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
wendung eintreten laſſen und auf Beſeitigung des Unrechts dringen und ſie können nöthigenfalls ſich verbünden und mit gemeinſamer Macht vorgehen, um dem anerkannten Völker- und Menſchenrecht Achtung und Geltung zu verſchaffen.
In manchen Fällen ſchon hat die Verwendung des diplomatiſchen Körpers ausgereicht, um eine Verletzung des Völkerrechts zu beſeitigen. Zuweilen half die Interceſſion einer Macht. Aber zuweilen ſind auch ernſtere Maßregeln nöthig, wie die gemeinſamen Maßregeln, um die Seeräuberei zu beſtrafen und zu verhindern, die Sclavenzufuhr zu hemmen, die Rechte der neutralen Staten zu behaupten, unmenſchliche Grauſamkeiten zu zügeln. Wiederholt haben die europäiſchen Mächte in der Türkei intervenirt zum Schutz vorzüglich der chriſtlichen Bevölkerung.
2. Bruch der inneren Statsordnung. Intervention.
474.
Die fremden Staten werden durch das Völkerrecht in der Regel nicht ermächtigt, in die Verfaſſungsſtreitigkeiten eines unabhängigen States ſich einzumiſchen und gegen Statsumwälzungen zu interveniren.
1. Der Schutz der Verfaſſung eines States und ſeiner inneren Rechtsordnung iſt eine innere Angelegenheit dieſes States und nicht Aufgabe des Völkerrechts. Der Sturz einer Regierung, die Entthronung eines Fürſten, die Erhebung eines Uſurpators, die Mißachtung verfaſſungsmäßiger Volksrechte iſt ein Bruch des beſtehenden Statsrechts, aber an ſich nicht eine Verletzung des Völkerrechts, d. h. der Beziehungen eines States zu andern Staten. Deßhalb iſt auch in der Regel die Intervention fremder Staten in derartige Verfaſſungskämpfe und Umgeſtaltungen ein ungerechtfertigter Eingriff in die ſtatliche Selbſtändigkeit und eine Gefährdung des allgemeinen Friedens und von dem Völkerrecht gemißbilligt. Die bloße Verwandtſchaft der Dynaſtien oder die Gleichartigkeit der Intereſſen und Stimmungen rechtfertigt dieſen Eingriff in ein fremdes Rechtsgebiet ebenſowenig, als die politiſche Antipathie gegen die Partei, welche durch die Umwälzung zur Herrſchaft kommt. Die Solidarität der Intereſſen muß ſich innerhalb des Völkerrechts bewegen, ſie darf nicht die völkerrechtliche Selbſtändigkeit der Staten angreifen und verletzen. (Vgl. oben § 39 f.)
2. Die Praxis der europäiſchen Staten iſt freilich noch nicht in voller Uebereinſtimmung mit dieſen natürlichen Rechtsgrundſätzen. Man hat ſeit hundert Jahren
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Siebentes Buch.
ſehr oft dagegen gefehlt. Indeſſen gerade die Geſchichte der zahlreichen Interventionen, welche im Widerſpruch mit dem von Zeit zu Zeit dennoch anerkannten Princip vollzogen worden ſind, iſt geeignet, deſſen Richtigkeit ins Licht zu ſtellen. Die Folgen dieſer Interventionen waren freilich ſehr verſchieden. Wenn die Intervention, wie im Jahr 1791 der Alliirten gegen die Revolution in Frankreich auf einen Widerſtand ſtieß, den ſie nicht zu bewältigen vermochte, ſo wurden die Leidenſchaften der ſiegreichen Partei durch dieſelbe nicht gebändigt, ſondern nur heftiger gereizt. In den meiſten Fällen aber ſiegte die überlegene Macht der intervenirenden Staten und richtete die öffentlichen Zuſtände ſo ein, wie die Sieger es für zweckmäßig erachteten. In den Zeiten der franzöſiſchen Republik wurden ſo um Frankreich her durch Interventionen Republiken geſchaffen, in der Periode des erſten Napoleoniſchen Kaiſerthums Napoleoniſche Vaſallenſtaten. Die Interventionen der abſoluten Mächte Oeſterreichs in den Italieniſchen Staten, Frankreichs in Spanien ſtellten die abſolute Monarchie her und beſeitigten die conſtitutionellen Schranken. Was hat all dieſe gewaltſame Einmiſchung aber ſchließlich erreicht? War der Stat zu ſchwach, um ſich dieſer fremden Einwirkung wieder zu entziehen, ſo wurde er nach und nach das Opfer der Interventionen und verlor zuletzt ſeine ganze Selbſtändigkeit. Der Untergang Polens iſt ein furchtbares Beiſpiel einer ſolchen Zerreißung und Tödtung eines Stats. War das Volk, das ſich vorübergehend vor der Uebermacht beugen mußte, lebenskräftig, ſo entzog es ſich, ſobald jener Druck aufhörte, wieder dieſer äußern Beherrſchung. Die Directorialrepubliken nach franzöſiſchem Muſter hörten auf, ſolche Republiken zu ſein, als das franzöſiſche Directorium geſtürzt ward, die Napoleoniſchen Vaſallenſtaten erhielten ſich nicht in dieſer Geſtalt, als der Kaiſer Napoleon der europäiſchen Coalition erlag. Die abſoluten Monarchien in Italien und Spanien wurden durch eine erneuerte Conſtitution beſchränkt, als die abſoluten Oſtmächte außer Stande waren, ihnen zu Hülfe zu kommen. Nicht einmal die europäiſche Wiedereinſetzung der Bourbonen in Frankreich und die in völkerrechtlicher Form beſchloſſene Ausſchließung der Napoleoniden von dem franzöſiſchen Throne hatte Beſtand. Die Freiheit der Völker, ſich ſelber die Form ihrer Verfaſſung zu geben, konnte durch dieſe Interventionen eine Zeit lang gehemmt, aber nicht auf die Dauer gebunden werden. Die natürliche Entwicklung wurde vorübergehend geſtört und verſchoben, aber ſie machte ſich überall wieder geltend, ſobald der künſtliche Druck nachließ, und ſo mußte es ſein, weil die natürliche Entwicklung das große Geſetz des Statenlebens wie des Einzellebens iſt.
3. Auf den Congreſſen von Laibach 1821 und Verona 1822 wurde geradezu das Princip der Intervention im Intereſſe der legitimen Fürſtengewalt als ein neues Princip der europäiſchen Weltordnung proclamirt. So in der Circularnote des Fürſten Metternich, Laibach 12. Mai 1821: „Les changemens utiles ou nécessaires dans ia législation et dans l’administration des États ne doivent émaner que de la volonté libre, de l’impulsion réfléchie et éclairée de ceux que Dieu a rendus responsables du pouvoir. Tout ce qui sort de cette ligne, conduit nécessairement au désordre, aux bouleversemens, à des maux bien plus insupportables que ceux quel’on prétend guérir. Pénétré de cette vérité éternelle les Souverains n’ont pas hérité
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Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
à la proclamer avec franchise et vigueur, ils ont déclaré qu’en respectant les droits et l’indépendance de tout pouvoir légitime, ils regardaient comme légalement nulle et désavouée par les principes qui constituent le droit public de l’Europe, toutes prétendue réforme opérée par la revolte et la force ouverte. Ils out agi, en conséquence de cette déclaration, dans les évènemens de Naples, dans ceux du Piémont.“ Nur England proteſtirte damals öffentlich gegen dieſe ungeheuerliche Theorie und Praxis, welche die Sicherheit aller Staten und die Freiheit aller Völker bedrohe. Als die abſolutiſtiſchen Mächte den Verſuch machten, dasſelbe Princip auch nach Amerika überzupflanzen und die Spaniſchen Colonien mit Gewalt in dem Gehorſam gegen die europäiſchen Dynaſtien feſtzuhalten, trat England durch ſeine Anerkennung der ſüdamerikaniſchen Republiken dieſer Politik entſchloſſen entgegen und ſchützte in Gemeinſchaft mit der von den Vereinigten Staten proclamirten Monroedoctrin die Regel der Nichtintervention.
4. Aber auch die europäiſchen Oſtmächte wurden bald inne, daß der vermeintliche neue Grundſatz der legitimen Intervention auch in Europa nicht durchzuführen ſei. Vergeblich drang Oeſterreich auf Intervention gegen die aufſtändiſchen Hellenen zu Gunſten der legitimen Herrſchaft der hohen Pforte. Rußland fand es nicht mehr in ſeinem politiſchen Intereſſe, den Don Quixotte der Legitimität zu ſpielen. Als dann in Frankreich 1830 der legitime König Karl X. durch eine Revolution vertrieben wurde, da wagten es die Oſtmächte nicht mehr, ihr Interventionsprincip anzuwenden. Sie traten nicht einmal der entgegengeſetzten Intervention Frankreichs entgegen, welches die belgiſche Revolution gegen die legitime Gewalt des Königs der Niederlande in Schutz nahm. Von da an war das Princip als ein europäiſches aufgegeben und die ſpätern Interventionen in Italien, bald von Oeſterreich bald von Frankreich vollzogen, wurden nicht mehr aus einem allgemeinen Interventionsrecht abgeleitet, ſondern nur mit concreten Urſachenbegründet. Die Nichtintervention wurde allmählich als die Regel anerkannt. Die Thronrede der Königin von England vom 5. Febr. 1861 ſpricht bezüglich Italiens das richtige Princip aus: „Da ich glaube, daß man den Italienern die Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten überlaſſen ſollte, ſo habe ich es nicht für Recht gehalten, in jene Dinge thätig einzugreifen“. Wie Recht die engliſche Regierung hatte, die franzöſiſche vor der Intervention in Mexico zu warnen (1861), hat der tragiſche Ausgang des importirten neuen Kaiſerthums in Mexico (1867) gezeigt.
475.
Wenn ein Stat freiwillig die Intervention einer befreundeten Macht anruft, oder mit der angebotenen Intervention derſelben einverſtanden iſt, ſo iſt dieſelbe gerechtfertigt.
Wenn der Stat ſelber einwilligt, ſo beſteht kein Grund mehr, die Intervention als unerlaubt zu betrachten, denn in dieſen Fällen wird die Selbſtändigkeit des
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States nicht mißachtet. In dieſem Sinne hat England zuweilen in Portugal und haben die Schutzmächte Griechenlands in den Helleniſchen Angelegenheiten intervenirt.
476.
Wird die Intervention einer fremden Macht von der bedrohten Statsregierung angerufen, ſo hängt die Rechtmäßigkeit dieſes Begehrens davon ab, daß die Statsregierung noch als vollberechtigtes Organ des Statswillens und als wirklicher Repräſentant des States zu betrachten iſt.
Iſt die Regierung bereits ohnmächtig geworden im Lande, und läßt ſich ihre gelähmte Macht nicht durch die eigenen Volkskräfte wiederherſtellen, ſo iſt dieſelbe auch nicht mehr für ermächtigt zu halten, die bewaffnete Intervention eines andern States herbeizuziehn und dadurch die Selbſtändigkeit des Stats und die Freiheit der Bürger der Heeresgewalt einer fremden Macht Preis zu geben. Vgl. darüber die Thronrede der König in von England vom 24. Jan. 1860 und oben § 116 f. Ein aus dem Beſitz vertriebener Fürſt iſt jedenfalls nicht mehr zu ſolcher Statsrepräſentation legitimirt und daher ſein Interventionsgeſuch nicht als Statsact zu betrachten.
477.
Noch weniger iſt eine Oppoſitions- oder eine aufſtändiſche Partei als ermächtigt anzuſehen, die gewaltſame Intervention einer fremden Macht Namens ihres States anzurufen.
Sind die beiden ſtreitenden Parteien darin einig, die Intervention einer befreundeten Macht als Vermittler zu begehren oder gut zu heißen, dann freilich iſt das als Meinung des ganzen States anzuſehen, und die Intervention gerechtfertigt. Aber die Oppoſitionspartei für ſich allein repräſentirt niemals den Stat und kann daher auch nicht einen ſo ſchweren Eingriff von außen in die innern Statsangelegenheiten rechtfertigen.
478.
Werden in Folge der Verfaſſungskämpfe das allgemein als nothwendig anerkannte Menſchenrecht oder das Völkerrecht verletzt, dann wird auch eine Intervention zum Schutze desſelben aus denſelben Gründen gerechtfertigt, wie das Einſchreiten des civiliſirten Staten überhaupt bei gemeingefährlichen Rechtsverletzungen.
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Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
Vgl. darüber oben § 471. In ſolchen Fällen mag auch eine unterdrückte Partei die Intervention anrufen, nicht im Namen des States, ſondern nach Maßgabe des Völkerrechts. Die Chriſten in der Türkei haben das wiederholt mit Erfolg gethan.
479.
Wenn eine fremde Macht in unberechtigter Weiſe in einem Lande intervenirt, ſo ſind die andern Staten berechtigt, dafür zu ſorgen, daß dieſe Intervention wieder aufhöre und nicht zur Verletzung der Weltordnung mißbraucht werde und darüber zu wachen, daß dieſelbe nicht zu ihrem Schaden ausgebeutet werde.
1. Die von Spanien her drohende Intervention in Portugal hat 1826 die Engländer zur Intervention bewogen, um die Portugieſiſche Conſtitution zu ſchützen. Die Intervention Oeſterreichs im Kirchenſtat im Jahr 1831 hat Frankreich veranlaßt, durch Beſetzung von Ancona eine Stellung dagegen zu nehmen. Gegen die Ruſſiſche Intervention in der Türkei 1855 haben ſich die Weſtmächte verbündet und den orientaliſchen Krieg unternommen. Der franzöſiſchen Intervention in Mexiko traten die Vereinigten Staten 1866 entgegen.
2. Es iſt möglich, daß ein Stat ſeine Vertragsrechte zu wahren unternimmt, indem er gegen Verfaſſungsänderungen intervenirt, welche jene verletzen. Dazu iſt er berechtigt, aber das nur ſoweit, als er in den Schranken des Völkerrechts ſeine Rechte zu vertheidigen das Recht hat. Insbeſondere hat die Beſeitigung von dynaſtiſchen Thronfolgerechten durch eine Statsumwälzung zunächſt nur eine ſtatsrechtliche und keine völkerrechtliche Bedeutung.
480.
In zuſammengeſetzten Staten beſtimmt die Unions- oder Bundesverfaſſung, inwiefern die Intervention der Central- oder Bundesgewalt in die Verfaſſungsſtreitigkeiten der Einzelſtaten zuläſſig ſei.
Beiſpiele die zahlreichen Interventionen im deutſchen Bund, in den Vereinigten Staten von Amerika, in der ſchweizeriſchen Eidgenoſſenſchaft.
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3. Minneverfahren.
481.
Wenn zwiſchen zwei Staten völkerrechtliche Conflichte oder Differenzen entſtehn, die ſich auf friedlichem Wege ſchlichten laſſen, ſo iſt von Anfang an nicht der Weg der Gewalt, ſondern der Weg der Minne einzuſchlagen.
Die Gewaltübung iſt nur in Fällen der Nothwendigkeit gerechtfertigt, weil ſie für ſich ein Uebel und eine Gefahr für die friedliche Rechtsordnung ſelber iſt.
482.
Als Mittel des Minneverfahrens unter den Parteien ſind hervorzuheben:
a) diplomatiſche Verhandlungen,
b) Verzicht auf die Durchführung eines behaupteten Rechts mit oder ohne Proteſt und Rechtsverwahrung für die Zukunft,
c) die freiwillige, wenn auch nur thatſächliche Berückſichtigung der Forderungen der Gegenpartei,
d) der Vergleich unter den Parteien.
1. Zu a. Zuweilen genügt ſchon die Mittheilung von Acten zur Aufklärung, oder eine gründliche Rechtsausführung, oder eine einfache Vorſtellung oder Beſchwerde, die Aeußerung eines freundlichen Wunſches u. dgl.
2. Zu b. und c. Der Verzicht iſt ein einſeitiger Act, aber mit Rückſicht auf das Verhältniß zur Gegenpartei. Inſofern gehören b) u. c) zuſammen. Der Verzicht b) bedeutet Fallenlaſſen eines Rechtsanſpruchs, wenn auch vielleicht nur thatſächlich dadurch, daß demſelben gegenwärtig keine Folge gegeben wird. Dem entſpricht die vielleicht ebenfalls nur thatſächliche, nicht principielle Gewährung der Forderungen c) auf Seite des vermeintlich oder wirklich Verpflichteten. Die Rechtsverwahrung und der Proteſt haben den Zweck, die Verzichtleiſtung oder Erfüllung gegen eine Auslegung ſicher zu ſtellen, welche der Handelnde vermeiden will und ſeine durch ſeine Handlung zweifelhaft gewordenen Rechte möglichſt vollſtändig zu bewahren.
3. Zu d. Der Vergleich der Parteien ſetzt an die Stelle des ſtreitigen Rechts nunmehr ein ſicheres Vertragsrecht. Zu der Vergleichsverhandlung können natürlich auch von beiden Seiten Commiſſäre ernannt und ermächtigt werden.
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Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
483.
Das Minneverfahren kann auch durch die guten Dienſte (bons offices) einer dritten befreundeten Macht unterſtützt werden.
Die dritte Macht kann entweder von den beiden Parteien oder mindeſtens von einer Partei um ihre guten Dienſte angerufen worden ſein, oder ſie kann aus eigenem Antrieb dieſelben anbieten. Immer verwendet ſie nur ihren moraliſchen Einfluß in der Abſicht, den Zwiſt freundlich auszugleichen. Sie gibt gute Räthe, macht Vergleichsvorſchläge, empfiehlt beſtimmte Handlungen. Aber ſie darf nicht drohen, ſo lange die Grenze des eigentlichen Minneverfahrens zu wahren iſt.
484.
Selbſt bei ernſten Streitigkeiten zwiſchen verſchiedenen Staten, welche zum Kriege zu führen drohen, erkennt das heutige Völkerrecht es als wünſchenswerth, noch nicht als völkerrechtliche Pflicht dieſer Staten an, bevor ſie zu den Mitteln des Krieges greifen, vorerſt die guten Dienſte einer befreundeten Macht anzuſprechen.
Die noch ſchwache, nur empfehlende nicht verpflichtende Vorſchrift hat auf dem Pariſer Congreß eine formelle Anerkennung der europäiſchen Großmächte erlangt. Protokoll vom 14. April 1856: „Messieurs les Plénipotentiaires n’hésitent pas à exprimer au nom de leurs gouvernemens le voeu que les états entre lesquels s’éléverait un dissentiment sérieux, avant d’en appeler aux armes, eussent recours, tant que les circonstances l’admettraient, aux bons offices d’une puissance amicale“.
485.
Die guten Dienſte werden zur Vermittlung geſteigert, wenn eine dritte unbetheiligte Macht im Einverſtändniß der Parteien die Minneverhandlung leitet und eine Verſtändigung herbeizuführen unternimmt. Der Vermittler ſoll eine urparteiiſche Stellung behaupten.
Es iſt möglich, daß eine Partei die „guten Dienſte“ einer neutralen Macht annimmt, aber die „Vermittlung“ derſelben verwirft. Dem Vermittler kommt es zu, billige Ausgleichungsvorſchläge zu machen. Er kann aber auch ſich für die Vorſchläge einer Partei erklären, inſoweit er ſie für billig erachtet. Aber es widerſtreitet der unparteiiſchen Natur des Vermittleramts, daß der Vermittler vorzugsweiſe die Intereſſen einer Partei vertrete und gar Vortheile für ſich ſelber ausbedinge, obwohl
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Siebentes Buch.
auch das zuweilen geſchehen iſt. Ein Beiſpiel bei Laurent Études sur l’hist. de l’humanité XI. 380.
486.
Daraus, daß die Parteien die Vorſchläge des Vermittlers annehmen, folgt nicht ſeine Gewährleiſtung der Uebereinkunft.
Die Gewährleiſtung des Vermittlers ſetzt einen beſondern Garantievertrag voraus. Vgl. § 430 f.
487.
Auch wenn eine Vermittlung angenommen worden iſt, beſteht kein rechtliches Hinderniß für die Parteien, unmittelbar zu verhandeln und ſich unter einander zu vereinbaren.
Die Vermittlung tritt nur hinzu, um die Verſtändigung der Parteien zu befördern. Sie darf nicht zum Hinderniß dieſer werden. Der Vermittler kann ſich nur dann über Mißachtung ſeiner Vermittlung beſchweren, wenn er durch die Parteien getäuſcht wird oder ihm die Erfolge der unmittelbaren Verſtändigung verheimlicht werden. Denn als anerkannter Vermittler hat er einen berechtigten Anſpruch auf das Vertrauen der Parteien, ſo lange er ſein übernommenes Amt unparteiiſch und mit Um- und Einſicht verwaltet.
4. Schiedsrichterliches Verfahren.
488.
Die ſtreitenden Parteien können auch die Erledigung ihres Streits einem Schiedsgericht übertragen.
1. Iſt der Rechtsgrundſatz nicht ſtreitig, aber eine Thatfrage beſtritten, auf welche jener Grundſatz Anwendung findet, ſo nennt man das arbitratio. Z. B. Die Entſchädigungsflicht wird anerkannt, aber das Maß des wirklich eingetretenen Schadens und daher das Maß der Entſchädigung iſt ſtreitig. Zu derartigen Schiedsgerichten eignen ſich dann gewöhnlich ſachverſtändige Schätzer. Das Verfahren wird daher zum Schätzungsverfahren.
2. Wenn dagegen das Recht ſelber ſtreitig iſt, alſo z. B. die Entſchädigungs-
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Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
pflicht, ſo wird das eigentliches arbitrium genannt. Es bedarf dann einer Rechtsentſcheidung.
489.
In der Regel ſteht es den Parteien, welche ein Schiedsgericht berufen, frei, zu beſtimmen, wem das Schiedsrichteramt übertragen werde.
1. Möglich iſt’s, daß ſchon zum voraus durch einen Statenvertrag das ſchiedsrichterliche Verfahren angeordnet und ſelbſt die Perſonen der Schiedsrichter bezeichnet oder doch die Art der Wahl regulirt iſt. Wenn das nicht geſchehen iſt, dann müſſen im einzelnen Bedürfnißfall ſich die Parteien auch darüber vertragen.
2. Es können zu Schiedsrichtern, je nach dem Belieben der Parteien, ernannt werden Statshäupter, oder beſtehende Gerichtshöfe, oder Privatperſonen (Rechtsgelehrte), Juriſtenfacultäten, kirchliche Autoritäten, Ordenscapitel u. ſ. f. Werden Statshäupter gewählt, ſo nimmt man als ſelbſtverſtändlich an, daß dieſelben die Verhandlungen durch delegirte Zwiſchenperſonen leiten und den Schiedsſpruch ausarbeiten laſſen können, aber der Schiedsſpruch wird in ihrem Namen und unter ihrer Autorität verkündet. In manchen Fällen wird es daher nicht zweckmäßig ſein, ſouveräne Perſonen zu Schiedsrichtern zu machen. Hat der Streit eine politiſche Seite, oder ſind die politiſchen Intereſſen des ſchiedsrichterlichen States mit der Stimmung und Haltung in einem der beiden Parteiſtaten verflochten, ſo iſt die Gefahr zu beſorgen, daß der ſouveräne Schiedsrichter die eigenen politiſchen Motive einwirken laſſe auf ſeine Amtsführung. Sind dagegen keine politiſchen Intereſſen mit in Frage, und iſt daher für die Unparteilichkeit des zum Schiedsrichter gewählten Souveräns nichts zu fürchten, ſo haben die Parteien hinwieder keine Garantie in den vielleicht unbekannten Perſonen, welche als geheime Räthe des Schiedrichters die eigentlichen Geſchäfte beſorgen und den Spruch vorarbeiten. Sehr beachtenswerth ſcheint mir der im Jahr 1866 in Nordamerika gemachte Vorſchlag, daß vorzugsweiſe angeſehene Publiciſten und Rechtsgelehrte aus den neutralen Staten zu Schiedsrichtern gewählt werden ſollten, welche ihre wiſſenſchaftliche Ehre für eine richtige und unparteiiſche Entſcheidung einzuſetzen haben. Wenigſtens wird eine derartige Auswahl vorzüglich da paſſen, wo der Streit eine weſentlich vermögensrechtliche Seite hat, wie bei Entſchädigungsfragen. Es wäre ein großer Fortſchritt, wenn zum voraus eine Liſte von angeſehenen Vertretern der völkerrechtlichen Wiſſenſchaft und Kennern der völkerrechtlichen Praxis gebildet würde, aus welcher dann in ſpäteren Streitfällen die Schiedsrichter ernannt würden. Jedem anerkannten State müßte das Recht zuſtehen, je nach ſeiner Bevölkerung eine Anzahl ſolcher Männer auf das allgemeine völkerrechtliche Verzeichniß zu ſetzen.
490.
Vertragen ſich die Parteien nicht über gemeinſam zu ernennende
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 18
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Schiedsrichter, ſo iſt anzunehmen, jede Partei wähle ihre Schiedsmänner frei, aber in gleicher Anzahl, wie die Gegenpartei. Iſt nicht verabredet, wie der Obmann zu bezeichnen ſei, ſo ſteht es den beiderſeitigen Schiedsrichtern zu, entweder den Obmann gemeinſam zu wählen, oder einem unparteiiſchen Dritten die Wahl desſelben anheim zu geben.
Zunächſt ſind die Parteien berechtigt, wie ein ſchiedsgerichtliches Verfahren, ſo auch die einzelnen Schiedsrichter zu wählen. Das Völkerrecht kann nur einige Regeln ausſprechen, die im Zweifel, wenn nicht von den Parteien anders beſtimmt worden, als ſelbſtverſtändliche Meinung der Parteien betrachtet werden ſollen, weil ſie der Natur der Dinge und der Völkerſitte entſprechen. Die Ernennung eines Obmanns wird mindeſtens dann nothwendig, wenn die Schiedsrichter in gleichen Hälften ſich ſpalten, damit eine Mehrheit zu Stande komme. Sie iſt aber von Anfang an zweckmäßig, um die Einheit des ganzen Verfahrens zu ſichern und für eine unparteiiſche Leitung zu ſorgen. Wenn die Parteien nicht unter ſich, oder wenn die Schiedsrichter nicht einig werden über die Wahl des Obmanns, ſo bleibt nur die Ernennung durch einen Dritten übrig, z. B. eine neutrale Regierung oder einen Gerichtshof. Da aber auch darüber, wer als Dritter zu erbitten ſei, die Ernennung des Obmanns vorzunehmen, die Parteien oder ihre Schiedsrichter ſich verſtändigen müſſen, ſo kann auch daran das ganze ſchiedsrichterliche Verfahren ſcheitern, daß es zu jenem vorbereitenden Einverſtändniß nicht kommt.
491.
Das aus mehreren Perſonen beſtehende Schiedsgericht handelt gemeinſam als Ein Körper. Es vernimmt die Parteien und je nach Umſtänden auch Zeugen und Sachverſtändige, prüft die erheblichen Thatſachen und erhebt die erforderlichen Beweiſe.
Die Thätigkeit des Schiedsgerichts iſt, obwohl es ſeine Vollmacht nur von den Parteien ableitet, dennoch eine richterliche und inſofern den Parteien ſelbſt übergeordnete beziehungsweiſe für die Parteien verpflichtende. Die Proceßleitung iſt bei dem Schiedsgerichte.
492.
Das Schiedsgericht gilt im Zweifel als ermächtigt, den Parteien billige Vergleichsvorſchläge zu machen.
Ob das zweckmäßig ſei oder nicht, muß dem Schiedsgerichte zu erwägen vorbehalten bleiben. Immerhin aber wird das Schiedsgericht ſich davor zu hüten haben, daß es nicht durch den Vergleichsvorſchlag das Vertrauen in ſeine rechtliche
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Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
Beurtheilung oder in ſeine Unparteilichkeit untergräbt. Der Vergleichsvorſchlag gehört dem Minneverfahren an, nicht dem Rechtsverfahren, für welches hauptſächlich das Schiedsgericht ernannt iſt. Aber es kann dieſes entbehrlich machen.
493.
Der Spruch der Mehrheit gilt als Spruch des ganzen Schiedsgerichts.
Bildet ſich keine Mehrheit, ſei es weil es an einem Obmann fehlt, deſſen Beitritt zu einer der beiden Meinungen der in gleicher Zahl geſpaltenen Schiedsrichter den Ausſchlag gibt, oder der für ſeine eigenthümliche Meinung die Zuſtimmung der einen Hälfte der Schiedsrichter gewinnt, ſei es weil die individuellen Meinungen aus einander gehen und die Schiedsrichter jeder auf ſeiner Minderheitsmeinung verharrt, und wird nicht etwa dadurch geholfen, daß die Meinung des Obmanns für ſich allein entſcheide, ſo fehlt es an einem gültigen Rechtsſpruch und das ſchiedsrichterliche Verfahren iſt erfolglos geblieben.
494.
Der Spruch des Schiedsgerichts wirkt für die Parteien, wie ein Vergleich.
Es wird angenommen, daß die Parteien, welche die Entſcheidung ihres Streits vertragsmäßig einem Schiedsgericht anvertraut haben, damit auch ihr eventuelles Einverſtändniß mit dem Spruch des Schiedsgerichts erklärt haben. In vielen Fällen wird daher aus dem Spruch ein Vertragsrecht unter den Parteien entſtehn; in andern, wenn etwa einer Partei ein behauptetes Recht einfach abgeſprochen worden iſt, wird das wirken, wie ein Verzicht derſelben.
495.
Der Spruch des Schiedsgerichts kann von einer Partei als ungültig angefochten werden:
a) wenn und ſoweit das Schiedsgericht dabei ſeine Vollmachten überſchritten hat,
b) wegen unredlichen Verfahrens der Schiedsrichter,
c) wenn das Schiedsgericht den Parteien das Gehör verweigert oder ſonſt die Fundamentalgrundſätze alles Rechtsverfahrens offenbar verletzt hat,
d) wenn der Inhalt des Spruchs mit den Geboten des Völkerund Menſchenrechts unverträglich iſt.
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Aber der Schiedsſpruch darf nicht aus dem Grunde angefochten werden, daß er unrichtig oder für eine Partei unbillig ſei. Vorbehalten bleibt die Berichtigung bloßer Rechnungsfehler.
1. Zu a. Wenn das Schiedsgericht über Rechtsverhältniſſe entſcheidet, welche außerhalb der ihm ertheilten Vollmacht liegen, ſo iſt dieſer Entſcheid ungültig.
2. Zu b. Würde z. B. nachgewieſen werden können, daß die Schiedsrichter von einer Partei ſich haben beſtechen laſſen, damit ſie einen ihr günſtigen Spruch thun, ſo wäre derſelbe anfechtbar.
3. Zu c. Das ſchiedsrichterliche Verfahren iſt Proceßverfahren und daher zwar nicht einer beſtimmten Proceßordnung, aber den ſelbſtverſtändlichen Hauptgrundſätzen aller Proceßordnungen unterworfen. Der Schiedsſpruch kann daher nicht wegen bloßer Formfehler angefochten und für ungültig erklärt werden, aber wenn in auffälliger und unzweifelhafter Weiſe jene Hauptgrundſätze verletzt worden ſind, wenn z. B. den Parteien keine Gelegenheit gegeben worden iſt, ihre Behauptungen zu vertreten und die des Gegners zu widerlegen, dann brauchen ſie ſich auch nicht einen ſo willkürlichen Machtſpruch gefallen zu laſſen.
4. Zu d. Was nicht vertragsmäßig vereinbart werden darf, das darf auch nicht durch einen Schiedsſpruch auferlegt werden.
5. Würde man dagegen verſtatten, einen Schiedsſpruch deßhalb anzufechten, weil er die Intereſſen einer Partei ſchädige oder unbillig ſei, oder auf einer irrthümlichen Rechtsanſicht beruhe, ſo käme es faſt niemals zu einer endgültigen Erledigung des Streits und der ganze Zweck des ſchiedsrichterlichen Verfahrens wäre vereitelt.
496.
In zuſammengeſetzten Staten (Statenbünden, Bundesſtaten, Statenreichen) werden die Streitigkeiten der Einzelſtaten unter ſich oder mit der Bundes- oder Centralgewalt je nach Umſtänden an verfaſſungsmäßige Schiedsgerichte oder an feſtgeordnete Bundes- oder Reichsgerichte zur Verhandlung und Entſcheidung verwieſen. Im erſtern Fall übt das Schiedsgericht eine Gerichtsbarkeit aus, welche nicht bloß auf dem Compromiß der Parteien, ſondern zugleich auf der Verfaſſung beruht.
In Deutſchland pflegt man dieſe Schiedsrichter Austräge zu nennen und das Austrägeverfahren von dem gewohnten ſchiedsrichterlichen zu unterſcheiden. In der That beſteht der Gegenſatz der Autorität. Die Austräge haben eine wahre Gerichtsgewalt, kraft des Verfaſſungsrechts, die andern Schiedsrichter dagegen nur eine von dem Vertrage der Parteien abgeleitete Befugniß, für dieſelben zu urtheilen. Auch die Austräge können gewillkürt ſein, d. h. durch freie Ueberein-
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Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
kunft der Parteien gemeinſam bezeichnet, oder von den beiden Parteien je zur Hälfte freigewählt ſein. Aber da die Parteien durch die Verfaſſung verpflichtet ſind, ihren Streit an das Schiedsgericht zu bringen, ſo wählen ſie dieſe Austräge im Gedanken an jene Rechtsnothwendigkeit und nicht aus völlig freier Willkür. Zur Wahl überhaupt ſind ſie verpflichtet, nur die Perſonen können ſie frei wählen. Es iſt aber ebenſo möglich, daß die Verfaſſung auch die Art der Wahl näher begrenzt, z. B. aus einem beſtimmten Gerichtshof, aus einer zum voraus feſtgeſtellten Liſte von geeigneten Perſonen, oder geradezu einer beſtimmten Behörde den Vorſchlag der Schiedsrichter oder die Ernennung des Obmanns anheimgibt, z. B. einem beſtimmten Gerichtshof oder der Bundes- oder Reichsregierung oder Repräſentation u. dgl. Es iſt das dann ein Beſtandtheil des Bundes- oder Reichsſtatsrechts, aber von zwiſchenſtatlicher und inſofern völkerrechtlicher Bedeutung. Vgl. darüber Aegidi Artikel Austräge in Bluntſchli und Brater Deutſchem Statswörterbuch.
497.
Durch Statenverträge können ebenſo für vorgeſehene Streitigkeiten, welche unter den von einander unabhängigen Staten entſtehen würden, zum voraus nähere Vorſchriften über ein ſchiedsrichterliches Verfahren feſtgeſetzt und das Schiedsgericht mit einer wirklichen Gerichtsbarkeit ausgerüſtet werden.
Beiſpiele der Art waren ſchon im Mittelalter ſehr häufig. Sie kommen auch in neuerer Zeit vor, z. B. bei Handelsverträgen. Durch ſolche Anordnung wird paſſend für eine friedliche Erörterung und Bereinigung von Streitigkeiten geſorgt, für die es keine ordentlichen Gerichte gibt.
498.
Der Fortbildung eines geſicherten Völkerrechts bleibt es vorbehalten, auch durch völkerrechtliche Vereinbarungen überhaupt für ein geordnetes ſchiedsrichterliches Verfahren zu ſorgen, insbeſondere bei Streitigkeiten über Entſchädigungsforderungen, ceremonielle Anſprüche und andere Dinge, welche nicht die Exiſtenz und Entwicklung des States ſelbſt betreffen.
Die Beſtimmung des Pariſer Congreſſes von 1856, daß vor Beginn des Kriegs die guten Dienſte einer befreundeten Macht angerufen werden möchten (oben § 484), kann als ein erſter Verſuch betrachtet werden, die friedliche Erledigung der völkerrechtlichen Streitigkeiten zu begünſtigen. Die Zukunft wird in derſelben Richtung hoffentlich noch entſchiedenere Fortſchritte machen. Bei einer Menge von Streitigkeiten iſt es für Jedermann klar, daß der Krieg ein ganz unverhältnißmäßiges Mittel iſt, ſich Recht zu verſchaffen. Ein Stat, der um eine bloße Geldfor-
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Siebentes Buch.
derung durchzuſetzen, zum Kriege greift, gleicht jenem Bären der Fabel, welcher ſchwere Steine nach der Fliege wirft, welche auf der Stirne des ſchlafenden Freundes ſpaziert und in der Abſicht die Fliege zu vertreiben, den Freund damit tödtet. Es wäre nicht mehr zu früh für das humaner gewordene Rechtsbewußtſein der civiliſirten Welt, wenn endlich von einem Congreß der Staten für derartige Fälle der Krieg unterſagt und ein ſchiedsrichterliches Verfahren zum voraus angeordnet würde, durch welches ſolche kleine Händel billig geſchlichtet werden ſollen.
5. Zwangsmittel ohne Krieg: Selbſthülfe durch Repreſſalien, Retorſion, Sperre.
499.
Wenn das Minneverfahren oder das ſchiedsrichterliche Verfahren den Streit zweier Staten nicht erledigt oder unthunlich erſcheint, ſo iſt der verletzte Stat zur Selbſthülfe berechtigt.
Wenn ein Stat, der ſich in ſeinem Recht verletzt fühlt, keine Beſeitigung des Unrechts und keine Genugthuung erreichen kann durch Unterhandlungen oder in Folge eines geordneten Rechtsverfahrens, ſo bleibt nur der Weg der Selbſthülfe übrig, wenn er es nicht vorzieht, ſich das Unrecht gefallen zu laſſen und auf Genugthuung zu verzichten. Die Mittel der Selbſthülfe ſind wieder ſehr verſchieden, wenn gleich ſie nun alle den Zwang und inſofern die Anwendung der ſtatlichen Gewalt in ſich ſchließen.
500.
Als völkerrechtlich zuläſſige Repreſſalien, ohne Krieg, gelten:
a) die Beſchlagnahme und nach Umſtänden Pfändung und Verſilberung von gegneriſchem Statsvermögen innerhalb des eigenen Statsgebiets;
b) die Beſchlagnahme von Privatvermögen der Angehörigen des gegneriſchen Stats innerhalb des eigenen Gebiets, inſofern derſelbe ſich zuvor in widerrechtlicher Weiſe an dem Privatvermögen der eigenen Statsangehörigen vergriffen hat;
c) die Hemmung des Handels- und Poſtverkehrs, der Eiſenbahnund Telegraphenverbindung, der Schiffahrt;
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Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
d) die Zurückweiſung oder Ausweiſung der Angehörigen des verletzenden Stats aus dem Gebiete des verletzten Stats;
e) die Zurückhaltung von Perſonen, welche den gegneriſchen Stat repräſentiren oder doch demſelben angehören, als Geiſeln;
f) die Gefangennahme von Perſonen, welche im Dienſte des Unrecht übenden Stats ſind oder ſelbſt von Privatperſonen, welche demſelben angehören, wenn die eigenen Angehörigen zuvor von dem beleidigenden State widerrechtlich gefangen gehalten worden ſind;
g) die Weigerung, vertragsmäßige Leiſtungen ferner zu erfüllen und die Losſagung von beſtehenden Verträgen;
h) der Entzug der Privilegien oder ſelbſt des privatrechtlichen Rechtsſchutzes gegenüber den Angehörigen des gegneriſchen Stats.
1. Die Mittel der Selbſthülfe werden Repreſſalien (von reprehendere, nicht von reprimere abgeleitet) genannt, wenn dieſelben bezwecken, dem Recht verletzenden Stat das Bewußtſein ſeines Unrechts dadurch klar zu machen, daß auch ihm ein Uebel zugefügt wird, das er ebenfalls als Unrecht empfindet, und denſelben durch dieſes Mittel zur Herſtellung des Rechts und zur Genugthuung zu bewegen. Naturgemäß haben daher die Repreſſalien den Charakter der Wiedervergeltung zum Zweck der Rechtshülfe und Rechtsnöthigung. Die Mittel im Einzelnen ſind höchſt mannigfaltig und nicht vollſtändig zum voraus aufzuzählen. Sie ändern ihre Geſtalt mit dem Wechſel des Lebens und der mannigfaltigen Erſcheinung des vorausgehenden Unrechts.
2. Zu a. Die Beſchlagnahme von gegneriſchem Statsvermögen iſt eher anwendbar und zu rechtfertigen, als die von gegneriſchem Privatgut, weil nur die Staten, nicht die Privaten mit einander ſtreiten, daher zunächſt die Selbſthülfe nur gegen den Stat und nicht gegen die Privaten ſich zu wenden hat. Das ältere Privatrecht der germaniſchen Völker geſtattete in ähnlicher Weiſe, zur Zeit einer noch wenig ausgebildeten Gerichtshülfe, dem Privatgläubiger für eine geſtändige (gichtige) oder erwieſene Schuld die Pfändung als Selbſthülfe gegen den Schuldner anzuwenden. Das heutige Völkerrecht iſt bezüglich der Gerichtshülfe noch ebenſo wenig geſichert, als das halbbarbariſche Privatrecht im Mittelalter; daher iſt dieſe Art der Selbſthülfe, die in dem modernen Privatrechte in der Regel unterſagt iſt, im Völkerrecht noch nicht zu entbehren.
3. Zu b. Die Beſchlagnahme von Privatgut in der Abſicht dadurch den Stat zu nöthigen, daß er von ſeinem Unrecht ablaſſe, iſt unter allen Umſtänden ein höchſt bedenkliches Mittel der Selbſthülfe, denn es trifft weder die ſchuldigen noch die verantwortlichen Perſonen, und übt auf den nicht betroffenen Stat, den man nöthigen will, eine höchſt zweifelhafte, nur ſehr mittelbare Einwirkung aus. Gerechtfertigt wird ſie daher höchſtens als Gegenrecht, wenn zuvor der gegneriſche Stat ähnliches Unrecht gegen Private verübt hat, welche auf den Schutz des eigenen
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Siebentes Buch.
Stats angewieſen ſind, und ſelbſt da erheben ſich gewöhnlich laute Klagen über ungerechte Gewaltthat.
Cromwell hatte, nachdem ein engliſches Handelsſchiff an der franzöſiſchen Küſte von den franzöſiſchen Behörden ſeines Erachtens in völkerrechtswidriger Weiſe weggenommen und confiscirt worden war, zur Repreſſalie ſofort zwei franzöſiſche Handelsſchiffe im Canal als Priſe wegnehmen laſſen. Die franzöſiſche Regierung ließ ſich dieſe trotzige, die diplomatiſchen Verhandlungen rückſichtslos zur Seite ſchiebende Eigenmacht gefallen, welche an das Sprichwort erinnert: Schlägſt du meinen Juden, ſo ſchlage ich deinen Juden. Das Unrecht der Staten wurde auf keiner Seite gut gemacht, aber auf beiden Seiten hatten es nichtſchuldige Privaten zu büßen.
Zu entſchiedenen Reclamationen gab das Verfahren des Königs Friedrich II. von Preußen Veranlaſſung, welcher die Zahlungen der Schleſiſchen Landesſchuld an die engliſchen Gläubiger aus dem Grunde hemmte, weil England ſeines Erachtens mit Unrecht Preußiſches Handelsgut als Priſe behandle. Die Denkſchrift der engliſchen Kronjuriſten gegen dieſe Repreſſalie iſt berühmt geworden. Indeſſen ſtanden ſich auch da engliſches und preußiſches Unrecht gegen Privaten gegenüber; und wenn die Engliſchen Juriſten ſich für jenes auf hergebrachte Völkerſitte und überkommene Theorien berufen konnten, ſo konnte ſich König Friedrich darauf ſtützen, daß trotzdem jenes vermeintliche Priſenrecht offenbares Unrecht ſei und ſeine Maßregel nur als Repreſſalie demſelben die Wage halte und inſofern gerechtfertigt ſei.
Auch die Repreſſalien Englands gegen Griechenland in der ſogenannten Pacifico-Angelegenheit (1850), indem zu Gunſten einer unberückſichtigt gebliebenen Entſchädigungsforderung Pacifico’s griechiſche Kaufſchiffe mit Wegnahme bedroht wurden, erregte damals in ganz Europa großes Aufſehen und vielfältige Mißbilligung, ſelbſt im engliſchen Oberhaus.
4. Zu c. Die Hemmung des Handelsverkehrs als Repreſſalie geübt, hat wieder ihre großen Bedenken, indem regelmäßig die Hemmung nach beiden Seiten hin nachtheilig wirkt, alſo den zur Selbſthülfe ſchreitenden Stat, oder ſeine Bevölkerung ebenſo ſchädigt, wie den gegneriſchen Stat und ſeine Unterthanen. Von der eigentlichen Sperre wird weiter unten (506) näher die Rede ſein.
5. Zu d. Auch die Zurückweiſung der Angehörigen eines ververletzenden Stats und noch mehr die Ausweiſung derſelben iſt eine äußerſt harte, ſelten gerechtfertigte Maßregel der Selbſthülfe. Mit gutem Grund wurde gegen die Anwendung derſelben durch die Oeſterreichiſch-Lombardiſche Regierung (1856), welche alle Teſſiner plötzlich aus Mailand auswies, proteſtirt, zumal dieſe Repreſſalie, welche eine Menge ſchuldloſer Privaten in ihrem Erwerb und in ihrer Wirthſchaft empfindlich ſchädigte, durch kein Unrecht des Cantons Teſſin wider Mailändiſche Privaten, ſondern nur durch politiſche Beſchwerden motivirt war.
6. Zu e u. f. Auch der Angriff auf die Freiheit nicht ſchuldiger Perſonen kann nur zur Noth und nur unter der Vorausſetzung der Wiedervergeltung und des Gegenrechts vertheidigt werden. Wenn ein fremder Stat zuvor unſere Geſanten oder Statsgenoſſen widerrechtlich gefangen hält, ſo mag die einſtweilige Gefangennahme ſeiner Geſanten und Unterthanen dazu dienen, ihm ſein Unrecht zum Bewußtſein zu bringen und Abhülfe zu erreichen. Aber immer müſſen wir uns daran er-
(0303 : 281)
Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
innern, daß unſere Gefangenen nicht an jenem Unrecht ſchuld und überhaupt keine Strafgefangenen ſind. Eher tritt die Analogie der Kriegsgefangenſchaft ein.
Zu g. Vgl. oben § 455.
501.
Die civiliſirte moderne Völkerſitte mißbilligt als barbariſch:
a) jede Grauſamkeit gegen einzelne, zumal ſchuldloſe Perſonen,
b) die ſtatliche Ermächtigung von Privatperſonen, Angehörige des gegneriſchen Stats zu fangen oder zu tödten oder das Vermögen derſelben zu zerſtören oder wegzunehmen.
1. Zu a. Auch wenn wilde Stämme unſere Statsgenoſſen grauſam mißhandeln, verſtümmeln, tödten, ſo iſt es dennoch der civiliſirten Staten unwürdig, ebenſo barbariſch gegen Angehörige jener Stämme zu verfahren, welche in ihre Gewalt gerathen. Das Geſetz der Talion darf nicht bis zur Barbarei geübt werden. Als ſolche iſt auch die Hinrichtung nichtſchuldiger Perſonen angeſehen. In dem Befreiungskriege der nordamerikaniſchen Colonien gegen England kam noch ein ſolcher Fall vor. Der engliſche Hauptmann Lippencott ließ einen gefangenen nordamerikaniſchen Officier hängen. Der engliſche General Clinton mißbilligte das Verfahren und ſtellte ſeinen Untergebenen vor ein Kriegsgericht. Der General Waſhington verlangte aber Auslieferung des Schuldigen und ließ, als dieſe verweigert ward, zur Wiedervergeltung einen gefangenen engliſchen Officier, Namens Argill, vor ein Kriegsgericht ſtellen und ebenfalls zum Tode verurtheilen. Indeſſen gelang es den Bemühungen, vorzüglich der Königin von Frankreich, denſelben zu retten und eine Begnadigung des Congreſſes zu erwirken. Vgl. Phillimore III. 150 f.
2. Zu b. Im Mittelalter kamen ſolche Ermächtigungen öfter vor und wurden für erlaubt gehalten. Eine Form derſelben, die Caperſchiffe in Kriegszeiten, wurde ſogar bis in die neueſte Zeit geübt. Siehe unten Buch VIII. Mit Recht aber verwirft das heutige Völkerrecht alle ſolchen Privatacte der Gewalt. Es fehlt dabei an jeder Garantie, daß die Selbſthülfe mit Maß geübt werde.
502.
Die Wahl und der Umfang der Repreſſalien richtet ſich nach dem gerügten Unrecht. Unverhältnißmäßige Repreſſalien ſind widerrechtlich.
Die Repreſſalien laſſen ſich nur als eine Art Nothwehr vertheidigen, in Ermanglung beſſerer Rechtshülfe. Eben deßhalb ſind ſie nach dem Grundſatz einer gerechten Wiedervergeltung zu beſtimmen und zu bemeſſen. Der Natur der Dinge nach iſt freilich eine genaue Maßbeſtimmung nicht wohl einzuhalten, aber das Grundprincip der Verhältnißmäßigkeit darf doch niemals unbeachtet
(0304 : 282)
Siebentes Buch.
bleiben. In dem obigen Pacificohandel (§ 500 Anm. 3.) wurde vornehmlich darüber Klage geführt, daß die angedrohten Repreſſalien ganz unverhältnißmäßig ſeien.
503.
Zu Repreſſalien iſt nur der verletzte Stat, nicht aber die von der Verletzung betroffene Privatperſon berechtigt.
Im Mittelalter nahm man an Privatrepreſſalien geringen Anſtoß, wie man ja damals auch die Privatfehde für eine erlaubte Rechtshülfe anſah. Das moderne Stats- und Völkerrecht geſtattet nur der geordneten Statsmacht öffentliche Rechtsgewalt auszuüben. Nicht verletzte Staten dürfen nur dann zu Repreſſalien greifen, wenn es eine gemeingefährliche Verletzung des Völker- und Menſchenrechts zu rügen gilt.
504.
Die Repreſſalien dürfen nicht länger dauern, als bis das Unrecht, welches dieſelben veranlaßt hat, wieder gutgemacht und geſühnt iſt.
Das folgt aus der Natur der Repreſſalien als einer ausnahmsweiſen Selbſthülfe gegen Unrecht. Der befriedete Rechtszuſtand erträgt daher die Fortdauer der Repreſſalien nicht.
505.
Die Retorſion bezweckt nicht, Unrecht zu rügen, ſondern iſt ein politiſches Mittel, einer nachtheiligen Rechtsübung eines andern Stats entgegen zu wirken.
1. Die Retorſion iſt nicht gegen Unrecht, aber gegen eine unbillige Ausübung fremden Rechtes gewendet. Z. B. Der Stat A gibt in ſeiner Geſetzgebung den einheimiſchen Gläubigern einen Vorzug vor den Fremden. Oder: In dem State A beſteht eine ſtrenge Zunftordnung, welche den Gewerbebetrieb der Ausländer erſchwert. Oder das Zollſyſtem des States A erſchwert den Angehörigen des States B den Handel mit den Angehörigen des States A. In allen dieſen und ähnlichen Fällen iſt der Stat A in ſeinem formellen Recht. Er kann dieſe Verhältniſſe nach ſeinem Ermeſſen ordnen. Aber ſeine Geſetze wirken ungünſtig auf den Nachbarſtat B und deſſen Angehörige und werden zugleich von dieſem als unbillig empfunden. Da hat die Retorſion des States B, welcher ähnliche für den Stat A und deſſen Bürger ungünſtig wirkende Einwirkungen trifft, den Zweck, den Stat A ſeine Unbill empfinden zu laſſen und ihn dadurch zu einer Beſſerung zu
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Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
bewegen. Der Stat A kann ſich nicht beklagen, wenn gegen ihn dasſelbe Princip angewendet wird, nach welchem er den Stat B behandelt.
2. Eine bloße Rechtsverſchiedenheit, auch wenn ſie in einzelnen Fällen dem einen oder andern Stat oder deſſen Bewohnern nützt oder ſchadet, begründet keine Retorſion. Z. B. Im State A beſteht als Güterrecht der Ehegatten die Fahrhabegemeinſchaft, und im State B das Syſtem der geſonderten Güter. Oder im State A haben die Söhne ein beſſeres Erbrecht als die Töchter in der Erbſchaft des Vaters, im State B ſtehen ſich die Kinder gleich u. dgl. Dieſe Verſchiedenheit hat nicht den Charakter der Unbill eines States gegen den andern Stat, ſondern erklärt ſich aus verſchiedenen Rechtsanſichten und Rechtsübungen und wirkt nur zufällig, nicht principiell, nur wechſelnd, nicht dauernd für den Nachbarſtat bald ungünſtig, bald günſtig.
3. Die moderne Rechtsbildung liebt übrigens die Retorſion nicht. Als diplomatiſches Mittel der Verhandlung und Drohung läßt ſie ſich wohl gebrauchen, aber ihre Ausführung gereicht oft dem Retorſion übenden State ebenſo zum Schaden wie dem Retorſion leidenden. Ueberdem entſtellt der erſtere Stat ſeine Geſetzgebung durch Retorſionsbeſtimmungen, deren Unbilligkeit und Unzweckmäßigkeit an ſich er vollſtändig einſieht und die er meiſt in der ſehr unſichern Hoffnung einführt, den Nachbarſtat dadurch zu beſſern.
506.
In Folge ſchwerer Rechtsverletzungen kann auch ohne Krieg eine Verkehrsſperre (blocus) von der Statsgewalt gegen den verletzenden Stat verhängt werden.
1. Die Verkehrsſperre unterſagt den Angehörigen des betroffenen Stats den Eintritt in das Gebiet des ſperrenden Stats oder verhindert den Uebergang aus dieſem Gebiet in jenes, oder ſie hemmt den Waarenverkehr von einem Gebiet zum andern, oder die Ein- und Ausfahrt der Schiffe. Das Uebel iſt inſofern geringer als das des Kriegs, als kein Blut vergoſſen wird; aber es unterbindet den freien Umlauf der wirthſchaftlichen Güter und hemmt die Berührung der Menſchen. Es wirkt in der Regel ebenſo ſchädlich für den ſperrenden Stat wie für das geſperrte Land, denn aller Verkehr iſt zweiſeitig und wechſelnd.
2. Die Sperre kann zu Land und zur See angeordnet werden, Landſperre und Seeblocade. Gewöhnlich werden beide nur im Kriegszuſtande geübt. Von der Kriegsblocade wird weiter unten die Rede ſein IX. Cap. 5. Beiſpiele von friedlichen Blocaden ſind die Blocade von England, Frankreich und Rußland gegen die Türkiſch-Griechiſche Küſte 1827, die Blocade von Frankreich gegen Portugal 1831, die von dem Miniſterium Thiers gegen die Schweiz angedrohte Landblocade (blocus hermétique) 1836, die franzöſiſche Blocade in Mexiko 1838.
(0306 : 284)
Siebentes Buch.
507.
Die neutralen Staten erkennen kein Priſenrecht an, wenn die Seeblocade nicht zugleich Kriegsblocade iſt, und ſind berechtigt, für die neutralen Schiffe freie Ein- und Ausfahrt zu fordern.
Die Friedensblocade zur See gefährdet bei allgemeiner Durchführung auch den Handel der Neutralen mit der blokirten Küſte, wofür kein Rechtsgrund vorliegt. Die neutralen Staten haben daher guten Grund, dieſe Friedensblocade in die engſten Schranken zu bannen. Wenn dieſelbe nur ein Zwangsmittel gegen den Unrecht übenden Stat ſein ſoll, ſo darf dieſer Zwang nicht auch gegen die Neutralen geübt werden. Nur der Krieg als Nothſtand rechtfertigt die ſtrengeren Grundſätze, welche in dem Völkerrecht über die Blocade und das Priſenverfahren aufgekommen ſind, der Friedenszuſtand nicht. Im Jahre 1838 erhoben ſo die deutſchen Hanſeſtädte Einſprache gegen die franzöſiſche Friedensblocade in Mexiko, und im Jahr 1848 (1. März) erklärte ſich der franzöſiſche Statsrath gegen die Confiscation der Schiffe bei der Friedensblocade.
419.
Die geſundheitspoliceiliche Verkehrsſperre zur Abwendung von Epidemien wird durch das Bedürfniß und durch ihren Zweck ſowohl näher beſtimmt als beſchränkt.
Sie kann als Vorbeugungsmaßregel gegen die Einſchleppung und Verbreitung menſchlicher oder thieriſcher Krankheiten nöthig werden, und je nach Umſtänden zur Einrichtung von Contumazanſtalten führen. Soweit irgend die Intereſſen der Geſundheitspflege es erfordern, müſſen alle dieſe Anſtalten und Maßregeln von den verſchiedenen Nationen geachtet werden, welche dieſe Grenze berühren.
509.
Das gewaltſame Embargo, wodurch fremde Schiffe einſtweilen in Vorausſicht einer nahen Kriegseröffnung am Auslaufen verhindert werden, iſt nur als Nothmaßregel und nur ſo weit gerechtfertigt, als das Kriegsrecht ſie nachträglich gut heißt.
Man unterſcheidet das civile Embargo als eine Maßregel der hohen Statspolicei ohne völkerrechtliche Bedeutung von dem Embargo als völkerrechtliche Vorbereitungsmaßregel für den erwarteten Krieg, welches daher als eventuelle Kriegsmaßregel zu betrachten iſt. Der Zuſtand der zurück-
(0307 : 285)
Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
gehaltenen Schiffe (von embargar, anhalten) iſt einſtweilen zweifelhaft. Kommt es nicht zum Krieg, ſo müſſen ſie wieder frei gegeben werden und in dieſem Fall wird auch Entſchädigung zu gewähren ſein. Bricht der Krieg aus, ſo tritt bezüglich der vorläufig in Beſchlag genommenen Schiffe das Kriegsrecht ein. Dann dient das Embargo insbeſondere dazu, um für den Fall, daß der Feind ein übermäßiges Priſenrecht in Anſpruch nimmt, ein Mittel zur Repreſſalie in der Hand zu haben. Das Embargo wurde übrigens vielfach zu Gewalthandlungen mißbraucht, und insbeſondere wurde oft das Privateigenthum in völlig ungerechter Weiſe dadurch verletzt. Zuweilen iſt durch Statenverträge das Embargo im Verhältniß der Vertragsſtaten ausgeſchloſſen worden. Handelsvertrag von Preußen mit den Vereinigten Staten von Nordamerika vom 11. Juli 1799 Art. 16. Vgl. über eine Anwendung des feindlichen Embargo durch England gegen Holland in nicht engliſchem Gewäſſer, am Cap der guten Hoffnung, die Ausführung des Lord Stowell bei Phillimore III. § 38.
(0308 : [286])
(0309 : [287])
Achtes Buch. Das Kriegsrecht.
1. Begriff des Kriegs, Kriegsparteien, Kriegsurſachen und Kriegserklärung.
510.
Krieg iſt bewaffnete Selbſthülfe einer ſtatlichen Macht im Widerſtreit mit einer andern ſtatlichen Macht.
Zunächſt erſcheint der Krieg nicht, wie der gerichtliche Proceß in der Form eines Rechtsmittels, ſondern in der furchtbaren Geſtalt eines phyſiſchen Kampfes widerſtreitender Gewalten. Dieſe Erſcheinung des Kriegs hat, ohne Rückſicht darauf, aus welchem Rechtsgrunde der Krieg unternommen und was für Kriegsziele verfolgt werden, eine Menge auch von rechtlichen Wirkungen. Der Krieg iſt immer eine gewaltſame Unterbrechung des friedlichen Zuſtands und des Friedensrechts und nur nothdürftig gelingt es dem Völkerrecht, ihn in beſtimmten Schranken zu halten. Auch der ungerechtfertigte Eroberungskrieg oder ein Krieg aus bloßem dynaſtiſchen Ehrgeiz oder aus nationaler Eiferſucht hat dieſe tief in die öffentliche Rechtsordnung eingreifenden Folgen.
Dennoch beſteht ein großes humanes Intereſſe, den Krieg möglichſt als Rechtshülfe aufzufaſſen und darzuſtellen, damit ſeine Anwendung beſchränkter und die in ihm zu Tage tretende Gewaltthat geordneter werde. Vgl. §§ 511. 516 ff.
511.
In der Regel iſt der Krieg ein Rechtsſtreit zwiſchen Staten als Kriegsparteien über öffentliches Recht.
(0310 : 288)
Achtes Buch.
Es widerſtreitet den civiliſirten Statszuſtänden, in denen für eine privatrechtliche Gerichtsbarkeit geſorgt iſt, daß über ſtreitiges Privatrecht Krieg geführt werde. Im Mittelalter noch war es anders. Das Fehderecht war in der That das Recht der bewaffneten Selbſthülfe auch bei Streitigkeiten zwiſchen Privatperſonen über ihr Eigenthum. Es iſt durch die Durchführung der ſtatlichen Gerichtsbarkeit verdrängt worden. Aber heute noch ſtehen die Völker, wenn ſie mit einander über ihr öffentliches Recht ſtreiten, auf demſelben barbariſchen Standpunkt, wie im Mittelalter die Ritter und die Städte. Sie greifen zu den Waffen und ſchlagen zu, um ſich ihr Recht zu verſchaffen. Das Völkerrecht hat noch einen weiten Weg zu machen, bis es ihm gelingen wird, den Streit der Gewalt in einen wahren Rechtsſtreit umzubilden.
512.
Eine bewaffnete Partei, welche nicht von einer beſtehenden Statsgewalt zur Gewaltübung ermächtigt worden iſt, wird dennoch inſofern als Kriegspartei betrachtet, als ſie als ſelbſtändige Kriegsmacht organiſirt iſt und an States Statt in gutem Glauben für öffentliches Recht ſtreitet.
1. Es iſt das zwar eine Ausnahme von der Regel, daß nur Staten Krieg führen, aber wenn die politiſche Partei ſtatliche Zwecke verfolgt und wie eine Statsmacht organiſirt iſt, ſo ſtellt ſie gewiſſermaßen den Stat dar. Das Intereſſe der Humanität fordert, daß im Zweifel eine ſolche Partei eher als Kriegspartei, nicht als eine Maſſe von Verbrechern behandelt werde. Indem ſie ſtark genug iſt, ſich als öffentliche Macht, analog der Statsmacht zu behaupten, durch ihre kriegsmäßige Organiſation auch Garantien der Ordnung gewährt, und durch ihre politiſchen Ziele ihr ſtatliches Streben kund gibt, hat ſie auch einen natürlichen Anſpruch darauf, einem ſtatlichen Heere ähnlich behandelt zu werden. Die Gefahren der Gewaltübung werden dann nicht bloß für ſie ſelber, ſondern ebenſo für ihre Gegner ermäßigt. Wird ſie dagegen nur ſtrafrechtlich verfolgt, ſo wird dadurch der thatſächliche Kampf verwildert und es iſt Gefahr, daß die beiden ſtreitenden Parteien in die Barbarei verſinken und einander mit grauſamen Repreſſalien zu überbieten ſuchen.
2. Von der Art ſind manche Unternehmungen von Freiſcharen, um eine politiſche Umgeſtaltung zu erzwingen. Wenn dieſelben wie ein wohlgeordnetes Kriegsheer operiren, wie z. B. die deutſchen Freiſcharen unter Major Schill oder die italieniſchen Freiſcharen, die mit Garibaldi nach Sicilien und Neapel zogen, ſo iſt es angezeigt, ſie als Kriegspartei zu behandeln.
3. Am nöthigſten iſt es, den obigen Grundſatz bei Bürgerkriegen zur Anwendung zu bringen, obwohl gerade da die Leidenſchaften am liebſten unter der ernſten Maske der Gerechtigkeit ihren Haß und ihre Rachſucht beſſer verbergen und ungehemmter wirkſam zu machen ſuchen. Die Partei, welche die obrigkeitliche Autorität für ſich hat, erklärt dann gern die Partei, welche ſich der Statsgewalt
(0311 : 289)
Das Kriegsrecht.
widerſetzt, als Hochverräther und Aufrührer. Aber auch die aufſtändiſche Partei ſieht ſich meiſtens nach Rechtstiteln um, in der Abſicht, die Regierungspartei als des Landesverraths und des Verfaſſungsbruchs zu beſchuldigen. Wenn einmal die Strafgerichtsbarkeit ihre Macht verloren hat und thatſächlicher Krieg um politiſche Ziele geführt werden muß, dann iſt es richtiger, auch das Strafrecht in Beurtheilung der Kriegsparteien ruhen zu laſſen und dieſe politiſch und militäriſch als Feinde zu betrachten und zu behandeln. Es iſt daher als ein Fortſchritt des heutigen Völkerrechts zu betrachten, daß es geneigt iſt, ſowohl eine aufſtändiſche Partei wie geordnete Freiſcharen als Kriegspartei zu behandeln, obwohl es an ſtatlicher Ermächtigung fehlt, wenn dieſelben a) als Kriegsheer wohl geordnet ſind, b) ſelber die Rechte des civiliſirten Kriegsrechts beachten und c) in gutem Glauben für politiſche Ziele kämpft.
4. Am unbedenklichſten wird die Behandlung eines Kriegsheers, ohne Stat, als Kriegspartei dann zugeſtanden, wenn ein Volk ſeine Heimat verläßt und während es eine neue ſich zu verſchaffen ſucht, in Krieg verwickelt wird. Die Römer haben ſo alle Zeit die auf der Wanderung begriffenen germaniſchen Völker als Kriegsparteien betrachtet.
513.
Bloße Piraten und Räuber ſind niemals Kriegsparteien, wenn gleich ſie als Kriegsmacht organiſirt ſind.
1. Gegen dieſelben wird nicht Krieg geführt, ſondern Strafgerichtsbarkeit geübt, wenn gleich mit kriegeriſchen Mitteln. Weil dieſelben offenbar gemeine Verbrechen begehen, und es ihnen augenſcheinlich an gutem Glauben fehlt, ſo verlangt das beleidigte allgemeine Rechtsgefühl die Beſtrafung, und gibt ſich nicht mit dem Siege zufrieden. Die Italieniſchen Briganti ſind keine Kriegspartei, ſo wenig als die alten Flibuſtier.
2. Dagegen wird ein Stat, welcher ſeinen Einwohnern Seeräuberei verſtattet, wie im Alterthum viele Seeſtädte im Mittelmeer, und bis in unſer Jahrhundert hinein noch die afrikaniſchen Raubſtaten, trotzdem zur Kriegspartei, wenn er Krieg führt. Die einzelne völkerrechtswidrige Handlungsweiſe zerſtört nicht den Rechtscharakter eines Stats, wenn ſie gleich ſeine Ehre befleckt.
514.
In zuſammengeſetzten Staten iſt der Krieg zwiſchen der beſtehenden Statsgewalt des Geſammtſtats (Reichs- oder Bundesgewalt) und der Truppenmacht der Einzelſtaten, wenn er den Schutz des Reichs- oder Bundesrechts bezweckt, lediglich Executionskrieg, nicht ein völkerrechtlicher Krieg zwiſchen gleichgeſtellten Staten. Indeſſen betrachtet das moderne Völkerrecht beide Parteien im Intereſſe der Humanität als Kriegsparteien.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 19
(0312 : 290)
Achtes Buch.
1. Beiſpiele aus neuerer Zeit ſind der Schweizer Sonderbundskrieg vom Jahr 1847 und der nordamerikaniſche Bürgerkrieg von 1861 bis 1865. Die Bundesgewalt bezeichnete zwar in beiden Kriegen die widerſtreitenden Sonderbünde als ſtrafbare Rebellen, und verzichtete auch nicht völlig auf die Beſtrafung der Anſtifter und Führer der Rebellion. Aber trotzdem wurden die Truppen der Einzelſtaten doch, und mit Recht, als wirkliche Kriegspartei behandelt und dadurch der Schutz des civiliſirten Kriegsrechts über das ganze Kriegsfeld ausgedehnt. Noch entſchiedener ſahen die auswärtigen Staten in beiden Mächten, die ſich bekriegten, wahre völkerrechtliche Kriegsparteien.
2. Auch in dem deutſchen Krieg von 1866 verſuchte es die Mehrheit des Bundestags dem Krieg den Charakter eines Executionskriegs gegen Preußen beizulegen, aber ohne Glück. Preußen und Oeſterreich, die ſich um die Führung der deutſchen Nation ſtritten, waren beide keine bloße Bundesſtaten, ſondern europäiſche Mächte und ihr Krieg daher ein völkerrechtlicher Krieg im vollen Sinn des Worts. Von einer Anwendung einer bundesmäßigen Strafgerichtsbarkeit konnte daher keine Rede ſein.
515.
Der Krieg iſt gerecht, wenn und ſoweit die bewaffnete Rechtshülfe durch das Völkerrecht begründet iſt, ungerecht, wenn dieſelbe im Widerſpruch mit den Vorſchriften des Völkerrechts iſt.
Es iſt das nicht bloß ein moraliſcher, ſondern ein wirklicher Rechtsſatz, freilich vorerſt noch von geringer practiſcher Bedeutung, weil jede Kriegspartei die Gerechtigkeit ihrer Sache behauptet und es an einem unparteiiſchen Richter fehlt, welcher über die Wahrheit dieſer Behauptung entſcheidet. Indeſſen einige Wirkungen hat dieſe Unterſcheidung doch, insbeſondere bezüglich der Allianzpflicht und unter Umſtänden auch der Intervention bisher unbetheiligter Mächte. Jene iſt nur für den gerechten Krieg zu fordern, dieſe gegen den ungerechten Krieg erlaubt.
516.
Als rechtmäßige Urſache zum Krieg gilt eine ernſte Rechtsverletzung oder eine gewaltſame Beſitzſtörung, welche dem zum Krieg greifenden State widerfahren iſt oder womit er in gefährlicher Weiſe bedroht iſt, oder eine ſchwere Verletzung der allgemeinen Weltordnung.
Die Gewalt von Menſch gegen Menſch geübt, iſt nur durch die Nothwendigkeit zu rechtfertigen, die wir ihres ſittlichen Charakters wegen Recht nennen. Der Krieg als Rechtshülfe ſetzt daher die Verletzung eines Rechts voraus, das nur mit Gewalt zur Anerkennung zu bringen iſt, ganz ebenſo wie der gerichtliche Proceß eine Rechtsverletzung vorausſetzt, welche die Klage begründet.
(0313 : 291)
Das Kriegsrecht.
517.
Als rechtmäßige Urſache zum Krieg iſt aber nicht bloß die Verletzung geſchichtlich anerkannter und erworbener Rechte, ſondern ebenſo die ungerechtfertigte Behinderung der nothwendigen neuen Rechtsbildung und der fortſchreitenden Rechtsentwicklung zu betrachten.
Die Nothwendigkeit der zeitgemäßen Neugeſtaltung des Stats muß ebenſo anerkannt und durchgeführt werden, wie der Beſtand des geſchichtlich gewordenen Rechts, ſo lange es lebensfähig und zeitgemäß iſt, geſchützt werden ſoll. Wer die Verfechtung des werdenden Rechts beſtreitet, der verkennt die lebendige Natur des Rechts und hindert deren Fortbildung, welche mit der Entwicklung der Völker Schritt halten muß, wenn das Recht ſeine Beſtimmung erfüllen ſoll. Es iſt eine eher kindiſche als juriſtiſche Anſicht, daß ein Volk berechtigt ſei, für das dynaſtiſche Erbrecht eines Fürſten Krieg zu führen, aber nicht berechtigt ſei, für ſeine nationale Einigung zu den Waffen zu greifen, weil jenes Erbrecht in einer mittelalterlichen Urkunde vorbehalten worden, die nationale Einigung dagegen durch eine traurige Geſchichte bisher verhindert und gehemmt worden iſt. Dennoch hat dieſe wunderliche Meinung im Jahr 1866 in Deutſchland manche Vertreter gefunden. Meines Erachtens iſt das Recht eines Volkes, ſich die ſtatliche Geſtalt zu geben, deren es bedarf, um ſeine natürliche Anlage zu entwickeln, ſeine Beſtimmung zu erfüllen, für ſeine Sicherheit zu ſorgen und ſeine Ehre zu wahren, und daher ſein Recht, dafür nöthigenfalls zu den Waffen zu greifen, ein ſehr viel heiligeres, natürlicheres und wichtigeres Recht als irgend ein urkundliches Dynaſtenrecht.
518.
Das bloße Statsintereſſe für ſich allein rechtfertigt den Krieg nicht.
Eben weil in dem Krieg die Gewalt zwingend auftritt, ſind nur Rechtsgründe, nicht aber bloße Zweckmäßigkeitsgründe geeignet, denſelben zu rechtfertigen. Es gibt freilich viele Kriege, welche ohne Rechtsnothwendigkeit, aus bloß politiſchen Motiven unternommen worden ſind, um das Anſehen einer Macht zu vergrößern, eine politiſche Richtung zu hindern oder zu unterſtützen, günſtige Verbindungen zu erreichen u. dgl. Aber als bloßes Mittel der Politik iſt der Krieg durchaus verwerflich.
Völlig verſchieden von dieſer Frage iſt die andere, ob der Krieg, wenn er als Rechtshülfe unternommen worden, nicht auch als politiſches Mittel benützt werden dürfe. Das iſt meines Erachtens nicht zu tadeln. Im Gegentheil, die Benutzung des Kriegs, um wenn er einmal da iſt, auch nützliche Zwecke zu erreichen, ſchafft ein Aequivalent für die unvermeidlichen Kriegsübel und bringt die Völker vorwärts.
19*
(0314 : 292)
Achtes Buch.
519.
Auch in einem ungerechten Krieg gelten dennoch die Vorſchriften des Völkerrechts über die Art der Kriegsführung und die Rechte und Pflichten der Kriegsparteien.
Ueber den Begriff des ungerechten, d. h. des nicht durch eine rechtmäßige Kriegsurſache gerechtfertigten Kriegs vgl. oben zu § 516 bis 518. Die Vorſchriften des Kriegsrechts ſind aber auch für den ungerechten Krieg bindend. Würde man das nicht zugeben, und etwa gegen die Kriegspartei, welcher man vorwirft, ſie habe keinen Rechtsgrund für ſich, ſtrengere und grauſamere Maßregeln ergreifen oder ihr nicht dieſelben Rechte zugeſtehen, ſo würde der Krieg überhaupt wieder barbariſcher werden; denn wie jede Partei gewöhnlich behauptet, nur ihr Recht zu verfechten, ſo beſtreitet ſie gewöhnlich den Rechtsgrund der Gegenpartei. Das Kriegsrecht civiliſirt den gerechten und den ungerechten Krieg ganz gleichmäßig. Nur weil es dieſe Unterſcheidung nicht wirken läßt, ſichert es ſeine allgemeine Anwendung.
520.
Die rechtmäßige Kriegsurſache rechtfertigt den Krieg nur dann, wenn die Herſtellung des Rechts und die entſprechende Genugthuung und Sühne nicht auf friedlichem Wege ſicher und ohne Zögerung zu erreichen ſind.
Daß man die Verhandlung über das ſtreitige Recht nicht mit dem Krieg beginnen darf, war ſchon den antiken Völkern klar. Der Krieg iſt nicht das erſte, ſondern das letzte Mittel, ſich Recht zu verſchaffen, im Grunde doch nur ein unſicheres, mit den ſchwerſten Uebeln verbundenes Nothmittel.
521.
Wenn ein Stat einen Angriffskrieg beginnt, ſo iſt er ſchuldig, vorerſt den Verſuch zu machen, ob nicht ſeine Forderungen ohne Krieg anerkannt und erfüllt werden und ebenſo verbunden, vorher ſeinen Entſchluß zum Krieg vor Eröffnung der Feindſeligkeiten anzukündigen.
Wird ein Angriffskrieg ohne Kriegsdrohung oder ohne vorherige Kriegserklärung lediglich durch thatſächliche Ueberraſchung mit Feindſeligkeiten begonnen, ſo wird dieſe Handlung von dem civiliſirten Völkerrecht gemißbilligt, es wäre denn, daß ausnahmsweiſe das Völkerrecht die ſofortige Anwendung der Kriegsgewalt, wie z. B. gegen Seeräuber geſtattet. In der Regel wird freilich die Verfolgung der Seeräuber als Anwendung der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit,
(0315 : 293)
Das Kriegsrecht.
nicht als eigentliche Kriegsführung zu betrachten ſein. Aber ſie kann ſich unter Umſtänden zum Kriege ſteigern, wenn die verfolgten Piraten Schutz bei einer ſtatlichen Macht finden.
522.
Die Ankündigung des bevorſtehenden Kriegs kann durch Geſante oder Herolde dem Gegner gegenüber förmlich erkärt oder ſie kann durch ein allgemeines Kriegsmanifeſt aller Welt gegenüber eröffnet werden.
1. Die antike Rechtsübung der Römer betrachtete die feierliche Krie gsandrohung und ſodann die nachfolgende Kriegserklärung als eine Bedingung des gerechten Kriegs (bellum justum). Auch im Mittelalter mußte die rechtmäßige Fehde drei Tage vor Beginn der Gewalt feierlich angeſagt werden. Mit Rückſicht darauf erklären manche Publiciſten die vorherige Kriegserklärung an den Feind für ein Erforderniß eines civiliſirten Kriegsrechts.
2. Es läßt ſich nicht verkennen, daß ein ſolches formelles Verfahren, wenn es allſeitig beachtet wird, für die Rechtsſicherheit nützlich iſt. Es wird dadurch der Zeitpunkt genau conſtatirt, in dem der Friede aufhört und ein ausnahmsweiſer Nothſtand des Kriegs eintritt. Das genau zu erfahren und ſicher zu wiſſen, iſt aber für eine Menge von Rechtsverhältniſſen und Rechtsfragen von größter Wichtigkeit. Aber man darf ebenſo wenig überſehn, daß der neuere Kriegsgebrauch ſeit mehr als einem Jahrhundert dieſe Form nicht mehr als nothwendige Bedingung einer rechtmäßigen Kriegsführung beachtet. In der That kommt es denn auch nicht auf dieſe beſondere Form der Kriegserklärung an, um den Entſchluß zum Krieg zu verkünden und die Thatſache des Kriegs zu conſtatiren. Ganz dasſelbe kann durch ein Kriegsmanifeſt erreicht werden, welches beides aller Welt und alſo auch dem Feind gegenüber verkündet.
Das heutige Völkerrecht legt daher einem ſolchen Kriegsmanifeſt ganz dieſelbe Bedeutung bei, wie der gegenſeitigen Kriegserklärung. Ueberhaupt iſt es geneigt, die ganze Frage weniger formell zu betrachten, als die frühere Völkerſitte. Die Rechtsklarheit hat dabei gelitten, aber die Intereſſen der Politik und der Kriegsführung haben ſich dabei beſſer befunden. Vgl. beſonders Phillimore III. Cap. 5.
523.
In der Androhung, daß eine beſagte Handlung eines States als Kriegsfall betrachtet und ſofortige kriegeriſche Maßregeln nach ſich ziehen werde, liegt unter Umſtänden eine eventuelle Kriegserklärung.
Fälle der eventuellen Kriegserklärung ſind in der neueren Kriegsgeſchichte nicht ſelten, ſo daß dann eine nochmalige Kriegserklärung oder ſelbſt ein
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Achtes Buch.
Kriegsmanifeſt als entbehrlich betrachtet wird. Wenn hiebei in bona fide verfahren und nicht etwa der Gegner abſichtlich getäuſcht wird, um ihn unerwartet und plötzlich zu überfallen, ſo kann man dieſe Praxis nicht als völkerrechtswidrig verurtheilen. Aber da der Mißbrauch nahe liegt und jede Unſicherheit über Frieden oder Krieg ſchädlich wirkt, ſo iſt dieſe Methode, einer offenen Erklärung auszuweichen, nicht empfehlenswerth und ihre Anwendung möglichſt auf ſolche Fälle zu beſchränken, in denen raſcheſtes Handeln durchaus nöthig und zu einer gehörigen Erklärung keine Zeit mehr iſt. Fälle ſolcher Art waren die Verhinderung der Spaniſchen Expedition nach Sicilien im Jahr 1718 durch den Angriff der engliſchen Flotte, die Kämpfe zur See zwiſchen engliſchen und franzöſiſchen Schiffen im Jahr 1788, während nur die Kriegsſpannung klar, eine eigentliche Kriegserklärung noch nicht geſchehen und noch nicht bekannt war. Weil man im Krieg auf Ueberraſchungen gefaßt ſein muß, ſo ſind die Staten zur Zeit der Vorbereitung und Spannung auf den Krieg zur Wachſamkeit veranlaßt, und fängt die militäriſche Nothwendigkeit, den Drohungen des Feindes rechtzeitig zu begegnen, an mitzuwirken. Es iſt dann eine Aufgabe der Politik, dieſe militäriſche Rückſicht mit der auf das Völkerrecht in Harmonie zu bringen.
524.
Zum Vertheidigungskrieg bedarf es einer vorherigen Kriegserklärung durch den Vertheidiger nicht. Die kriegeriſche Abwehr des kriegeriſchen Angriffs macht die Kriegserklärung entbehrlich.
Der Vertheidiger iſt nicht gehindert, aber er iſt nicht verpflichtet, den Krieg zu erklären. Auch er kann aber ſeinen Vertheidigungskrieg durch ein Manifeſt begründen und erklären, und er wird in der Regel gut daran thun, ein ſolches Manifeſt zu erlaſſen.
525.
Es iſt nicht nothwendig, daß ein längerer Zeitraum zwiſchen der Kriegsandrohung und dem Beginn der Feindſeligkeiten für Unterhandlungen verſtattet werde. Aber der gute Glaube und die Rückſicht auf die Regel des Friedens erfordern, daß dem Gegner ſoviel Zeit gegeben werde, um noch den Ausbruch des Krieges durch raſche Nachgiebigkeit zu vermeiden.
Die gleichzeitige Kriegserklärung und Eröfſnung des Kriegs ohne vorherige unzweideutige Kriegsdrohung verſtößt nicht allein gegen die Intereſſen der Humanität, ſondern auch gegen die rechtliche Natur des Kriegs, als der gewaltſamen Rechtshülfe aus Noth. Siehe oben § 516 f. Aber es genügt unter Umſtänden eine ganz kurze Friſt vielleicht von wenigen Tagen, wenn die Gefahr drängt, ſogar von
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Das Kriegsrecht.
wenigen Stunden; insbeſondere da, wo ſchon frühere ernſte Drohungen oder Kriegsſpannungen vorausgegangen waren und es weſentlich davon abhängt, Gewißheit über die Friedens- oder Kriegsentſchlüſſe des Gegners zu erhalten.
526.
Das bloße Anerbieten, über den Frieden zu unterhandeln oder ſogar Genugthuung zu gewähren, hindert den Vollzug der Kriegsdrohung nicht, wenn nicht zugleich verläſſige Garantien für wirkliche und ſofortige Befriedigung gegeben werden.
Ein ſolches Anerbieten kann auch gemacht werden, um Zeit zu gewinnen für vollſtändigere Kriegsrüſtung. Würde dasſelbe daher ein Hinderniß ſein für den Beginn des Kriegs, ſo könnte das leicht nicht den Krieg, aber den Erfolg des Kriegs vereiteln.
527.
Die Kriegserklärung bezeichnet zugleich den Zeitpunkt der Kriegseröffnung, wenn der Krieg nicht ſchon vorher thatſächlich durch Acte der militäriſchen Gewalt begonnen worden iſt.
Die thatſächliche Kriegseröffnung beendigt unter allen Umſtänden den bisherigen Friedenszuſtand, auch wenn noch keine Kriegserklärung erfolgt iſt. Aber die Kriegserklärung eröffnet den Krieg ebenfalls, auch wenn die Feindſeligkeiten noch nicht begonnen haben. Es entſpricht das theils der thatſächlichen Natur des Kriegs, theils der ausdrücklichen Willensbeſtimmung der Kriegspartei. Die Frage iſt beſonders wichtig für die Beurtheilung einzelner Acte der Gewalt, die nur im Krieg, nicht im Frieden erlaubt ſind. Die Wegnahme von Priſen ſetzt den Beginn des Kriegs voraus.
528.
Iſt der Krieg auch nur von einer Partei thatſächlich oder durch Kriegserklärung begonnen worden, ſo iſt von dann an auch die andere Partei berechtigt, das Kriegsrecht anzurufen und anzuwenden.
Es folgt das aus der gegenſeitigen Natur des Kriegs.
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Achtes Buch.
2. Wirkungen des Kriegszuſtandes im Allgemeinen. Kriegsziel.
529.
Die Kriegseröffnung hebt die Rechtsordnung nicht auf, auch nicht im Verhältniß der kriegführenden Staten zu einander.
Aber ſie übt die Rechtsordnung verändernde Wirkungen aus
a) im Verhältniß der Staten, welche Krieg führen zu einander und zu ihren Bundesgenoſſen,
b) im Verhältniß zu den neutralen Staten,
c) mit Rückſicht auf die Angehörigen der Kriegsparteien oder die Bewohner des Kriegsfeldes.
1. Die ältere naturrechtliche Vorſtellung bildete ſich einen rechtloſen Naturzuſtand ein, welcher aller Statenbildung vorausgehe, in welchem die Menſchen wie die Thiere weder eigene Rechte haben, noch Rechte andern Menſchen zugeſtehen, und Jeder ſo weit ſeinen Willen geltend mache, als er die phyſiſche Macht beſitze. Die alten Naturrechtslehrer meinten, nur durch Friedens- und Geſellſchaftsverträge werde dieſer Zuſtand eines bellum omnium contra omnes, des allgemeinen Krieges Aller miteinander beſchränkt und ein vertragsmäßiger Rechtszuſtand eingeführt und ſie behaupteten, wenn nun die Staten wider einander den Krieg erklären, ſo bedeute das Rückkehr in jenen urſprünglichen völlig rechtloſen Kriegszuſtand. Sie nahmen in Folge deſſen an, im Krieg werden keine Rechte mehr anerkannt, ſondern herrſche nur die phyſiſche Gewalt. Dieſe ganze Anſicht wird von der heutigen Rechtswiſſenſchaft als Irrthum verworfen.
2. Im Gegentheil, wir erkennen an, daß es natürliche Menſchenrechte gibt, die im Krieg wie im Frieden zu beachten ſind, und daß die Rechtsordnung der Welt und der einzelnen Völker in einer ſteten geſchichtlichen Entwicklung begriffen iſt, welche nicht auf einmal durch einen Völkerſtreit abgebrochen und gänzlich zerſtört werden kann. So wenig die Sprache und die Civiliſation einer Nation in Folge einer Kriegserklärung plötzlich verſchwindet und in die urſprüngliche Roheit und Barbarei zurückſinkt, ebenſo wenig kann die Rechtscultur, das Erzeugniß einer Arbeit von Jahrhunderten auf einmal wieder erlöſchen und ein Zuſtand völliger Rechtloſigkeit an ſeine Stelle treten. Da der Krieg weſentlich Rechtshülfe iſt, ſo darf er nicht die Rechtsordnung verneinen, welcher er dienen will.
3. Die Rechtsordnung im Ganzen bleibt alſo unverſehrt. Aber weil der Krieg einen Nothſtand theils vorausſetzt, theils herbeiführt, übt er eine Reihe von Wirkungen aus, welche das beſtehende Recht theilweiſe ſuspendiren, theilweiſe abändern. Es tritt nun ein eigenthümliches Kriegsrecht ein, welches als Ausnahmerecht das regelmäßige Friedensrecht modificirt.
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Das Kriegsrecht.
530.
Der Krieg wird zwiſchen den Staten geführt und nicht unter und mit den Privatperſonen.
Die Erkenntniß dieſes großen Geſetzes, welches aus der Natur des völkerrechtlichen Rechtsſtreites folgt, hat auf die Humaniſirung des Kriegs und auf die Sicherung der Privatrechte die wohlthätigſten Wirkungen hervorgebracht. Vergleiche darüber die Einleitung zu dieſem Werke. So lange freilich, wie im Alterthum, der Einzelmenſch im State aufging, konnte dieſe Unterſcheidung nicht vollwirkſam werden. Aber ſeitdem der Gegenſatz des öffentlichen und des Privatrechts klarer geworden iſt und die neuere Rechtsbildung begriffen hat, daß die Privatperſon eine Exiſtenz für ſich habe, auch im Gegenſatz zum State, hat dieſelbe das ganze aus dem Alterthum hergebrachte Kriegsrecht wohlthätig umgebildet.
531.
Die kriegführenden Staten ſind Feinde im eigentlichen Sinn, die Privatperſonen dagegen ſind als ſolche nicht Feinde, weder unter einander noch dem feindlichen State gegenüber.
Nur die Statsgewalt tritt mit Heeresmacht den feindlichen Staten entgegen und unternimmt es, dieſelbe zu zwingen, daß ſie das von jener behauptete Recht anerkenne oder auf ihre beſtrittenen Forderungen verzichte. Die Privaten als ſolche ſind bei dieſem Streite nicht unmittelbar betheiligt, ſie ſind nicht Kriegsund nicht Proceßparteien, und eben deßhalb nicht Feinde im eigentlichen und vollen Sinn des Worts. Der von den früheren Publiciſten, ſogar noch von Kent (Comm. § 6, 7, 8) als allgemein anerkannt behauptete Satz: „Wenn der Stat im Kriege ſei, ſo ſeien alle Bürger des Stats Feinde“ iſt offenbar falſch und darf daher nicht mehr gelten. Der Stat iſt eine andere Perſon als die Privatperſonen im State. Der Stat hat eine ihm eigenthümliche Rechtsſphäre, das große Gebiet des öffentlichen Rechts, und die Privatperſonen haben ebenſo ein ihnen eigenes Rechtsgebiet, ihre perſönlichen Familien- und Vermögensrechte, welches von dem Streit der Staten nicht unmittelbar, ſondern nur mittelbar betroffen wird, über welches kein Streit zwiſchen den Staten iſt. Daher ſind die Privatperſonen nicht im eigentlichen Sinne Feinde. Sie können trotz des Kriegs in den freundlichſten Beziehungen leben, der Verwandtſchaft, der Wirthſchaft, des Verkehrs. Sehr wahr erklärte der berühmte franzöſiſche Miniſter Portalis im Jahre VIII. bei der Inſtallation des Priſengerichtshofs: „Entre deux ou plusieurs nations belligérantes, les particuliers dont ces nations se composent, ne sont ennemis que par accident: ils ne le sont point comme hommes, ils ne le sont même pas comme citoyens; ils le sont uniquement comme soldats“. Vgl. Heffter § 119.
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Achtes Buch.
532.
Inwiefern aber die Angehörigen eines States, der Krieg führt, als Statsbürger oder Unterthanen der Statsgewalt öffentlich-rechtlich verpflichtet ſind, werden ſie auch von der Kriegsgewalt des Feindes betroffen und inwiefern ſie perſönlich an dem Kampfe des States Theil nehmen, werden ſie auch als mittelbare Feinde betrachtet und behandelt.
1. Der Stat gebietet, ſoweit das öffentliche Recht es gut heißt, und die öffentliche Wohlfahrt es erfordert, auch über die Kräfte ſeiner Bürger. Er legt denſelben Kriegslaſten auf. Inſoweit hemmt natürlich die feindliche Kriegsgewalt, ſoweit ihre Macht reicht, die Unterſtützung des Stats durch die Bürger und fordert im Gegentheil, ſoweit das Völkerrecht es zuläßt, für ſich dieſe Unterſtützung.
2. Wenn ferner dem feindlichen State die Truppen des Stats — gleichviel ob ſie nur aus Bürgern des Stats oder vielleicht auch aus fremden Söldnern beſtehen — mit den Waffen entgegentreten, ſo erſcheinen dieſe Truppen thatſächlich als Feinde, und obwohl auch ſie nur im Auftrag und Dienſte des States Feindſchaft üben, ſo werden ſie nun doch von den friedlichen Unterthanen des gegneriſchen States unterſchieden und als Feinde im weitern Sinn des Worts (mittelbare Feinde) angeſehen. Als ſolche ſind ſie im Kampfe der Todesgefahr und beſiegt der Kriegsgefangenſchaft ausgeſetzt.
533.
Der antike Satz, daß der Feind rechtlos ſei, wird von dem heutigen Völkerrecht als unmenſchlich verworfen.
Vgl. zu 529. Die Menſchenrechte dauern auch im Kriege fort und ebenſo die Privatrechte, ſoweit nicht der Nothſtand des Kriegs eine Beſchränkung nothwendig macht.
534.
Ebenſo wird der Satz, daß wider den Feind Alles erlaubt ſei, was dem Krieg führenden State nützlich erſcheint, von dem civiliſirten Völkerrecht als barbariſch mißbilligt.
Das Völkerrecht verbindet auch die Kriegsparteien während des Kriegs als Glieder der Menſchheit und beſchränkt dieſelben in der Anwendung der zuläſſigen Gewaltmittel.
Da der Krieg gewaltſame Rechtshülfe und ſein Endziel Herſtellung der Rechtsordnung und des Friedens iſt, ſo muß auch die Kriegsgewalt die Schranken
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Das Kriegsrecht.
der regelmäßigen Rechtsnothwendigkeit beachten, und darf dieſelben nur dann und nur inſofern überſchreiten, als die ausnahmsweiſe militäriſche Nothwendigkeit es fordert. Treuloſigkeit und barbariſche Grauſamkeit ſind auch dann nicht gegen den Feind erlaubt, wenn dieſelben für den Gang des Krieges vortheilhaft zu ſein ſcheinen. Die ganze Exiſtenz des Kriegsrechts bedeutet Beſchränkung der Kriegsleidenſchaft und der Kriegswillkür.
535.
Ausrottungs- und Vernichtungskriege gegen lebens- und culturfähige Völker und Stämme ſind völkerrechtswidrig.
1. Der Vertilgungskrieg gegen die abgöttiſchen Bewohner von Paläſtina, welchen die alten Juden noch für eine heilige Pflicht hielten, wird von dem humaneren Rechtsgefühl der heutigen Welt als Barbarei getadelt und darf nicht mehr wie ein nachahmungswürdiges Beiſpiel geprieſen werden.
2. Zur Zeit noch weniger empfindlich iſt das moderne Rechtsgefühl gegenüber von wilden Stämmen. Das Völkerrecht ſchützt dieſelben nicht, weil man annimmt, ſie gehören nicht zu den großen Völkerfamilien, aus denen die civiliſirte Menſchheit beſteht, weil ſie keinen activen Antheil an der Handhabung des Völkerrechts haben. Ich ſehe darin noch einen Mangel in dem heutigen Völkerrecht. Weil die Wilden Menſchen ſind, ſo ſind ſie auch menſchlich zu behandeln und darf man ihnen nicht alle Menſchenrechte abſprechen. Sie ſind vielleicht ſchwer an eine Rechtsordnung zu gewöhnen; ihre Erziehung zu geſitteten Menſchen iſt vielleicht ein undankbares Geſchäft, das nur mit geringen Erfolgen die großen Mühen lohnt. Aber es iſt dennoch die Aufgabe und die Pflicht der civiliſirten Völker, ſich auch dieſer Heranbildung der roheſten Stämme anzunehmen und ſie zu einem menſchenwürdigeren Zuſtand heranzubilden. Nimmermehr darf es zugegeben werden, daß die Jagd auf wilde Menſchen ebenſo Jedermann frei ſtehe oder auch von der Statsgewalt erlaubt werden dürfe, wie die Jagd auf Füchſe und Wölfe.
536.
Das Kriegsziel wird durch die Kriegsurſache nur zum Theil beſtimmt. Die Forderungen wachſen im Verhältniß der Opfer, welche für den Krieg geleiſtet, und der Gefahren, welche mit dem Kriege übernommen worden ſind. Der Sieg übt durch ſeine Bethätigung der wirklichen Macht auch eine Recht bildende Kraft aus.
1. Das iſt der große Unterſchied zwiſchen andern Proceſſen und dem furchtbaren Rechtsſtreit des Kriegs. Das gerichtliche Urtheil geht niemals über das Klagerecht hinaus, es begnügt ſich, das Rechtsverhältniß, welches verletzt worden war, wieder herzuſtellen. Die Proceßkoſten erſcheinen im Civilproceß als eine meiſt nur
(0322 : 300)
Achtes Buch.
unwichtige Nebenſache. Im Civilproceß werden aber auch die Proceßmittel, die Streitſchriften und die Streitreden der Parteien in den bemeſſenen Schranken feſtgehalten, welche der Natur der Streitſache entſprechen. Sie greifen nicht über das Klagbegehren und nicht über den Umfang der Einreden hinaus. Im Krieg der Völker iſt das Alles anders. Der Krieg iſt ein ſo furchtbares Streitmittel, daß derſelbe eine Menge von Wirkungen und Folgen nach ſich zieht, welche mit dem urſprünglichen Streitobject nichts zu ſchaffen haben. Er macht Opfer an Gut und Blut nöthig, die nicht ſelten viel größer ſind, als der Werth des ſtreitigen Rechts. Er regt mit den Volkskräften auch die Volksleidenſchaften aus der Tiefe auf und ſtellt das ganze künftige Verhältniß der ſtreitenden Staten in Frage. Nicht bloß über das Recht, auch um die Intereſſen der Politik wird nun geſtritten. Es offenbaren ſich im Krieg die lange gebundenen und verborgenen Kräfte, und verlangen nun ebenfalls Beachtung. So wird der Krieg zu einem Entwicklungsmoment der Völkergeſchichte und in veränderter Geſtalt gehen aus ihm die Staten hervor.
2. Deßhalb iſt das Kriegsziel nicht ſo enge begrenzt, wie die Kriegsurſache. Es erweitert ſich durch andere Momente, welche der Krieg ſelbſt dem urſprünglichem Streitgegenſtand hinzufügt. Es handelt ſich meiſtens nicht mehr allein um die Gewährung des anfangs ſtreitigen Anſpruchs oder die Anerkennung des beſtrittenen Rechts, ſelbſt nicht bloß um die Entſchädigung für die erlittene Unbill und um die Genugthuung für die erfahrene Beleidigung. Man will auch Sicherheit für die Zukunft und ſogar einen neuen Friedenszuſtand gewinnen, welcher dem im Krieg bewährten Machtverhältniß entſpricht und der neuen Rechtsbildung des Statenlebens zu zeitgemäßem Ausdruck dient.
3. Inſofern erſcheint der Krieg nicht als bloße Abwehr der Rechtsverletzung und als ein Mittel der Wiederherſtellung des verletzten Rechts, ſondern zugleich als eine treibende Kraft zu neuer Rechtsgeſtaltung. Die Neugeſtaltung des Statslebens geht nun einmal nach dem Zeugniß der Geſchichte meiſtens unter Donner und Blitz, im Gewitterſturm vor ſich.
3. Kriegsrecht gegen den feindlichen Stat und in dem feindlichen Statsgebiete.
537.
Der ſtändige diplomatiſche Verkehr zwiſchen den feindlichen Staten wird, wenn er nicht ſchon vor der Kriegseröffnung abgebrochen worden iſt, nun in Folge derſelben regelmäßig aufgehoben und die Geſanten werden wechſelſeitig zurückgerufen oder zurückgeſchickt.
(0323 : 301)
Das Kriegsrecht.
Indeſſen kann der Geſantenverkehr ausnahmsweiſe auch während des Kriegs fortgeſetzt oder neu angeknüpft werden.
1. Der Abbruch des Geſantenverkehrs geht oft der Kriegserklärung voraus und wird dann als Einleitung zu dem drohenden Bruch des Friedenszuſtands angeſehen. Derſelbe kann aber auch mit der Kriegserklärung verbunden werden. Auf einer Rechtsnothwendigkeit beruht er nicht; denn es iſt kein innerer Widerſpruch darin zu finden, daß zwei Staten über ein einzelnes Streitobject mit einander kämpfen und zugleich in andern Beziehungen mit einander durch Geſante friedliche Verhandlungen pflegen. Der Krieg kann ja durch Uebereinkunft localiſirt und dadurch auf ein engeres Gebiet begränzt werden, als die beiderſeitige Statsherrſchaft reicht. Die wechſelſeitige Abberufung der Geſanten erſcheint daher durchweg als ein freier, durch politiſche Erwägungen beſtimmter Act der Politik, nicht als Rechtspflicht. Eben deßhalb iſt die Fortdauer der Geſantſchaft nicht unmöglich, trotz des Kriegs, und der Erneuerung des Geſantenverkehrs ſteht auch während des Kriegs kein rechtliches Hinderniß im Weg. Dieſelbe kann ebenſo den Frieden vorbereiten, wie früher die Abberufung den Krieg.
2. Als politiſcher Grund kommt neben der Abneigung, einen freundlichen Geſchäftsverkehr fortzuſetzen, während man einander mit tödtlichen Waffen bekämpft, hauptſächlich die Rückſicht in Betracht, daß man nicht in dem Centrum der eigenen Stats- und Kriegsleitung eine Repräſentation des feindlichen Stats haben will, welche dieſe Stellung gegen die dießſeitigen Statsintereſſen benutzen kann und allen feindlichen Beſtrebungen zu einem Stützpunkte dient.
Nicht dieſelben Gründe ſprechen für die einſtweilige Aufhebung der conſularen Vertretung, welche weniger im Statsintereſſe als zu Gunſten des internationalen Privatverkehrs thätig iſt. Es kommt daher eher vor, daß die Thätigkeit der Conſuln ſogar des feindlichen Stats auch während des Kriegs ungehemmt fortgeſetzt wird, ſelbſtverſtändlich aber nur ſo lange, als der Stat ſein Exequatur nicht zurückzieht. Ueber die Conſuln der neutralen Staten vgl. § 555.
538.
Auch die Vertragsverhältniſſe zwiſchen den Staten, welche Krieg führen, werden nicht nothwendig durch die Kriegseröffnung aufgelöst oder ſuspendirt.
Die Wirkſamkeit der Verträge wird während des Krieges nur inſoweit gehemmt, als die Kriegsführung mit derſelben unvereinbar iſt.
Die eigens für den Kriegszuſtand geſchloſſenen Statenverträge gelangen erſt im Kriege zu ihrer Wirkſamkeit.
1. Von vielen Publiciſten ward früher behauptet, daß der Krieg ipso facto die Verträge zwiſchen den kriegführenden Staten aufhebe.
(0324 : 302)
Achtes Buch.
Auch in diplomatiſchen Actenſtücken findet ſich dieſe Behauptung oft, wie ein ſelbſtverſtändliches Recht ausgeſprochen. Offenbar iſt dieſelbe eine Folge jener falſchen Grundanſicht, welche eine Zeit lang das Kriegsrecht verdorben hat, daß durch den Krieg ein rechtloſer Naturzuſtand herbeigeführt werde. (Vgl. zu § 529). Sobald man einmal erkannt hatte, daß der Krieg als Rechtshülfe nicht die Rechtsordnung aufhebt, ſo überzeugte man ſich von der Verwerflichkeit jener älteren Lehre. Die Thatſache des Kriegs kann ſo wenig alles Vertragsrecht zerſtören, als ſie die Rechtsordnung überhaupt aufhebt. Der Krieg kann ſogar als Mittel dienen, um einen Stat zur Erfüllung ſeiner Vertragspflicht zu zwingen.
2. Sehr oft werden auch Verträge eigens für den Kriegsfall geſchloſſen, wie z. B. über die Beſchränkung der Contrebande, über die Geſtattung des freien Handels während des Kriegs, über Neutraliſirung eines Gebietstheils, zum Schutz gewiſſer Anſtalten gegen die Kriegsgefahr, über die Priſengerichtsbarkeit. Da hat man auch früher ſchon anerkannt, daß derartige Verträge trotz des Kriegs Geltung haben, freilich im Widerſpruch mit jenem Grundirrthum. Es iſt aber eben ſo wenig Grund, um die fortdauernde Rechtsgültigkeit anderer Verträge, die keinen Bezug auf den Krieg haben, im Princip zu verneinen, lediglich weil zwiſchen den Staten über eine andere Rechtsfrage Streit iſt. Weßhalb ſollen z. B. vertragsmäßige Feſtſtellung der Grenze, oder die Verträge über Unterhaltung der Flußufer, oder über die Freizügigkeit der Einwohner, über das Erbrecht und das Vormundſchaftsrecht kraftlos werden, ungeachtet der Inhalt derſelben nicht ſtreitig geworden iſt und dieſelben trotz des Kriegs ausgeführt werden können?
3. Verſchieden von der rechtlichen Ungültigkeit iſt die thatſächliche Wirkſamkeit der Verträge. Dieſe kann leicht durch den Krieg thatſächlich behindert werden, unter Umſtänden ſchon deßhalb, weil der friedliche Verkehr zwiſchen den Staten abgebrochen wird, oder weil die Kriegführung die Kräfte abſorbirt, welche im Frieden für vertragsmäßige Leiſtungen verwendet wurden. Wenn z. B. der Stat A ſich durch Vertrag mit dem State B verpflichtet hat, eine Eiſenbahn bis zu einem beſtimmten Termin auszubauen, oder eine Flußcorrection auszuführen, ſo macht wohl, wenn es vorher zwiſchen dieſen Staten zum Kriege kommt, in den meiſten Fällen das Bedürfniß der Kriegsführung, welche alle financiellen Kräfte an ſich zieht, den Vollzug jenes Vertrags unmöglich. Inſofern ſuspendirt der Krieg die Wirkſamkeit vieler Verträge; und es bedarf dann oft im Frieden einer erneuerten Regulirung dieſer Verhältniſſe. (Vgl. oben § 459.) Weil man das in manchen Fällen erfahren hatte, ſo meinte man die allgemeine Rechtsregel ausſprechen zu dürfen, daß der Krieg die Wirkſamkeit der Verträge überhaupt verhindere. Indeſſen geht auch dieſe Regel zu weit. Vielmehr iſt im einzelnen Fall zu prüfen, ob die Natur des Kriegs zu einem Hinderniß für die Vertragserfüllung werde oder nicht. Da die privatrechtliche Gerichtsbarkeit während des Kriegs auch den Angehörigen des feindlichen Stats gegenüber fortdauert, ſo kann leicht bei Entſcheidung eines Privatproceſſes das beſtehende Vertragsrecht für das richterliche Urtheil maßgebend und daher wirkſam ſein.
(0325 : 303)
Das Kriegsrecht.
539.
Wenn ein Theil des feindlichen Statsgebiets — ein Platz, eine Stadt, ein Bezirk, ein Land — von der gegneriſchen Kriegsgewalt beſetzt wird, ſo verfällt dieſer beſetzte Theil ſofort dem Kriegsrecht des Heeres, welches Beſitz ergriffen hat. Die Gegenwart der kriegführenden Truppen in Feindesland wirkt auch ohne vorherige Erklärung.
Vgl. die Amerikaniſchen Kriegsartikel. 1. Die militäriſche Beſitznahme von Feindesland im Krieg ſchließt die militäriſche Autorität in ſich. Man kann es daher den Bewohnern des beſetzten Gebietes nicht als Schuld anrechnen, wenn ſie ſich nun den Befehlen dieſer Gewalt fügen. Im Gegentheil, der Widerſtand gilt nicht mehr als berechtigt, wenn gleich er durch ſittliche Motive der Vaterlandsliebe oder Treue gegen den heimatlichen Fürſten veranlaßt wird, ſondern wird je nach Umſtänden ſchwer beſtraft. Es iſt das eine nothwendige Wirkung des Kriegs, in welchem ſich eine geordnete Statsmacht geltend macht, die zugleich genöthigt iſt, für ihre Sicherheit zu ſorgen, damit ſie ihre Zwecke weiter verfolgen und ſchließlich erreichen könne.
540.
Das Kriegsrecht ſuspendirt die Autorität der feindlichen Statsgewalt in dem beſetzten Gebietstheil und ſetzt die militäriſche Autorität der beſetzenden Macht an ihre Stelle.
Amerik. Kriegsartikel 2. Es gilt das ſowohl von der Geſetzgebenden Gewalt als beſonders von der obern, im einzelnen Fall anordnenden und befehlenden Regierungsgewalt. Wenn ſie weiter befehlen wollte, ſo würde ſie nicht mehr auf Gehorſam rechnen dürfen und die Bewohner nur in einen unnatürlichen Conflict der Neigung und der Pflicht und in eine höchſt gefährliche Lage verſetzen; denn unmöglich kann die beſetzende Kriegsautorität es dulden, daß ihr eine feindliche Gewalt in dem Bereich ihrer errungenen Herrſchaft entgegentrete. Die militäriſche Autorität im Feindesland iſt zugleich Statsautorität und zwei entgegengeſetzte Statsautoritäten können nicht in demſelben Gebiete beſtehen. Mit Nothwendigkeit wird die eine durch die andere aus der Ausübung verdrängt. Vgl. unten § 544. Aber man geht zu weit, wenn man dieſe Suspenſion auch auf das ganze beſtehende Landesrecht, ſowohl das öffentliche als das Privatrecht ausdehnt. Vielmehr dauert die Rechtsordnung ſo weit fort, als ſie mit den Kriegszuſtänden verträglich iſt und nicht von der Kriegsgewalt außer Wirkſamkeit geſetzt wird.
541.
Der Befehlshaber über die beſetzenden Kriegstruppen kann die bür-
(0326 : 304)
Achtes Buch.
gerliche Verwaltung und Rechtspflege ganz oder theilweiſe in dem beſetzten Gebiet fortdauern laſſen, wie in Friedenszeiten und wie vor der Beſitznahme.
Aber dieſe Verwaltung muß hinwieder ſich den Anordnungen unterwerfen, welche die militäriſche Nothwendigkeit und das Bedürfniß einer wirkſamen Kriegführung fordern.
Amerik. Kriegsartikel 3. Die Intereſſen der allgemeinen Sicherheit und Wohlfahrt, für welche die ſtatlichen Policei- und Verwaltungsbehörden und die Gerichte zu ſorgen haben, dauern auch im Kriege fort und bedürfen einer Befriedigung. Es iſt daher durchaus verkehrt, wenn die ganze Beamtung und ſogar die Policeimannſchaft (Gensdarmerie) bei dem Vormarſchiren des feindlichen Heeres aus dem Gebiete, das es zu beſetzen im Begriffe iſt, weggezogen werden, wie es noch 1866 in dem letzten Kriege von Oeſterreich in Böhmen geſchehen iſt. Der Feind leidet dabei viel weniger, als die eigenen Landsleute, für welche ja die Verwaltung eingeführt iſt. Dieſen gegenüber begeht die Landesregierung, welche alle Anſtalten zum Schutz der öffentlichen Ordnung beſeitigt, ein ſchweres Unrecht. Allerdings iſt aus politiſchen Motiven ein Unterſchied zu machen zwiſchen den Beamten und Angeſtellten, welche weſentlich verwaltende und denen, welche vornehmlich politiſche Functionen hatten. Die erſtern haben keinen Grund, zu flüchten, aber viele Gründe, in ihrem Amte auszuharren und ihre Verwaltung im Orts- und Landesintereſſe fortzuüben, wenn die feindliche Kriegsgewalt ſie nicht daran behindert. Die letztern dagegen mögen eher vor der Feindesgewalt weichen, welcher zu dienen ſie nicht verpflichtet ſind, und welche ihnen ſchwerlich die fortgeſetzte politiſche Leitung anvertrauen würde. Dieſe Unterſcheidung wirkt aber eher politiſch als rechtlich und iſt ebendeßhalb eine fließende. Einzelne Verwaltungsbeamte, welche politiſch vorzüglich compromittirt ſind, mögen zureichende Motive haben, die beſetzte Gegend und ihr Amt zu verlaſſen, wenn der Feind einzieht, und umgekehrt auch politiſche Beamte nach Umſtänden es zweckmäßig finden, zurück zu bleiben und die weiteren Entſchlüſſe der beſetzenden Kriegsgewalt abzuwarten. Nur die Rechtsregel ſteht feſt: Bis zur Beſetzung haben die Beamten den verfaſſungsmäßigen Anordnungen und Befehlen ihrer Regierung Gehorſam zu leiſten. Nach vollzogener Beſetzung dagegen hört die Wirkſamkeit der frühern Autorität auch für die Beamten auf und müſſen ſie ſich der Autorität der beſetzenden Kriegsgewalt ſo weit fügen, als dieſelbe völkerrechtlich begründet iſt.
Am wenigſten werden von der Aenderung die Gemeinde- und überhaupt alle Localämter betroffen. Da dieſelben eine rein-örtliche Aufgabe und Beziehung haben, ſo laſſen ſie ſich nicht von dem Orte trennen und gerathen mit dieſem unter die Autorität des Feindes.
542.
Die Träger der militäriſchen Autorität ſind nicht entbunden von
(0327 : 305)
Das Kriegsrecht.
den Geſetzen der Menſchlichkeit, der Gerechtigkeit, der Ehre und des civiliſirten Kriegsgebrauchs.
Militäriſche Tyrannei und Unterdrückung iſt nicht Ausübung, ſondern Mißbrauch des Kriegsrechts. Je größer die Ueberlegenheit der bewaffneten Macht iſt über die unbewaffneten Bürger, deſto nöthiger iſt es, daß dieſelbe durch jene menſchlichen Tugenden und Vorzüge veredelt und ermäßigt werde. Es iſt nicht ein Zeichen militäriſcher Tapferkeit oder Ehre, wenn der Soldat ſeine Gewalt zur Ungebühr mißbraucht, ſondern nur ein Zeichen von unwürdiger Roheit, und es iſt der Stolz einer civiliſirten Armee, Recht und gute Sitte zu achten. Eben dadurch unterſcheidet ſie ſich von barbariſchen Kriegern. Amerik. Kriegsart. 4.
543.
Das Kriegsrecht iſt weniger ſtreng zu handhaben in Plätzen und Bezirken, deren Beſitznahme geſichert erſcheint und ſtrenger da, wo die Gefahr des Kampfes um den Beſitz fortdauert und nahe iſt, am ſtrengſten im Angeſicht des wirklichen Kampfes ſelbſt.
Am. Kr. 5. Dieſe Regel wirkt ſowohl auf die Beſtimmung kriegsrechtlicher Anordnungen, als auf die Anwendung und Auslegung des Kriegsrechts. Die Steigerung der Strenge iſt wie das ganze Kriegsrecht durch die militäriſche Nothwendigkeit und das Bedürfniß der Sicherheit bedingt. Wenn es ſich z. B. rechtfertigt, im Angeſicht des gegenwärtigen Kampfs Häuſer von Privaten ganz in Beſitz nehmen, mit Wegweiſung der Bewohner und vielleicht dieſelben niederzureißen, ſo würde eine ſolche Maßregel, wenn ein localer Kampf an der Stelle noch völlig ungewiß iſt, als barbariſch erſcheinen. Ebenſo wird die Hemmung alles Verkehrs, unter Umſtänden durch militäriſche Vorſichtsmaßregeln geboten, ohne ſolches Bedürfniß ungerechtfertigt ſein.
544.
So weit die Beſitznahme der feindlichen Kriegsmacht reicht und ſo lange ſie dauert, erſcheint die Regierungsgewalt des gegneriſchen States verdrängt.
Inzwiſchen ſind die Bewohner der beſetzten Gebiete zu keinem Gehorſam gegen die verdrängte Regierung verbunden, aber genöthigt, der thatſächlich herrſchenden Kriegsgewalt ſtatlichen Gehorſam zu leiſten.
Vgl. oben zu § 539. Die Beſitznahme eines Gebietstheils hört aber nicht ſchon dadurch auf, daß die beſetzenden Truppen wegziehen. Wenn die Armee vorwärts marſchirt in Feindesland, ſo bleibt zunächſt das hinter ihr liegende
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 20
(0328 : 306)
Achtes Buch.
Gebiet in ihrem Beſitz, auch wenn ſie keinen Soldaten mehr dort ſtehen hat, und zwar ſo lange, bis ſie entweder den Beſitz abſichtlich aufgibt, oder bis ſie wieder mit Gewalt aus dem Beſitze verdrängt wird. Vgl. unten § 551.
545.
Die Kriegsgewalt kann allgemeine Verordnungen erlaſſen, Einrichtungen treffen, Policeigewalt und Steuerhoheit ausüben, ſoweit ſolches durch das Bedürfniß der Kriegsführung geboten iſt, oder durch die Bedürfniſſe des beſetzten Gebietes und ſeiner Bewohner erfordert wird.
Sie hat ſich aber bis zu definitiver Regelung der Statsverhältniſſe ſolcher geſetzgeberiſcher Acte möglichſt zu enthalten, durch welche die Verfaſſung geändert wird und darf die hergebrachte Rechtsordnung nur aus dringenden Gründen außer Wirkſamkeit ſetzen.
1. Die Kriegsgewalt iſt weſentlich Nothgewalt und proviſoriſche Gewalt. Daher ſind ihre Anordnungen durch die Nothwendigkeit bedingt und beſchränkt, und nicht berufen, die dauernden Grundlagen des öffentlichen Rechts zu verändern. Schon deßhalb ſoll ſie die beſtehende Verfaſſung und Geſetzgebung möglichſt wenig antaſten und ihre Wirkſamkeit nur hindern, wo das militäriſche Bedürfniß es erfordert. Dieſe Beſchränkung kann freilich durch die Umſtände geboten werden. Wenn z. B. das Vereins- und Verſammlungsrecht der Bewohner durch die Verfaſſung gewährleiſtet iſt, ſo wird dennoch die feindliche Kriegsgewalt die freie Ausübung desſelben nicht dulden können, ohne ihren Beſitz und ihre Sicherheit zu gefährden. Auch die Preßfreiheit erleidet im Krieg nothwendige Beſchränkung. Iſt durch die Verfaſſung eine jährliche Verſammlung der Volksvertretung angeordnet, ſo werden auch dieſe Wahlen und wird die Verſammlung in dem beſetzten Gebiete gewöhnlich gehemmt werden müſſen.
2. Wenn Befreiungskriege geführt werden, dann freilich liegt es oft im Intereſſe der Kriegführung, ſo weit die Macht der Kriegsgewalt reicht, auch neue Ordnungen vorläufig einzuführen, durch welche den bisher gedrückten Bewohnern des beſetzten Landes beſſere Rechte verliehen und die Sympathien derſelben gewonnen werden. Derartige Veränderungen haben die franzöſiſchen Revolutionskriege zu Anfang dieſes Jahrhunderts mit ſich gebracht, aber auch der neueſte Bürgerkrieg in den Vereinigten Staten von Amerika.
546.
Da der Kriegszuſtand ein Nothſtand und das Kriegsrecht ein Nothrecht iſt, ſo können die militäriſch gerechtfertigten Anordnungen der Kriegsgewalt nicht aus dem Grunde als ungültig angefochten werden, daß ſie der Verfaſſung oder dem Landesrecht widerſprechen.
(0329 : 307)
Das Kriegsrecht.
Beiſpiele der Art ſind in der Erläuterung zu § 545 gegeben. Das muß aber ſogar von der Kriegsgewalt des eigenen Landes ebenſo gelten, denn „Noth kennt kein Gebot“.
547.
Soweit nicht die Kriegsgewalt beſondere abweichende Vorſchriften erläßt, hat die bürgerliche und die Strafgerichtsbarkeit des Landes ihren regelmäßigen Fortgang.
Die Einführung einer außerordentlichen kriegsgerichtlichen Rechtspflege — des ſogenannten Standrechts — iſt nur aus dem Grunde einer ernſten und dringenden Gefahr zuläſſig und iſt vorher öffentlich zu verkünden.
Am. Kr. 6. 1. Die Kriegsgewalt kann z. B. die Wirkſamkeit der geſetzlichen Schutzmittel gegen Verhaftungen (Habeas-Corpusacte) ſuspendiren oder auch in Folge der Verkehrsſperre die Durchführung des Wechſelrechts hemmen u. dgl. Vgl. zu § 545.
2. Die Einſetzung von Kriegsgerichten zur Ausübung des ſtandrechtlichen Verfahrens iſt einer der ſchwerſten Eingriffe in die bürgerliche Freiheit und Rechtsſicherheit, weil ſie eine Menge von Garantien aufhebt, welche das regelmäßige Proceßrecht den Parteien gibt. Es kann daher nur durch die Noth gerechtfertigt werden. Die friedlichen Bewohner aber dürfen den Gefahren desſelben nicht ausgeſetzt werden ohne vorherige öffentliche Warnung.
548.
Auch die ſtandrechtlichen Kriegsgerichte dürfen nicht nach Willkür und nicht leidenſchaftlich verfahren, ſondern ſind verpflichtet, die Fundamentalgeſetze der Gerechtigkeit zu beachten. Insbeſondere ſollen ſie den Angeſchuldigten freie Vertheidigung geſtatten, keine Tortur anwenden, den Thatbeſtand wenn auch ſummariſch doch unparteiiſch prüfen und nur eine verhältnißmäßige Strafe über den Schuldigen erkennen. Aber ſie ſind nicht gebunden an die ſtrengeren Vorſchriften der gewöhnlichen Proceßgeſetze.
Am. Kr. 12. Die Beſtellung dieſer Kriegsgerichte geſchieht nach den Vorſchriften der Landesverfaſſung oder der militäriſchen Vorſchriften der einzelnen Länder. Die obigen Grundſätze dagegen haben eine allgemein menſchliche Bedeutung. Würden ſie verletzt, ſo würde das Standrecht aufhören eine Rechtspflege zu ſein und würde zu einer Bethätigung zügelloſer Leidenſchaft
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(0330 : 308)
Achtes Buch.
werden. In den Amerikaniſchen Kriegsartikeln iſt auch der Satz enthalten, der ſich einer allgemeinen Anerkennung empfiehlt: „Die Todesſtrafe darf ohne Erlaubniß des Statshauptes nicht vollzogen werden, außer wo der Drang der Umſtände einen ſchnelleren Vollzug fordert und dann nur mit Erlaubniß des oberſten Befehlshabers der betreffenden Truppen“. Ueberdem machen dieſe Artikel darauf aufmerkſam, daß die militäriſche Gerichtsbarkeit eine zwiefache Begründung habe, einmal in dem Statsrecht des Landes für Aufrechthaltung der militäriſchen Ordnung und ſodann im Völkerrecht für Fälle, die nicht ſchon nach Landesgeſetz ſtrafbar ſind, für welche es daher einer beſondern Ermächtigung bedarf, das Kriegsrecht in dieſer Form zu hanben. Das gilt vorzüglich in feindlichem Land.
549.
Die Kriegsgewalt darf alles das thun, was die militäriſche Nothwendigkeit erfordert, d. h. ſoweit ihre Maßregeln als nöthig erſcheinen, um den Kriegszweck mit Kriegsmitteln zu erreichen und in Uebereinſtimmung ſind mit dem allgemeinen Recht und dem Kriegsgebrauch der civiliſirten Völker.
Am. Kr. 14. Im Grunde iſt das die entſcheidende Hauptregel für das Recht der Kriegsgewalt. Was nothwendig ſei, ergibt ſich nur aus den Umſtänden. So weit die Nothwendigkeit reicht, ſo weit reicht die Kriegsgewalt. Darüber hinaus wird ſie rohe Willkür. Freilich iſt es nicht immer leicht, die Grenzen in der Praxis zu beſtimmen und es iſt unmöglich, hier nach formellen Merkmalen zu verfahren. Wenn eine Armee keinen Mangel hat an Lebensmitteln, Kleidungsſtücken, Fuhrwerken u. ſ. f., ſo iſt ſie nicht in der Nothwendigkeit, weitere Forderungen der Art an die Gemeinden oder die Privatperſonen zu ſtellen. Wenn ſie dagegen Mangel leidet, ſo ſind je nach Umſtänden ſogar ſtarke Eingriffe in das Privateigenthum ganz unvermeidlich. Niemals aber hört die Wirkſamkeit der Moral auf, geſetzt auch, die regelmäßige Rechtsordnung würde momentanen Schaden leiden. Schön ſagen die Amerikaniſchen Kriegsartikel (15): „Wenn die Männer einander in offenem Krieg mit den Waffen bekämpfen, ſo hören ſie doch nicht auf moraliſche Weſen zu ſein und bleiben den andern Menſchen und Gott verantwortlich für ihre Thaten“.
550.
Dagegen verwirft das Kriegsrecht allen Wort- und Treubruch auch gegen den Feind, alle unnöthige Grauſamkeit, alle Ausübung der Privatrache und alle die Handlungen der Gewinnſucht oder der Wolluſt, welche überall als gemeine Verbrechen verboten und beſtraft werden, alle barbariſche Zerſtörung, alles was mit der Ehre der Truppen nicht vereinbar iſt.
(0331 : 309)
Das Kriegsrecht.
Am. Kr. 11. Vgl. unten 574. 575. Die Regel, daß auch dem Feinde Treue zu halten ſei — Fides etiam hosti servanda — (§ 566) iſt uralt, und es kann von dieſer natürlichen Menſchenpflicht keine prieſterliche Autorität dispenſiren. Die Schranke der Ehre hat ſich von jeher als beſonders mächtig erwieſen in civiliſirten Heeren, oft ſogar noch ſtärker als die Schranke des natürlichen Rechts.
551.
Die Kriegsgewalt darf von den Beamten in Feindesland den Eid eines zeitlichen Gehorſams fordern und ſie entlaſſen und fortweiſen, wenn ſie denſelben verweigern. Der Gehorſam, den ſie der Kriegsgewalt ſchulden, iſt durch die Dauer der Beſitznahme beſchränkt.
Vgl. oben 540 und 544. Einen Unterthaneneid darf die Kriegsgewalt nicht fordern, bevor die Eroberung dauernd geworden und durch den Frieden geſichert iſt. Die Autorität der Kriegsgewalt in Feindesland iſt nur eine proviſoriſche, durch den Kriegszuſtand bedingte. Aber es kann unter Umſtänden nöthig oder zweckmäßig ſein, daß die Beamten, welche ihre öffentlichen Functionen fortſetzen, eidlich verpflichtet werden, in der Zwiſchenzeit nichts gegen die Kriegsgewalt zu thun und deren Anordnungen zu befolgen. Wenn dieſelben einen ſolchen, nur proviſoriſch wirkenden Eid verweigern, ſo weist das auf die feindliche Geſinnung dieſer Beamten hin und die Kriegsgewalt hat Urſache, denſelben mindeſtens jede öffentliche Autorität zu entziehn.
Ueber die Dauer des proviſoriſchen Gehorſams vgl. zu § 544.
552.
Der Vertheidiger eines bedrohten Platzes ſoll die friedlichen Bewohner rechtzeitig auf die Gefahren aufmerkſam machen, denen ſie ausgeſetzt werden und darf ihrem Wegzug keine anderen Hinderniſſe in den Weg legen, als welche die Sorge für die Kriegsführung nöthig macht.
553.
Wenn der Commandant eines feſten Platzes die unkriegeriſchen Bewohner in der Abſicht fortweist, um den Platz gegen den Feind länger behaupten zu können, ſo kann dieſe Maßregel durch die militäriſche Nothwendigkeit gerechtfertigt ſein.
Aber auch der Belagerer kann ſich auf dieſelbe Nothwendigkeit berufen, wenn er in der Abſicht, die Uebergabe des Platzes zu beſchleunigen,
(0332 : 310)
Achtes Buch.
jene Bewohner nicht wegziehen läßt. Greift der Belagerer zu dieſer zwar extremen aber nicht völkerrechtswidrigen Maßregel, ſo iſt der Belagerte genöthigt, den Aufenthalt der Bewohner wieder im Platze zu geſtatten.
Am. Kr. 18. Die Ausweiſung wird vorzüglich durch den Mangel an Lebensmitteln in dem befeſtigten Platz motivirt und die Zurückweiſung ebenſo durch die Hoffnung begründet ſein, den Platz durch Aushungerung zur Uebergabe zu nöthigen. Beide Maßregeln ſind gegenüber den friedlichen Bewohnern ſehr hart, aber die letztere iſt noch härter, weil ſie dieſelben auch den größten perſönlichen Gefahren ausſetzt. Nur die ſtrengſte militäriſche Nothwendigkeit vermag dieſelbe zu rechtfertigen. Ohne dieſe muß es den Bewohnern frei ſtehen nach ihrer eigenen Wahl, ſei es in dem Platze fort zu wohnen, ſei es denſelben zu verlaſſen. Es liegt aber in der Natur der Dinge, daß die Ausweiſung unter Umſtänden von den Belagerungstruppen verhindert werden kann. Wenn ſie verhindert wird, ſo bleibt für den Commandanten des feſten Platzes nichts anderes übrig, als die Bewohner, die nicht wegkommen können, wieder aufzunehmen. Keine militäriſche Nothwendigkeit könnte es jemals rechtfertigen, daß dieſelben zwiſchen den beiden ſtreitenden Kriegsgewalten wie zwiſchen zwei harten Mühlſteinen zerrieben werden.
554.
Die gute Kriegsſitte verlangt, daß der Belagerer, wenn es thunlich erſcheint, vor dem Bombardement eines Platzes die Abſicht dazu ankündige, damit die Nichtſtreiter, insbeſondere Weiber und Kinder entfernt oder ſonſt in Sicherheit gebracht werden. Indeſſen kann Ueberraſchung mit einem Bombardement nöthig ſein, um den Platz bald zu gewinnen und dann iſt die Unterlaſſung jener Anzeige gerechtfertigt.
Am. Kr. 19. Es entſpricht dieſe Sitte dem Weſen des Kriegs als eines Streites zwiſchen Stat und Stat, und nicht mit den Privaten. Möglichſte Schonung dieſer iſt das Kennzeichen der civiliſirten Kriegsführung. Um die Bewohner großer Städte möglichſt vor den Gefahren des Kriegs zu bewahren, werden daher dieſe Städte meiſtens als offene Plätze dem Sieger überlaſſen und nicht als feſte Plätze gegen eine Belagerung vertheidigt. Aber auch im letztern Fall erfordert es die Menſchlichkeit, daß die friedlichen Bewohner gewarnt werden, bevor die Stadt beſchoſſen wird, wenn irgend der Gang des Krieges es geſtattet. Nur in den dringendſten Fällen wird ein plötzlicher Ueberfall, verbunden mit einer raſchen Beſchießung ſich als militäriſche Nothwendigkeit vertheidigen laſſen.
555.
Die Thätigkeit der fremden Geſanten und diplomatiſchen Perſonen,
(0333 : 311)
Das Kriegsrecht.
welche bei der feindlichen Regierung beglaubigt ſind, hört von Rechtswegen für das beſetzte Gebiet auf.
Indeſſen pflegt die beſetzende Kriegsgewalt im Intereſſe des völkerrechtlichen Verkehrs die neutralen Geſanten in dieſem Gebiete ebenſo zu ſchützen und ihnen thatſächliche Wirkſamkeit zu geſtatten, wie wenn dieſelben vorübergehend bei ihr beglaubigt wären.
Wird die Reſidenzſtadt vom Feinde eingenommen, ſo verlaſſen oft die Geſanten auch der neutralen Staten den Ort ihrer bisherigen Wirkſamkeit und folgen zuweilen dem Hofe nach, der ſich zurückzieht. Da ſie bei dem weichenden Souverän accreditirt ſind, ſo ſtehen ſie zunächſt nur mit ihm in einem völkerrechtlichen Verhältniß. Es iſt aber möglich, daß ſie den Befehl erhalten, an ihrem bisherigen Wohnſitz auszuharren, wenn gleich derſelbe in feindliche Gewalt gerathen iſt. Da ſie bei der beſetzenden Kriegsgewalt nicht beglaubigt ſind, ſo können ſie auch nicht ferner hier den diplomatiſchen Verkehr fortſetzen. Indeſſen liegt es gewöhnlich im Intereſſe der feindlichen Kriegsgewalt, welche erobernd vorgeht, möglichſt freundliche Beziehungen auch zu den anweſenden Geſanten der neutralen Staten zu erhalten; daher wird dieſelbe ſelten gegen die Fortſetzung ihres Aufenthalts und ſelbſt ihrer Thätigkeit Schwierigkeit machen und auch die Privilegien der Geſanten einſtweilen unbeſtritten fortwirken laſſen. Würde aber der Verdacht entſtehen, daß das Bleiben eines Geſanten dazu mißbraucht würde, um der beſetzenden Kriegsgewalt Verlegenheiten zu bereiten, ſo wäre dieſe nicht gehindert, den bei ihr nicht beglaubigten Geſanten ohne Verzug wegzuweiſen.
556.
Auch die fremden Conſuln, welche von der feindlichen Regierung ermächtigt worden ſind, im Lande thätig zu ſein, werden von der erobernden Kriegsgewalt in ihrer Wirkſamkeit möglichſt wenig beläſtigt, und ſo behandelt, als ob ſie von der letztern inzwiſchen ermächtigt wären.
Vgl. zu § 537. Man nimmt an, das Exequatur wirke fort, ganz ebenſo wie die Ernennung der Aemter, bis die feindliche Kriegsgewalt dieſe ruhige Fortdauer der urſprünglichen Vollmacht durch eine entgegengeſetzte Erklärung abbricht. Weil die Conſuln weſentlich für den internationalen Privatverkehr und nicht für den völkerrechtlichen Verkehr der Staten ermächtigt ſind, ſo läßt ſich dieſe Fortdauer der Conſularthätigkeit noch unbedenklicher gewähren, als die des Geſantenverkehrs.
(0334 : 312)
Achtes Buch.
4. Unerlaubte Kriegsmittel.
557.
Der Gebrauch vergifteter Waffen oder die Verbreitung von Giftſtoffen und Contagien in Feindesland iſt völkerrechtswidrig.
Schon das uralte indiſche Geſetzbuch Manus (VII. 96) enthält dieſes Verbot. Die Beachtung desſelben iſt ein Kennzeichen der civiliſirten Kriegsführung im Gegenſatze zu der Kriegsübung mancher wilden Stämme, welche ſich der vergifteten Pfeile bedienen. Die Verbreitung von anſteckenden Stoffen in Feindesland, um eine Epidemie dahin zu verpflanzen, iſt noch abſcheulicher, als der Gebrauch von vergifteten Waffen und ein abſolut unzuläſſiges Mittel, den Feind zu ſchädigen.
558.
Ebenſo ſind unterſagt, Waffen, welche zweckloſe Schmerzen verurſachen, wie Pfeile mit Widerhacken, gehacktes Blei oder Glasſplitter ſtatt der Flintenkugeln.
Da der Krieg nur von Stat gegen Stat geführt wird, ſo ſind die Kriegsmittel beſchränkt auf die Mittel, den Widerſtand des feindlichen Stats zu brechen und denſelben zum Nachgeben zu nöthigen. Jede unnöthige Grauſamkeit iſt Barbarei.
559.
Die Benutzung von Wilden, welche das Völkerrecht nicht achten, zur Kriegshülfe, wird den civiliſirten Staten durch das Völkerrecht verwehrt.
Die civiliſirte Kriegsführung duldet überhaupt die Barbarei nicht und darf daher auch barbariſche Stämme nicht zu Kriegsgenoſſen machen. Dagegen iſt es ihr nicht verwehrt, ſolche barbariſche Individuen oder Stämme, welche ſich den Schranken des Völkerrechts fügen und den Anordnungen der civiliſirten Officiere gehorchen, zu verwenden. Vgl. Wheaton (Dana) Elem. of intern. law. § 343. n. II.
560.
Der guten Kriegsſitte widerſpricht das Schießen von Kettenkugeln im Land- und von glühenden Kugeln und Pechkränzen im Seekrieg.
(0335 : 313)
Das Kriegsrecht.
Im Mittelalter verſuchte es der Papſt Innocenz III., die Anwendung von Wurfgeſchoſſen überhaupt gegen Chriſten zu unterſagen. cap. un X. de sagittariis (V. 15). Aber vergeblich. Die moderne Kriegsführung beruht gerade auf den Schußwaffen. Auch geht man zu weit, wenn man alle tödtlichen Waffen, welche maſſenhaft wirken, für völkerrechtswidrig erklärt. Weßhalb ſollten die Waffen erlaubt ſein, durch welche einzelne Individuen getödtet werden, aber die verboten, welche Reihen von Individuen bedrohen, da ja doch nicht gegen die Individuen der Krieg geführt wird, ſondern gegen die Macht des feindlichen Stats? Jede Kanonenkugel bedroht mehr als Ein Menſchenleben, die Kartätſchen werfen ganze Scharen nieder und die ſchweren Kanonen der Strandbatterien und der Kriegsſchiffe können ganze Schiffe in den Grund bohren; eine explodirende Mine kann eine Menge Menſchen verſchütten, durch ein Branderſchiff auch ein feindliches Schiff angezündet werden. Dennoch hält die Kriegsſitte dieſe Mittel für erlaubt, aber ſie verwirft die Kettenkugeln (boulets à chaîne) und die Stangenkugeln (boulets à bras) als barbariſch und nimmt an dem Beſchießen der Schiffe mit glühenden Kugeln und dem Werfen von brennenden Pechkränzen in das feindliche Schiff Anſtoß. Offenbar iſt die Kriegsſitte noch zu lax und zu grauſam, und nicht etwa zu empfindſam und zu ängſtlich in ihrem Urtheil über Erlaubtes und Unerlaubtes.
561.
Das Völkerrecht verwirft den Meuchelmord eines feindlichen Individuums als unerlaubtes Kriegsmittel.
Am. Kr. 148. Nicht bloß der Meuchelmord durch verrätheriſches Beibringen von Gift, ſondern auch durch heimliches Nachſchleichen und Erdolchen oder Erſchießen wird durch das Kriegsrecht nicht legitimirt, wenn gleich der Mörder oft ſtraflos bleibt. Die Tödtung im Kampf iſt erlaubt, der Mord außerhalb des Kampfes iſt unehrlich und verboten, auch wenn er, wie z. B. die Ermordung des feindlichen Feldherrn oder Fürſten für die eigene Kriegsführung nützlich iſt. Der Unterſchied war ſchon den civiliſirten Völkern des Alterthums klar, bedurfte aber von Zeit zu Zeit erneuerter Ausſprache, um nicht von den wilden Leidenſchaften verkannt zu werden. Selbſt im Kampf iſt alles unnöthige Tödten der Feinde verwerflich.
562.
Auch die Achterklärung gegen einen Einzelnen, durch welche er als rechtlos und vogelfrei der ſtrafloſen Mißhandlung und Tödtung von Jedermann Preis gegeben wird, und die Ausſchreibung von Preiſen auf den Kopf eines Menſchen werden von den civiliſirten Völkern als eine barbariſche Uebung mißbilligt.
(0336 : 314)
Achtes Buch.
Im Mittelalter war die Acht noch ein Hauptmittel des Strafrechts und man ließ ſie daher im Kriege ohne Bedenken ebenfalls zu. Das heutige Kriegswie das Friedensrecht erkennt die große Rechtsregel an: „Der Menſch iſt niemals rechtlos“, und kann daher jene Acht nicht mehr zugeſtehen. In anderem Sinne freilich kann man heute noch von der Aechtung einer feindlichen Perſon reden, inſofern als ſie entweder aus dem Lande gewieſen, oder der Verfolgung in der Abſicht ausgeſetzt wird damit man ſich ihrer bemächtige und ſie gefangen zur Stelle bringe. Das kann aus politiſchen und militäriſchen Gründen als nothwendig erſcheinen und inſofern gerechtfertigt werden. In den Napoleoniſchen Kriegen zu Anfang des Jahrhunderts iſt wiederholt gegen politiſch bedeutende Männer, die als Feinde erklärt und geächtet wurden, ſo verfahren worden. Eine ſolche Aechtung erinnert an den atheniſchen Oſtracismus. Von der Art war auch die berühmte Aechtung des Preußiſchen Miniſters Stein durch Kaiſer Napoleon I., aber auch die ſpätere Aechtung Napoleons ſelbſt durch die alliirten Mächte.
563.
Das Völkerrecht verwirft überhaupt alle Anſtiftung zu Verbrechen, auch wenn dieſelben der Kriegsführung nützlich wären. Aber es hindert nicht, die Vortheile zu benutzen, welche durch die Verbrechen dritter Perſonen der Kriegsführung zufällig dargeboten werden.
So wenig der Feldherr Mörder dingen darf, ebenſo wenig darf er zu Brandſtiftung, Raub, Diebſtahl u. ſ. f. anſtiften. Das Völkerrecht achtet auch im Kriege die gemeine Rechtsordnung und verabſcheut das Verbrechen. Aber wenn durch den Mord eines feindlichen Heerführers das feindliche Heer in Verwirrung gebracht, oder wenn durch eine Brandſtiftung ein Vertheidigungswerk des Feindes zerſtört worden iſt, ſo ſind das für den Gegner vielleicht glückliche Ereigniſſe, die zum Siege zu benutzen ihm nicht verwehrt iſt. Die Rückſichten der Ritterlichkeit, der Großmuth und der Ehre können auch in ſolchen Fällen eine haſtige und ſchonungsloſe Ausbeutung ſolcher Vortheile als unanſtändig oder unedel darſtellen, aber das weniger empfindliche Recht läßt dieſelbe gewähren.
564.
Dagegen gilt die Aufforderung zu Handlungen, welche zwar in dem feindlichen State als politiſche Verbrechen ſtrafbar, aber von dem Standpunkte ſeines politiſchen Gegners ehrenhaft ſind, und die Unterſtützung ſolcher politiſcher Verbrecher im Feindeslande, als ein erlaubtes Mittel der Kriegsführung.
1. Die Natur der eigentlichen politiſchen Verbrechen unterſcheidet ſich darin von dem gemeinen Verbrechen ſehr weſentlich, daß dieſe das allgemeine
(0337 : 315)
Das Kriegsrecht.
Rechtsgefühl aller civiliſirten Völker tief verletzen und beleidigen, während jene nur einem beſtimmten State gegenüber verübt werden und nur deſſen Statsordnung betreffen. Dieſelbe Handlung kann daher in einem State ſchwere Strafe verdienen, und von den benachbarten Völkern als eine rühmliche That geprieſen werden. Auch in der modernen Kriegsführung kommt es oft vor, daß die ſympathiſch geſinnte Partei in Feindesland oder eine unterdrückte Bevölkerung, welche man durch den Krieg befreien will, zum Aufſtand angeregt, daß Zuzüger aus dem Feindesland unter die Truppen aufgenommen werden, welche dasſelbe einnehmen ſollen, daß mit einem Prätendenten, der Anſprüche auf die Regierung im Feindesland erhebt, Verbindungen angeknüpft und in der Abſicht unterhalten werden, die feindliche Regierung im Innern ihres Landes in Gefahr zu bringen. Keine einzige europäiſche oder amerikaniſche Kriegsmacht hat ſich ſolcher Mittel enthalten, wenn ſie ſich ihr darboten und für die Kriegsführung nützlich erſchienen. Sowohl die Revolutions- als die Reſtaurationspolitik hat ſich derſelben bedient; aber auch die neueſte Befreiungs- und Nationalitätspolitik in Italien und Deutſchland hat dieſelben nicht verſchmäht. Die politiſchen Rückſichten ſind in dieſer Beziehung ſo entſcheidend, daß die ſtrafrechtlichen in den Hintergrund treten.
2. Dagegen wird die Aufreizung der feindlichen Officiere und Soldaten zur Deſertion oder zum Verrath — wenigſtens in der Regel — für ein unerlaubtes Kriegsmittel angeſehen, weil hier auch das allgemeine Intereſſe aller Staten an der Aufrechthaltung der militäriſchen Ordnung und Disciplin ſo überwiegend erſcheint, daß die politiſchen Rückſichten eine derartige Störung nur ſelten zu entſchuldigen vermögen.
565.
Die Liſt iſt im Kriege erlaubt und daher auch die Täuſchung des Feindes nicht völkerrechtswidrig, ſogar nicht die Täuſchung durch Uniformen, Fahnen und Flaggen. Vor dem wirklichen Zuſammenſtoß aber muß jeder Heereskörper unter ſeiner wahren Fahne und Flagge erſcheinen und darf nur als offenbarer Feind fechten.
Im Kriege kämpfen Gewalt und Liſt bald gemeinſam, bald wider einander. Es iſt erlaubt, den Feind über die Stärke und die Bewegungen des Heeres zu täuſchen, z. B. indem man durch Anzünden zahlreicher Wachfeuer die Anweſenheit eines ſtarken Truppenkörpers glaublich macht, während die Truppen bereits abgezogen ſind, oder indem ein geringes Streifcorps bald da, bald dort erſcheint und die Meinung verbreitet, es ſeien zahlreiche Truppen in der Nähe. Ebenſo kann der Feind durch eine ſcheinbare Flucht in einen Hinterhalt gelockt und da überfallen werden. Die Liſt dient dazu, die phyſiſche Ueberlegenheit des Feindes durch ein geiſtiges Gegengewicht zu vermindern oder zu überwinden. Bedenklich iſt allerdings die Benutzung der Kennzeichen des feindlichen Heeres — Uniformen, Fahnen,
(0338 : 316)
Achtes Buch.
Flaggen — zur Täuſchung desſelben, um dasſelbe ſorglos zu machen und leichter in Verwirrung zu bringen. Dieſe Art der Täuſchung darf nicht über die Vorbereitungen zum Kampf hinausgetrieben werden. In der Schlacht ſollen die Feinde einander offen entgegenſtehn und nicht hinterrücks in der Maske des Freundes und Waffenbruders der Feind den Feind anfallen.
566.
Auch dem Feinde muß man Treue halten. Der Bruch eines dem Feinde im Kriege gegebenen Verſprechens iſt völkerrechtswidrig.
„Etiam hosti fides servanda“ iſt ein uralter Rechtsſatz ſelbſt des antiken Völkerrechts (§ 550). Ohne Vertrauen auf die gegebene Zuſage und ohne Treue iſt überhaupt kein geſicherter Rechtszuſtand unter den Völkern denkbar. Von jeher hat der natürliche Rechtsſinn der Menſchen z. B. den Bruch des ertheilten freien Geleites, oder der zugeſicherten Schonung bei Uebergabe eines feſten Platzes oder des verſprochenen freien Abzugs als ein ſchweres Verbrechen an der menſchlichen Rechtsordnung gebrandmarkt.
567.
Wenn der Feind die Schranken der guten Kriegsſitte mißachtet oder völkerrechtswidrige Kriegsmittel anwendet, ſo ſind Repreſſalien geſtattet. Indeſſen dürfen bei der Anwendung von Repreſſalien nicht die Grundgebote der Menſchlichkeit verletzt werden.
Vgl. oben § 499 f. Am. Kr. 27. 28. Die Barbarei des Feindes rechtfertigt nicht die eigene Barbarei. Wenn Wilde die gefangenen Feinde zu Tode martern, ſo dürfen die civiliſirten Truppen die gefangenen Wilden höchſtens aus Repreſſalie tödten, aber nicht martern. Die feindliche Leidenſchaft des Haſſes und der Rache ſucht ihre Miſſethaten zu beſchönigen, indem ſie ſich auf das Recht der Repreſſalien beruft. Die Ausbildung eines humaneren Völkerrechts fordert daher die Beſchränkung dieſes Nothrechts auf das wirklich Nothwendige. Würdiger iſt es, von demſelben möglichſt wenig Gebrauch zu machen.
(0339 : 317)
Das Kriegsrecht.
5. Recht und Pflicht der Kriegsgewalt gegenüber den feindlichen Perſonen und den friedlichen Bewohnern in Feindesland. Quartiergeben. Verwundete in der Schlacht. Kriegsgefangene. Geiſeln. Auswechslung der Gefangenen. Entlaſſung auf Ehrenwort.
568.
Das moderne Völkerrecht der civiliſirten Völker erkennt kein abſolutes Recht der Kriegsgewalt an weder über die friedlichen Bewohner in dem feindlichen Lande, noch ſelbſt über die kriegeriſchen Angehörigen des feindlichen Stats.
Vgl. die Einleitung S. 30 f. Am. Kr. 23. Eine große Zahl von ältern Völkerrechtslehrern ſtellte noch den barbariſchen Grundſatz an die Spitze, daß dem Feind wider den Feind Alles erlaubt ſei. Bynkershoek ſpricht noch von einem Recht des Siegers über Leben und Tod der Feinde und verſteht unter Feinden alle Statsangehörigen des feindlichen Stats. Sogar Heffter behauptet noch das überlieferte „Kriegsrecht auf Leben und Tod“ (§ 126) als eine vermeintliche Regel und ſucht nur die Anwendung desſelben zu beſchränken. Dieſes angebliche Recht des Siegers ſteht aber in offenbarem Widerſpruch mit dem natürlichen Menſchenrecht, welches im Krieg nicht aufhört, und mit der natürlichen Beſchränkung aller Statsgewalt auf die Bedürfniſſe des Gemeinlebens der Menſchen, folglich auch mit der Beſchränkung der Kriegsgewalt, welche nur Ausübung der Statsgewalt iſt. Dasſelbe hat auch keinen Grund in dem Rechtsgrund des Kriegs, noch wird es durch den Zweck des Kriegs, Herſtellung der Rechtsordnung und des Friedens gefordert. Es iſt eine ganze haltloſe Erfindung der Juriſten, welche der Wildheit der Kriegsgewaltigen mit einer ungeheuerlichen Rechtsfiction zu Hülfe kommen wollten.
569.
Als feindliche Perſonen im eigentlichen activen Sinne gelten die, welche an dem Kampfe der Staten perſönlich und in geordneter Weiſe Theil nehmen, indem ſie zu dem Heere gehören und unter den Befehlen der feindlichen Macht ſtehen.
1. In weiterem paſſiven Sinn ſind alle Angehörigen des feindlichen States den Folgen der Feindſchaft der Staten ausgeſetzt und inſofern paſſive Feinde. Da aber nur die Staten die eigentlichen Kriegsparteien ſind, ſo ſind im ſtrengſten Sinne des Wortes nur die Staten Feinde. Die Trup-
(0340 : 318)
Achtes Buch.
pen der Staten, welche die Feindſchaft im Auftrag des Stats thatſächlich ausüben, werden aber deßhalb ebenfalls als active Feinde betrachtet und behandelt.
2. Unerheblich iſt es, ob die Perſonen, welche zum Heere gehören, zugleich Landesangehörige des feindlichen States oder Landesfremde ſind. Sobald ſie ins Heer aufgenommen ſind, haben ſie Antheil an ſeinen Rechten und Pflichten und an ſeiner feindlichen Stellung und Handlung. Es ſteht dem State frei, fremde Truppen in ſeinen Sold zu nehmen, und dieſe ſind völkerrechtlich den nationalen Truppen gleich.
570.
Die Parteigänger und die Freiſcharen werden inſofern als Feinde betrachtet, als ſie zu ihrem Unternehmen von einer Statsmacht beauftragt oder ermächtigt ſind oder wenigſtens in gutem Glauben an ihr politiſches Recht eine Kriegsunternehmung wagen und als militäriſch geordnete Truppen erſcheinen und handeln.
Am. Kr. 81. 1. Die autoriſirten Freicorps ſind, wenn gleich ſie getrennt von dem eigentlichen Heereskörper einzelne Unternehmungen wagen, eben weil ſie von der Statsgewalt autoriſirt und den Befehlen der Kriegsmacht unterworfen ſind, unzweifelhaft nach Völkerrecht den regelmäßigen Truppen gleich zu achten. Von der Art waren die Freicorps Garibaldi’s in den beiden Kriegen Italiens mit Oeſterreich 1859 u. 1866.
2. Zweifelhafter iſt die Gleichſtellung der nicht autoriſirten Freiſcharen. Die ſtrengere Meinung betrachtet dieſelben durchweg als außerhalb des Kriegsrechts ſtehend. Indeſſen überwiegt in neuerer Zeit die humanere Meinung, daß ſolche Freiſcharen dann wie feindliche Truppen behandelt werden, wenn ſie in militäriſcher Ordnung kämpfen und für politiſche Zwecke, nicht wie Räuber aus Gewinnſucht oder aus Rache. Das Kriegsrecht auch gegen Feinde iſt ſtreng genug; und wo die politiſchen Ideen und Intereſſen ſo maſſenhaft zum Kampfe treiben, daß ſich geordnete Truppen bilden, da erſcheint es gerechter, das politiſche Kriegsrecht und nicht das gemeine Strafrecht anzuwenden. Ueberdem ſpricht dafür die Zweckmäßigkeit; denn die Gefahren und Leiden des Kriegs werden vermindert durch die kriegsmäßige Behandlung der bewaffneten Truppenkörper, und verſchärft und erhöht durch die criminaliſtiſche Bedrohung der Freiwilligen. Ein berühmtes neueres Beiſpiel einer ſolchen militäriſch geordneten Freiſchar, die ohne — wenigſtens ohne offene und anerkannte — Autoriſation eines States Krieg führte, iſt der Feldzug Garibaldi’s gegen Sicilien und Neapel im Jahr 1860.
571.
Perſonen, welche ohne ſtatliche Ermächtigung auf eigene Fauſt krie-
(0341 : 319)
Das Kriegsrecht.
geriſche Streifzüge machen und dann wieder willkürlich als Bürger ſich gebaren und ihren Beruf als Kriegsleute verbergen, werden nicht als öffentliche Feinde betrachtet und können nach Umſtänden als Räuber zur Verantwortung und Strafe gezogen werden.
Am. Kr. 82. Bei ſolchen Unternehmungen iſt der militäriſche Charakter nicht mehr offenbar und daher auch nicht entſcheidend. Möglich, daß auch hier patriotiſche und politiſche Gedanken einwirken, aber die Gefahr der gemein-verbrecheriſchen Handlungen — Mord, Mißhandlung, Raub, Diebſtahl — iſt hier ſo groß, daß der Schutz der Strafgerichtsbarkeit nicht entbehrt werden kann. In einzelnen Fällen mag durch die Gnade die Härte der Strafjuſtiz billig gemildert werden, in den mehreren wird gerade die ernſte Strenge der Juſtiz die Rechtsſicherheit und den Frieden am beſten herſtellen und befeſtigen.
572.
Ebenſo werden Freiſcharen, welche ohne ſtatliche Ermächtigung in ſelbſtſüchtiger Abſicht kriegeriſche Gewalt üben und die Unternehmer von Kaperſchiffen nicht als Feinde, ſondern als Verbrecher behandelt.
Im Alterthum wurden ſolche Abenteuerfahrten zur See und zu Land als rühmlich betrachtet; und heute noch werden zuweilen im Orient unter Turkmannen und Serben ſolche Raubzüge gegen die Ungläubigen und die Ketzer als preiswürdige Heldenthaten gefeiert. Die civiliſirte Welt mißbilligt dieſelben aufs entſchiedenſte, und erkennt darin durchaus ſtrafwürdige Verbrechen.
573.
Die friedlichen Bewohner in Feindesland, welche an dem Kampfe keinen thätigen Antheil nehmen, unterliegen zwar den nothwendigen Wirkungen des Kriegs und müſſen der ſiegreichen Kriegsgewalt Gehorſam leiſten, aber ſie ſind nicht als öffentliche Feinde zu betrachten und zu behandeln.
Vgl. Einleitung S. 31. Von größter practiſcher Bedeutung iſt die Unterſcheidung der friedlichen Bewohner des feindlichen States von dem Heere desſelben. Erſt ſeitdem die friedliche Eigenſchaft derſelben erkannt und auch von der feindlichen Kriegsgewalt beſſer als früher gewürdigt wird, iſt die Barbarei des Kriegs einigermaßen gezähmt worden. So lange man noch alle Angehörigen des kriegführenden States gleichmäßig als Feinde anſah, ſchien jede Gewaltthat und Bedrückung erlaubt. Die große Maſſe der Einwohner iſt aber in den meiſten Fällen ganz unſchuldig an dem Streit der Staten, und fügt ſich dem Kriege nur, wie einer furcht-
(0342 : 320)
Achtes Buch.
baren Nothwendigkeit, die über ſie kommt, ohne an dem Kampf thätigen Antheil zu nehmen. Selbſt in den Fällen, in welchen das ganze Volk für die höchſten nationalen Güter und Intereſſen begeiſtert iſt, welche im Kriege errungen oder vertheidigt werden, enthält ſich doch die Menge der Privaten jeder kriegeriſchen Handlung und betreibt im Krieg wie vor dem Krieg ihre friedlichen Geſchäfte; Hirten und Bauern, Handwerker und Krämer, Kaufleute und Fabrikanten, Aerzte und Lehrer ſuchen, ſo gut es geht, ihren Beruf fortzuſetzen und dieſer Beruf hat keine feindlichen Eigenſchaften an ſich. Weßhalb denn ſollten ſie als Feinde behandelt werden, da ſie wie friedliche Leute leben? Der bloße Statsverband, die Statsangehörigkeit rechtfertigt das nicht, denn der Krieg wird von Stat gegen Stat geführt, nicht gegen die Privaten; und dieſelben Privaten, welche heute dem State A angehören, werden, wenn die Kriegsmacht des States B ſiegreich fortſchreitet, auch der öffentlichen Kriegsgewalt des Siegers gehorchen. Sie können ſich dieſem Gehorſam nicht entziehen, wenn es ihnen auch ſchwer wird, ſich zu unterwerfen, ſo lange ſie in dem Lande wohnen, über welches der Sieger ſeine Macht erſtreckt hat. Der Sieger ergreift die Statsgewalt im Lande, und dieſer müſſen ſich die einzelnen Bewohner fügen. Auch der Sieger zieht jetzt von ihren friedlichen Arbeiten Vortheil für ſeine Herrſchaft. Es wird auch dem Heere leichter, ſich in Feindesland zu ernähren und ſeine Bedürfniſſe zu befriedigen, wenn die friedlichen Bewohner desſelben ungekränkt bleiben, wenn die Aecker bebaut werden und das Vieh gezüchtet wird, wenn die Induſtrie brauchbare Güter hervorbringt und der Handel ſie herbeiſchafft. Wird dagegen das Land barbariſch verwüſtet, ſo findet auch der Sieger darin ſtatt der Nahrung und Unterſtützung nur unheimliche Verzweiflung und gefährliche Rache.
In der Kriegsführung der civiliſirten Völker iſt die friedliche Natur der Privaten früher — freilich nur theilweiſe — reſpectirt, als von den Publiciſten begriffen worden. Auch Vattel noch betont die alte Vorſtellung, daß nicht bloß die beiden Völker, ſondern auch alle Angehörigen der beiden Staten Feinde ſeien. Selbſt die Frauen und Kinder nimmt er nicht aus (III. § 70. 72). Freilich verlangt er eine größere Schonung derſelben, als der kämpfenden Feinde (III. § 145). Aber die ganze Grundlage des Rechtsverhältniſſes wird verdorben, wenn dasſelbe von dem Geiſte der Feindſchaft durchwühlt und verbittert wird. Die humane Rechtsbildung drängt die Feindſchaft in die engſten Schranken zurück und verſtattet dem Geiſte des Friedens und der wechſelſeitigen Lebensförderung möglichſt viel Raum. Deßhalb hebt ſie mehr die friedlichen Eigenſchaften der Privaten hervor, und legt darauf und nicht auf ihren ſtatsrechtlichen Verband mit dem feindlichen State den Nachdruck. Als Privatperſonen ſind ſie überall keine Feinde, als Statsgenoſſen aber nur ſo lange und nur inſofern, als noch die feindliche Statsgewalt über ſie öffentliche Macht übt, von dem Augenblicke an nicht mehr, wo dieſe Statsgewalt durch den ſiegreichen Gegner zurückgeworfen und verdrängt iſt. Aber nicht bloß der vordringende Sieger, auch der zurückweichende Feind hat kein Recht, ſie nun als Feinde zu behandeln, denn nicht ſie zwingen ihn zum Rückzug, indem ſie ſich des Kampfs enthalten, für ihn ſind ſie nach wie vor friedliche Privatperſonen, über welche er eine Zeit lang öffentliche Macht gewonnen und dann wieder verloren hat.
(0343 : 321)
Das Kriegsrecht.
574.
Weder die Kriegsgewalt noch die einzelnen ſiegreichen Krieger ſind berechtigt, einzelne Perſonen willkürlich und zwecklos zu tödten, zu verwunden, zu mißhandeln, zu quälen, zu Sclaven zu machen oder zu verkaufen, die Frauen zu mißbrauchen oder ihre Keuſchheit zu verletzen.
Am. 16. 23. 42. Dieſe Beſtimmung gilt ganz allgemein, nicht bloß bezüglich der friedlichen Privatperſonen, ſondern ſelbſt zum Schutz der feindlichen Perſonen, obwohl dieſe während des Kampfs auch der Todesgefahr ausgeſetzt ſind. Tödten des Feindes im Kampf, um den Widerſtand desſelben zu brechen, iſt kriegsrechtlich erlaubt, weil nothwendig, aber Tödten ohne Kampf, lediglich aus Blutdurſt oder Haß iſt auch den Soldaten gegen feindliche Soldaten nicht erlaubt. Es gibt kein jus vitae ac necis gegen den Feind. Vgl. zu § 573 und § 579.
575.
Die Kriegsgewalt iſt verpflichtet, das Menſchenrecht auch in den feindlichen Perſonen zu beachten und durch ihre Autorität zu ſchützen und wenn ſolche Miſſethaten von Soldaten verübt werden, die Thäter zu beſtrafen.
Die Kriegsführung im dreißigjährigen Kriege und ſelbſt in den Zeiten Ludwigs XIV. war in Europa noch entſetzlich roh. Die ſcheußlichſten Mißhandlungen und Folterqualen, wie die Nothzucht an den Weibern kamen damals noch häufig vor. Alle ſolche widerrechtliche und verwerfliche Grauſamkeit wird von der heutigen Kriegsſitte und dem civiliſirten Kriegsrecht als barbariſch unterſagt.
576.
Es iſt wider das Völkerrecht, die Unterthanen der feindlichen Staten zu nöthigen, daß ſie in den Kriegsdienſt der ſiegenden Macht eintreten, ſo lange nicht die Eroberung vollzogen und die Beſitznahme des eroberten Landes als dauerhaft und feſtbegründet erſcheint.
1. Wenn auch die feindliche Kriegsgewalt, indem ſie ſich eines Landes bemächtigt, die bisherige Statsautorität verdrängt und ſich an ihre Stelle ſetzt (vgl. oben § 540 f.), ſo iſt doch während des Kriegs der proviſoriſche Charakter dieſer Beſitznahme zu beachten und es gilt als unrechtmäßig, die Bewohner des nur vorläufig beſetzten Landes zum Kriegsdienſt gegen ihr bisheriges Vaterland zu zwingen. Die ſittliche Wirkung des bisherigen und ſtatsrechtlich nicht zerſtörten
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 21
(0344 : 322)
Achtes Buch.
Statsverbandes dauert im Kriege einſtweilen noch fort, wenn gleich die rechtliche Autorität der bisherigen Statsgewalt durch die feindliche Beſetzung unterbrochen und gehemmt iſt. Es iſt daher unnatürlich, unſittlich und widerrechtlich, den Statsangehörigen zuzumuthen, daß ſie nun auch activ gegen den Stat feindlich auftreten, den ſie noch als ihr rechtmäßiges Vaterland betrachten dürfen. Es war daher völkerrechtswidrig, als die engliſche Marine nach der Lostrennung der Vereinigten Staten noch amerikaniſche Matroſen weggenommener amerikaniſcher Schiffe zwingen wollte, auf engliſchen Kriegsſchiffen zu dienen. (Vgl. Laboulaye hist. des États-Unis II. p. 307.) Wenn ſich Freiwillige aus dem eingenommenen Lande an das Heer des Siegers anſchließen, ſo iſt das eine ganz andere Sache.
2. Iſt aber die Eroberung vollzogen und die Souveränetät auf den Sieger übergegangen, dann tritt das regelmäßige Unterordnungsverhältniß unter die neue Statsgewalt auch in militäriſcher Hinſicht ein; und die geſetzliche Kriegspflicht wird auf die Bewohner des neu erworbenen Gebietes ausgedehnt, ohne Rückſicht auf die frühere Statsgenoſſenſchaft derſelben.
577.
Die Religion und die Sprache, die Bildung und die Ehre der beſiegten Feinde und der unterworfenen Privatperſonen ſind, ſo weit es die Umſtände erlauben, zu ſchonen und wider Vergewaltigung zu ſchützen.
Am. 37. Auch darin beſteht ein großer Fortſchritt des modernen Völkerrechts gegenüber den Anſchauungen des Mittelalters und den rohen Sitten, die noch im vorigen Jahrhundert in Europa geübt wurden. Die Unterdrückung des Cultus mit feindlicher Gewalt iſt Barbarei, es wäre denn, daß dieſer Cultus ſelbſt die Menſchenrechte und die Geſetze der Sittlichkeit verletzte. Wie zähe die bittern Erinnerungen an die Gräuel des dreißigjährigen Kriegs ſich in Deutſchland erhalten haben, und wie ſchädlich die neuen Lehren ultramontaner Verketzerungsſucht fortwirken, hat der deutſche Krieg des Jahres 1866 gezeigt. In vielen ſüddeutſchen Landgemeinden fürchteten die Proteſtanten eine neue Verfolgung ihrer Religion durch fanatiſirte Katholiken und umgekehrt waren manche katholiſche Gemeinden ganz erſtaunt, als die ſiegreichen Preußen ihren Gottesdienſt mit Achtung behandelten. Erſt bei den gebildeten Claſſen und bei den Regierungen hat der humane Grundſatz eine ſichere Stätte gefunden, bedarf aber auch da noch einer weitern Ausbildung, insbeſondere mit Rückſicht auf die Culturintereſſen der unterworfenen Bevölkerung.
578.
Die bewaffneten Feinde ſind den unvermeidlichen Gefahren des Kampfes überhaupt ausgeſetzt und können auch im Einzelnkampf mit Recht verwundet, verſtümmelt, getödtet werden. Die ſogenannten Nichtkämpfer im Heere (Juſtiz- und Verpflegungsbeamte, Feldgeiſtliche, Aerzte, Marke-
(0345 : 323)
Das Kriegsrecht.
tender) können ſich dem Schickſal, das ihren Truppenkörper betrifft, nicht entziehen und ſind auch den allgemeinen Gefahren des Kampfes der Heere ausgeſetzt, aber ſie werden nur ausnahmsweiſe, vorzüglich aus Mißverſtändniß und Nothwehr, in den Einzelkampf verwickelt.
Die Schlacht richtet ſich zunächſt nicht gegen einzelne Individuen, ſondern gegen einen Heereskörper, deſſen Widerſtand überwunden werden ſoll. Inſofern erſcheint es nicht Abſicht, ſondern Zufall, daß einer von den feindlichen Kugeln getroffen werde; und es daher auch nicht möglich, die ſogenannten Nichtkämpfer (non combattans) vor dieſer allgemeinen Gefahr zu bewahren, inſofern ſie ſich innerhalb des Schußbereichs und unter den Kämpfern (combattans) befinden. Die Gefahren des Einzelkampfes dagegen von Mann gegen Mann ſind möglichſt auf die letztere Claſſe einzuſchränken, welche den Widerſtand allein gewaltſam aufrecht halten und daher überwunden werden muß. Die erſtere Claſſe von Perſonen übt auch im Feld einen friedlichen Beruf aus und nimmt an dem perſönlichen Kampf keinen Theil. Es iſt daher gegen die gute Kriegsſitte, dieſe Perſonen einzeln anzugreifen und zu verwunden oder zu tödten. Indeſſen nicht immer wird im Gedränge der Schlacht und bei Verfolgungen richtig unterſchieden und Maß gehalten. Dann iſt es ſelbſtverſtändlich auch dem Nichtkämpfer erlaubt, ſich zu vertheidigen. Dadurch kann auch er ausnahmsweiſe in den Einzelkampf hineingezogen und vielleicht ſogar getödtet werden, vielleicht den Gegner tödten.
579.
Der civiliſirte Krieg darf nicht mehr auf wechſelſeitige Schädigung und Tödtung gerichtet ſein, ſondern nur auf ein gerechtes Friedensziel.
Jede unnöthige Tödtung ſelbſt der bewaffneten Feinde iſt Unrecht.
Vgl. oben § 533. 568. 585. Am. 68. Früher faßte man den Krieg noch ſo auf, als gelte es nun, dem Feinde möglichſt viel Schaden zuzufügen. Die Schädigung des Feindes kann aber nicht Zweck des Krieges ſein, wenn gleich ſie oft eine Folge des Krieges iſt, denn der Krieg iſt ein Rechtsmittel und ſein Ziel muß daher ein neuer Friedens- und Rechtszuſtand ſein. Die Schädigung anderer Menſchen iſt aber niemals eine Aufgabe der Rechtsordnung. Jene ältere Vorſtellung war alſo noch barbariſch. Das Chriſtenthum, welches die Feinde als Brüder lieben lehrt, und das Menſchenrecht, welches die Exiſtenz der Menſchen neben einander und ihre Wohlfahrt ſichern will, verwerfen dieſelbe gleichmäßig. Die Tödtung auch bewaffneter Feinde aus bloßem Muthwillen oder aus Haß und Rache iſt widerrechtlich. Auch die feindlichen Soldaten dürfen nicht wie wilde Thiere dem Schuſſe der Jäger preisgegeben werden. Das Menſchenleben darf nur aus höherer Nothwendigkeit, nicht aus Leidenſchaft und zur Luſt angegriffen werden.
21*
(0346 : 324)
Achtes Buch.
580.
Der militäriſche Befehl, dem Feinde kein Quartier (keinen Pardon) zu geben, darf nur aus Gründen der Wiedervergeltung (Repreſſalie) oder in äußerſten Nothfällen insbeſondere dann gegeben werden, wenn es der eigenen Sicherheit wegen unmöglich iſt, ſich mit Kriegsgefangenen zu belaſten, niemals aber aus Haß und Rache.
Am. 60. Kein Truppenkörper iſt berechtigt, zu erklären, daß er überhaupt Quartier weder gebe noch annehme. Das wäre nicht mehr Kriegsführung, ſondern mörderiſche Barbarei.
581.
Feindliche Truppen, welche ihrerſeits kein Quartier geben, haben auch den Anſpruch verwirkt, daß ihnen Quartier gewährt werde.
Am. 62.
582.
Auch wenn das Quartier mit Recht verweigert wird, ſo dürfen doch Feinde, welche unfähig geworden ſind, Widerſtand zu leiſten oder bereits in der Kriegsgefangenſchaft ſich befinden, nicht getödtet werden.
Am. 61. Vgl. oben § 501.
583.
Truppen, welche in der Uniform oder mit den Fahnen oder Flaggen ihrer Feinde fechten ohne ehrliche und offenbare Kennzeichen ihrer Parteiſtellung dürfen kein Quartier erwarten.
Am. 63. 65. Zuweilen werden erbeutete Uniformen und Waffen vom Feinde zur eigenen Bekleidung und Ausrüſtung benutzt. Darin liegt kein Unrecht. Es kann das ſogar zur Nothwendigkeit werden. Aber es dürfen dieſe Uniformen doch nicht zur Täuſchung im Kampfe ſelbſt mißbraucht werden; daher ſind in ſolchem Falle die eigenen Feldzeichen (z. B. beſondere Armbinden) anzulegen, damit die Feinde ſich wechſelſeitig erkennen. (Vgl. oben § 565.)
584.
Die eigene noch ſo lebhafte Ueberzeugung, daß der Feind für eine
(0347 : 325)
Das Kriegsrecht.
offenbar ungerechte Sache kämpfe, begründet niemals das Recht, den feindlichen Truppen das Quartier zu verweigern.
Die Kriegsparteien ſind faſt immer und ſogar leidenſchaftlich der Meinung, daß ſie ſelber für eine gerechte Sache und ihre Feinde für eine ungerechte Sache ſtreiten. Sogar wenn ſie von Anfang an noch Zweifel haben, werden durch die Steigerung der Parteileidenſchaft während des Kriegs dieſe Zweifel meiſtens verdrängt, und der Glaube an das eigene Recht und das Unrecht des Feindes oft bis zum Fanatismus erhitzt. Das Völkerrecht vermuthet auf beiden Seiten guten Glauben und kann der Ueberzeugung der einzelnen Parteien durchaus nicht den Einfluß verſtatten, daß die humanen und das Menſchenleben ſchonenden Grundſätze des Völkerrechts zur Seite geſchoben, und ein Vernichtungskampf gegen die feindlichen Truppen geübt werde.
585.
Feindliche Perſonen, welche die Waffen ſtrecken und ſich dem Sieger ergeben, ſind zu ſchonen und dürfen weder verwundet noch getödtet, wohl aber entwaffnet und zu Kriegsgefangenen gemacht werden.
Vgl. oben § 533. 568. 579. Schon in dem uralten Indiſchen Geſetzbuch Manus (VII. 91 f.) iſt die Pflicht anerkannt worden, den Feind, der ſich ergibt, zu ſchonen. Aber dieſe milde Geſetzgebung ſteht im Alterthum noch ſehr vereinzelt als ein Zeugniß des früh in Indien erwachten humanen Rechtsbewußtſeins. Die Römer erklärten ihre Benennung der Sclaven „servi“ davon, daß den beſiegten Feinden das verwirkte Leben geſchenkt worden ſei, und meinten, die Sclaverei aus ſolcher Schonung zu rechtfertigen. (Florentinus Instit. IX. L. 4. de statu hom.: „Servi ex eo appellati sunt, quod imperatores captivos vendere ac per hoc servare nec occidere solent“.) Im Mittelalter noch wurden die gefangenen Feinde wie eine gute Beute betrachtet und ihnen, wie das heute noch die Italieniſchen Briganten thun, ein möglichſt hohes Löſegeld ausgepreßt. Erſt die moderne Kriegsführung iſt geſitteter geworden und hat den alten humanen Grundſatz der Feindesſchonung wieder zu Ehren gebracht. Man braucht nur die Aeußerung von Hugo Grotius (Buch III. Cap. 4) mit denen von Vattel (III. § 139 u. 140) zu vergleichen, um den großen Fortſchritt in der Humanität wahrzunehmen, welcher vom ſiebzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert gemacht worden iſt; und doch ſpricht Vattel noch von einem Recht über Leben und Tod des Feindes, das wir heute als Barbarei verneinen.
586.
Die Krankenwagen (Ambulancen) und Militärſpitäler werden als
(0348 : 326)
Achtes Buch.
neutral anerkannt und demgemäß von den Kriegführenden geſchützt und geachtet werden, ſo lange ſich Kranke oder Verwundete darin befinden.
Die Neutralität würde aufhören, wenn ſolche Ambulancen oder Spitäler mit militäriſcher Macht beſetzt wären.
Erſter Artikel des am 22. Aug. 1864 zu Genf abgeſchloſſenen Vertrags, um das Schickſal der Verwundeten im Krieg zu verbeſſern. Den Anſtoß zu dieſem Vertrag, einer der edelſten Errungenſchaften der fortſchreitenden Humanität, gab eine Schrift des Genfer Arztes Dunant, unter dem Titel: „Souvenir de Solferino“, worin er die entſetzlichen Eindrücke ſchilderte, welche der Beſuch des Schlachtfeldes von Solferino und der Militärſpitäler auf ihn gemacht hatte. Der Präſident der Genfer Gemeinnützigen Geſellſchaft, Moynier, nahm den Gedanken, daß die Krankenwagen zu neutraliſiren ſeien, auf und beide Menſchenfreunde wendeten ſich nun an mehrere Regierungen, um deren Aufmerkſamkeit auf die wichtige Frage zu lenken. Ueberall bildeten ſich Vereine zu freiwilliger Krankenpflege für die verwundeten Krieger und zur Unterſtützung der Verwundeten. Ein Jahrhundert früher ſchon, am 7. Sept. 1759, war zwiſchen Frankreich und Preußen ein Vertrag zu Stande gekommen, nach welchem die verwundeten Krieger geſchont und verpflegt werden ſollen. Damals ſchon wurden die Spitäler als Aſyle bezeichnet, welche auch im Kriege heilig zu achten ſeien. Eine internationale Verſammlung von Commiſſären vieler Staten bildete nun, unter dem Vorſitz des Generals Dufour, den Gedanken der Neutraliſirung weiter aus auf die ganze Pflege der Verwundeten und umgab ihn mit ſchützenden Garantien. So kam jener Vertrag zu Stande, welcher ſofort im Namen der Staten Baden, Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbrittanien, Heſſen-Darmſtadt, Italien, Niederlande, Portugal, Preußen, Sachſen, Schweden und Norwegen, Schwerin, Spanien, Vereinigte Staten von Amerika und Würtemberg zugeſtimmt wurde. Erſt nach dem deutſchen Kriege von 1866 trat Oeſterreich bei. Auch Rußland hat nun 1867 ſeine Zuſtimmung erklärt. Man darf daher wohl dieſen Vertrag als den allgemeinen Ausdruck des heutigen Völkerrechts bezeichnen.
587.
Das Perſonal der Spitäler und Ambulancen für die Aufſicht und den Geſundheits-, Verwaltungs- und Krankentransportdienſt, ſowie die Feldprediger haben, ſo lange ſie ihren Verrichtungen obliegen und Verwundete aufzuheben oder zu verpflegen ſind, Theil an der Wohlthat der Neutralität.
Genfer Vertrag Art. 2.
(0349 : 327)
Das Kriegsrecht.
588.
Die im vorgehenden Artikel bezeichneten Perſonen können auch nach der Beſitznahme durch den Feind in den von ihnen beſorgten Spitälern oder Ambulancen ihrem Amte obliegen oder ſich zu dem Corps zurückziehen, dem ſie angehören.
Wenn dieſe Perſonen unter ſolchen Umſtänden ihre Verrichtungen einſtellen, ſo ſind ſie den feindlichen Vorpoſten von Seite des den Platz inne habenden (beſitzenden) Heeres zuzuführen.
Ebenda Art. 3.
589.
Das Material der Militärſpitäler unterliegt den Kriegsgeſetzen und die denſelben zugetheilten Perſonen dürfen daher bei ihrem Rückzug nur die ihr Privateigenthum bildenden Sachen mitnehmen.
Dagegen verbleibt den Ambulancen unter gleichen Umſtänden ihr Material.
Ebenda Art. 4.
590.
Die Landesbewohner, welche den Verwundeten zu Hülfe kommen, ſollen geſchont werden und frei bleiben. Die Generale der kriegführenden Mächte ſind verpflichtet, die Einwohner von dem an ihre Menſchlichkeit ergehenden Rufe und der daraus folgenden Neutralität in Kenntniß zu ſetzen.
Jeder in einem Hauſe aufgenommene und verpflegte Verwundete ſoll dieſem als Schutz dienen. Wer Verwundete bei ſich aufnimmt, ſoll mit Truppeneinquartierungen und theilweiſe mit allfälligen Kriegscontributionen verſchont werden.
Ebenda Art. 5.
591.
Die verwundeten oder kranken Krieger ſollen, gleichviel welchem Volke ſie angehören, aufgehoben und verpflegt werden.
(0350 : 328)
Achtes Buch.
Den Feldherren ſoll geſtattet ſein, die während des Kampfes Verwundeten ſofort den feindlichen Vorpoſten zu übergeben, wenn die Umſtände es erlauben und beide Theile zuſtimmen.
Diejenigen, welche nach ihrer Geneſung dienſtuntüchtig befunden werden, ſind heimzuſchicken.
Die andern können ebenfalls nach Hauſe entlaſſen werden unter der Bedingung, daß ſie für die Dauer des Krieges die Waffen nicht mehr tragen.
Die Evacuationen und das ſie leitende (beſorgende) Perſonal werden durch unbedingte Neutralität geſchützt.
Ebenda Art. 6.
592.
Eine auszeichnende und überall gleiche Fahne wird für die Spitäler, Ambulancen und Evacuationen angenommen. Ihr ſoll unter allen Umſtänden die Landesfahne zur Seite ſtehen.
Deßgleichen wird für das neutraliſirte Perſonal ein Armband zugelaſſen, deſſen Verabfolgung jedoch der Militärbehörde überlaſſen bleibt.
Fahne und Armband tragen das rothe Kreuz auf weißem Grund.
Ebenda Art. 7.
593.
Die ſiegende Kriegsgewalt iſt berechtigt, Kriegsgefangene zu machen.
Die moderne Kriegsgefangenſchaft hat einen durchaus andern Charakter als die antike und ſelbſt die mittelalterliche. Der Grundgedanke der antiken Kriegsgefangenſchaft war die Sclaverei, wenn nicht gar die Abſicht des Siegers, mit den Gefangenen im Triumphzuge zu prunken und ihre Führer ſchließlich aus Rache dem Tode zu weihen; das Mittelalter betrachtete die Gefangenen entweder als ein Mittel, Löſegelder zu erpreſſen, oder geradezu als Gegenſtand der perſönlichen Rache. Das moderne Kriegsrecht ſieht in der Kriegsgefangenſchaft vorzüglich ein Mittel, die feindliche Kriegsmacht zu ſchwächen und den Sieg zu ſichern.
594.
In der Regel ſind alle feindlichen Perſonen der Kriegsgefangenſchaft
(0351 : 329)
Das Kriegsrecht.
ausgeſetzt, friedliche Bewohner in Feindesland aber nur ausnahmsweiſe, inſofern ſolches die Sicherheit des kriegführenden Heeres oder des kriegführenden States erfordert.
1. Am. 49. Weil nur diejenigen Perſonen, welche am Kriege thätigen Antheil nehmen, verhindert werden ſollen, die feindliche Macht zu verſtärken, ſind zunächſt nur die Glieder des feindlichen Heereskörpers und voraus die Kämpfer der Kriegsgefangenſchaft ausgeſetzt, nicht aber die friedlichen Perſonen. Der obige Unterſchied zwiſchen feindlichen und friedlichen Perſonen kommt hier wieder zur Wirkung. Früher war man ſich deſſen weniger bewußt. Noch Vattel (III. § 148) erklärt es zwar für eine löbliche Sitte der neueren Kriegsführer, daß ſie mindeſtens Weiber und Kinder nicht mehr zu Kriegsgefangenen machen. Aber er meint, das Recht der Generale, die Kriegsgefangenſchaft auf alle Angehörige des Feindes, auch auf die friedlichſten Claſſen, zu erſtrecken, ſei nicht zu bezweifeln. Man würde einen General, der ohne Grund, aus Laune die ganze Bevölkerung kriegsgefangen machte, wohl für einen harten und rohen Mann halten, aber er würde das Völkerrecht nicht verletzen. Seither iſt aber die Sitte feſter und das Recht ſelbſt humaner geworden. Jeder unnöthige und launenhafte Angriff auf die perſönliche Freiheit, jede unbegründete Knechtung friedlicher Menſchen iſt eine Verletzung des natürlichen Menſchen- und des humanen Völkerrechts.
2. Allerdings ſind auch ſolche Perſonen, welche nicht zum Heere gehören, und im übrigen einem friedlichen Berufe leben, dann der Kriegsgefangenſchaft ausgeſetzt, wenn ihre Freiheit zu einer Gefahr wird für die Kriegspartei, welche an dem Orte die Macht hat. Dieſe iſt berechtigt, z. B. feindlich geſinnte Journaliſten und Parteiführer ebenſo zu Kriegsgefangenen zu machen, wie feindliche Officiere, weil ſie wie dieſe die Macht des Feindes ſtärken und vergrößern, oder der herrſchenden Kriegsmacht Schwierigkeiten und Verlegenheiten bereiten. Die offenbar activ-feindliche Geſinnung gibt Anlaß und Grund, ſich dieſer Feinde zu bemächtigen. Vgl. zu § 596.
595.
Die Nichtkämpfer im Heere und ſelbſt ſolche Perſonen, welche ſich dem Heere anſchließen, ohne dazu zu gehören, Berichterſtatter, Correſpondenten von Zeitungen, Lieferanten, können zu Kriegsgefangenen werden, wenn ſich der Truppenkörper ergibt, an den ſie ſich angeſchloſſen haben, oder ſie auf der Verfolgung ergriffen werden.
Am. 50. Indem ſich dieſe Perſonen dem Heereskörper anſchließen, werden ſie in die Gefahren desſelben verwickelt, und können ſich nicht beſchweren, wenn ſie — wenigſtens vorläufig — als feindliche Perſonen betrachtet und kriegsgefangen gemacht werden. Ein Grund aber, ſie als Kriegsgefangen zu be-
(0352 : 330)
Achtes Buch.
halten — (der Amerikaniſche Art. 50 geſteht der Kriegsmacht auch dieſes Recht zu) — iſt doch nur dann vorhanden, wenn ihre Gefangenſchaft die Macht des Feindes verſtärkt, oder mit ihrer Freigebung eine Gefahr für die Kriegsmacht verbunden iſt. Jenes wird durchweg der Fall ſein, wenn Verpflegungsbeamte der feindlichen Armee gefangen werden, dieſes zuweilen auch, wenn fremde Berichterſtatter gefangen werden.
596.
Die Eigenſchaft einer ſouveränen oder diplomatiſchen Perſon befreit nicht von der Gefahr der Kriegsgefangenſchaft, wenn dieſelben zu der feindlichen Macht gehören oder Bundesgenoſſen derſelben ſind, oder wenn dieſelben an der Kriegsführung ſich perſönlich betheiligt haben.
Am. 50. Die Kriegsgefangenſchaft des feindlichen Souveräns oder des feindlichen Miniſters des Aeußern iſt meiſtens ein ſehr förderliches Mittel, um eher einen günſtigen Frieden zu ſchließen. Ein Grund, dieſe Perſonen von den Gefahren des Krieges zu befreien, iſt nicht vorhanden. Im Gegentheil, da ſie gewöhnlich den Krieg verſchuldet oder doch entſchieden haben, ſo ziemt es ſich, daß die Verantwortlichkeit des Kriegs vorzugsweiſe auf ihnen laſte und ſie die Gefahren desſelben mit beſtehen. In ähnlicher Weiſe ſind auch die politiſchen Regenten und Führer der einzelnen Provinzen und Kreiſe eher der Gefahr ausgeſetzt, zu Kriegsgefangenen gemacht zu werden, als die friedlichen Verwaltungsbeamten, Richter, Gemeinderäthe.
597.
Wenn die Bevölkerung ſich in Maſſe zur Vertheidigung ihres Landes erhebt, ſo wird dieſelbe als feindlich behandelt und kann kriegsgefangen werden.
Am. 51. Es gilt das überhaupt von jeder geordneten activen Theilnahme durch die Bürger an der Kriegsführung. Die bethätigte Parteinahme zerſtört die Eigenſchaft der Friedlichkeit und verwandelt die friedlichen Bürger in feindliche Perſonen.
598.
Kein Befehlshaber iſt zu der Drohung berechtigt, daß er die nicht uniformirten Landſtürmer als Räuber behandeln werde.
Wenn aber eine feindliche Gegend von der Kriegsgewalt eingenommen und beſetzt iſt, ſo gilt während dieſes Beſitzes ein Aufſtand als Verletzung des Kriegsrechts und kann ſtrafrechtlich behandelt werden.
(0353 : 331)
Das Kriegsrecht.
1. Am. 52. Der Landſturm iſt in ſeinem Recht, wenn er ſich zur Vertheidigung des Landes erhebt. Er ſteht dann unter den Befehlen ſeiner Regierung und ihrer Kriegsgewalt. Landſtürmer ſind dann, wie die Soldaten des ſtehenden Heeres und der Landwehr, als feindliche Perſonen zu behandeln und können kriegsgefangen werden. Das Kriegsrecht, nicht das Strafrecht, findet auf ſie Anwendung.
2. Aber anders iſt es, wenn innerhalb des vom Feinde eingenommenen Gebietes die Landſtürmer ſich gegen die Kriegsgewalt erheben, denn dieſe iſt, ſo lange ſie im Beſitz des Gebietes iſt, als ermächtigt anzuſehn, die öffentliche Gewalt in demſelben auszuüben. Sie kann daher einen Aufſtand nicht bloß wie einen feindlichen Widerſtand kriegeriſch bewältigen, ſondern die Schuldigen ſtrafrechtlich verfolgen. Das gilt auch von Aufſtänden im Rücken eines fortſchreitenden Heeres. Allerdings kann die Volkserhebung ſo groß werden, daß ſie die Grenzen des Strafrechts überſchreitet, und eine neue kriegeriſche Macht ſchafft. Dann kommen die obigen Grundſätze von § 512 zur Anwendung. Freilich ſind die Kriegsmächte nicht immer geneigt, dieſe Milderung zuzugeſtehn. Indeſſen die öffentliche Meinung hat doch mit gutem Grund ſchon zur Zeit eines weniger humanen Kriegsrechts es gemißbilligt, daß die franzöſiſchen Revolutionsheere gefangene Aufſtändiſche in der Vendée und Napoleon I. den Tyrolerführer Andreas Hofer ſtrafrechtlich haben erſchießen laſſen.
599.
Geiſtliche, Aerzte, Apotheker, Heilgehülfen dürfen, wenn ſie nicht am activen Kampfe Theil nehmen, nicht zu Kriegsgefangenen gemacht werden, es wäre denn, daß ſie verlangten, die Kriegsgefangenſchaft mit ihren Truppen zu theilen, oder die Unterſtützung dieſer durch jene als nothwendig erſcheint. Indeſſen ſind ſie auch in dieſen Ausnahmsfällen um ihres friedlichen Berufes willen im Dienſte der Menſchheit mit möglichſter Schonung und Rückſicht zu behandeln.
Am. 53. Vgl. oben § 587. 588. Die Neutraliſirung dieſer Perſonen bildet die Regel, aber ſie findet doch in den Bedürfniſſen der Verwundeten und Kranken ſelbſt eine Grenze. Wenn die feindlichen Aerzte nach einer Niederlage das Schlachtfeld verlaſſen wollten, wo vielleicht Hunderte von Verwundeten in Noth ſind und dringend nach Hülfe ſchreien, ſo darf der Heerführer, in deſſen Gewalt ſie gerathen, ihnen wohl zumuthen und ſie nöthigenfalls mit Gewalt dazu anhalten, daß ſie ſich ihrer Pflicht nicht während der höchſten Noth entziehn. Immer aber iſt ihnen möglichſt bald wieder volle Freiheit zu gewähren.
600.
Die Geiſeln, welche von dem feindlichen State oder der feindlichen
(0354 : 332)
Achtes Buch.
Bevölkerung geſtellt oder von der Kriegsgewalt aus dringenden Gründen der Sicherheit genommen werden, ſind den Kriegsgefangenen ähnlich in ihrer freien Bewegung gehemmt. Indeſſen wird der Entzug oder die Beſchränkung ihrer Bewegungsfreiheit durch die Rückſicht auf den Zweck näher beſtimmt und begrenzt, um deſſen willen die Geiſeln gegeben oder genommen ſind.
Am. 54. Geiſeln (vgl. oben § 426) werden zuweilen während des Kriegs gegeben in der Abſicht, für eine übernommene Leiſtung, z. B. für Bezahlung einer Kriegscontribution, für Ueberlieferung eines feſten Platzes Sicherheit zu gewähren. Sie werden aber auch zuweilen genommen, um Sicherheit zu gewinnen vielleicht für die Ruhe einer eingenommenen Stadt oder Gegend. Vorzugsweiſe werden dann angeſehene Perſonen als Geiſeln verwendet, weil nur dieſe theils durch ihren Einfluß auf die Bevölkerung, theils um der Rückſicht willen, welche dieſelbe auf jene Perſonen zu nehmen pflegt, eine perſönliche Gewähr zu geben im Stande ſind. Solche Geiſeln ſind im weſentlichen nicht anders zu behandeln, als die Friedensgeiſeln, nur wird eine größere Sorgfalt darauf zu nehmen ſein, daß ſie ſich nicht der feindlichen Gewalt durch die Flucht entziehen.
601.
Kriegsgefangene ſind nicht Strafgefangene, ſondern Sicherheitsgefangene. Sie dürfen nicht mißhandelt, noch gequält, noch zu unwürdigen Handlungen gezwungen werden.
1. Am. 56. 75. Die feindlichen Perſonen haben rechtmäßig gehandelt, als ſie am Kriege Theil genommen hatten, indem ſie dazu von Seite ihrer Statsgewalt beauftragt oder ermächtigt waren. Sie dürfen daher von dem Sieger nicht ſtrafrechtlich verfolgt werden. Kriegsgefangene werden ſie nur aus potitiſchen und militäriſchen, nicht aus ſtrafrechtlichen Gründen. Eben deßhalb iſt es nicht bloß barbariſch und grauſam, eines civiliſirten States nicht würdig, die Kriegsgefangenen zu mißhandeln, ſondern auch widerrechtlich, denn jede ungerechtfertigte Gewalt, die gegen Andere geübt wird, iſt wider das Recht.
2. Schon auf dem Transport ſind daher die Kriegsgefangenen vor der Beleidigung des vielleicht feindlich aufgeregten Pöbels zu ſchützen. Dann ſind ſie — wo möglich — in feſten Plätzen, aber nicht in eigentlichen Gefängniſſen, unterzubringen. Als die franzöſiſchen Gefangenen noch in den Jahren 1812 u. 1813 von Rußland wie Verbrecher nach Sibirien transportirt wurden, war das eine Maßregel, welche der ältern Kriegspraxis wohl erlaubt ſcheinen mochte, aber dem heutigen Rechtsbewußtſein nicht mehr entſpricht. Ebenſo war das Verfahren, welches während des nordamerikaniſchen Bürgerkriegs in einem ſüdſtatlichen Gefängniß gegen Kriegsgefangene der Union gehandhabt wurde, indem die Leute an Luft und Nah-
(0355 : 333)
Das Kriegsrecht.
rung heftigen Mangel litten und überdem noch roh behandelt wurden, wider das Völkerrecht.
602.
Perſonen, welche wegen eines vor ihrer Kriegsgefangenſchaft verübten Vergehens der Strafgerichtsbarkeit des Nehmeſtats unterworfen ſind, können auch nachher von dem Gerichte verfolgt und beſtraft werden.
Am. 59. Die Kriegsgefangenſchaft macht natürlich nicht frei von der ohnehin begründeten Verantwortlichkeit für Vergehen und Verbrechen, welche vor der Kriegsgefangenſchaft verübt worden ſind. Wenn z. B. Jemand, der zuvor in dem Nehmeſtat Werthpapiere unterſchlagen oder geſtohlen hatte, ſpäter Kriegsgefangener wird, ſo wird er ebenſo der Verfolgung des Strafgerichts überliefert, wie wenn er in dem eingenommenen State vorher einen gemeinen Mord begangen hatte.
603.
Die Kriegsgefangenen ſind nicht Gefangene des Individuums, dem ſie ſich ergeben haben, ſondern des States. Sie können daher auch nicht von jenem losgekauft und freigelaſſen werden, ſondern nur vom State.
Am. 74. Die Kriegsgefangenſchaft iſt Kriegsmittel des Stats, und nicht Machtübung der Einzelnen. Sie beſteht nur zu Statszwecken, und nicht zur Befriedigung von Privatintereſſen und Privatleidenſchaften. Daher kann nur der Stat darüber verfügen. Die Kriegsgefangenen ſind abzuliefern an das Commando, welches ordnungsmäßig und kraft ſeines Amts über das weitere Schickſal derſelben entſcheidet.
604.
Kriegsgefangene ſind der Eingrenzung in eine Feſtung oder eine Stadt oder einen anderen Ortsumfang und ſogar, wenn nöthig, dem Gefängniſſe unterworfen, ſoweit die Intereſſen ihrer Sicherung es erfordern.
Am. 75. Das leitende Motiv der Eingrenzung darf nie das ſein, den Kriegsgefangenen ein Leiden zuzufügen, ſondern immer nur das politiſch-militäriſche, dieſelben einſtweilen von der Theilnahme am Kampf fern zu halten und durch den Gewahrſam, in dem ſie gehalten werden, den eigenen Sieg und einen günſtigen Frieden zu fördern. Officieren, welche ſich auf Ehrenwort erklären, keinen Fluchtverſuch zu machen, wird daher oft die Freiheit verſtattet, beliebig in einer Stadt zu wohnen und ſich ſogar in der Umgegend frei zu bewegen. Die Feſthaltung
(0356 : 334)
Achtes Buch.
in einem Gefängniß iſt eine extreme Maßregel, zu welcher man insbeſondere gegen ſolche Kriegsgefangene berechtigt iſt, welche ſich derſelben durch die Flucht hatten entziehen wollen. Vgl. zu § 601.
605.
Der Nehmeſtat iſt verpflichtet, für die Ernährung und für die Geſundheit der Kriegsgefangenen ſoweit nöthig zu ſorgen.
Vgl. oben zu 601. Die Art der Ernährung wird durch die Landesund Volksſitte beſtimmt.
606.
Soweit die Kriegsgefangenen aus eigenen Mitteln für ihren Lebensunterhalt zu ſorgen im Stande ſind, iſt der Stat nicht dazu verpflichtet.
Sie können ihr mitgebrachtes Geld dazu verwenden oder ihren Credit benutzen. Die Verpflichtung des Stats, ſie zu ernähren, beruht nicht auf einer Unterſtützungspflicht an ſich, ſondern darauf, daß er das vermeintliche Recht über Leben und Tod nicht hat, ſondern verpflichtet iſt, ihr Leben zu erhalten, für deſſen Unterhalt ſie wegen der Gefangenſchaft außer Stande ſind, ſelber zu ſorgen.
607.
Die Kriegsgefangenen müſſen ſich allen den Anordnungen fügen, welche der Nehmeſtat im Intereſſe ihrer ſichern Verwahrung für nöthig erklärt.
Sie dürfen wohl gegen läſtige und unpaſſende Anordnungen der nähern Aufſicht je an die übergeordnete Stelle Beſchwerde führen und auch ihre Wünſche äußern. Aber Widerſetzlichkeit kann nicht geduldet, ſondern muß ſofort unterdrückt werden, wenn nicht für den Stat und ſeine Kriegsführung daraus ernſte Gefahren und Nachtheile entſtehen ſollen.
608.
Dieſelben können auch inzwiſchen zu Arbeiten angehalten werden, welche ihren bürgerlichen Verhältniſſen und ihrem Range angemeſſen erſcheinen. Aber niemals dürfen ſie zur Theilnahme an dem Waffenkampf zu Gunſten des Nehmeſtates angehalten werden. Auch dürfen ſie nicht gezwungen werden, irgend welche Aufſchlüſſe zu geben oder Mittheilungen
(0357 : 335)
Das Kriegsrecht.
zu machen, welche die Intereſſen des States gefährden, welchem ſie gedient haben.
Am. 76. 80. Die Verwendung zu angemeſſenen und verhältnißmäßigen Arbeiten dient als Erſatz für die Koſten, welche der Stat auf den Unterhalt der Kriegsgefangenen auszulegen genöthigt iſt. Es iſt das dem Weſen nach nicht Strafarbeit, ſondern Erſatzarbeit. Die bona fides, welche die Staten einander ſchulden, erfordert, daß man auch den Kriegsgefangenen nichts Unwürdiges zumuthe; und moraliſch unwürdig wäre es, ſie zum Kampf wider ihr Vaterland und ihre Stats- und Kriegsgenoſſen zu zwingen. Dagegen hat die Arbeit an Feſtungsbauten, während der Kampf noch fern iſt, nicht dieſen Charakter unmittelbarer Feindſeligkeit. Dazu können daher Kriegsgefangene wohl angehalten werden. Vgl. oben § 576.
609.
Ein Kriegsgefangener, welcher entſpringt, kann bei der Verfolgung auf der Flucht getödtet, aber er darf nicht, wenn er wieder eingefangen wird, wegen des Fluchtverſuchs geſtraft werden.
1. Am. 77. Die Kriegsgefangenſchaft wird durch einen Act der feindlichen Kriegsgewalt begründet, welche ihre Ueberlegenheit bewährt. Es iſt ein Unglück, kriegsgefangen zu werden, aber es iſt kein Unrecht, ſich der Gefangenſchaft wieder zu entziehn, denn das heißt nur, die natürliche Freiheit wieder erwerben und einer Demüthigung entgehn.
2. Flüchtige Kriegsgefangene können freilich wieder mit Gewalt verfolgt werden. Wenn die Flucht vereitelt und ſie wieder eingebracht werden, dann iſt eine ſtrengere Bewachung, nach Umſtänden eine engere Einſchließung wohl gerechtfertigt, aber nicht die Beſtrafung derer, welche kein Vergehen begangen, ſondern nur einen menſchlich untadelhaften und kriegsrechtlich erlaubten Verſuch gemacht haben, die verlorene Freiheit wieder zu gewinnen.
610.
Eine Verſchwörung unter den Kriegsgefangenen zu allgemeiner Befreiung kann wegen ihrer Gefährlichkeit kriegsgerichtlich beſtraft werden. Ebenſo ein Complot unter den Kriegsgefangenen zum Aufruhr gegen die beſtehenden Autoritäten. Sogar die Todesſtrafe iſt in ſchwereren Fällen der Art gerechtfertigt.
Am. 77. Die Kriegsgefangenen ſind feindliche Perſonen, welche nur der Uebergewalt ſich fügen. Jede gemeinſame Auflehnung derſelben iſt daher
(0358 : 336)
Achtes Buch.
von äußerſter Gefährlichkeit. Sowohl kriegeriſche als ſtrafrechtliche Mittel können hier angewendet werden, um die Gefahr zu bewältigen. Werden die empörten Kriegsgefangenen von Bewaffneten umſtellt und für den Fall, daß ſie nicht ſofort zum Gehorſam zurückkehren, mit Erſchießen bedroht, ſo iſt das Erneuerung des Kampfs, eine kriegeriſche oder, wenn man will, eine policeiliche Maßregel, nicht Juſtiz. Aber die Gefährlichkeit ſolcher Verſchwörungen und Aufſtände rechtfertigt auch ein ſtrafgerichtliches Einſchreiten der Kriegsgerichte.
611.
Wenn es einzelnen Kriegsgefangenen oder auch den Kriegsgefangenen insgeſammt gelingt, zu entkommen und dieſelben Perſonen ſpäter wieder kriegsgefangen werden, ſo können ſie wegen der frühern Flucht nicht geſtraft werden.
Am. 78. Sie können wohl ſorgfältiger verwahrt werden. Vgl. oben zu 604.
612.
Die Auswechslung der Kriegsgefangenen während des Krieges iſt Sache der freien Convenienz der kriegführenden Staten. Ohne vorherigen Vertrag iſt kein Stat verpflichtet, dieſelbe zu gewähren. Auch eine vorherige Verabredung verliert ihre Verbindlichkeit, wenn der andere Paciſcent dieſelbe verletzt hat.
Am. 109. Das wechſelſeitige Intereſſe der beiden kriegführenden Parteien beſtimmt dieſelben, zumal bei lange dauernden Kriegen, wohl, die beiderſeitigen Kriegsgefangenen gegen einander auszuwechſeln. Sie vermindern dadurch die Laſten der Unterhaltung und Bewachung, und verlieren nichts dabei, denn die Vortheile, welche eine Kriegspartei der andern gegenüber von dem Beſitze von Kriegsgefangenen erwartet, können erſt beginnen, wenn die eine Partei mehr Kriegsgefangene beſitzt, als die andere. Soweit ſich beide gleichſtehen, werden die Vortheile des Beſitzes aufgewogen und nur die Nachtheile bleiben beiderſeits. Aber eine Pflicht, die Gefangenen umzutauſchen, beſteht nicht. Vielmehr bedarf es einer beſondern Verſtändigung beider Parteien, um die Auswechslung vorzunehmen.
613.
Im Zweifel iſt anzunehmen, daß die Auswechslung Mann für Mann, Rang für Rang, Verwundete für Verwundete gemeint ſei und daß die Entlaſſenen wechſelſeitig für die Dauer des gegenwärtigen Krieges nicht mehr zu Kriegsdienſten verwendet werden.
(0359 : 337)
Das Kriegsrecht.
Am. 105. Der Grundſatz der Gleichwerthung (Parität) entſpricht dem natürlichen Rechtsſinn, welcher die feineren und beſtreitbaren Unterſchiede nicht beachtet wiſſen will. Es ſind daher auch Linienofficiere den Landwehrofficieren, und die Soldaten der verſchiedenen Waffengattungen einander gleich zu ſtellen. Die Zeitfriſt, während welcher die Entlaſſenen nicht mehr am Kampfe Theil nehmen dürfen, kann durch Vertrag näher beſtimmt werden. Gewöhnlich wird dieſelbe auf die Dauer des gegenwärtigen Kriegs beſchränkt und deßhalb darf das im Zweifel als die Meinung der Partei vermuthet werden.
614.
Für Gefangene von höherem Rang werden in Ermanglung von gegneriſchen Gefangenen desſelben Ranges je nach der Verabredung eine Anzahl Gefangener von geringerem Range ausgewechſelt.
Am. 106. Die Schätzung iſt freilich ſehr willkürlich, ſie iſt aber nicht zu entbehren, wenn der Zweck des gleichmäßigen Austauſches von Gefangenen erreicht werden ſoll. Das Nähere wird gewöhnlich durch Cartelverträge beſtimmt, welche von den feindlichen Regierungen oder Befehlshabern abgeſchloſſen werden.
615.
Die Kriegsgefangenen haben die Ehrenpflicht, ihren wirklichen Rang anzumelden und weder einen niedrigeren Rang in der Abſicht anzugeben, ihrem State bei der Auswechslung einen Vortheil zuzuwenden, noch einen höheren Rang zu behaupten, um eine beſſere Verpflegung zu erhalten. Verletzungen dieſer Pflicht können beſtraft und eine gerechte Urſache werden, die Entlaſſung ſolcher Gefangenen zu verweigern.
Am. 107. Der Nehmeſtat iſt jedenfalls berechtigt, eine derartige Täuſchung disciplinariſch oder ſtrafrechtlich zu ahnden. Aber auch der heimiſche Commandant kann den Untergebenen nach der Entlaſſung zur Verantwortung ziehen und beſtrafen. Freilich wird der letztere weniger dazu veranlaßt ſein, wenn die Täuſchung in der Angabe eines geringern Ranges, als wenn ſie in der Anmaßung eines höhern Ranges beſtanden hatte.
616.
Die Ueberzahl von entlaſſenen Gefangenen mag durch ein entſprechendes Löſegeld oder andere Gegenleiſtungen ausgeglichen werden. Solche Verabredungen bedürfen aber im Zweifel der Genehmigung der oberſten Autoritäten.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 22
(0360 : 338)
Achtes Buch.
Am. 108. Zu Gegenleiſtungen dient unter Umſtänden die Lieferung von Nahrungsmitteln oder Kleidungsſtücken beſſer noch als Geld. Unter der oberſten Autorität iſt aber nicht nothwendig die Statsregierung, ſondern auch der Höchſtcommandirende der betreffenden Armee zu verſtehen.
617.
Kriegsgefangene können nach Umſtänden auch auf Ehrenwort entlaſſen werden.
Am. 119.
618.
Ehrenwort (Parole) bedeutet die Einſetzung der perſönlichen Ehre und der ehrlichen Treue, die verſprochene Zuſage zu erfüllen, mit Rückſicht auf welche die Entlaſſung gewährt iſt.
Am. 120.
619.
Die Abgabe des Ehrenworts iſt zwar ein individueller aber kein bloßer Privatact, ſondern gehört dem öffentlichen Rechte an.
Am. 121. Der Gefangene kann nur ſein individuelles Wort geben und nur ſeine perſönliche Ehre verpfänden. Inſofern iſt das eine individuelle That; aber doch nicht ein Privatgeſchäft, denn er kann es wieder nur als Kriegsgefangener thun, d. h. aus einem völker- und kriegsrechtlichen Zuſtande heraus und in der Abſicht dieſen zu löſen. Inſofern hat ſchon die Erklärung eine öffentlichrechtliche Bedeutung. Noch entſchiedener tritt dieſe Bedeutung hervor in der Annahme der Erklärung von Seite der Statsmacht und in der Entlaſſung aus der Gefangenſchaft.
620.
Kein Kriegsgefangener kann zur Ertheilung des Ehrenworts gezwungen werden und keine Regierung iſt verpflichtet, Kriegsgefangene auf Ehrenwort hin frei zu geben. Die Kriegspartei kann aber durch eine allgemeine Verordnung erklären, ob und unter welchen Bedingungen ſie Gefangene auf Ehrenwort entlaſſen werde.
(0361 : 339)
Das Kriegsrecht.
Am. 132. 133. Aehnlich verhält es ſich mit der Ertheilung einer beſchränkten Freiheit an die Kriegsgefangenen, mit Bezug auf ihr Ehrenwort, daß ſie dieſelbe nicht zur Flucht mißbrauchen werden. Einem gefangenen Officier kann ſo verſtattet werden, in einer Stadt frei zu leben auf ſein Ehrenwort hin, daß er den Umkreis derſelben nicht verlaſſen werde. Weigert er ſich, das Ehrenwort zu geben, ſo iſt der Nehmeſtat veranlaßt und berechtigt, ihn in ſichern Gewahrſam zu bringen.
621.
Soldaten können das Ehrenwort nur durch Vermittlung ihrer Officiere und auch dieſe nur mit Genehmigung ihres oberſten Officiers geben, der zur Stelle iſt.
Am. 126. 127. Weil das ganze Verhältniß eine politiſche und vorzüglich militäriſche Bedeutung hat, ſo bedarf es der Ermächtigung eines Officiers, dem ein Commando übertragen iſt und darf nur, wenn ein ſolcher nicht da iſt, von einem andern Officier eingegangen werden. Wenn kein Officier da iſt, dann freilich können die Soldaten auch auf ihr perſönliches Ehrenwort hin entlaſſen werden. Die Soldatenehre iſt nicht auf die Officiere beſchränkt. Wie man dem Eide der Soldaten vertraut, ſo kann man auch ihrem Ehrenwort vertrauen. Aber die Sitte des Ehrenworts beſchränkt ſich gewöhnlich auf die höher gebildeten Claſſen, und inſofern kann es Bedenken haben, dasſelbe bei gemeinen Soldaten, ohne Officier, zuzulaſſen.
622.
Während der Schlacht iſt die Entlaſſung auf Ehrenwort nicht zuläſſig und unwirkſam.
Am. 128. Wohl können ſich während der Schlacht Truppentheile als Kriegsgefangene ergeben, aber die Löſung des Verhältniſſes auf Ehrenwort hin wird als der Kriegsſitte zuwider betrachtet. Das amerikaniſche Statut geht weiter. Es erklärt auch die Entlaſſung ganzer Truppenkörper nach der Schlacht auf Ehrenwort für unzuläſſig und unverbindlich, und ebenſo die allgemeine Entlaſſung einer Menge Gefangener mit der bloßen Erklärung, daß ſie auf Ehrenwort entlaſſen ſeien. Es bedarf vielmehr eines beſondern perſönlichen Acts.
623.
Die gewöhnliche Einſetzung des Ehrenworts hat den Sinn, daß der auf Ehrenwort Entlaſſene während des Kriegs nicht mehr gegen den entlaſſenden Stat kämpfen werde, außer es wäre für ihn ſpäter ein anderer
22*
(0362 : 340)
Achtes Buch.
Kriegsgefangener ausgewechſelt worden und in Folge deſſen das Recht der Auswechslung maßgebend geworden.
Am. 130. Auch bei der Auswechslung kann dieſelbe Beſtimmung des Nichtdienens verabredet oder auch ohne Verabredung gemeint ſein. Vgl. § 612. Es ſind aber auch entgegengeſetzte Verabredungen möglich, in Folge deren die ausgewechſelten Gefangenen wieder in die Reihen der Armee eintreten dürfen.
624.
Das Verſprechen bezieht ſich nur auf den activen Felddienſt gegen die entlaſſende Kriegspartei und ihre Bundesgenoſſen, nicht auf den innern Militärdienſt und nicht auf civile oder diplomatiſche Dienſtleiſtungen, auch nicht auf das Fechten wider andere Feinde.
Am. 130. Nur das Fechten wider die Kriegspartei gilt als Treubruch und als ſtrafbarer Mißbrauch der zurückgegebenen Freiheit. Die auf Ehrenwort entlaſſenen Officiere können aber zum Einexercieren von Rekruten, oder zu Befeſtigungs- oder Bureauarbeiten verwendet werden, ohne daß darin ein Treubruch erkannt wird.
625.
Ein Officier, welcher dem Ehrenwort zuwider gegen die entlaſſende Kriegspartei ficht, kann um dieſes Treubruches willen, wenn er neuerdings in die Gewalt derſelben geräth, kriegsgerichtlich geſtraft und ſogar zum Tode verurtheilt werden.
Am. 130. Es iſt das ein ſchweres Vergehen gegen den Stat, der ihn freigelaſſen hat, aber auch vor dem Ehrgefühl der eigenen Truppen nicht zu rechtfertigen. Werden ſolche wortbrüchige Officiere wieder ergriffen, ſo können ſie vor ein Kriegsgericht geſtellt und von dieſem verurtheilt werden. Freilich wenn der Krieg zu Ende kommt, dann hört auch das Recht zur Verfolgung und Beſtrafung ſolcher Verletzungen des Kriegsrechts auf. Man darf im Frieden nicht wieder auf ſolche Straffälle zurückgreifen.
626.
Wenn die Regierung, welcher der auf Ehrenwort entlaſſene Officier angehört, das Verſprechen nicht billigt, ſo iſt derſelbe verpflichtet, ſich wieder zur Kriegsgefangenſchaft zu ſtellen. Nimmt ihn der Feind nicht mehr
(0363 : 341)
Das Kriegsrecht.
als Gefangenen an, ſo iſt er von ſeiner Zuſage befreit und des Ehrenwortes entbunden.
Am. 131. Er darf nicht etwa, geſtützt auf die Nichtgenehmigung, ſich als thatſächlich frei betrachten und in ſeinen Truppenkörper wieder eintreten, ſondern er muß ſich, da die Entlaſſung unwirkſam geworden iſt, nun wieder als Kriegsgefangenen betrachten und ſich dem Feind wieder ſtellen. Nur dieſer kann ihm die Freiheit wieder geben; ſie zu nehmen iſt Treubruch am Ehrenwort.
6. Verfahren gegen Deſerteure und Ueberläufer, Spione, Kriegsverräther, Wegeführer, Räuber, Marodeurs, Kriegsrebellen.
627.
Deſerteure, die wieder eingebracht werden, oder Ueberläufer zum Feinde, welche wieder gefangen werden, ſind der ſtrafgerichtlichen Behandlung des Kriegsrechts unterworfen und können mit dem Tode beſtraft werden.
Am. 1. Es iſt das, genau genommen, eher ein Satz des einheimiſchen Strafrechtes als des Völkerrechts. Indeſſen mag die Rückſicht darauf, daß die Deſerteure, indem ſie ihrer Fahnenpflicht untreu werden, ſich gewöhnlich in ein fremdes Land begeben und daß die Ueberläufer geradezu zum Feinde übergehen, es rechtfertigen, daß dieſe Fälle auch in einer Darſtellung des Völkerrechts erwähnt werden.
628.
Spione können, wenn ſie bei Erfüllung ihrer Abſicht ergriffen werden, kriegsrechtlich mit dem Tode beſtraft werden, ohne Rückſicht darauf, daß ſie aus Auftrag handelten und ob ihre Späherei von Erfolg war oder nicht.
Am. 88. Der Grund der ſtrengen Beſtrafung der Spione liegt vorzüglich in ihrer Gefährlichkeit für die Kriegsführung, verbunden mit der als nicht ehrenhaft betrachteten Handlungsweiſe der Spione, nicht darin, daß dieſelben eine verbrecheriſche Geſinnung bethätigen. Wenn ſie im Auftrag ihres States handeln, ſo können ſie in gutem Glauben ſein, eine Pflicht zu erfüllen; und
(0364 : 342)
Achtes Buch.
ſogar wenn ſie aus freiem Antrieb handeln, ſo kann auch hier der Patriotismus ſie dazu treiben. Die Todesſtrafe ſoll zur Abſchreckung dienen. Der Kriegsgebrauch hat ſie ſogar in der entehrenden Form des Hängens eingeführt. Aber ſie darf doch nur als äußerſte Strafe in den gefährlichſten Fällen zur Anwendung kommen. In ſehr vielen Fällen wäre ſie unverhältnißmäßig hart. Die neuere Praxis iſt auch hier milder geworden und begnügt ſich oft mit geringen Strafen, inbeſondere mit Verhaft. Ein bekanntes Beiſpiel der härteſten Strafe, die an einem höhern Officier der feindlichen Armee vollzogen wurde, iſt die Hinrichtung des engliſchen Majors André, des Generaladjutanten der Königlichen Armee, welcher in dem nordamerikaniſchen Befreiungskriege von einem amerikaniſchen Kriegsgericht zum Tode verurtheilt und trotz der Verwendungen der engliſchen Generale gehängt wurde. Er hatte vergeblich darum gebeten, als Kriegsmann erſchoſſen zu werden. Vgl. Phillimore III. 183 f.
629.
Als Spion wird betrachtet, wer heimlicher Weiſe oder unter trügeriſchen Vorwänden ſich in die Linien des Heeres in der Abſicht einſchleicht oder begibt, um Erkundigungen einzuziehn, die für die Kriegsführung des Feindes erheblich ſind, und dieſelben an den Feind mitzutheilen.
Am. 88. Die offen geübte Erkundigung kann zum Verrath mißbraucht werden (vgl. § 631), aber ſie iſt nicht Spionerie. Der Makel des Anſtößigen und Unehrenhaften, welcher der Spionerie anklebt, beruht auf der Heimlichkeit des Verfahrens und den trügeriſchen Vorwänden. Das — wenn auch heimliche — Erſpähen der feindlichen Rüſtungen und Waffenplätze vor dem Ausbruch des Kriegs kann je nach Umſtänden policeilich geahndet, darf aber nicht als Spionerie kriegsgerichtlich beſtraft werden. Nur im Kiege und nach Kriegsrecht gibt es Spione. Auch dann aber muß man ſich hüten, allzuleicht auf Spionerie zu ſchließen. In dem deutſchen Kriege von 1866 war die Spionenriecherei beſonders in den ſüddeutſchen Heeren zu einer Manie geworden, welche eine Menge höchſt unſchuldiger Perſonen momentan arg beläſtigte, aber ſchließlich doch nirgends ernſte Folgen hatte.
630.
Militärperſonen, welche als erkennbare Feinde in die feindliche Linie eindringen, wenn auch in der Abſicht, die Stellung und die Verhältniſſe des Feindes zu erkundigen und Truppentheile, welche recognosciren, dürfen wohl kriegsgefangen gemacht, nicht aber als Spione behandelt werden.
Die Entſendung von Recognitionspatrouillen gehört zu den erlaubten und wechſelſeitig geübten Kriegsmitteln. Es können auch einzelne ortskundige Sol-
(0365 : 343)
Das Kriegsrecht.
daten dazu verwendet werden, und ſogar die Führer ſelbſt auf Recognoscirung ausreiten. Die Abſicht iſt auch hier die Erkundung der Schwächen oder Stärken der feindlichen Stellung und aller Bedingungen der militäriſchen Action. Dieſe erlaubte Art der Beobachtung iſt nicht minder gefährlich als die Spionerie, aber weil ſie als ein Beſtandtheil der Kriegsführung ſelber gilt, darf ſie auch vom Feinde nicht ſtrafrechtlich behandelt werden.
631.
Auch wer ſolche Erkundigungen über die Kriegsführung, die ihm auf geſetzlichem Wege oder in erlaubter Weiſe zugekommen ſind, zum Nachtheil des Heeres, in deſſen Bereich er ſich befindet, an den Feind mittheilt, wird als Kriegsverräther kriegsrechtlich und in ſchweren Fällen mit dem Tode beſtraft.
Am. 89. 90. Dieſe Handlung kann zugleich ein gemeines Verbrechen des Landesverrathes ſein, wenn ein Officier des Heeres, oder ein Civilbeamter die ihm anvertrauten Kriegspläne dem Feinde verräth oder wenn der Bewohner einer Stadt oder Feſtung den feindlichen Heerführern Mittheilungen in der Abſicht zukommen läßt, die Eroberung der Stadt oder Feſtung zu erleichtern. Aber ſie kann auch unter Umſtänden vorkommen, in denen das bürgerliche Strafgeſetz kein Verbrechen findet, und dennoch der großen Gefährlichkeit wegen kriegsgerichtlich geſtraft werden. Vielleicht gehört der Verräther perſönlich dem State an, deſſen Heer ſich als Feind nähert und macht ſeine Mittheilungen aus patriotiſcher Geſinnung. Trotzdem läuft er Gefahr, von dem am Ort herrſchenden Feind als Verräther vor ein Kriegsgericht geſtellt und vielleicht erſchoſſen zu werden. Es hilft ihm nicht einmal die Einwendung, daß die Kriegsgewalt, ohne wirkliche Landeshoheit zu beſitzen, nur vorübergehend den Ort beſetzt habe. Dagegen beſchränkt ſich dieſe Strafbefugniß der Kriegsgerichte auf die Fälle, in denen ein derſelben Kriegsgewalt, wenn auch nur vorübergehend unterworfener Bewohner ihr zum Nachtheil dem Feinde Mittheilungen gemacht hat, und darf nicht auf ſolche Fälle ausgedehnt werden, in denen die Kriegsgewalt erſt nachher in den Beſitz des Ortes kommt, von dem aus die Mittheilung gemacht worden iſt.
632.
Von der Strafe des Kriegsverraths wird auch der bedroht, welcher aus einem von der feindlichen Kriegsmacht beſetzten Orte an ſein heimatliches Heer oder ſeine heimatliche Regierung Mittheilungen in der Abſicht macht, die jene Orte beſetzende Kriegsmacht zu gefährden.
Am. 92. Vgl. zu § 631. Indeſſen wird in ſolchen Fällen die Strafe nur
(0366 : 344)
Achtes Buch.
aus dem kriegeriſchen Nothrecht zu rechtfertigen ſein. Die That ſelbſt kann nicht als ehrlos gebrandmarkt werden.
633.
Wenn ein Spion oder Kriegsverräther glücklich zu ſeinem Heere zurückkehrt, dem er zugehört, oder das ſeinem Vaterlande dient und ſpäter wieder von dem Feinde gefangen wird, ſo wird er wegen ſeiner früheren kriegsgefährlichen Handlung nicht mehr beſtraft, aber iſt als beſonders gefährlicher Gefangener ſchärferer Ueberwachung ausgeſetzt.
Am. 104. Das Kriegsrecht iſt Nothrecht. Indem ſich der Spion oder der Kriegsverräther der feindlichen Kriegsgewalt entzieht, hat er ſich auch der Statsgewalt des Feindes entzogen; und dieſe einmal erloſchen, lebt nicht wieder auf, ohne eine neue wegen ihrer Gefährlichkeit für die Kriegsführung kriegsrechtlich ſtrafbare That.
634.
Wer freiwillig dem feindlichen Heere als Wegeführer ſich anbietet und die Wege zeigt, wird als Kriegsverräther betrachtet und beſtraft.
Am. 95. 96. Auch hier iſt zu unterſcheiden zwiſchen dem gemeinen Verbrechen des Landesverraths, welches der gewohnten Strafjuſtiz dann anheimfällt, wenn die Kriegsgewalt entweder nicht befugt oder nicht geneigt iſt, einzuſchreiten und der bloß kriegsgerichtlich ſtrafbaren That, die an ſich kein Verbrechen iſt, aber wegen ihrer beſondern Gefährlichkeit für die Kriegsführung geſtraft wird. Wenn z. B. der Bürger eines von dem Feinde beſetzten Ortes ſich als Wegeführer einem vaterländiſchen Truppenkörper anbietet, damit derſelbe den Feind überfalle und wieder verdränge, und wenn er bei dem Verſuch ergriffen wird, ſo kann er von dem feindlichen Kriegsgerichte als Kriegsverräther verurtheilt und erſchoſſen werden, obwohl er eine patriotiſche That zu vollziehen in guter Meinung war und nicht zur Treue, ſondern nur zum Gehorſam vorübergehend der feindlichen Kriegsgewalt verpflichtet war.
635.
Wer dagegen von den feindlichen Truppen genöthigt wird, als Wegeführer die Wege zu zeigen, iſt auch vor dem Kriegsrecht gerechtfertigt.
Am. 93. 94. Der Einzelne kann der Kriegsgewalt nicht Widerſtand leiſten und muß ſchließlich der Bedrohung ſich fügen; denn man darf nach menſch-
(0367 : 345)
Das Kriegsrecht.
lichem Recht Niemandem zumuthen, daß er eher zum Märtyrer werde und ſich eher mißhandeln oder tödten laſſe, als der thatſächlichen Statsgewalt Folge leiſte. Alle Armeen bedürfen der Wegeführer und alle wenden im Nothfall Drohung und Zwang an, um dieſelben zu bekommen. Daher darf auch Niemand geſtraft werden, weil er dieſer Nothwendigkeit ſich unterwarf.
636.
Wegeführer, welche die Truppen abſichtlich mißleiten, verfallen dem Kriegsrecht dieſer Truppen und können mit dem Tode beſtraft werden.
Am. 97. Die große Gefahr, in welche die Truppen durch abſichtliche Irreleitung gebracht werden können, rechtfertigt auch hier die militäriſche Strenge. Die Kriegsgerichte müſſen ſich aber davor hüten, leichthin eine verrätheriſche Abſicht des Wegeführers zu vermuthen, denn es iſt ſehr möglich, daß dieſer ſich ſelber getäuſcht und ſich verirrt hat, während er die Abſicht hatte, den richtigen Weg zu finden und zu ſuchen. In dieſem Falle darf er nicht geſtraft werden. Es bedarf daher zur Beſtrafung des Irreführers eines Beweiſes der böſen Abſicht, welche freilich nur aus den Umſtänden zu erſchließen iſt.
637.
Auch den diplomatiſchen Agenten iſt nicht geſtattet, während des Kriegs aus dem von Truppen beſetzten Lande über die militäriſchen Zuſtände und Vorgänge Mittheilungen nach außen zu machen, welche der kriegführende Gegner zum Schaden der erſtern Kriegspartei benutzen kann. Zuwiderhandelnde können ſofort weggewieſen und bei großer Gefahr ſogar verhaftet und einſtweilen ſicher verwahrt werden.
Am. 98. Die privilegirte Stellung der diplomatiſchen Perſonen darf nicht mißbraucht werden, um die Kriegsführung zu ſchädigen. Die Sicherheit dieſer iſt eine ſo überaus wichtige Angelegenheit, daß ſelbſt ein Eingriff in das Privilegium der Unverletzlichkeit der Geſanten und in ihre Exterritorialität gerechtfertigt erſcheint, ſobald und in ſo weit derſelbe nöthig iſt, um die Kriegsführung gegen ſolche Gefährdung zu ſchützen.
638.
Auch den fremden Beſuchern und Berichterſtattern iſt in dieſer Hinſicht große Vorſicht zur Pflicht gemacht. Die Befehlshaber können ihnen beſtimmte Mittheilungen unterſagen und nach Umſtänden eine Controle
(0368 : 346)
Achtes Buch.
ihrer Correſpondenzen anordnen, ſie in Folge der Mißachtung der nöthigen Vorſicht wegweiſen oder wenn Gefahr vorhanden iſt, ſie in ſchweren Fällen ungehöriger Mittheilung ſogar der kriegsgerichtlichen Beſtrafung überantworten.
1. Am. 98. Zuweilen werden Officiere neutraler Staten in der Abſicht dem Heere beigegeben, damit ſie den Gang des Krieges beobachten und die Kriegsführung ſtudiren. Es hängt natürlich von den Kriegsführern ab, ob ſie dieſelben zulaſſen wollen oder nicht. Dieſe Officiere haben den Auftrag, an ihre Regierungen zu berichten. Dabei iſt die Grenze nicht immer leicht zu finden zwiſchen der unverfänglichen und daher erlaubten, und der gefährlichen und daher verbotenen Mittheilung. Der nächſte Entſcheid darüber muß der Kriegsgewalt ſelber vorbehalten bleiben.
2. Aehnlich verhält es ſich mit den Berichterſtattern der Zeitungen, ſei es aus neutralen Staten oder aus den kriegführenden Staten ſelber. Auch da iſt große Vorſicht nöthig, damit nicht gefährliche Mittheilungen gemacht und dafür die Correſpondenten zur Verantwortung gezogen werden.
639.
Couriere mit Depeſchen oder Boten mit mündlichen Aufträgen werden, wenn ſie offen in ſolcher Eigenſchaft reiſen oder als Soldaten in Uniform den Dienſt erfüllen und in die Gewalt des Feindes gerathen, als Kriegsgefangene behandelt. Wenn ſie aber heimlich und nicht als Soldaten erkennbar ſich durchzuſchleichen ſuchen, ſo ſind ſie zwar nicht als Spione oder Kriegsverräther anzuſehen, aber ſie verfallen doch einer den Umſtänden entſprechenden kriegsrechtlichen Beſtrafung.
Am. 99. Es gilt als ein durchaus ehrenvoller militäriſcher Auftrag, in einen vom Feinde belagerten Platz von den Entſatztruppen her einen Boten zu ſchicken oder umgekehrt. Trotz der Gefährlichkeit ſolcher Verbindung darf der Soldat, welcher bei der Erfüllung ſeines Dienſtes von den feindlichen Wachen ergriffen wird, doch nicht als Spion oder Verräther betrachtet und beſtraft, ſondern nur zum Kriegsgefangenen gemacht werden. Wenn aber Nichtſoldaten in heimlicher Weiſe den Botendienſt übernehmen und heimlich ausführen, dann laufen ſie Gefahr, vor ein Kriegsgericht geſtellt zu werden.
640.
Bösartige Verſuche, den Feind zu ſchädigen, welche nicht zu der militäriſch geordneten Kriegsführung gehören, können wegen ihrer Gefähr-
(0369 : 347)
Das Kriegsrecht.
lichkeit kriegsrechtlich, in beſonders ſchweren Fällen ſogar mit dem Tode beſtraft werden.
Am. 101. Hieher können z. B. das Abfangen der Kriegspoſten durch unberufene Perſonen und das Verbreiten falſcher Nachrichten gerechnet werden. Die Kriegsführung muß ſich ſolcher feindlichen und nicht gerechtfertigten Schädigung erwehren und darf deßhalb im Nothfall eine abſchreckende Strenge eintreten laſſen.
641.
Bewaffnete Räuber oder andere Miſſethäter, welche auf eigene Fauſt morden, verwunden, rauben, plündern, brennen, Brücken und Canäle zerſtören, Eiſenbahnſchienen aufreißen, Telegraphendrähte abſchneiden, um den Truppen Schaden zuzufügen oder unter dem Schein der Kriegsführung ihren Leidenſchaften zu fröhnen, können, wenn ſie in die Gewalt der Truppen fallen, kriegsrechtlich, in ſchweren Fällen mit dem Tode beſtraft werden.
Am. 84. Hier concurrirt wieder ſehr oft, aber nicht immer, ein gemeines Verbrechen mit einer kriegsrechtlich ſtrafbaren That. Werden die Einwohner eines Ortes zu gemeinſamer Abwehr des Feindes von der militäriſchen Gewalt aufgefordert und verüben ſie in Folge deſſen Thaten der Gewalt, ſo iſt das kriegeriſche Action. Aber nicht als ſolche gilt es, wenn etwa die Einwohner die bei ihnen einquartierten Soldaten im Schlafe überfallen und binden oder tödten, oder wenn Parteigänger unter dem Scheine der autoriſirten Truppen Erpreſſungen üben oder wenn fanatiſirte Weiber auf die einrückenden Feinde heißes Waſſer ausgießen. Auch wenn ſolche Thaten vielleicht nicht aus einer verbrecheriſchen, ſondern einer patriotiſchen Geſinnung verübt werden, ſo ſind ſie ihrer Verderblichkeit wegen dennoch und weil ſie außerhalb der geordneten Kriegsführung geſchehen, kriegsrechtlich zu beſtrafen.
642.
Ebenſo unterliegen der kriegsrechtlichen Beſtrafung bis zur Todesſtrafe die Marodeurs, welche den Truppen nachſchleichen und auf unerlaubte Beute ausgehen.
Den Truppen folgt im Kriege ein Schwarm frechen und diebiſchen Geſindels nach, welches ſich auf die Schlachtfelder ſtürzt, wie die Raben und unleidlichen Unfug treibt. Dieſe Marodeurs beſtehlen die Leichen, morden auch wohl Verwundete, um ſie zu berauben. Um ſie zu verſcheuchen und zu bändigen, hilft nur
(0370 : 348)
Achtes Buch.
eine gute Feldpolicei (Gensdarmerie) und die äußerſte Strenge einer raſchen militäriſchen Juſtiz.
643.
Auch die Kriegsrebellen, d. h. die, welche in einem von den Truppen beſetzten Gebiete die Waffen gegen dieſelben oder gegen die von der Kriegsgewalt niedergeſetzten Autoritäten ergreifen, können vor ein Kriegsgericht geſtellt und mit dem Tode beſtraft werden.
Am. 85. Derartige Aufſtände werden nicht bloß mit Waffengewalt unterdrückt, ſondern auch, weil ſie nicht zur ordentlichen Kriegsführung gehören und um ihrer Gefährlichkeit willen kriegsrechtlich beſtraft. Es gilt das auch dann, wenn etwa die ganze Bevölkerung einer beſetzten Stadt oder Gegend aufſtehen ſollte, während die feindlichen Truppen noch dieſe Orte beſetzt oder in ihrer Macht haben. Die Aufſtändiſchen können ſich auch nicht damit gegen die herrſchende Kriegsgewalt rechtfertigen, daß ſie ſich auf Befehle berufen, welche ſie von ihrer rechtmäßigen — aber zur Zeit außer Beſitz geſetzten — Regierung erhalten haben.
7. Recht der Kriegsgewalt über das feindliche Vermögen und das Vermögen der friedlichen Perſonen in Feindesland.
A. Im Landkrieg.
644.
Die ſiegende Kriegsgewalt eignet ſich nach Kriegsrecht alle öffentliche Habe des Feindes an, ſo weit ſich ihre Macht erſtreckt. Vorbehalten bleibt das Recht des Heimfalls an den Stat, dem dieſe Habe nach Friedensrecht zugehört hat bis zur endlichen neuen Friedensordnung.
Am. 31. Als Feind im eigentlichen und vollen Sinne iſt nur der Stat zu betrachten, gegen welchen der Krieg geführt wird (vgl. Einleitung S. 30 f.). Dem Stat gegenüber wird heute noch eine Art Beuterecht inſofern anerkannt, als die öffentliche Habe desſelben von dem feindlichen Sieger weggenommen und angeeignet werden darf. Aber die rechtliche Grundlage desſelben iſt nicht mehr, wie im Alterthum, die Anſicht, daß Feindesgut herrenlos (res nullius) und deßhalb
(0371 : 349)
Das Kriegsrecht.
der Occupation preisgegeben ſei, ſondern es wird im Gegentheil vorausgeſetzt, gerade weil es dem feindlichen Stat zu gehöre, dürfe es demſelben im Krieg weggenommen werden. Man ſieht darin ein kriegeriſch gerechtfertigtes Zwangsmittel gegen den feindlichen Stat. Indeſſen ſogar innerhalb der Habe des feindlichen Stats werden weitere Unterſcheidungen zur Beſchränkung der feindlichen Wegnahme gemacht. Vgl. unten § 648 f.
645.
Insbeſondere ſind die Kriegscaſſen, Waffen und Waffenvorräthe, Magazine mit Lebensmitteln, Transportmittel für das Heer und überhaupt alles das Vermögen, welches der Kriegsführung unmittelbar dient, als Kriegsbeute zu betrachten und fallen zur Verfügung und Benutzung dem ſiegenden Heere zu, vorbehalten die beſondern Anordnungen der ſiegenden Statsgewalt.
Am entſchiedenſten macht ſich nach der Natur und den Bedürfniſſen der Kriegsführung das Recht der Wegnahme geltend mit Bezug auf die geſammte Kriegsausrüſtung des Feindes. Da greift die Kriegsgewalt zu, ſoweit ſie ſich derſelben bemächtigen kann, ſelbſt ohne zu unterſuchen, ob dieſelbe nicht vielleicht zum Theil Privatgut ſei. Wenn die Beziehung zur feindlichen Kriegsausrüſtung offenbar iſt, ſo verfallen alle derartigen Gegenſtände der Wegnahme des ſiegenden Heeres, indem es eine der wichtigſten Aufgaben der Kriegsführung iſt, den Feind zu entwaffnen. Es gilt das in neuerer Zeit auch von dem Material der Eiſenbahnen (Locomotiven, Perſonen- und Güterwagen), obwohl dasſelbe vielleicht nicht Eigenthum des Stats, ſondern einer Privatgeſellſchaft iſt. Die Eiſenbahnen dienen doch dem öffentlichen Verkehr in eminenter Weiſe und ihre Verwendung für die Kriegsführung zu Truppenmärſchen und Lieferungen von Lebensmitteln u. ſ. f. iſt ſo äußerſt wichtig, daß die Kriegsgewalt dieſelben wenigſtens proviſoriſch als öffentliches Gut behandelt und es den Geſellſchaften überläßt, ſich deßhalb im Frieden mit dem State, in deſſen Gebiet die Eiſenbahnen verbleiben, aus einander zu ſetzen. Aehnlich verhält es ſich mit Waffenmagazinen, welche zur Kriegsführung dienen, aber vielleicht einer Privatperſon gehören. Die Beſtimmung dieſer Sachen für Kriegszwecke bringt ſie in die Gefahr, von der Kriegsführung weggenommen zu werden. Magazine von Lebensmitteln verfallen aber nur dann dieſer Wegnahme, wenn ſie für Kriegszwecke, nicht aber, wenn ſie zur Ernährung der friedlichen Bevölkerung beſtimmt waren. Natürlich bleibt immer das Recht der Kriegsgewalt vorbehalten, für die nöthige Ernährung des Heeres durchgreifende Sorge zu üben.
646.
Ebenſo iſt die ſiegende Kriegsgewalt berechtigt, ſich der öffentlichen
(0372 : 350)
Achtes Buch.
Gebäude und Grundſtücke in Feindesland zu den Zwecken der Kriegsführung und zur Verwaltung der Statsgewalt einſtweilen zu bemächtigen und die Einkünfte derſelben zu benutzen. Ob das Eigenthum an dieſen liegenden Gütern auf den ſiegenden Stat übergehe, hängt von dem Friedensſchluſſe und insbeſondere davon ab, ob der ſiegende Stat dauernde Hoheit über den Gebietstheil erwerbe, in welchem dieſe Güter gelegen ſind.
Es gilt das nicht bloß von Feſtungen, Caſernen und ähnlichen unmittelbar der Kriegsmacht dienenden Gebäuden, ſondern ebenſo von Reſidenzen, Miniſterialgebäuden, Amts- und Rathhäuſern jeder Art. Auch über die Einkünfte der Domänen kann die ſiegende Kriegsgewalt verfügen, ſoweit dieſelben in ihren Bereich fallen. Aber das Eigenthum an dem liegenden Gute geht mit der Beſitznahme noch nicht auf dieſelbe über, ſondern erſt dann und nur dann, wenn ſie auch die Statshoheit endlich im Frieden erwirbt. Inwiefern der bisherige Stat Eigenthümer iſt, tritt der neue Stat, der die Gebietshoheit erwirbt, an ſeine Stelle. Vgl. oben § 54.
647.
Die ſiegende Kriegsgewalt verfügt auch über die öffentlichen Einkünfte und Steuern, welche in dem eingenommenen Gebiete erhoben werden, in dem Sinne jedoch, daß die regelmäßigen und unvermeidlichen Ausgaben für die Verwaltung des Rechts und der öffentlichen Intereſſen daraus fortbeſtritten werden.
Vgl. oben § 541. 547. Auch andere Caſſen, als die Kriegscaſſen, welche dem State zugehören, können von dem Feinde weggenommen werden (§ 644). Aber die civiliſirte Kriegsführung darf dieſe Gelder doch nicht ohne weiters als gute Priſe behandeln. Es ſoll auch während des Kriegs für die Handhabung des Rechts und eine geordnete Verwaltung geſorgt werden. Das iſt eine Forderung des allgemeinen Rechts und zugleich ein Intereſſe der Kriegsführung ſelbſt. Die Auflöſung aller Ordnung iſt ebenſo Barbarei, wie die Verwüſtung der Pflanzungen. Soweit daher jene Gelder für dieſe öffentlichen Intereſſen beſtimmt und nöthig ſind, ſoweit ſind ſie auch dafür zu verwenden. Ueberhaupt greift die civiliſirte Kriegsführung möglichſt wenig in die beſtehende Landes- und Gemeindeverwaltung ein und nur dann, wenn ihre militäriſch-politiſchen Aufgaben es verlangen.
648.
Das Eigenthum der Kirchen, Spitäler, wohlthätigen Anſtalten, der
(0373 : 351)
Das Kriegsrecht.
Schulen, Univerſitäten, Akademien, Obſervatorien, Muſeen und anderer Culturanſtalten iſt möglichſt zu ſchonen und das dazu gehörige bewegliche Vermögen iſt nicht als öffentliche Habe des Feindes im Sinne des § 644 zu betrachten. Indeſſen übt der ſiegende Stat auch in dieſer Hinſicht einſtweilen die Rechte der verdrängten Statsgewalt aus.
Am. 34. Dieſe Anſtalten haben durchweg einen öffentlich-rechtlichen Charakter und gehören großentheils auch dem State zu Eigenthum. Aber ihre Beſtimmung iſt ſo entſchieden friedlich und ſie dienen ſo ſehr den örtlichen und den allgemeinen Culturbedürfniſſen, daß es der civiliſirten Kriegsführung nicht würdig und dem humaneren Rechtsbewußtſein der Gegenwart nicht zuläſſig erſcheint, dieſelben feindlich zu behandeln. Vielmehr iſt ihre Schonung und Achtung hier die Regel; und nur ausnahmsweiſe, ſoweit die Noth, z. B. das Bedürfniß Verwundete unterzubringen, einen Eingriff erfordert, iſt derſelbe gerechtfertigt. Das Völkerrecht kann nur den humanen Grundſatz ausſprechen, im Gegenſatz zu brutaler Gewaltübung. Im Einzelnen muß natürlich Vieles der Einſicht und dem Rechtsgefühl der Commandirenden überlaſſen werden.
649.
Die muthwillige Zerſtörung oder Schädigung wiſſenſchaftlicher Inſtrumente oder Sammlungen, der Denkmäler und Kunſtwerke in dem eingenommenen Gebiete wird durch das civiliſirte Kriegsrecht nicht entſchuldigt, ſondern iſt offenbare Barbarei.
Am. 35. Es iſt die Pflicht der Führer, welche nicht als Barbaren, ſondern als civiliſirte Männer den Krieg leiten, daß ſie derartige Brutalität, welche die edeln Güter der Menſchheit ſchädigt, ohne dem Kriegszweck irgend zu nützen, verhindern. Niemals iſt zweckloſe Zerſtörung und Schädigung zu entſchuldigen. Wenn ſogar noch in unſerm Jahrhundert Soldaten im Dienſte von europäiſchen Culturvölkern durch gemalte Fresken Nägel in die Wand geſchlagen, Oelgemälde zerſchnitten, Statuen verſtümmelt, Denkmäler zerſtört haben u. dgl., ſo hat unſere Zeit Urſache, ſich deſſen zu ſchämen. Den Barbaren mag man das verzeihen, weil ſie nicht wiſſen, was ſie thun, eine civiliſirte Armee darf ihre Ehre nicht damit beflecken. Vielleicht erſcheint die Aufnahme ſolcher Sätze in das Völkerrecht manchen zu wenig juriſtiſch, und zu ſehr moraliſch. Ueber dieſes Bedenken kommen wir leicht durch den Gedanken hinweg, daß die Rettung auch nur eines wahren Kunſtwerks durch Verbreitung ſolcher humaner Grundſätze einen größern Werth hat, als die juriſtiſche Enthaltſamkeit, welche dieſelben ruhig verſtümmeln und zerſtören läßt.
650.
Das heutige Völkerrecht verwehrt dem Sieger noch nicht, Kunſtwerke,
(0374 : 352)
Achtes Buch.
wenn es ohne Beſchädigung derſelben geſchehen kann, wegzunehmen und anderwärts aufzuſtellen. Ueber das Eigenthum daran entſcheidet dann der Friede. Aber es wird von der heutigen Völkerſitte nicht mehr geſtattet, daß ſolche Kunſtwerke von dem Sieger während des Krieges verkauft, verſchenkt oder in anderer Weiſe zu Privateigenthum gemacht werden. Heute ſchon gilt die Wegnahme von wiſſenſchaftlichen Sammlungen, Bibliotheken, Inſtrumenten zum Schaden der wiſſenſchaftlichen Cultur des betreffenden Landes als eine Maßregel, welche wider die civiliſirte Völkerſitte verſtößt.
1. Am. 36. Unter dem Namen von Kriegstrophäen wurden früher wohl Kunſtwerke und Kunſtſchätze von dem Sieger weggenommen und nach ſeiner Hauptſtadt geſchleppt, um dieſe zu ſchmücken. Wie in alten Zeiten die Römer Griechenland und die Vandalen Rom geplündert hatten, ſo haben in neuerer Zeit noch die Franzoſen aus Italien eine Menge von Kunſtſchätzen nach Paris gebracht und damit die Säle des Louvre und öffentliche Plätze geſchmückt. Obwohl dieſes Verfahren den früheren Rechtsanſichten wenig anſtößig erſchienen und immerhin die Aenderung im Eigenthum durch die Friedensſchlüſſe legitimirt war, ſo iſt es doch als ein Fortſchritt in der Humaniſirung des Völkerrechts zu betrachten, daß die alliirten Mächte im Jahr 1815 die franzöſiſche Regierung nöthigten, dieſe Kunſterzeugniſſe wieder an die Länder zurückzuerſtatten, denen ſie vor der Wegnahme zugehört hatten. Das künftige Völkerrecht wird wohl die Regel ausſprechen, daß Kunſtwerke überhaupt kein Gegenſtand kriegeriſcher Erbeutung ſeien, denn ſie dienen in keiner Weiſe der Kriegsführung, indem ſie in militäriſcher Beziehung ganz unbrauchbar und als Zwangsmittel, um eher Frieden zu erhalten, ebenfalls ungeeignet ſind. Sie zu verkaufen und das Geld für den Krieg zu benutzen, das iſt ebenfalls gegen alle gute Sitte und eine offenbare Verletzung der Rückſicht auf die dauernden Culturintereſſen des Landes, welche der Krieg, als ein vorübergehendes Zwangsmittel, möglichſt ſchonen ſoll. Es iſt aber noch zu früh, dieſe Regel auszuſprechen, da dieſelbe auch von den heutigen Staten der civiliſirten Welt noch nicht allgemein anerkannt wird. Vgl. übrigens Wheaton, Intern. Law. § 352—354.
2. Man könnte daran denken, jener Regel die Ausnahme beizufügen, daß ſie auf ſolche Kunſtwerke, die eine weſentlich politiſche Bedeutung haben, wie vorzüglich die Siegesdenkmäler, keine Anwendung leide. Indeſſen ſogar in dem Fall iſt es würdiger, die geſchichtliche Errichtung ſolcher Denkmäler zu reſpectiren, und wenn in der Folge der Sieg ſich dem früher Beſiegten zuwendet, die erforderliche Ergänzung und Correctur anzubringen, als das ältere Kunſtwerk wegzunehmen.
3. Soweit darf man in der Ausſprache des heutigen Völkerrechts ſchon gehen, daß die kriegsmäßige Wegnahme von wiſſenſchaftlichen Sammlungen und Inſtrumenten nicht mehr als zuläſſig gilt. Dieſe Dinge können offenbar nicht als „Trophäen“ benutzt werden, und ſie gehören als Culturſchätze den dauernden
(0375 : 353)
Das Kriegsrecht.
und friedlichen Culturintereſſen des Landes an. Unſere Univerſitätsſtadt Heidelberg beklagt es heute noch als ein ſchweres, nicht hinreichend geſühntes Unrecht, daß ihre handſchriftlichen Schätze als „Palatina“ von dem Bayeriſchen Eroberer der Stadt weggenommen und dem römiſchen Papſt zur Bereicherung des Vaticans geſchenkt worden ſind. Die Stadt Cöln freut ſich dagegen darüber, daß die Preußiſche Regierung nach dem deutſchen Kriege von 1866 die Großherzoglich Heſſiſche im Frieden vom 3. Sept. 1866 angehalten hat, die zur Zeit der Revolutionskriege von 1794 weggenommenen Werke der Cölner Dombibliothek zurückzuerſtatten.
651.
Die muthwillige Zerſtörung oder Schädigung der dem Verkehr gewidmeten Anſtalten ohne militäriſche Nothwendigkeit, wie insbeſondere der Straßen, Brücken, Eiſenbahnen, Seehäfen, Leuchtthürme u. dgl. iſt widerrechtliche Barbarei.
In manchen Fällen wird die militäriſche Nothwendigkeit die Zerſtörung ſolcher Werke rechtfertigen, z. B. um den Rückzug der Truppen gegen die Verfolgung des Feindes zu decken oder den feindlichen Angriff ernſtlich zu erſchweren. Aber bloß aus Uebermuth oder aus übertriebener Furcht darf das nicht geſchehn; denn die Intereſſen des Verkehrs ſind auch nach dem Kriege von höchſter Bedeutung für die Wohlfahrt der Völker, und der Krieg darf nur ſoweit Schaden anrichten, als die Noth des Krieges und die Kriegszwecke es erfordern.
652.
Das Privateigenthum iſt auch im Kriege von Seite der ſiegenden Kriegsgewalt zu reſpectiren und darf nur in Folge der militäriſchen Nothwendigkeit angegriffen werden.
Am. 38. Da der Krieg nicht gegen die Privaten, ſondern gegen den Stat geführt wird und die Rechtsordnung auch im Kriege inſoweit fortbeſteht, als nicht die militäriſche Nothwendigkeit ausnahmsweiſe eine Verletzung erfordert, ſo verſteht ſich die Schonung und Achtung des Privateigenthums als Hauptgeſetz des civiliſirten Kriegsrecht. Es gilt das nach allen Seiten und Richtungen hin. Damit wird der moderne Grundgedanke des natürlichen Rechts ausgeſprochen, im entſchiedenſten Gegenſatz ſowohl zu dem antiken römiſchen Recht, welches im Kriege kein Privateigenthum der Feinde, wie die Angehörigen des feindlichen States genannt wurden, anerkannte als zu dem mittelalterlichen Rechte, welches möglichſte Schädigung auch der feindlichen Unterthanen für erlaubte Kriegsführung hielt. Nur die Rückſicht auf die militäriſche Nothwendigkeit entſchuldigt und rechtfertigt eine Verletzung des Privateigenthums. Wenn eine militäriſche Stellung erobert werden muß, ſo treffen die Kanonenkugeln
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 23
(0376 : 354)
Achtes Buch.
auch die Privathäuſer. Wird eine andere Stellung vertheidigt, ſo müſſen vielleicht die Bäume eines Privatgartens umgehauen oder gar ein Privathaus niedergeriſſen werden. Die Bewegung des Marſches und der Schlacht geht oft durch die Saatfelder verheerend hindurch. Alle dieſe Schädigungen des Privateigenthums ſind Folgen des kriegeriſchen Nothrechts. Inwiefern der einheimiſche Stat dafür den Privateigenthümern Entſchädigung leiſten ſolle, iſt keine Frage des Völkerrechts, ſondern eher des beſondern Stats- und Landesrechts, meiſtens auch der beſonderen Landespolitik und der Finanzwirthſchaft. Der feindliche Stat leiſtet keine Entſchädigung.
653.
Die herrſchende Kriegsgewalt iſt berechtigt, die durch die Kriegsführung nothwendig gewordenen Leiſtungen der Bevölkerung für die Verpflegung und Transportirung der Truppen und des Kriegszeugs ſoweit ohne Entſchädigung zu fordern, als dieſe Leiſtungen der Kriegsſitte und Uebung gemäß als öffentliche Pflichten anzuſehen ſind.
1. Die Armee bedarf der Quartiere, der Lebensmittel, der Bekleidung, der Transportmittel. Die neuere Sitte der civiliſirten Kriegsführung iſt die, daß möglichſt durch vertragsmäßig bezahlte Lieferungen für die Nahrung und Kleidung der Armee geſorgt wird. Indeſſen nicht immer langen die beſtellten Transporte rechtzeitig an, oder ſie ſind überall nicht zu erwarten, oder ungenügend. Unter Umſtänden kann es auch ungefährlich und zweckmäßig ſein, die Steuerkräfte des beſetzten Landes für dieſe Zwecke anzuſpannen. Da die Kriegsgewalt auch die Kriegs- und Steuerhoheit ausübt, ſo weit ihre Gewalt ſich thatſächlich erſtreckt, ſo kann ſie auch von der Bevölkerung dieſes Gebietes die erforderliche Beihülfe für die Verpflegung der Truppen fordern.
2. Sie übt vorerſt das Recht der Einquartierung aus, wenn gleich zunächſt durch Vermittlung der einheimiſchen Behörden und möglichſt den Landeseinrichtungen und Landesſitten gemäß. Beſondere Immunitäten und Privilegien einzelner Perſonen oder Claſſen braucht ſie freilich nicht anzuerkennen. Ebenſo kann ſie die Hauswirthe anhalten, den einquartierten Officieren und Soldaten ihren Kräften gemäß und nach Bedürfniß die erforderliche Speiſe zu geben und den Gemeinden, ſoweit nöthig und ausführbar, Beiträge von Fleiſch, Brod, Hafer, Heu u. ſ. f. für die Ernährung von Mannſchaft und Pferden auferlegen. Auch hier bildet das: „Ultra posse nemo tenetur“ eine natürliche Schranke für die zugemutheten Leiſtungen, und übermäßige Anſprüche brauchen auch dann nicht befriedigt zu werden, wenn es möglich wäre, ſie zu gewähren.
3. Ueberdem bedarf die Kriegsgewalt unter Umſtänden auch Kleidungsſtücke, beſonders Schuhe, für die Mannſchaft.
4. Sie kann endlich Wagen und Pferde requiriren zum Transport zu der nächſten Station, auf welcher neue taugliche Transportmittel zu haben ſind.
(0377 : 355)
Das Kriegsrecht.
5. Alle dieſe Leiſtungen begründen je nach Umſtänden einen Anſpruch auf Entſchädigung. Man muß hier unterſcheiden:
a) Leiſtungen, welche einfach aus Kriegs- und Steuerpflicht ohne Entſchädigung von der Bevölkerung gefordert werden können. Der Umfang derſelben wird entweder durch die Landesgeſetzgebung oder durch die Uebung beſtimmt. Im Einzelnen freilich wird immerhin Vieles der Discretion des Commando’s überlaſſen werden;
b) Leiſtungen, welche dieſes Maß überſchreiten und daher nach natürlichem Recht nur gegen Entſchädigung zu fordern ſind.
6. Freilich iſt dieſe Entſchädigungspflicht in der Praxis ſchwer zu normiren und noch ſchwerer durchzuſetzen. Die feindliche Kriegsgewalt, welche jene Leiſtungen für ihre Kriegszwecke bedarf und empfängt, wäre zunächſt veranlaßt, den Gemeinden und den Privaten, gegen welche ſie nicht Krieg führt, den Werth zu vergüten. Aber dazu fehlen ihr im Kriege oft die Geldmittel, und doch kann ſie die Leiſtung nicht entbehren. Sie wird daher in manchen Fällen bloß den Empfang beſcheinigen und die Bezahlung in der Zukunft in Ausſicht ſtellen. Ueberdem kann ſie ſich auf ihr vermeintliches Recht berufen, daß der gegneriſche Stat mit den Kriegskoſten auch dieſe Leiſtungen zu übernehmen und daher ſeinen Gemeinden und Landesangehörigen gegenüber die Entſchädigung zu leiſten habe. Aus dieſem Grunde wird ſie oft ihre Zahlungspflicht überhaupt beſtreiten, und die Gläubiger an den gegneriſchen Stat verweiſen, dem dieſelben angehören. Dieſer Stat aber erkennt ſeine Entſchädigungspflicht gewöhnlich wieder nicht an, weil er die Beiträge nicht begehrt, noch empfangen habe und weil er ſeinerſeits die Meinung vertritt, daß der Krieg mit Unrecht gegen ihn geführt worden ſei. Er betrachtet daher jene Belaſtung als ein Unglück, das mit dem Kriege verbunden und von dem zu tragen ſei, den es betroffen habe. Nur aus Billigkeitsrückſichten und meiſt nur, wenn ſeine financiellen Verhältniſſe günſtig beſchaffen ſind, läßt er ſich zur Entſchädigung, je nach ſeinem Ermeſſen, herbei. Der Friedensſchluß ordnet das ſelten näher, und wenn er darüber ſchweigt, ſo werden damit alle Anforderungen der Gemeinden und Privaten an den feindlichen Stat, welcher die Beiträge eingefordert hatte, höchſt unſicher und ihre Befriedigung ſehr unwahrſcheinlich. Es bleibt denſelben dann kaum ein anderer Weg offen, als der, die billige Berückſichtigung ihres Landes anzurufen.
654.
Das Völkerrecht erkennt kein Recht der Kriegsgewalt an, in feindlichem Lande von Gemeinden und Privaten andere als die für die Exiſtenz und Thätigkeit des Heeres unentbehrlichen Leiſtungen zu verlangen. Insbeſondere hat die Auflage von reinen Geldcontributionen keine kriegsrechtliche Begründung.
23*
(0378 : 356)
Achtes Buch.
1. Die Forderung von Geldcontributionen wurde in frühern Kriegen oft damit gerechtfertigt, daß ſich mit der Bezahlung der Contribution die Städte oder Gemeinden von der Gefahr der Plünderung oder Zerſtörung loskaufen. Allein das civiliſirte Kriegsrecht erkennt kein Recht mehr an zur Plünderung und ebenſo wenig ein Recht zu unnöthiger Zerſtörung. Es kann alſo auch nicht mehr von einem Loskauf dieſes Rechts die Rede ſein. Zu andern Geldcontributionen, etwa zur Füllung der Kriegscaſſe oder des Statsſchatzes oder gar zur Befriedigung der Genußund Gewinnſucht der Führer iſt die Kriegsgewalt auch nicht berechtigt, denn ſie hat keine willkürliche Gewalt über das Vermögen der Gemeinden und Privaten, gegen die ſie nicht Krieg führt. So wenig ſie die Bewohner des feindliches Landes zwingen darf, die Lücken ihres Heeres zu ergänzen und perſönliche Kriegsdienſte zu leiſten, ebenſo wenig darf ſie die Bevölkerung zwingen, die erforderlichen Gelder für ihre Kriegsführung zu bezahlen. Vgl. oben § 545. 576.
2. In manchen, ſogar noch neueren Kriegen, ſelbſt in der Preußiſchen Kriegsführung von 1866, ſind die richtigen Grundſätze nicht hinreichend beachtet und zuweilen ohne zureichenden Rechtsgrund Contributionen in Geld von eingenommenen Städten erhoben worden. Das heutige europäiſche Rechtsgefühl kann ſich aber mit ſolchen Reſten einer früheren barbariſchen Kriegsführung nicht mehr verſöhnen; es wird durch jede unnöthige und ungerechte Härte gegen die friedliche Bevölkerung in Feindesland gekränkt.
655.
Wenn die Kriegsgewalt in Ermanglung der geordneten Lieferung von Lebensmitteln, Kleidern, Waffen und Geräthſchaften, deren das Heer dringend bedarf, auf dem Wege des Zwangs Abtretung von Privateigenthum verlangt, ſo iſt der betreffende Statsfiscus zu angemeſſener Entſchädigung verpflichtet und die Kriegsgewalt hat daher dem Eigenthümer eine Beſcheinigung über die abgelieferte oder abgenommene Habe zu ertheilen.
Am. 38. Das Nothrecht des Kriegs rechtfertigt, ſoweit das unmittelbare Bedürfniß des Heeres reicht, wenn ſich die Beſitzer der erforderlichen Habe nicht freiwillig zur Veräußerung herbeilaſſen, ſogar den gewaltſamen Eingriff auch in das Privateigenthum, z. B. großer Grundbeſitzer oder Kornhändler, deren Speicher mit Getreide oder mit Hafer und Heu gefüllt ſind, der Lederhändler und Schuhmacher, die Vorräthe von Leder oder Schuhen haben u. ſ. f. Aber nur gegen Entſchädigung, für welche nach natürlichen Rechtsgrundſätzen zunächſt der Fiscus des States haftet, welcher dieſe Habe wegnimmt und für ſeine Intereſſen verwendet. Nur wenn dieſe Entſchädigungsforderung nicht durchzuſetzen iſt, beſtimmen Billigkeitsrückſichten den Stat, in deſſen Gebiet die feindliche Gewalt die Abtretung erzwungen hat, dafür ſubſidiär einzuſtehen. Vgl. zu § 652.
(0379 : 357)
Das Kriegsrecht.
656.
Den Kriegsleuten iſt nicht erlaubt, Privateigenthum wegzunehmen oder muthwillig oder aus Rachſucht zu ſchädigen. Handlungen der Art werden ſtrenge nach Kriegsrecht beſtraft. Nur die unmittelbare Nothdurft rechtfertigt ausnahmsweiſe die Aneignung der erforderlichen Nahrungsmittel und Kleidungsſtücke, wenn nicht durch die Anordnung des Militärcommando’s für die Befriedigung geſorgt iſt. Auch in ſolchen Fällen iſt in der Regel der Werth zu erſtatten, ſoweit nicht die Quartierpflicht zu unentgeldlicher Leiſtung nöthigt.
Die militäriſche Disciplin hat hier manche Mißbräuche, welche die ältere Kriegsführung befleckt hatten, abgeſchafft oder doch ermäßigt. Mit Recht wird jeder Diebſtahl oder Raub, von Soldaten im Quartier oder auf dem Marſch verübt, ſtrenge beſtraft. Niemals darf die Wegnahme von Koſtbarkeiten, Uhren u. dgl., wohl aber aus Nothdurft die Wegnahme von Lebensmitteln, Brod und Fleiſch, Hausthieren zum Schlachten u. dgl. geſtattet werden. Auch die Bier- und Weinhäuſer dürfen ſo wenig, wie die Bäcker- und Metzgerläden der Plünderung oder freier Beſitzergreifung preisgegeben werden, ſondern was da, über die Quartierlaſt hinaus verabreicht oder nöthigenfalls genommen wird, das ſoll bezahlt werden. Aber es iſt, insbeſondere auf ermüdenden Märſchen oder nach der Schlacht nicht zu verhindern, daß nicht Hunger und Durſt zuweilen zu raſchem Zugreifen drängen, welches freilich von der kalten Berechnung und Beurtheilung der privatrechtlichen oder ſtrafrechtlichen Logik als rechtswidrig erklärt werden müßte, und dennoch von der Kriegsgewalt als unvermeidlich geduldet und geſchützt wird.
657.
Das heutige Völkerrecht verwirft das ſogenannte Beuterecht im Kriege als rechtswidrige Barbarei.
1. Vgl. oben § 652. Hugo Grotius (lib. III. cap. 6) ſetzt noch die römiſche Anſicht, daß die Beute wider einen fremden Feind, d. h. wider alle Statsangehörige des feindlichen Stats erlaubt, und nur im Bürgerkrieg unterſagt ſei, als gemeines Völkerrecht voraus. Es war nur eine thatſächliche Ermäßigung des Beuterechts, wenn das römiſche Recht den Truppen zur Pflicht machte, die Beute jederzeit an den Stat abzuliefern, damit er darüber verfüge, deßhalb eine Ermäßigung, weil die Soldaten ein geringeres Intereſſe hatten, Beute für den Stat zu machen. Aber der Eigenthümer fand keinen Rechtsſchutz, indem er als Feind rechtlos war und ſeine Sachen als herrenlos betrachtet wurden. Zu vollem Durchbruch gelangt erſt in unſerm Jahrhundert und nicht ohne Widerſpruch vieler
(0380 : 358)
Achtes Buch.
und angeſehener Schriftſteller über das Völkerrecht, welche ſich ſchwer von dem überlieferten Grundſatz der Beute oder der ſtatlichen Confiscation losmachen können (vgl. Phillimore III. § 75), der entgegengeſetzte Grundſatz, daß das Privateigenthum zunächſt der friedlichen Perſonen, dann aber ſelbſt der feindlichen Perſonen, auch im Kriege regelmäßig zu achten und deßhalb das vermeintliche Beuterecht ein offenbares Unrecht ſei. Ein merkwürdiges Erkenntniß hat der oberſte Gerichtshof der Vereinigten Staten im Jahr 1812 erlaſſen, in dem der Uebergang aus dem alten Beuterecht in das neue Recht des Eigenthumsſchutzes deutlich erkennbar wird. Es wurde nämlich noch das Recht des Stats, das in ſeinem Gebiet zur Zeit der Kriegseröffnung vorhandene Vermögen der feindlichen Statsangehörigen zu confisciren, als hergebrachte Regel anerkannt, aber für die Ausübung dieſes Rechts ein vorheriger Act der Geſetzgebung gefordert. Offenbar wollte man auf einem Umweg das Privateigenthum ſichern, denn ein beſonderes Geſetz war nicht da und wurde auch nicht erlaſſen. (Kent Comm. § 59. 60). Ein Keim zur Beſeitigung des Beuterechts iſt ſchon in der engliſchen Magna Charta von 1215 zu finden, indem ſie das Vermögen fremder Kaufleute in England auch im Kriege ſchützt, wenn Gegenrecht gehalten wird. Vgl. unten zu § 669. Vgl. oben die Einleitung S. 38 und Berner Art. Beute im deutſchen Statswörterbuch von Bluntſchli und Brater.
2. Die Beute iſt demgemäß nicht mehr als Regel erlaubt, ſondern nur ausnahmsweiſe aus beſondern Gründen und in engſter Beſchränkung. Die wichtigſten Fälle einer noch erlaubten Beute ſind:
a) die Habe des feindlichen States ſelbſt, § 645,
b) die Waffen und kriegeriſche Rüſtung der beſiegten feindlichen Perſonen, § 659. 660,
c) die Contrebande (Buch IX. Abſch. 4). Daneben noch, obwohl bereits angezweifelt
d) die Geſtattung, einen erſtürmten Platz zu plündern, § 661,
e) die Seebeute, § 664 f.
658.
Wenn der eine Stat an den andern feindlichen Stat eine Geldſumme aus Darlehen oder einem andern Rechtsgrunde ſchuldet, ſo darf er wohl während des Kriegs die Verzinſung und Bezahlung dieſer Schuld verweigern, nicht aber, wenn er die Statsſchuld an Privatgläubiger ſchuldet, welche dem feindlichen State angehören.
In dem bekannten Streit zwiſchen Preußen und England vom Jahr 1753 vertheidigte Friedrich II. die Beſchlagnahme der Schleſiſchen Statsſchuld zum Nachtheile der engliſchen Gläubiger, worüber ſich die engliſchen Publiciſten als über eine ſchreiende Verletzung des Völkerrechts beſchwerten, nur aus dem Geſichtspunkte der Repreſ-
(0381 : 359)
Das Kriegsrecht.
ſalien gegen das Unrecht, welches die engliſchen Kaper zur See gegen die Preußiſchen Kauffahrer begehen. Vgl. oben zu § 500.
659.
Ausnahmsweiſe iſt es den Kriegsleuten erlaubt, den von ihnen beſiegten feindlichen Perſonen ihre Waffen und Pferde und andere zur kriegeriſchen Ausrüſtung gehörige Sachen wegzunehmen und ſich ſelber als Kriegsbeute anzueignen, aber nicht erlaubt, Geld oder Kleinodien des Feindes zu erbeuten. Nur wenn der getödtete Feind ſolche Koſtbarkeiten auf dem Schlachtfelde zurückläßt, ſo iſt es bei der völligen Ungewißheit, wer der Erbe ſei und ob ſolche Habe für denſelben zu retten ſei, eher dem Sieger geſtattet, dieſe Sachen ſich anzueignen, als ſie vergraben oder verderben zu laſſen.
Das Einzelne beſtimmt in jedem Heer das Commando. Das Völkerrecht ſpricht nur den allgemeinen Grundſatz aus, der bei dieſen Verordnungen nicht verletzt werden darf, ohne gerechte Mißbilligung zu erfahren.
660.
Die erbeuteten Fahnen, Kanonen, Munitionswagen, Kriegscaſſen und überhaupt alles öffentliche Kriegszeug dürfen niemals von einzelnen Nehmern angeeignet werden, ſondern ſind an den Befehlshaber abzuliefern.
Am. 45. Das iſt ſeiner Beſtimmung nach öffentliches Kriegsgut und kommt daher dem State, nicht dem Nehmer zu. Es iſt das der alte Grundſatz der römiſchen praeda, der in dieſer Beſchränkung noch fortwirkt.
661.
Es gilt unter civiliſirten Völkern nicht mehr als gute Kriegsſitte, um die Soldaten zur Erſtürmung eines Platzes oder Lagers aufzureizen, ihnen die freie Plünderung des eroberten Ortes zu erlauben.
Man vertheidigt zuweilen dieſe verwerfliche Maßregel damit, daß unter Umſtänden nur durch ſolche Anreizung der Gewinnſucht die Soldaten dazu gebracht werden können, das Wagniß eines Sturmes zu unternehmen und den hartnäckigen Widerſtand zu brechen und mit der Berufung auf die eigenen Verluſte an Gut und Blut, die damit einigermaßen ausgeglichen werden. Aber dieſe Lappen verhüllen
(0382 : 360)
Achtes Buch.
nicht die nackte Barbarei der Maßregel. Es iſt auch militäriſch unehrenhaft, die Soldaten dadurch zu ihrer kriegeriſchen Pflichterfüllung anzureizen, daß man ſie zu Räubern macht und das offenbare Unrecht ſolcher Plünderung iſt in keiner Beziehung ein Erſatz für das in ehrlichem Kriege vergoſſene Blut und aufgebrauchte Gut. Die Privaten führen nicht Krieg und dürfen daher auch nicht der brutalen Raubſucht preisgegeben werden.
662.
Inſoweit die Zerſtörung von Privateigenthum als bloße nothwendige Folge der Kriegsführung ſelbſt erſcheint, iſt dieſelbe kein Unrecht, ſondern als Unglück für die Privatperſonen zu betrachten.
Vgl. zu § 652. Möglicherweiſe werden einzelne Privateigenthümer ſehr hart von den zerſtörenden Wirkungen des Kriegs betroffen, indem ihre Felder verwüſtet, ihre Gebäude niedergeriſſen, ihre Wohnungen abgebrannt werden. Soweit dieſe Uebel unvermeidlich erſcheinen, ſoweit muß der Eigenthümer dieſelben ertragen, wie den Hagelſchlag oder wie die Ueberſchwemmung des ausgetretenen Stromes, wie den Brand, den der Blitz entzündet hat. Es iſt das für ſie ein Unglück, nicht ein erlittenes Unrecht. Daher haben ſie auch keine Rechtsforderung auf Entſchädigung weder gegen den feindlichen Stat, deſſen Truppen die Zerſtörung gemacht haben, noch gegen den eigenen Stat, auf deſſen Schutz ſie angewieſen ſind. Aber die Rückſichten der Billigkeit ſprechen dafür, daß der letztere Stat, wenn ſeine Finanzkräfte dazu ausreichen, hinterher den Schaden, den Einzelne um ſeines Krieges willen erlitten haben, wenigſtens in der Hauptſache vergüte.
663.
Muthwillige oder rachſüchtige Zerſtörung oder Schädigung von Privateigenthum iſt ein Rechtsbruch und als ſolcher ſtrafbar.
Insbeſondere ſind die Brandſtiftung oder die Ausrodung von Culturpflanzen, die Zerſtörung von Dämmen u. ſ. f., wenn ſie nicht durch die militäriſche Nothwendigkeit gerechtfertigt werden, eine völkerrechtswidrige Barbarei.
Schon Megaſthenes rühmt es den alten Indiern nach, daß ſie im Kriege die Pflanzungen der Bauern verſchonen, während ſelbſt die civiliſirten Hellenen zuweilen die Oelbäume in feindlichem Gebiete umhauen (Laurent, hist. de l’hum. I. S. 132). Das claſſiſche Alterthum ſteckt noch tief in dieſer Barbarei und das Mittelalter verſtand unter Kriegsführung vorzugsweiſe die möglichſte Schädigung auch des Privateigenthums in Feindesland. Erſt die ſpätere Kriegsführung wird allmählich milder. Laurent (X. S. 387) hebt es rühmlich heraus, daß
(0383 : 361)
Das Kriegsrecht.
zuerſt im Jahr 1552 der franzöſiſche Marſchall Briſac einen Vertrag mit dem Spaniſchen General durchgeſetzt habe, welcher die Baumpflanzungen gegen die unnütze Verwüſtung ſicherte. Aber viel ſpäter noch trieben die Truppen Ludwig XIV. in dem Pfälzerkriege alle Gräuel barbariſcher Verwüſtung. Die heutige Kriegsführung mißbilligt das entſchieden. Freilich iſt auch jetzt noch der Rechtsſchutz der Privateigenthümer gering gegen ſolche Miſſethaten der Truppen. Es bleibt ihnen zunächſt kein anderes Mittel, als die Hülfe der Commandanten anzurufen, und nicht immer ſind dieſelben geneigt, einzuſchreiten. Offenbar iſt in ſolchen Fällen der Stat verpflichtet, ſich ſeiner Angehörigen anzunehmen und wo möglich bei dem Friedensſchluß Entſchädigung zu fordern oder vorzubehalten.
B. Im Seekrieg.
664.
Feindliche Kriegsſchiffe können ſowohl auf offener See als innerhalb der Eigengewäſſer der kriegführenden Staten jeder Zeit genommen und ihre Mannſchaft kriegsgefangen gemacht werden.
Die Kriegsſchiffe ſind Kriegsmacht und Kriegsrüſtung und verfallen daher der Wegnahme des Feindes. Inſofern ſteht das Seekriegsrecht dem Kriegsrecht zu Lande (vgl. § 644. 645) völlig gleich.
665.
Obwohl auch der Seekrieg wider den Stat und nicht die Privatperſonen geführt wird und nach dem natürlichen und humanen Völkerrecht das Privateigenthum im Seekrieg ebenſo geachtet werden ſollte wie im Landkrieg, ſo iſt die gegenwärtige Statenpraxis auch mancher civiliſirten Seemächte noch nicht in Uebereinſtimmung mit dieſen Grundſätzen und wird von denſelben heute noch der Kriegsmarine ein ſogenanntes Recht der Seebeute zugeſprochen gegen Schiffe, welche ein Privateigenthum von Angehörigen des feindlichen States ſind und gegen die darin befindlichen Waaren ſolcher Perſonen.
Vgl. die Einleitung S. 40. Gegenwärtig noch hat die engliſche Regierung ſich nicht entſchließen können, das Völkerrecht von dieſem böſen Flecken reinigen zu helfen, wenngleich auch in England vorzüglich unter dem zunächſt betheiligten Handelsſtande der Grundſatz der Gleichſtellung des Rechts im See- wie im Landkrieg eine wachſende Zuſtimmung erhält. Die Reſolutionen des Bremer Handelsſtandes vom 2. Dec. 1859 (abgedruckt bei Heffter Anl. IX.) geben
(0384 : 362)
Achtes Buch.
dem richtigen modernen Princip folgenden beredten Ausdruck: „In Erwägung, daß die Unverletzlichkeit der Perſon und des Eigenthums die einzige Grundlage bildet, auf welcher der geiſtige und materielle Austauſch der Völker ſicher gedeihen, auf welcher Geſittung und Wohlſtand ſich frei entwickeln und ungefährdet in die entlegenſten Gebiete der Erde dringen können, daß deßhalb von allen Nationen, die eine Ehre darein ſetzen, als Vorkämpfer der Civiliſation zu gelten, dieſer Grundſatz auch im Kriege heilig gehalten werden ſollte;
„in Erwägung, daß dem zuwider völkerrechtlich im Seekrieg noch geſtattet wird, was am Lande ſelbſt als rohe Gewalt gebrandmarkt iſt, in friedlicher Ausübung ihres Berufes begriffene Privatperſonen ihrer Freiheit und ihres Eigenthums zu berauben, Handelsfahrzeuge nebſt ihrer Ladung wegzunehmen und zu zerſtören, ihre Mannſchaft gefangen zu halten;
„in fernerer Erwägung, daß das Unrecht dieſes Verfahrens bereits allſeitig in das Bewußtſein getreten, daß die von faſt ſämmtlichen Staten anerkannte Declaration des Pariſer Congreſſes vom 16. April 1856 einer richtigen Anſchauung Bahn zu brechen begonnen hat, daß ſie nicht nur die Intereſſen der Angehörigen neutraler Staten, daß ſie das Eigenthum ſelbſt der Angehörigen kriegführender Staten in dem Falle, wenn es ſich an Bord neutraler Schiffe befindet, in Schutz nimmt; daß in Folge theils dieſes Vorganges, theils des offenkundigen Wunſches mancher Regierungen, z. B. der Vereinigten Staten von Nordamerika, nach vollſtändiger Beſeitigung des eingewurzelten Unrechts die allſeitige Anerkennung des Anſpruchs von Handel und Schiffahrt treibenden Privatleuten auf Sicherheit für ſich und ihr Eigenthum, ſoweit ſie den Bedingungen des Krieges nicht entgegenhandeln, weſentlich erleichtert iſt;
„in Erwägung ſodann, daß dem gegenwärtig wieder zuſammentretenden Congreſſe der Europäiſchen Großmächte die Aufgabe nahe liegt, das begonnene Werk ſeiner Vorgänger zu vollenden und ſich durch völlige Verbannung der Willkür roherer Zeiten aus den Normen des Seerechts ein ſegensreiches und ewiges Andenken in den Annalen der Civiliſation zu ſtiften;
„in Erwägung endlich, daß zu dem Zwecke Alle, welche das eigene Intereſſe oder eine warme Theilnahme am Fortſchritte des Rechts zunächſt dazu antrieb, laut ihre Stimme erheben, und der eigenen Regierung, wie dem verſammelten Rathe der Nationen, das einſtimmige Urtheil der gebildeten Welt verkünden ſollten; „beſchließt die Verſammlung:
1. Die Unverletzlichkeit der Perſon und des Eigenthums in Kriegszeiten zur See, unter Ausdehnung auf die Angehörigen kriegführender Staten, ſoweit die Zwecke des Krieges ſie nicht nothwendig beſchränken, iſt eine unabweisliche Forderung des Rechtsbewußtſeins unſerer Zeit.
2. Ein Hoher Senat der freien Hanſeſtadt Bremen iſt angelegentlich zu erſuchen, dieſen Grundſatz vertreten und ſeine Durchführung, ſei es bei den verbündeten deutſchen Regierungen, ſei es bei den Mächten des Congreſſes, in Anregung bringen zu wollen.
3. Der gleichſtimmige Ausſpruch und die gleichſtimmige Einwirkung auf ihre Regierung von Seiten Aller, welchen die Durchführung jenes Grundſatzes im eigenen,
(0385 : 363)
Das Kriegsrecht.
wie im Intereſſe des Rechts und der Civiliſation am Herzen liegt, iſt möglichſt zu erſtreben.
4. Zur Ausführung dieſer Beſchlüſſe wird ein Comité niedergeſetzt, welches namentlich die Mittheilung derſelben an Einen Hohen Senat, an die Handelskammer, an die hier reſidirenden Conſuln anderer Staten und in ausgedehntem Maße an ſolche Kreiſe und Perſonen Deutſchlands und des Auslandes, die an der Wohlfahrt des Seeverkehrs eng betheiligt ſind, mit der Aufforderung übernehmen wird, in gleichem Sinne thätig ſein zu wollen“.
In dem deutſchen Kriege von 1866 verzichteten Preußen und Oeſterreich auf Priſen von Handelsſchiffen. Aber zu einer völkerrechtlichen Abſchaffung der Seebeute iſt es bis jetzt leider noch nicht gekommen, wenn gleich die Hoffnung wächſt, daß dieſelbe nicht mehr lange aufgehalten werden könne.
666.
Dieſes ſogenannte Seebeuterecht erſtreckt ſich nicht auf feindliches Privatgut im Lande, ſondern iſt beſchränkt auf die feindlichen Schiffe und das feindliche Gut in den Schiffen.
Gerade dieſer Gegenſatz der Behandlung zeigt, wie inconſequent das ganze Verfahren iſt. Die dem Angehörigen des feindlichen States zugehörige Kaufmannswaare iſt Gegenſtand der Seebeute, ſo lange ſie auf dem feindlichen Schiffe ſich befindet, aber noch nicht, bevor ſie auf das Schiff geladen iſt, und nicht mehr, wenn ſie aus dem Schiff ausgeladen iſt. Die Docks und Magazine der Seeſtädte ſichern die Waare vor der Beute, nur das Schiff nicht. Weßhalb nicht, das iſt durch die gewöhnlich angeführten Vorwände nicht zu erklären. Das Schiff iſt ja nur ein wandernder Theil des Landes; und inſofern es die Waaren aufnimmt und birgt, gleichſam ein ſchwimmendes Magazin. Es iſt daher unlogiſch, das Privateigenthum an der Waare zu ſchonen, wenn es auf feſtem Lande, und es als gute Beute zu behandeln, wenn es in einem Schiffe magazinirt iſt. Eher laſſen ſich Gründe dafür anführen, daß die Schiffe weggenommen werden, weil dieſe ihrer Natur nach auch der Kriegsführung dienen können, ſei es zum Transport der Truppen, ſei es geradezu zum Seekrieg ſelber. Die genommenen Schiffe ſind übrigens von dem Nehmer einem Priſengerichte zur Beurtheilung zu übermitteln. Vgl. unten Buch IX. Cap. 6.
667.
Die Fiſcherboote der Angehörigen des feindlichen States dürfen nicht als Priſe weggenommen werden.
In dieſer Ausnahme, welche die Kriegsſitte macht, und insbeſondere von den franzöſiſchen Gerichtshöfen in weiteſtem Umfang geſchützt wurde (vgl. Heffter
(0386 : 364)
Achtes Buch.
§ 137), bricht das natürliche Recht durch, welches zur allgemeinen Regel zu werden geeignet iſt. Wenn die Fiſcherboote zu kriegeriſchen Zwecken dienen, dann ſind ſie der Wegnahme ausgeſetzt, aber nicht, ſo lange ſie von dem friedlichen Berufe der Fiſcher benutzt werden.
668.
Auch auf geſtrandete Schiffe und geborgene Güter erſtreckt ſich das Priſenrecht nicht.
Freilich wenn das der Wegnahme ausgeſetzte Schiff auf der Flucht ſcheitert, ſo kann der Nehmer ſich noch desſelben bemächtigen.
669.
Die gute Kriegsſitte erfordert, daß die feindlichen Handelsſchiffe nicht mehr ſofort nach dem Ausbruch des Krieges durch unerwartete Wegnahme überraſcht, ſondern denſelben eine Friſt gewährt werde, innerhalb welcher ſie aus den feindlichen Häfen auslaufen und einen ſicheren Zufluchtsort aufſuchen können.
Vor dem Krieg iſt die Wegnahme nicht erlaubt, ſondern höchſtens die Beſchlagnahme (Embargo). Vgl. § 509. Aber es iſt offenbar ſehr hart, friedlich geſinnte Kauffahrer, ohne vorherige Warnung, am Tage der Kriegseröffnung, zu überfallen und ihre Schiffe und Ladung als Priſe wegzunehmen. Da ſträubt ſich das heutige Rechtsgefühl ſtärker gegen die Anwendung des alten Satzes, daß die Schiffe und Waaren der „Feinde“ der Confiscation verfallen. Ein völkerrechtlicher Fortſchritt der Art iſt vornehmlich in dem Ruſſiſchen Kriege von 1854 gemacht worden, indem die beiden Weſtmächte Frankreich und England den Ruſſiſchen Schiffen in ihrem Bereich eine Friſt von 6 Wochen gaben, um ſich und ihre Ladung in Sicherheit zu bringen. Man nennt dieſe Verſtattung Indult.
670.
Nach dem in Europa anerkannten Völkerrecht dürfen keine Kaperſchiffe mehr zur Seebeute ermächtigt werden.
1. Die Kriegsſitte der Seeſtaten hatte ſich nicht da mit begnügt, durch ihre Kriegsſchiffe den Handel der feindlichen Nation zur See möglichſt zu ſchädigen, zu berauben und zu unterdrücken. Sie ſuchte dieſe Gefährdung des Handels noch dadurch zu vergrößern, daß ſie die Raubſucht und den Haß der Privaten benutzte und
(0387 : 365)
Das Kriegsrecht.
Privatſchiffe ermächtigte, ebenfalls auf Seebeute auszufahren. Die Ermächtigung wurde durch ſogenannte Kaperbriefe (Lettres of Marque) gegeben, und dieſe legitimirten Raubſchiffe wurden Kaper genannt. Das Kaperſchiff erkannte zwar die Autorität des Admirals an, welcher die Kriegsflotte commandirte, aber es bildete doch nicht einen eigentlichen Beſtandtheil der Kriegsflotte, ſondern blieb eine Unternehmung der Freibeuter. Es war das ein Privatkrieg, welcher neben dem militäriſch geordneten Statskrieg herlief und die Garantien und Schranken der militäriſchen Ordnung abſtreifte. Zu der mittelalterlichen Kriegsführung paßte das noch, mit den humaneren Grundſätzen der modernen Welt kam es in ſchroffſten Widerſpruch.
2. Seit dem vorigen Jahrhundert wurden daher verſchiedene Verſuche gemacht, die Kaperei zu unterſagen. Zuerſt wurde in einem Vertrag, den Franklin als Geſandter der Vereinigten Staten von Nordamerika mit Preußen unter Friedrich dem Großen im Jahr 1785 abſchloß, beſtimmt, daß keine der beiden Mächte im Fall eines Krieges Kaperſchiffe ausrüſten dürfe zur Schädigung des feindlichen Handels. Aber auch dieſer Artikel wurde bei der Reviſion des Vertrags von 1795 nicht wieder aufgenommen (Wheaton, Elem. § 358). Die in den Zwanzigerjahren unſers Jahrhunderts erneuerten Unterhandlungen unter den Seemächten zur Abſchaffung der Kaperei waren erfolglos. Erſt auf dem Pariſer Congreß von 1856 kam am 16. April eine gemeinſame Erklärung der europäiſchen Mächte über das Seerecht in Kriegszeiten zu Stande, deren erſter Artikel lautet: „La course est et demeure abolie“. Die Erklärung wurde urſprünglich von den fünf europäiſchen Großmächten England, Frankreich, Oeſterreich, Preußen und Rußland, ſodann dem Königreich Sardinien (Italien) und der Türkei unterzeichnet, erhielt aber ſpäter auch die ausdrückliche Zuſtimmung der übrigen europäiſchen Staten und von manchen amerikaniſchen Staten. Offenbar enthält die Erklärung nicht eigentliches (conventionelles) Vertragsrecht, ſondern durch gemeinſame Anerkennung ausgeſprochenes nothwendiges (Geſetzes) Recht. Als europäiſches Völkerrecht iſt nun der Grundſatz anerkannt und kein europäiſcher Stat darf mehr davon zurücktreten und die alte Barbarei erneuern.
3. Der allgemeinen Anerkennung aber des Grundſatzes ſteht hauptſächlich noch im Weg, daß die Vereinigten Staten von Nordamerika ihre Zuſtimmung verſagten, und zwar nicht deßhalb, weil ſie die Kaperei guthießen, ſondern deßhalb, weil ihnen die Kaperei ſo lange als Nothwehr unentbehrlich ſchien, als nicht die Kriegsmarine ſelbſt auf die Seebeute gegen Kaufſchiffe verzichte. Sie fanden, daß die Seeſtaten mit ausgedehnter Handelsmarine und geringer Kriegsmarine durch die bloße Beſeitigung der Kaperei in eine höchſt ungünſtige Lage verſetzt werden gegen die Seeſtaten mit ſtarker Kriegsmarine, indem dieſe ihren Seehandel vernichten können, aber ſie ohne Hülfe von Privatſchiffen als Kapern nicht ebenſo den feindlichen Handel. Frankreich, Preußen, Italien und Rußland waren bereit, auf den Amerikaniſchen Verbeſſerungsvorſchlag einzugehen und die (widerrechtliche) Seebeute mit der Kaperei abzuſchaffen. Allein England ließ ſich noch nicht dazu herbei. In dem nordamerikaniſchen Bürgerkrieg 1861 gaben
(0388 : 366)
Achtes Buch.
die Südſtaten Kaperbriefe aus; aber fremde Schiffseigner ließen ſich, abgemahnt und gewarnt von ihren Regierungen, nicht darauf ein. Auch der Präſident der Union wurde vom Congreß dazu ermächtigt, aber er machte von ſeiner Vollmacht keinen Gebrauch (Wheaton, Elem. of int. law. § 359. Anm.).
671.
Auch inwiefern es noch durch die hergebrachte Uebung der Seemächte als geſtattet erſcheint, Seebeute zu machen, iſt das doch nach europäiſchem Völkerrecht nur wirklichen Kriegsſchiffen, die einen Beſtandtheil der Kriegsflotte bilden, erlaubt.
In der militäriſchen Unterordnung und Disciplin liegt eine gewiſſe Garantie gegen Exceſſe, welche bei Kaperſchiffen gänzlich fehlt. Vgl. im übrigen zu § 665. 670.
672.
Das genommene Schiff muß in der Regel dem Priſengericht des Nehmeſtats überliefert und von dieſem über die Rechtmäßigkeit der Priſe entſchieden werden.
Die Priſengerichte dienen zur Controle über die Ausübung des Seerechts in Kriegszeiten. Die Priſengerichtsbarkeit wird als Kriegsgerichtsbarkeit zur See betrachtet. Neutrale Staten haben keine Priſengerichte. Vgl. darüber unten Buch IX. Cap. 6. Die Beſetzung der Priſengerichte und das Verfahren vor denſelben iſt noch immer ſtatsrechtlich geordnet. Aber das Recht, welches ſie handhaben, iſt in erſter Linie völkerrechtlich. In der Regel ſollen die genommenen feindlichen Schiffe in einen Hafen des Nehmeſtats aufgebracht und da der Beurtheilung des Priſengerichtshofs unterworfen werden. Aber nicht immer iſt das möglich, beſonders nicht, wenn der Krieg in entlegenen Gewäſſern geführt wird. Dann müſſen dieſelben vorerſt in neutralen Häfen untergebracht werden, inſofern ſolches von neutralen Staten geſtattet wird. Unzuläſſig iſt es, die Zerſtörung des genommenen Schiffs damit zu entſchuldigen, daß die Häfen des Nehmeſtats blokirt ſeien und daher die Aufbringung desſelben dahin unmöglich geworden ſei. Der Mangel an Häfen dehnt nicht das Recht der Wegnahme aus. Nur die äußerſte Noth könnte die Zerſtörung rechtfertigen. Als Maxime iſt dieſelbe völkerrechtswidrig. Der nordamerikaniſche Bürgerkrieg von 1861—65 gab zur Erörterung dieſer Frage den Anlaß, indem ſüdſtatliche Kreuzer einen ſolchen Vernichtungszug gegen Kauffahrer des Nordens unternahmen. Vgl. Clark in dem Papers read before the Juridical society. London 1864.
(0389 : 367)
Das Kriegsrecht.
673.
Alle Seebeute gehört dem State, nicht der Mannſchaft des Nehmeſchiffs zu. Der Stat hat freies Verfügungsrecht darüber und kann den Nehmern einen beliebigen Antheil daran einräumen oder auch ganz auf die Annahme verzichten und Schiff und Waare wieder den Privatperſonen zuſtellen, welche — abgeſehen von dem Beuterecht — als die rechtmäßigen Eigenthümer derſelben anzuſehen ſind.
„Bello parta cedunt reipublicae“ (Bynkershoek). Auch in England gilt es vorzugsweiſe als ein Recht der Krone, frei über die Beute zu verfügen. Es iſt die Beute eine Folge des Kriegs und das Beuterecht eine Anwendung des Kriegsrechts. Der Kriegsherr entſcheidet hier, wie in andern Fällen der Kriegsleitung. Es iſt daher in ſeiner Macht, das erbeutete Schiff, wenn er ſolches aus humanen oder aus politiſchen Gründen für zweckmäßig erachtet, wieder frei und dem urſprünglichen Eigenthümer zurückzugeben, ohne daß der Schiffsmannſchaft, welche ihr Leben und ihre Arbeit daran geſetzt hat, dasſelbe zu erbeuten, ein Recht der Einſprache zuſteht. Vgl. die Urtheile der Lords Stowell und Brougham bei Phillimore III. § 128. Ebenſo kann er einen beliebigen Antheil an der Beute zur Belohnung der Mannſchaft des Nehmeſchiffs verwenden.
8. Verkehr und Verhandlungen unter den Kriegsparteien. Waffenruhe. Waffenſtillſtand. Capitulation.
674.
Jeder Verkehr zwiſchen den von den feindlichen Kriegsheeren beſetzten Gegenden iſt in der Regel unterſagt. Ausnahmen bedürfen der Genehmigung der Befehlshaber. Uebertretungen des Verbots werden je nach Umſtänden ſtrenge beſtraft.
1. Am. 86. Die ältere, von Bynkershoek (Quäſt. I. 3) vertretene, heute noch von Wildman, Wheaton, Phillimore vertheidigte Meinung geht viel weiter. Sie nimmt an, durch die Kriegseröffnung werde aller Verkehr zwiſchen den Ländern, die im Kriege ſind, grundſätzlich unterſagt. Dieſe Meinung wird damit erklärt, daß die eigenen Unterthanen durch die Kriegserklärung aufgefordert
(0390 : 368)
Achtes Buch.
werden, dem Feinde möglichſt viel Uebel zuzufügen und daß die patriotiſche Pflicht gebiete, mit dem Feinde ſeines Landes keine Gemeinſchaft zu pflegen. Indeſſen hat Bynkershoek ſelber zugleich darauf aufmerkſam gemacht, daß die Handelsintereſſen dem widerſtreben und daß deßhalb der Handel mit gewiſſen Waaren gewöhnlich erlaubt und nur bezüglich anderer Waaren verboten werde. Da der Verkehr meiſtens zweiſeitig iſt, ſo ſchädigt überdem der Abbruch alles internationalen Verkehrs nothwendig beide Nationen, und ſchon dieſe Erwägung der Folgen des Verbots läßt die Erlaſſung desſelben meiſtens als unzweckmäßig erſcheinen. Wäre jene Begründung an ſich richtig, daß man den Feind möglichſt ſchädigen ſoll, was ſie offenbar nicht iſt, ſo würde ſie doch in unſerm Falle nicht zutreffen, weil der ſich ſelber ins Fleiſch ſchneidet, der den Feind mit dieſer Waffe verwunden will. Der ganze Grundgedanke aber iſt falſch. Die Hemmung des Verkehrs verſteht ſich nur inſofern von ſelbſt, als ſie eine Bedingung oder Folge der Kriegsführung, nicht der Kriegserklärung iſt. Nur die militäriſchen Motive oder ausnahmsweiſe beſondere politiſche Motive können ſie rechtfertigen. Die erſtern werden in der Ausnahme vollkommen gewürdigt, die letztern bedürfen einer ſtatlichen Anordnung. Da die Privatperſonen einander nicht bekriegen, ſondern als Privaten mit einander im Frieden leben, ſo iſt nicht einzuſehn, weßhalb ſie nicht während des Kriegs mit einander den friedlichen Verkehr fortſetzen können, der für beide Nationen nützlich iſt und die Kriegsführung nicht gefährdet. Wenn der Bauer gewohnt war, über die Grenze zur nächſten Mühle zu fahren, oder Weinberge und Aecker jenſeits der Grenze beſitzt, weßhalb ſollte er nicht auch dann ſein Korn in jene Mühle fahren, oder hier Weinleſe und Ernte halten dürfen, ſolange ihm das nicht unterſagt wird. Auch dieſe Intereſſen der Wirthſchaft ſpielen hin und her in den Grenzgegenden. Die Intereſſen der Fabrication und des Handels wirken weiter und tiefer ins Land hinein, werden aber wieder durch einen Abbruch des Verkehrs gewöhnlich nach zwei Seiten hin geſchädigt. Die natürliche Rechtsregel iſt alſo nicht das Verbot, ſondern die Fortdauer des friedlichen Verkehrs.
2. Offenbar ſteht die Ausbreitung der entgegengeſetzten Regel bei den engliſchamerikaniſchen Schriftſtellern noch mit dem Princip in Verbindung, daß die Kauffahrteiſchiffe ſammt ihrer (feindlichen) Ladung der Seebeute ausgeſetzt ſind. Wird dieſe Seebeute endlich aufgegeben, dann wird die Unhaltbarkeit eines allgemeinen Handelsverbots auch zur See Jedermann einleuchten. Man wird dann auch zugeben, daß die Geſtattung des Seehandels, außer nach den blokirten feindlichen Häfen in dem Ruſſiſchen Kriege von 1854 (Wheaton Int. L. § 315 Anm.) nicht ein jus singulare iſt, ſondern den Aufgang eines humaneren Rechtsſatzes bedeutet. Vgl. Heffter § 132. 133.
3. Aber die Regel des Verkehrs erfordert eine Beſchränkung. So weit die Truppen wider einander im Felde ſtehn, muß der Verkehr zwiſchen den beſetzten Gebieten aufhören, denn ſeine Fortſetzung wird leicht zur Gefahr oder zum Hemmniß für die Truppen. Weder Reiſende noch Briefe, noch Waaren dürfen daher ohne Erlaubniß der Commandanten aus einem Gebiet in das andere hinüber. Dieſe hemmende Folge der Kriegsführung gilt als ſelbſtverſtändlich, weßhalb es gefährlich iſt, ohne militäriſchen Sicherheitspaß den Uebergang zu wagen. Ins-
(0391 : 369)
Das Kriegsrecht.
beſondere läuft der ſo Reiſende, wenn er offen verfährt, Gefahr, zurückgewieſen zu werden, und wenn er ſich heimlich durchzuſchleichen ſucht, Gefahr, verhaftet zu werden. Der Handelsmann iſt in Gefahr, daß ſeine Waaren mit Beſchlag belegt, oder gar zur Strafe confiscirt werden. Wenn damit überdem eine Verrätherei verbunden iſt, ſo kann eine ſchwerere Strafe, ſogar unter Umſtänden die Todesſtrafe verhängt werden.
4. Außerdem kann der kriegführende Stat auch in weiterem Umfange und überhaupt den Verkehr während des Kriegs verbieten, wenn er das für nothwendig erachtet, um den Krieg mit Nachdruck zu raſchem Ende zu führen. Nur verſteht ſich ſolche Allgemeinheit des Verbots nicht von ſelbſt. Iſt dasſelbe erlaſſen, dann können noch in Form von ſogenannten Licenzen (Erlaubnißſcheinen) für einzelne Perſonen und für gewiſſe Handels- oder Verkehrsbeziehungen Ausnahmen verſtattet werden.
675.
Militäriſche Sicherheitspäſſe für Perſonen und Geleitſcheine für Waaren werden von dem Befehlshaber der Truppen ausgeſtellt und ſichern das Recht der betreffenden Perſonen, die militäriſchen Linien ungehindert und ungefährdet zu paſſiren und der Frachtführer, die betreffenden Güter ebenſo durchzuführen. Sie beruhen nicht auf perſönlicher Ermächtigung, ſondern auf der Erlaubniß des Amts.
Dieſe Päſſe und Geleitſcheine beruhen im letzten Grund auf der Autorität der Kriegs- beziehungsweiſe Statsgewalt. Sie bedürfen aber den Verhältniſſen gemäß im Einzelnen der militäriſchen Controle. Es iſt je nach Umſtänden aus militäriſchen Gründen nothwendig, der Erlaubniß im einzelnen Falle keine weitere Folge zu geben, wenn Gefahr damit verbunden iſt. Auch die untern Befehlshaber ſind oft ermächtigt, ſolche Scheine auszuſtellen, ſo jedoch, daß der obere Befehlshaber deren Wirkſamkeit hemmen kann. Aber es wäre gegen die bona fides, wenn ein Schein nicht weiter geachtet würde, weil er von einem Befehlshaber ausgeſtellt worden iſt, der vielleicht nicht mehr am Leben oder doch durch eine andere Perſon inzwiſchen im Commando erſetzt worden iſt. Die Erlaubniß iſt nicht von der Perſon, ſondern von der amtlichen Stellung und Vollmacht deſſen abhängig, welcher ſie gegeben hat.
676.
Der Sicherheitspaß gilt lediglich für die Perſon, welche darin genannt iſt, und iſt nicht übertragbar.
Der Geleitſchein für den Güterverkehr iſt übertragbar, inſofern nicht gegen die Perſon des Frachtfuhrmanns beſondere Bedenken vorhanden ſind.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 24
(0392 : 370)
Achtes Buch.
Sicherheitspäſſe dürfen daher nicht an andere Perſonen zum Gebrauche überlaſſen werden. Wenn eine politiſch oder militäriſch gefährliche Perſon als Frachtfuhrmann verwendet wird, um mit Hülfe des Geleitſcheins in dieſer Verkleidung ins feindliche Lager ſich hinüber zu retten und er wird entdeckt und trotz des Geleitſcheins arretirt, ſo kann er ſich nicht über einen Treubruch beklagen, ſondern liegt im Gegentheil ein je nach Umſtänden, insbeſondere wenn Spionerei oder Verrätherei beabſichtigt iſt (vgl. § 683), kriegsgerichtlich zu beſtrafender Mißbrauch jener Erlaubniß vor. Wohl kann aber der Paß außer der benannten Perſon auch ihre Familie, Dienerſchaft, Gefolge, Geſellſchaft, wenn das angedeutet iſt, ſchirmen. Nur darf auch hier nicht damit ſo Mißbrauch getrieben werden, daß Perſonen, welche für gefährlicher betrachtet werden, als der genannte Paßinhaber, unter die allgemeine Formel verſteckt werden.
677.
Die Wirkſamkeit des Sicherheitspaſſes und des Geleitſcheins reicht ſoweit als die militäriſche Gewalt des Heeres reicht, alſo je nach Umſtänden in feindliches Gebiet hinein, aber nicht über jenen Bereich hinaus.
Dieſe Urkunden beruhen auf militäriſcher Autorität und können daher nur innerhalb der Grenzen wirken, in denen dieſelbe Gehorſam findet, nicht aber in Gegenden Beachtung erwarten, in denen die feindliche Kriegsgewalt herrſcht.
678.
Iſt der Paß nur auf eine beſtimmte Zeitfriſt ertheilt, ſo erliſcht ſeine Wirkſamkeit mit dem Ablauf der Zeitfriſt. Wenn jedoch der Träger des Paſſes ohne ſeine Schuld durch höhere Gewalt verhindert war, durch das beſetzte Gebiet hindurch zu kommen, ſo wird er zwar nicht durch den Buchſtaben der Erlaubniß, aber durch ihren Geiſt ſoweit geſchützt, als es die Umſtände geſtatten.
In allen Fällen iſt die bona fides zu berückſichtigen. Gerade in Kriegszeiten können ſich dem Vollzug einer vielleicht auf wenige Tage oder ſogar auf eine Anzahl Stunden beſchränkten Durchreiſe durch die Linien des Heeres ſo viele unerwartete Hinderniſſe entgegenſetzen, daß es durchaus unbillig wäre, die Zeitbeſchränkung ohne Rückſicht auf ſolche Zufälle nach dem Wortlaute der Urkunde auszulegen.
679.
Auch während des Kriegs und auch dem Feinde gegenüber ſind Verſprechen und Verträge in gutem Glauben zu halten, und das von
(0393 : 371)
Das Kriegsrecht.
dem Feinde erhaltene Vertrauen nicht zu mißbrauchen. Insbeſondere gilt das von den Cartelverträgen, welche zwiſchen den Befehlshabern feindlicher Truppen über Päſſe und Couriere, über den Poſt- und Telegraphenverkehr, über das Begräbniß der Todten, über die Bezeichnung und Behandlung der Parlamentärs, über die Behandlung oder Auswechſelung oder den Loskauf von Kriegsgefangenen verabredet werden.
Die Rechtsgültigkeit und völkerrechtliche Verbindlichkeit der im Kriege abgeſchloſſenen Verträge iſt eine der wichtigſten Beſchränkungen der verderblichen Wildheit des Kriegs. Ohne dieſelbe würden die kriegeriſchen Leidenſchaften zügellos walten und der Krieg ſich nicht in einen geſicherten Friedenszuſtand verwandeln können. Das Princip: „Etiam hosti fides servanda“ iſt ſchon im Alterthum anerkannt worden. Vgl. oben zu § 550. Das Kanoniſche Recht hat dasſelbe ebenfalls der Chriſtenheit im Mittelalter eingeſchärft. Dec. Grat. II. Causa 23. Qu. 1. c. 3 (Auguſtinus): „Fides enim quando promittitur, etiam hosti servanda est, contra quem bellum geritur, quanto magis amico, pro quo pregnatur? Pacem habere debet voluntas, bellum necessitas, ut liberet Deus a necessitate et conservet in pace. Non enim pax quaeritur, ut bellum excitetur, sed bellum geritur, ut pax acquiratur“.
Der Inhalt ſolcher Cartelverträge iſt ſo mannigfaltig, als die Bedürfniſſe der kriegführenden Parteien Befriedigung verlangen und Anerkennung des Gegners erwarten.
680.
Die Cartelſchiffe genießen auf dem Hin- und Rückweg den Schutz des Völkerrechts. Indeſſen iſt ihre Mannſchaft verpflichtet, ſich inzwiſchen aller Handlungen der Feindſeligkeit zu enthalten und auch keinen durch das Kriegsrecht unterſagten Verkehr zu treiben.
Die Cartelſchiffe machen ſich ſelber zunächſt als ſolche kenntlich, können aber nur inſofern auf Achtung rechnen, als ſie bona fide die vertragsmäßige Unterhandlung einleiten oder die Uebereinkunft ausführen. Vgl. Phillimore III. § 112.
681.
Die Parlamentäre d. h. die Perſonen, welche im Auftrag einer Kriegspartei bei den Truppen der andern erſcheinen zum Behuf der Unterhandlung mit dem Befehlshaber derſelben über Kriegsverträge, werden
24*
(0394 : 372)
Achtes Buch.
durch die Parlamentärflagge oder Fahne bezeichnet und genießen den Schutz des Völkerrechts.
Die Parlamentäre ſind keine Geſante, weil ſie nicht von der Statsgewalt und nicht zu Stellvertretern derſelben ernannt ſind, aber ſie dienen als Boten der Kriegsparteien doch dazu, den Verkehr zwiſchen beiden in einzelnen Fällen und zu beſtimmten Zwecken neu anzuknüpfen und eine Uebereinkunft der Gegner einzuleiten oder abzuſchließen. Inſofern haben ſie eine ähnlich privilegirte Stellung. Sie dürfen nicht zu Kriegsgefangenen gemacht, ſondern es muß ihnen freie und möglichſt ſichere Rückkehr geſtattet werden.
682.
Der Befehlshaber der beſendeten Truppen iſt jedoch nicht verpflichtet, unter allen Umſtänden und jederzeit einen feindlichen Parlamentär zuzuzulaſſen und anzuhören und er iſt berechtigt, Vorſicht zu gebrauchen und Maßregeln zu treffen, damit der feindliche Parlamentär nicht ſeine Anweſenheit zum Nachtheil der Kriegsführung benutze.
683.
Wenn es entdeckt und unzweifelhaft erwieſen wird, daß der Parlamentär ſeine privilegirte Stellung mißbraucht hat, um militäriſche Spionerei zu betreiben oder gefährliche Verſchwörungen und Verrath anzuſtiften, ſo verliert er den Anſpruch auf völkerrechtlichen Schutz und kann kriegsrechtlich beſtraft werden. Aber es bedarf eines völlig ſicheren, jedermann erkennbaren Beweiſes der Schuld, damit nicht die Verurtheilung als Verletzung des Völkerrechts betrachtet werde.
Am. 114. Der Parlamentär darf wohl, ohne Verletzung des Völkerrechts, ſtrenge überwacht und von jedem weitern Verkehr, als mit dem beſendeten Befehlshaber abgeſperrt werden. In manchen Fällen werden ihm die Augen verbunden, damit er nicht Dinge wahrnehme, welche man vor dem Feinde verbergen will. Denn iſt er einmal wieder zurückgekehrt, ſo iſt er durch Nichts verhindert, über Alles zu berichten, was er wahrgenommen hat.
684.
Wird der Träger einer Parlamentärflagge unverſehens während eines Gefechtes verwundet oder getödtet, ſo gibt das keinen Grund zur
(0395 : 373)
Das Kriegsrecht.
völkerrechtlichen Beſchwerde. Das bloße Erſcheinen der Parlamentärflagge bedingt für ſich allein nicht nothwendig das Einſtellen des Feuers.
Am. 113. 116. Abſichtliche Verwundung oder Tödtung des ſichtbaren Parlamentärs iſt eine ſchwere Verletzung des Völkerrechts (681). Die Truppen müſſen es daher vermeiden, auf ihn zu ſchießen. Aber während des Kampfes gibt es keine völlige Sicherheit. Wenn keinerlei mala fides mitwirkt, ſondern nur ein unglücklicher Zufall ihn trifft, ſo darf man dieſen dem Feind nicht als Rechtsbruch zur Laſt legen. In vielen und ſogar den meiſten Fällen wird das Feuer überhaupt eingeſtellt, wenn das Erſcheinen der Parlamentärflagge oder zu Land die Ankunft eines Parlamentärs auf die Neigung ſchließen läßt, zu verhandeln, öfter ſogar auf die Abſicht des Feindes, ſich zu ergeben. Aber würde man genöthigt, in allen Fällen, ſobald ein Parlamentär ſich zeigt, den Kampf abzubrechen, ſo würde vielleicht der entſcheidende Moment des Sieges unbenutzt vorübergehen und der Sieg ſelbſt wieder verloren oder die Verfolgung gelähmt werden. In ſolchen Fällen darf die Annahme des Parlamentärs verweigert oder trotz der Unterhandlung mit demſelben der Kampf durchgeführt werden.
685.
Es iſt gute Kriegsſitte, die Spitäler und je nach Umſtänden auch andere beſonders geheiligte Orte mit Schutzfahnen von beſonderer Farbe zu bezeichnen, damit ſie eher von dem feindlichen Feuer geſchont werden.
Am. 115. Nur für die Spitäler iſt das als völkerrechtliche Pflicht durch die Genfer Convention vorgeſchrieben. Vgl. oben § 592. Aber ähnliche Rückſichten der Humanität können auch eine beſondere Rückſicht empfehlen. Immer aber gilt es für eine ſchlechte und entehrende Handlung, wenn der Feind durch Ausſtecken einer Schutzfahne, ohne innern Grund, zu täuſchen und etwa gar ſeine Angriffsſtellung vorläufig beſſer zu ſichern ſucht. Solche Täuſchung berechtigt den Gegner, der feindlichen Schutzfahnen nicht weiter zu achten und Repreſſalien zu nehmen. Am. 117.
686.
Es kann auch von der feindlichen Kriegsgewalt ein beſonderer Schutz bewilligt und je nach Umſtänden können von ihr Schutzwachen oder Schutzbriefe gewährt werden, damit Perſonen und Sachen, z. B. wiſſenſchaftliche Sammlungen und Kunſtwerke vor der kriegeriſchen Beſchädigung oder Gefährdung gewahrt bleiben. Auch ſolche Schutzgebote ſind in guter Treue zu beachten.
(0396 : 374)
Achtes Buch.
Am. 118. Es iſt das beſonders wichtig bei der Erſtürmung einer Stadt oder eines befeſtigten Platzes, und kann je nach Umſtänden auch einzelnen angeſehenen Perſonen zu Gute kommen. Schon im Alterthum kommen manche Beiſpiele der Art vor. Damals hatten ſolche Privilegien noch mehr als gegenwärtig zu bedeuten, weil die heutige Kriegsführung überhaupt friedliche Perſonen und ihr Vermögen weit weniger gefährdet, als die antike.
687.
Wenn die beiderſeitigen Befehlshaber über eine zeitweiſe und örtliche Waffenruhe übereingekommen ſind, ſo haben die beiderſeitigen Truppen inzwiſchen in guter Treue ſich jeder Feindſeligkeit zu enthalten.
Solche Waffenruhe wird gewöhnlich durch Parlamentäre begehrt und zugeſtanden, oder gemeinſam verabredet. Es geſchieht das z. B. zum Behuf der ungeſtörten Beerdigung der auf dem Schlachtfeld gebliebenen Krieger, oder im Intereſſe der Feier eines Gottesdienſtes, oder auch um weitere Unterhandlungen über einen Waffenſtillſtand oder Frieden zu pflegen u. ſ. f. Die bloß ſtillſchweigend eintretende Waffenruhe iſt zwar möglich, aber wenig geſichert, weil ſie nicht den Charakter eines Vertrags hat. An und für ſich berechtigt eine religiöſe Feier keineswegs, auf Waffenruhe zu ſchließen. Die Kriegsgeſchichte iſt voll von Beiſpielen, daß an ſolchen Feſttagen der Kampf begonnen wurde, und das Völkerrecht hindert das nicht. Im Mittelalter hemmte der Gottesfriede (treuga Dei) die Fortſetzung des Kampfes unter den chriſtlichen Völkern. Das ganze Inſtitut aber, welches aufgekommen war, um die wilden, nie raſtenden Fehden einigermaßen zu beſchränken, iſt im Mittelalter ſelber wieder außer Uebung gekommen, als die Fehden verſchwanden und nur der große Krieg noch als Ausnahmszuſtand den regelmäßigen Frieden unterbrach.
688.
Ein eigentlicher und allgemeiner Waffenſtillſtand (trève), welcher auf längere Zeit zur Einleitung des Friedens abgeſchloſſen wird, bedarf in der Regel der Genehmigung der oberſten Statsgewalt. Die Ermächtigung zum Abſchluß kann indeſſen auch einem diplomatiſchen Vertreter oder dem Feldherrn übertragen werden.
1. Der Waffenſtillſtand im eigentlichen Sinne iſt ein Act der Souveränetät im eigentlichen und vollen Sinn, analog dem Friedensſchluß, und kann daher nicht von untergeordneten Befehlshabern unternommen werden. Allerdings gelten auch dieſe, inwiefern ihnen ein relativ ſelbſtändiges Commando übertragen iſt, durch ihre Stellung für ermächtigt, im Nothfall und beſonders in ent-
(0397 : 375)
Das Kriegsrecht.
legenen Gegenden ſelbſt eine längere Waffenruhe abzuſchließen, deren Wirkung dann aber auf die betreffende Gegend beſchränkt iſt. Zuweilen werden auch ſolche Waffenruhen beſondere Waffenſtillſtände genannt, im Gegenſatze zu den allgemeinen. Indeſſen iſt es zweckmäßiger, jenen Ausdruck auf die Acte zu beſchränken, welche die Fortſetzung der kriegeriſchen Action überhaupt von Stat zu Stat hemmen und nicht bloß an beſchränkten Stellen und zwiſchen einzelnen Truppenkörpern.
2. Die Zeit, auf welche der Waffenſtillſtand abgeſchloſſen wird, iſt entweder eine beſtimmte — bis zu einem Termin, auf eine Anzahl Wochen oder Monate oder Jahre — oder eine unbeſtimmte bis zur Kündigung.
689.
Die bloß vorübergehende und örtliche Waffenruhe und ebenſo der uneigentliche und beſondere Waffenſtillſtand wirken nur in dem bezeichneten oder als maßgebend vorausgeſetzten Gebietsumfang, und für die daſelbſt befindlichen oder da erſcheinenden Truppen, nicht aber für andere Kriegsfelder und die dortigen Truppen.
Der eigentliche und allgemeine Waffenſtillſtand dagegen wirkt überhaupt und überall verbindlich für die beiden Kriegsparteien und ihre Angehörigen.
Jene Waffenruhe und der beſondere Waffenſtillſtand ſind weſentlich militäriſche Maßregeln, der allgemeine Waffenſtillſtand iſt weſentlich ein Statsact. Die Wirkung der erſtern iſt daher begrenzt durch die beſondere Oertlichkeit, z. B. die Beſchießung einer Feſtung wird eingeſtellt, die Fortſetzung einer Schlacht oder die feindliche Verfolgung wird abgebrochen, der feindliche Einmarſch macht an einer beſtimmten Linie Halt u. dgl. Die Wirkung des letztern erſtreckt ſich auf das ganze Land und die offene See. Soweit die Statsmacht reicht, werden die Feindſeligkeiten eingeſtellt. Der allgemeine Waffenſtillſtand iſt noch nicht der Friede, aber er hemmt die Gewalt des Krieges vollſtändig und bereitet den Frieden ernſtlich vor.
690.
Die Befehlshaber ſind verpflichtet, ſo ſchnell als möglich von dem Abſchluß des Waffenſtillſtands allen Truppen Kenntniß zu geben, und dadurch das Aufhören der Feindſeligkeiten zu bewirken. Wenn in gutem Glauben, daß der Krieg ungehemmt fortdauere, von einzelnen entlegenen Truppenkörpern der Kampf nach dem Abſchluß fortgeſetzt wird, ſo kann das nicht als Verletzung des Waffenſtillſtands betrachtet werden.
(0398 : 376)
Achtes Buch.
Es iſt möglich, daß die Truppen der einen Partei früher unterrichtet werden, als die der andern Partei, welche vielleicht von ihrem Hauptquartier abgeſchnitten iſt. In ſolchen Fällen ſind jene veranlaßt, dieſen davon Anzeige zu machen, aber auch dieſe veranlaßt, die Wahrheit der Anzeige ſorgfältig zu prüfen, bevor ſie derſelben Glauben ſchenken. Es gilt in allen dieſen Beziehungen nur die Eine durchgreifende Regel der bona fides.
691.
Während der Waffenruhe und des Waffenſtillſtands iſt jede Partei berechtigt innerhalb des von ihr beſetzten Gebietes Alles das zu thun, was ſie im Frieden thun dürfte, ausgenommen ſolche auf die Kriegsführung bezügliche Handlungen, welche der Feind, wenn der Kampf fortdauerte, zu verhindern veranlaßt wäre. Sie darf daher außerhalb des eigentlichen Kampffeldes neue Rüſtungen vornehmen, und Plätze befeſtigen, aber ſie darf nicht innerhalb desſelben neue militäriſche Stellungen beziehen, oder einen Rückzug der Truppen ausführen, noch in dem Bereich der feindlichen Geſchütze neue Werke anlegen oder die zerſtörten Werke wiederherſtellen, ſei es zum Angriff, ſei es zur Vertheidigung. Sie darf auch nicht einen Aufſtand erregen in dem von den feindlichen Truppen beſetzten Gebiet, noch die Einwohner zur Uebergabe einladen.
Die Wirkungen der Waffenruhe und des Waffenſtillſtandes ſind weſentlich negativ. Sie hemmen die kriegeriſche Action. Es darf alſo voraus nicht mehr gekämpft werden, das Feuer wird eingeſtellt. Es muß überhaupt jeder Angriff unterlaſſen werden; auch die Vorwärtsmärſche auf feindlichem Gebiet werden eingeſtellt. Schwieriger aber iſt es, zu beſtimmen, ob und welche Vertheidigungsmaßregeln ebenfalls zu unterlaſſen ſind, denn auch das iſt kriegeriſche Action, welche der Gegner zu hindern das größte Intereſſe hat, und welche er je nach ſeiner Macht verhindern könnte, wenigſtens zu verhindern verſuchen würde, wenn der Kampf fortgeſetzt würde. Der Waffenſtillſtand allein hält ihn zurück, entgegenzuwirken. Eben deßhalb darf auch der Gegner ſolche Handlungen inzwiſchen nicht vornehmen; denn dürfte dieſer ſie unter dem Schutze des Waffenſtillſtands ungefährdet vollziehen, ſo würde der Waffenſtillſtand nicht gleichmäßig beide Parteien zur Ruhe verweiſen, ſondern die eine begünſtigen und die andere benachtheiligen. Wenn alſo z. B. das eine Heer eine neue günſtigere Stellung vor dem Feind beziehen und vielleicht befeſtigen wollte, was der Feind, wenn der Kampf fortgeſetzt würde, verhindern könnte, ſo wäre das nicht Waffenruhe, ſondern eine militäriſche Action, welche vielleicht für den erneuerten Kampf entſcheidend würde. Wenn ferner bei der Belagerung einer Feſtung bereits eine Breſche geſchoſſen und der vorbereitete Sturm durch eine Waffenruhe verſchoben wird, ſo darf der Belagerte nicht während derſelben zum Nachtheil der Belagerer die Breſche
(0399 : 377)
Das Kriegsrecht.
wieder ſchließen und neue Werke erbauen, denn wäre die Waffenruhe nicht eingetreten, ſo könnte der Belagerte dieſe Ausbeſſerung durch ſeine Geſchütze verhindern. Ebenſo wenig darf der Belagerte inzwiſchen neue Truppen in die Feſtung werfen, deren Anmarſch ohne die Waffenruhe der Feind zu verhindern verſuchte. Dagegen wirkt die Ruhe immerhin ſtärkend für beide Theile, inſofern ſie ſich dabei von der Anſtrengung des Kampfs erholen. Auch iſt keine Partei gehindert, fern von dem eigentlichen Kriegsſchauplatz, wo daher eine Behinderung durch Feindesgewalt zunächſt nicht möglich wäre, Truppen auszuheben, zu ſammeln, zum Kriege vorzubereiten. Ausführliche Erörterungen darüber hat Vattel III. § 245 ff.
692.
In der Zwiſchenzeit darf die Kriegspartei wohl Plätze in Beſitz nehmen, welche von dem Feinde aufgegeben ſind, aber nicht, was nur zufällig von demſelben nicht beſetzt oder verwahrt iſt.
Vattel § 252: „C’est une hostilité que d’enlever à l’ennemi ce qu’il prétend retenir“.
693.
Ob es während des Waffenſtillſtandes den Bewohnern geſtattet ſei, unbeläſtigt hin und her zu gehen zwiſchen den beiderſeits beſetzten Gebieten und den Verkehr zu erneuern, hängt theils von den Umſtänden ab, unter denen derſelbe geſchloſſen worden iſt, theils von der Erlaubniß oder dem Verbot der Kriegsgewalt. Bei dauernden und allgemeinen Waffenſtillſtänden wird die Freiheit des Verkehrs vermuthet.
Nur der allgemeine auf eine längere Zeit abgeſchloſſene Waffenſtillſtand iſt ein Bild des Friedens, und daher im Zweifel der friedliche Verkehr während desſelben überall geſtattet. Bei einer kurzen, zu beſtimmten Zwecken abgeſchloſſenen Waffenruhe ſtehen oft die militäriſchen Rückſichten auf die mögliche und oft ſogar wahrſcheinliche Erneuerung des Kampfs dieſer Freigebung des Verkehrs zwiſchen den beiden von Truppen beſetzten Gebieten im Wege.
694.
Geht die Friſt zu Ende ohne Stundung der Waffenruhe, oder ohne Erneuerung des Waffenſtillſtandes oder ohne Friedensſchluß, ſo bedarf es keiner Kündigung, ſondern können die Feindſeligkeiten ſofort wieder aufgenommen und fortgeſetzt werden.
Die Friſtbeſtimmung beſchränkt die Dauer der Waffenruhe und des Waffenſtillſtands. Iſt die Friſt abgelaufen, ſo hört damit die Wirkſamkeit der Ver-
(0400 : 378)
Achtes Buch.
abredung auf. Wenn dagegen ein Waffenſtillſtand auf unbeſtimmte Zeit abgeſchloſſen worden iſt, ſo überwiegt hier die friedliche Stimmung ſo ſehr und ähnelt derſelbe dem Frieden ſo ſehr, daß hier eine brüske Erneuerung des Kampfes unſtatthaft iſt.
695.
Wenn eine Partei die ſelbſtverſtändlichen oder die ausdrücklichen Bedingungen der Waffenruhe oder des Waffenſtillſtandes mißachtet und denſelben zuwiderhandelt, ſo iſt auch die Gegenpartei nicht weiter an die Uebereinkunft gebunden und kann den Krieg auch ohne vorherige Kündigung erneuern und fortſetzen, es wäre denn, daß der Vertrag anders beſtimmte.
Dieſe Regel folgt aus der Natur des Waffenſtillſtands, welcher nur Hemmung des Kriegs iſt. Wenn eine Partei während desſelben Handlungen der Feindſeligkeit begeht, ſo bricht ſie den Waffenſtillſtand, und hat daher kein Recht mehr zu erwarten, daß der Gegner ſeinerſeits den Fortbeſtand desſelben achte. Freilich kann dieſe Regel leicht mißbraucht werden. Die Frage nämlich, ob eine Partei durch irgend eine Maßregel den Waffenſtillſtand gebrochen habe, kann zweifelhaft ſein; und da es keinen unparteiiſchen Richter gibt, welcher dieſelbe rechtskräftig entſcheidet, ſo kann eine Partei, welche den Krieg zu erneuern wünſcht, die Klage, daß die andere Partei zuvor den Waffenſtillſtand gebrochen habe, zum Vorwande nehmen, um ihren Vertragsbruch zu verdecken. Die öffentliche Meinung, welche bisher allein in ſolchen Fällen zu Gericht ſitzt, hält ſich an das Erforderniß der bona fides.
696.
Die Verletzung der Waffenruhe oder des Waffenſtillſtandes durch eine Privatperſon, welche ohne Statsauftrag handelt und deren Handlung auch nicht von der Kriegsgewalt gutgeheißen oder begünſtigt wird, rechtfertigt nur die Forderung ihrer Beſtrafung und der Entſchädigung, aber nicht die ſofortige Erneuerung der Feindſeligkeiten.
Auch wenn die Staten, beziehungsweiſe ihre Heere den Waffenſtillſtand ernſtlich und treu halten wollen, ſo können doch Private, vielleicht in der Abſicht den Krieg wieder zu entzünden, Handlungen der Feindſeligkeit begehn, z. B. einen Raubzug unternehmen, Gefangene machen und wegſchleppen, einzelne Feinde tödten u. ſ. f. Für derlei Handlungen wird der Stat nur inſofern verantwortlich, als er ſie entweder hervorruft oder ſchützt und obwohl er es ſollte, nicht
(0401 : 379)
Das Kriegsrecht.
verhindert. Vgl. oben § 466. Mit Rückſicht auf die Gefahr des Kriegs wird in ſolchen Fällen aber ein ernſtes Einſchreiten des Stats gegen ſolche böswillige Verletzer der Waffenruhe oder des Waffenſtillſtandes gefordert. Wird dasſelbe verzögert oder vernachläſſigt, ſo wird das ſchon als Begünſtigung der That gedeutet und dieſe iſt in ihren Wirkungen dem Vertragsbruch des States ſelber gleich zu achten.
697.
Capitulation bedeutet die Ergebung eines Truppenkörpers oder Kriegsſchiffs oder die Uebergabe eines bedrohten Platzes an die feindliche Kriegsmacht. Die Capitulation kann unter Bedingungen und mit beſondern Vorbehalten geſchehen, z. B. wenn nicht binnen einer Friſt Entſatztruppen erſcheinen, oder mit Vorbehalt freien Abzugs der Beſatzung. Völkerrecht und Kriegsehre fordern, daß dieſe Verabredungen in guter Treue gehalten werden.
1. Die Capitulation wird meiſt in der Abſicht geſchloſſen, durch Aufgeben eines erfolgloſen Kampfes unnützes Blutvergießen zu verhindern. Dieſe Abſicht wird durch Aufhiſſen einer weißen Flagge oder Aufſtecken einer weißen Fahne dem Gegner angezeigt, und dann gewöhnlich durch Parlamentäre über die Capitulationsbedingungen unterhandelt.
2. Die Kriegsgeſchichte kennt leider manche Beiſpiele, daß die Capitulationsbedingungen von dem Sieger nicht beachtet wurden. Aber in allen Zeiten hat der Rechtsſinn der öffentlichen Meinung ſolchen Treubruch verurtheilt. Schlimm iſt es freilich, daß Beſchwerden darüber, die ihrer Natur nach völkerrechtlich ſind, nur auf den mangelhaften und in Kriegszeiten überdem höchſt unſichern Schutz des Völkerrechts angewieſen ſind. Vgl. Phillimore III. § 122.
698.
Die Uebergabe auf Gnade und Ungnade berechtigt den Sieger nicht mehr, die Uebergebenen zu tödten, wohl aber die Truppen, welche ſich ergeben haben, kriegsgefangen zu machen.
Die bedingungsloſe Capitulation wird von Alters her ſo benannt. Das ältere barbariſche Recht ſicherte den Uebergebenen nicht einmal das nackte Leben. Das heutige humanere Völkerrecht erkennt dem Sieger kein ſolches vermeintliches jus vitae ac necis mehr zu. Vgl. oben zu 568. 579. 584.
699.
Der Befehlshaber der feindlichen Truppen, welche einen Platz be-
(0402 : 380)
Achtes Buch.
drohen oder belagern, gilt als ermächtigt, die Capitulationsbedingungen zu bewilligen, ſoweit dabei die perſönliche Freiheit und das Eigenthum der Truppen und der Bewohner des capitulirenden Platzes betheiligt erſcheinen, oder es ſich um militäriſche Maßregeln handelt. Er darf aber nicht eigenmächtig Zugeſtändniſſe machen, welche ſich auf die politiſche Verfaſſung und Verwaltung des Ortes beziehen.
Der Grund dieſer Unterſcheidung liegt einerſeits in den militäriſchen Befugniſſen des Befehlshabers, Alles das zu thun, was zum Behuf der eigentlichen Kriegsführung nöthig und zweckmäßig erſcheint, andrerſeits in der politiſchen Statsgewalt, welche nicht an das Militärcommando übertragen iſt. Es iſt freilich für die Ehre und den Credit eines Stats ſehr bedenklich, wenn ein Obergeneral politiſche Zuſicherungen macht, welche nachher der Stat nicht zu erfüllen geneigt iſt. Ein bekannter Fall der Art aus unſerm Jahrhundert iſt das unerfüllt gebliebene Verſprechen des Lord Bentinck im Jahr 1814, die Unabhängigkeit und Freiheit Genua’s anzuerkennen, während ſchließlich die engliſche Regierung die Stadt dem Königreich Piemont zuerkannte. Vgl. darüber Phillimore III. § 123 (Rede von Sir James Mackintoſh gegen ſolchen Treubruch). Vattel III. § 262.
9. Beendigung des Kriegs. Friedensſchluß.
700.
Der Krieg kann thatſächlich aufhören und ohne Friedensvertrag dadurch in den Friedenszuſtand übergehen, daß die Feindſeligkeiten nicht fortgeſetzt werden und der friedliche Verkehr wieder beginnt.
Der thatſächliche Beſitzſtand zur Zeit wenn der Krieg aufhört, wird ſodann als Grundlage des Friedenszuſtandes betrachtet.
In dieſem Falle iſt immerhin der Zeitpunkt, in welchem der Krieg aufgehört hat und der Friede wieder beginnt, unſicher. Nur allmählich ſtellt ſich das Gefühl der Sicherheit wieder ein, wie z. B. nach dem Kriege zwiſchen Schweden und Polen 1716. Ebenſo iſt auch die Streitfrage, die zum Kriege geführt hat, gewöhnlich nicht klar entſchieden, ſondern es behält jede Partei ihre urſprüngliche Rechtsbehauptung ſich vor, ſoweit nicht durch die im Krieg herbeigeführten Thatſachen der Streit eine factiſche Erledigung gefunden hat und nun durch das Aufgeben des Kampfs und
(0403 : 381)
Das Kriegsrecht.
den erneuerten Frieden anerkannt wird. Soweit alſo eine thatſächliche Umgeſtaltung der Dinge unangefochten fortdauert, ſoweit gilt der status quo post bellum res sunt. Abgeſehen davon aber iſt der status quo ante bellum res fuerunt als maßgebend zu betrachten.
701.
Der Krieg kann durch Unterwerfung des beſiegten Feindes unter den Sieger beendigt werden. Bleibt die beſiegte Partei auch nachher noch als Stat fortbeſtehen, ſo werden die auferlegten Friedensbedingungen wie ein Friedensvertrag betrachtet. Hört dieſelbe auf, ein Stat für ſich zu ſein, ſo kommen die Grundſätze der Erweiterung des Statsgebiets beziehungsweiſe der Vereinigung verſchiedener Statsgebiete zur Anwendung. Die Eroberung begründet erſt in Folge der Ergebung oder des Friedensvertrages einen neuen friedlichen Rechtszuſtand.
Vgl. oben zu § 287. 289.
702.
Der Sieger kann in Folge der Unterwerfung des Beſiegten keine andere Rechte über Land und Leute erwerben, als welche in der Natur der Statsgewalt und der öffentlichen Rechtsordnung ihre Begründung und Schranke finden. Die Statsgewalt geht auf ihn über, aber nicht mehr als die Statsgewalt.
Es folgt das aus dem heutigen Begriffe des Stats, welcher nicht abſolute Gewalt über Perſonen und Eigenthum bedeutet, ſondern nur öffentlich-rechtliche und inſofern verfaſſungsmäßige Gewalt. Die Privatperſonen und ihre Familien haben eine Exiſtenz für ſich, über welche der Stat nicht willkürlich verfügen darf. Ebenſo iſt die Kirche nicht Statsſache. Das Alterthum dachte darüber anders, wie auch die alt-römiſche Deditionsformel zeigt: Livius I. 37. „Rex interrogativ: Estisne vos legati oratoresqus missi a populo Collatino, ut vos populumque Collatinum dederitis? Sumus. Estne populus Collatinus in sua potestate? Est. Deditisne nos, populum Collatinum, urbem, agros, aquam, terminos, delubra, utensilia, divina, humanaque omnia in meam populique Romani deditionem? Dedimus. At ego recipio“. Der antike Statsbegriff iſt allumfaſſend und abſolut. Der moderne Statsbegriff dagegen iſt im Gegenſatz zu der Kirche auf die politiſche Volksgemeinſchaft und mit Beachtung des Privatrechts und der Privatfreiheit auf das öffentliche Recht beſchränkt, alſo relativ. Vgl. Bluntſchli Allg. Statsrecht S. 51. 64.
(0404 : 382)
Achtes Buch.
703.
Der Krieg wird regelmäßig beendigt durch den Friedensſchluß, d. h. durch einen Vertrag zwiſchen den kriegführenden Staten, welcher die Bedingungen und Beſtimmungen des erneuerten Friedenszuſtandes feſtſetzt.
Der Friedensvertrag iſt eine völkerrechtliche Rechtshandlung, welche den Kriegszuſtand abſchließt und den Friedenszuſtand erneuert. Er verkündet der Welt, woran ſie iſt. Die feindliche Geſinnung freilich kann er nicht ſofort heilen, noch den Glauben an befeſtigte Zuſtände ſchaffen, aber das Rechtsverhältniß bringt er zur Klarheit und bezeichnet genau den Unterſchied der beiden Rechtszuſtände.
704.
Die Uebermacht des Siegers hindert nicht die Gültigkeit des Friedensſchluſſes, wohl aber der äußere Zwang gegen den bevollmächtigten Vertreter der Kriegspartei, welche über den Frieden unterhandelt.
Vgl. oben § 408.
705.
Das Verfaſſungsrecht der einzelnen Staten entſcheidet über die Frage, wer und unter welchen Bedingungen er berechtigt ſei, Frieden gültig abzuſchließen. Das Völkerrecht vermuthet, daß der jeweilige Träger der oberſten Statsgewalt kraft ſeiner Repräſentativbefugniß dazu berechtigt ſei. Wenn derſelbe aber nach dem in anerkannter Wirkſamkeit beſtehenden Statsrecht ſeines Landes der Zuſtimmung der Volksvertretung oder eines andern politiſchen Körpers bedarf, um wirkſamen Frieden zu ſchließen, ſo iſt dieſe Beſchränkung auch völkerrechtlich zu beachten und die Rechtsgültigkeit und die Ausführbarkeit des Friedenſchluſſes ſo lange in Frage geſtellt, als nicht die nothwendige Zuſtimmung hinzutritt, oder in Folge der Verfaſſungsänderung als entbehrlich hinwegfällt. Indeſſen erfordert der gute Glaube und die Rückſicht des Völkerrechts auf die mögliche Beſchränkung des Kriegszuſtandes, daß auch inzwiſchen von Seite der Träger der Statsgewalt nichts gethan, angeordnet oder zugelaſſen werde, was geeignet iſt, die hinterherige Gutheißung des von ihnen vorläufig verabredeten Friedensvertrags zu erſchweren oder zu verhindern.
(0405 : 383)
Das Kriegsrecht.
1. Die Eröffnung der Friedensunterhandlung kann durch eine der beiden Kriegsparteien ſelber geſchehen, oder durch eine neutrale Macht, welche entweder ihre guten Dienſte oder ihre Vermittlung anbietet. Vgl. oben § 483 f. Auch im letzten Fall kann der Friedesabſchluß unmittelbar von den Kriegsparteien vollzogen werden, damit der Vermittler nicht einen Vorwand zu ſpäterer Einmiſchung erhalte.
2. Ein Fürſt, welcher durch den Krieg aus dem Lande verdrängt worden iſt und keine thatſächliche Gewalt mehr im Lande hat, iſt nicht mehr berechtigt, das Land zu repräſentiren, ſondern kann nur über ſeine dynaſtiſchen Rechte oder ſeine Anſprüche auf Wiedereinſetzung in die Gewalt, an dem Friedensſchluß ſich betheiligen (§ 118). Es mag unter Umſtänden für den Sieger erwünſcht und nützlich ſein, ſich mit ihm friedlich zu verſtändigen, um ſpätern Verwicklungen vorzubeugen, aber der Friede kann auch ohne dieſen Verzicht vollſtändig hergeſtellt ſein. Aehnlich verhält es ſich mit den Anſprüchen einer aus dem Lande vertriebenen republikaniſchen Regierung.
3. In den meiſten Monarchien wird das Recht, Frieden zu ſchließen, als ein Recht der Krone betrachtet, ſo jedoch, daß diejenigen Beſtimmungen des Friedens, welche dem Lande Laſten auferlegen oder das beſtehende Verfaſſungs- oder Geſetzesrecht ändern, der Zuſtimmung der Kammern bedürfen, damit ſie im Lande anerkannt und ausführbar werden. In vielen Fällen wird ſich dieſe Zuſtimmung aber als bloße Ratihabition des bereits Vollzogenen darſtellen, indem die Noth und das Bedürfniß, von den Gefahren und Leiden des Kriegs befreit zu werden, vorher ſchon zum Vollzug der im Frieden gemachten Zugeſtändniſſe treibt. Nach dem Bundesrecht der Vereinigten Staten bedarf der Friedensvertrag, um gültig zu werden, der Genehmigung des Präſidenten und der Zuſtimmung des Senats (nicht beider Häuſer des Congreſſes), nach dem der ſchweizeriſchen Eidgenoſſenſchaft eines Beſchluſſes der Bundesverſammlung.
706.
Wird in dem Friedensſchluß ein Theil des Statsgebietes abgetreten, ſo gilt die Abtretung nach Völkerrecht als rechtsgültig, wenn gleich die Verfaſſung des abtretenden Landes die Abtretung unterſagt, inſofern der Stat ſeinen Widerſtand nicht fortſetzt, ſondern thatſächlich den Frieden vollzieht und die feindliche Beſitznahme gewähren läßt.
In vielen Statsverfaſſungen wird das ganze Statsgebiet als einheitlich und unveräußerlich erklärt und ſo jede Abtretung eines Stücks desſelben unterſagt. Würde dieſe Beſchränkung der Regierung und der Kammern als abſolute Regel auch bei den Friedensſchlüſſen feſtgehalten, ſo wäre in manchen Fällen überhaupt kein Friede möglich, weil der Sieger auf die Abtretung nicht verzichtet und der Beſiegte ſie nicht gewähren könnte. Es müßte alſo der Krieg bis zur Vernichtung des Stats ſelber durchgeführt werden. Dadurch aber würde nicht bloß jene Verfaſſungs-
(0406 : 384)
Achtes Buch.
beſtimmung, ſondern mit der Exiſtenz des beſiegten Stats ſelbſt auch deſſen ganze Verfaſſung zerſtört. Die Noth zwingt daher, unter Umſtänden trotz jenes ſtatsrechtlichen Hinderniſſes die Abtretung zu vollziehen, und das Völkerrecht erkennt dieſen Vollzug als nothwendig und demgemäß als rechtmäßig an, im Intereſſe der Beendigung des Kriegs und der Herſtellung des Friedens.
707.
Die Abtretung gibt der erwerbenden Statsgewalt alle Rechte, welche die abtretende Statsgewalt gehabt hat, aber nicht mehr Rechte.
Das öffentliche Recht der Bevölkerung und des Landes wird durch die Abtretung nicht aufgehoben, ſondern nur inſofern und inſoweit geändert, als der neue Verband mit einem andern Stat eine Aenderung nöthig macht. Im Uebrigen dauert es fort.
Vgl. oben § 701. 702. Die Verſetzung der Centralgewalt an eine andere Stelle und die Verbindung des abgetretenen Gebiets mit einem andern State ſind freilich ſo entſcheidende Umgeſtaltungen, daß ſie gewöhnlich eine gründliche und weit wirkende Veränderung der Verfaſſung in jenem Gebiete nach ſich ziehen. Immer iſt hier der Uebergang aus dem einen Recht in das andere ſchwierig und kaum anders, als durch eine vorübergehende Ausnahmsgewalt (Dictatur) der erwerbenden Statsgewalt auszugleichen. Das Völkerrecht ſpricht nur die Regel aus, daß nicht das bisherige öffentliche Recht (in Gemeinden, Körperſchaften, Aemtern, Gerichten, politiſchen Freiheiten u. ſ. f.) durch den bloßen Act der Abtretung erlöſche, ſondern daß dasſelbe im Gegentheil, ſoweit die Einheit des neuen Statenverbands und die Nothwendigkeit der öffentlichen Verhältniſſe es verſtatten, erhalten bleibe. Die Vermuthung ſpricht für die Fortdauer, die Umänderung bedarf einer Anordnung der neuen Statsgewalt.
708.
Der Friedensſchluß beendigt mit dem Kriege auch den bisherigen Rechtsſtreit unter den kriegführenden Staten. Es dürfen nach demſelben keine weitern Feindſeligkeiten geübt werden. Die Wirkſamkeit des Kriegsrechts hört auf und das Friedensrecht tritt wieder ein.
1. Der Friede beendigt auch dann den Rechtsſtreit, welcher zum Kriege geführt hat, wenn er über denſelben keine ausdrückliche Entſcheidung trifft. Die anfängliche Beſchwerde darf nicht nochmals zur Urſache eines zweiten Kriegs gemacht werden. Vgl. unten 709. 713. Wheaton Int. Law. § 544.
2. Die Beendigung des Kriegsrechts muß ſofort eintreten, inſoweit dasſelbe zu feindlichen Handlungen ermächtigt. Aber es können nicht ebenſo auf den
(0407 : 385)
Das Kriegsrecht.
Tag alle Wirkungen der erſchienenen Kriegsgewalt abgebrochen werden. Wenn das Heer zur Zeit des Friedensſchluſſes ſich in Feindesland befindet, ſo bedarf es zum Wegzug einiger Zeit und kann inzwiſchen die Maßregeln ſeiner Sicherheit nicht aufgeben. Es gibt alſo auch hier Uebergänge, welche das gänzliche Erlöſchen des Ausnahmszuſtandes möglich machen. In allen dieſen Beziehungen verlangt das Völkerrecht bona fides in der Ausführung des Friedens.
709.
Wenn nach Abſchluß des Friedens durch einzelne Heeresabtheilungen, wenn auch in gutem Glauben, weil ſie noch nicht von dem Friedensſchluß Kenntniß hatten, feindliche Handlungen verübt worden ſind, ſo iſt der Zuſtand, wie er vor denſelben geweſen iſt, ſoweit möglich wieder herzuſtellen, beziehungsweiſe Entſchädigung zu leiſten.
Der Friede iſt verbindlich für die kriegführenden Staten und daher auch für ihre Heere, und ihre Statsangehörigen. Hugo Grotius III. 20. § 32: „Est enim pax actus civitatis pro toto et pro partibus“. Wenn daher einzelne Truppenkörper, ohne den Frieden zu kennen, noch eine Stadt oder eine Feſtung einnehmen, ſo müſſen ſie dieſelbe wieder räumen. Ebenſo wenn nachher noch feindliche Schiffe als Priſe genommen werden, ſo ſind dieſelben wieder frei zu laſſen.
710.
Mit dem Friedensſchluß iſt die Regel der Amneſtie verbunden, ſoweit nicht beſondere Vorbehalte eine Ausnahme begründen, d. h. es wird in der Regel keine weitere Klage geſtattet wegen Schädigungen und Unbilden, welche von den Angehörigen einer Kriegspartei wider die Angehörigen der andern Partei während des Kriegs verübt worden ſind.
1. Die Amneſtie iſt nothwendig, damit das Gefühl des Friedens ſich befeſtige. Würde es geſtattet, den Streit fortzuſetzen, ſo wäre immer wieder die Gefahr da, daß die Parteien neuerdings zu den Waffen griffen und der Krieg wieder entflammt würde. Wenn auch die Klagen über erlittene Unbill oder Schädigung zunächſt gegen einzelne feindliche Perſonen gerichtet würden, ſo iſt doch hinter dieſen der Stat, für den ſie kämpften. Je weniger die Kriegsführung den normalen Rechtszuſtänden entſpricht, und je gewaltſamer ſie vorgeht, um ſo leichter iſt hier Streit und um ſo öfter ſind Klagen veranlaßt. Dieſen Streit und dieſe Klagen will die Amneſtie mit Vergeſſenheit zur Ruhe bringen. In vielen Friedensverträgen wird ſie ausdrücklich vorbehalten, in andern ſtillſchweigend als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt. Z. B. Wiener Congreßakte von 1815 Art. XI.: „Amnistie générale en
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 25
(0408 : 386)
Achtes Buch.
Pologne. Il y aura amnistie pleine, générale et particulière en faveur de tous les individus de quelque rang, sexe, ou condition qu’ils puissent être“ und ausführlicher Art. XXII.: Amnistie générale en Saxe. Aucun individu domicilié dans les Provinces qui se trouvent sous la domination de Sa Majesté le Roi de Saxe ne pourra, non plus qu’aucun individu domicilié dans celles qui passent par le présent Traité sous la domination de Sa Majesté le Roi de Prusse, être frappé dans sa personne, dans ses biens, rentes, pensions et revenus de tout genre, dans son rang et ses dignités, ni poursuivi ni recherché en aucune façon quelconque pour aucune part qu’il ait pu politiquement ou militairement prendre aux évènements qui ont eu lieu depuis le commencement de la guerre terminèe par la paix conclue à Paris le 30 Mai 1814“.
2. Die Gründe der Amneſtie, welche immerhin die regelmäßigen Rechtsgrundſätze in der Anwendung erheblich beſchränkt, liegt nur in der Rückſicht auf die exceptionelle Natur des Kriegs und in dem allgemeinen Friedensbedürfniß. Dieſelbe darf daher nicht darüber hinaus auch auf Zerſtörung ſolcher Klagen wirken, welche mit dem Kriege nichts zu ſchaffen haben und deren Durchführung den Frieden nicht gefährdet.
Dahin gehören:
a) privatrechtliche Klagen aus Rechtsgeſchäften, z. B. Lieferungsverträgen oder Gelddarlehen, Loskauf von Gefangenen, welche während des Kriegs abgeſchloſſen worden ſind,
b) privatrechtliche Klagen, welche aus einem ältern, vor dem Kriege abgeſchloſſenen Rechtsgeſchäft ſich ergeben,
c) privatrechtliche Klagen, welche aus einem Rechtsgrunde abgeleitet ſind, welche keinen Bezug auf die Kriegsführung hat und nicht zu den Handlungen feindlicher Parteileidenſchaft gehört.
Vgl. Wheaton Int. Law. § 544. Heffter § 180.
711.
Die Amneſtie begreift in der Regel auch die Miſſethaten — Verwundungen, Tödtungen, Mißhandlungen, Schädigungen des Eigenthums, Plünderung —, die von Kriegsleuten verübt worden, aber während des Kriegs nicht kriegsrechtlich zur Rechenſchaft gezogen worden ſind.
Die Ausſicht auf die künftige Amneſtie iſt freilich für die Rechtsſicherheit ſehr bedenklich. Die Privaten haben deßhalb gegen militäriſche Exceſſe faſt keinen andern Rechtsſchutz, als den die militäriſche Disciplin und die Kriegsgerichte gewähren. Die Strafe, welche die Kriegsgerichte verhängen, wird aber durch die Amneſtie nicht beſeitigt. Gewöhnlich ſchützt die Amneſtie auch die andern Perſonen, außer den Kriegsleuten, welche ſich einer Rechtsverletzung aus Parteileidenſchaft ſchuldig gemacht haben.
(0409 : 387)
Das Kriegsrecht.
712.
Soweit jedoch der Stat wegen im Krieg und ſelbſt von Kriegsleuten verübter Verletzungen, die weder durch das Kriegsrecht noch durch den civiliſirten Kriegsgebrauch gerechtfertigt oder entſchuldigt werden, ſondern als gemeine Verbrechen ſtrafbar ſind, die Rechtsverfolgung gegen ſeine Angehörigen geſtattet, findet jene Amneſtie keine Anwendung.
In der Praxis wird die Amneſtie oft in weiterem Umfange gewährt, als ſich durch die Rückſicht auf ihre Gründe rechtfertigen läßt. Es beſteht kein Rechtsgrund, weßhalb gemeiner Diebſtahl, eine Brandſtiftung aus bloßer Privatrache oder Bosheit ungeſtraft bleiben ſollten, wenn der Stat, dem die Verbrecher angehören, anerkennt, daß dieſe Verbrechen ſich auch durch die Parteileidenſchaften im Krieg gar nicht entſchuldigen laſſen und ihre Verfolgung und Beſtrafung in keiner Weiſe den Frieden gefährde. Die übermäßige Ausdehnung der Amneſtie erklärt ſich theilweiſe aus der älteren, nun als irrthümlich erkannten Anſicht, daß der Krieg alles Recht der feindlichen Nation verneine, und eine Rückkehr in den ſogenannten Urzuſtand der Rechtloſigkeit begründe. Seitdem das Völkerrecht anerkennt, daß auch im Kriege das Recht fortdauere, ſollte es wirkſamer als bisher für Beſtrafung gemeiner Verbrechen ſorgen, damit die Privatperſonen beſſern Schutz für ihre perſönlichen und Vermögensrechte erhalten.
713.
Die Amneſtie bezieht ſich nicht auf Rechtsverletzungen, die vor dem Kriege verübt worden ſind und mit der Kriegsurſache in keiner Beziehung ſtehen, ebenſo wenig auf Rechtsverletzungen, welche während des Kriegs auf neutralem Gebiete von Angehörigen der kriegführenden Staten wider einander verübt worden ſind.
1. In den erſtern Fällen gereicht weder die feindliche Erregtheit den Thätern zu einiger Entſchuldigung, noch kommt die Rückſicht auf den Frieden denſelben zu Statten. Wenn z. B. die Verfolgung eines Diebes oder Betrügers oder Mörders wegen des Krieges eingeſtellt werden mußte, ſo kann dieſelbe nach dem Friedensſchluß wieder erneuert werden.
2. In den zweiten Fällen kommt zwar den Thätern der mildernde Umſtand zu Statten, daß ſie vielleicht aus Parteieifer gehandelt haben; aber der neutrale Stat, welcher keine Gewaltthat auf ſeinem Gebiete duldet, wird dieſelben dennoch mit Recht, trotz der Amneſtie verfolgen, weil ſie ſeine Friedensordnung mißachtet haben.
25*
(0410 : 388)
Achtes Buch.
714.
Aller frühere Streit wird durch den Frieden geſchlichtet und alle frühern Verletzungen und Beleidigungen werden der Vergeſſenheit überliefert. Ein neuer Krieg darf nur durch neue Kriegsurſachen begründet werden.
Vgl. oben § 708.
715.
Der öffentliche Beſitzſtand zur Zeit des Friedensſchluſſes wird, ſoweit nicht darin abweichende Beſtimmungen getroffen ſind, als Grundlage der erneuerten Friedensordnung betrachtet. Jeder Theil behält das Gebiet nunmehr zu Recht, das er beſitzt.
1. Der Friedensvertrag kann auch eine andere Grundlage des neuen Friedensſtandes feſtſetzen. Sehr oft greift man auf den Rechtszuſtand vor dem Ausbruch des Krieges zurück und ſtellt denſelben wieder her. Es iſt das der ſogenannte Status quo ante bellum sc. res fuerunt. Wenn das aber nicht geſchehen iſt, ſo wird der gegenwärtige Beſitzſtand, d. h. der Status, quo bellum res reliquit als Grundlage angenommen. Man bezeichnet dieſen Grundſatz auch in Erinnerung an das Interdict des römiſchen Prätors zum Schutz des Beſitzes eines Grundſtücks gegen gewaltſame oder ſonſt rechtswidrige Störung als Uti possidetis. Dieſe Bezeichnung iſt freilich ungenau, theils weil es ſich hier nicht um privatrechtlichen Grundbeſitz, ſondern um ſtatsrechtliche Gebietshoheit handelt, theils weil das römiſche Interdict nur den Beſitz ſchützt (als interdictum retinendae possessionis), der völkerrechtliche Friedensſchluß dagegen nicht bloß Beſitzverhältniſſe regulirt, ſondern auf deren Grundlage die Rechtsverhältniſſe von neuem ordnet oder befeſtigt. Erſt durch den Frieden wird die Eroberung und die gewaltſame Einverleibung aus einem Beſitzſtand in einen Rechtsſtand umgewandelt. Vgl. oben § 50 u. 545.
716.
Die Kriegsgefangenſchaft erliſcht von Rechtswegen mit dem Friedensſchluß, indem dieſelbe nur aus Kriegsrecht und nur als Kriegsmittel geübt wird.
Vorbehalten bleiben die Maßregeln ſowohl einer geordneten Uebergabe und Entlaſſung der vormaligen Gefangenen als der Sorge für Bezahlung der Schulden, welche dieſelben contrahirt haben.
(0411 : 389)
Das Kriegsrecht.
Vgl. oben § 593 ff. Unter Umſtänden wäre es gefährlich, die Kriegsgefangenen ohne weitere Disciplin und Aufſicht frei zu geben, es wird daher nöthig, ſie unter militäriſcher Zucht der Heimat zuzuführen.
717.
Von dem Zeitpunkte des Friedensſchluſſes an dürfen in fremdem Gebiete keine Kriegsſteuern und Requiſitionen mehr auferlegt, noch die rückſtändigen eingefordert werden.
Es iſt das eine nothwendige Rechtsfolge des Friedens, welcher die weitere Bethätigung des Kriegsrechts hemmt. Wäre noch eine Contribution oder Requiſition erhoben worden, bevor das Commando den Friedensſchluß gekannt hat, ſo ſind die Gelder zurückzuerſtatten und die bezogenen Naturalgegenſtände zu vergüten.
718.
Diejenigen Vertragsverhältniſſe unter den Staten, deren Wirkſamkeit während des Kriegs ſuspendirt war, treten wiederum von Rechtswegen in Wirkſamkeit, inſofern ſie nicht entweder durch den Friedensſchluß abgeändert werden oder Dinge betreffen, welche durch den Krieg aufgelöst oder umgewandelt worden ſind.
1. Vgl. oben § 538. Einzelne Publiciſten nehmen an, die frühern Verträge werden überhaupt nur inſofern wieder wirkſam, als ſie ausdrücklich neu bekräftigt worden ſeien. Es iſt das die entgegengeſetzte Vermuthung. Dieſe Meinung iſt enge mit dem Irrthum verwachſen, daß der Krieg alle älteren Rechtsverhältniſſe unter den Staten gänzlich auflöſe. Der Friede iſt aber nicht der Anfang eines ganz neuen Rechtszuſtands, ſondern nur ein Knotenpunkt in der Geſchichte, nicht eine urſprüngliche neue Rechtsſchöpfung, ſondern eine Entwicklungsphaſe der Fortbildung des Rechts. Daher ſtellt der Friede die Verbindung wieder her mit dem vorübergehend durch den Krieg geſtörten Rechtszuſtand.
2. Wenn der Friedensvertrag ſich über die Erneuerung der früheren Verträge ausſpricht, oder Abänderungen derſelben feſtſetzt, ſo iſt natürlich dieſe Beſtimmung entſcheidend. Die Zweifel, was Rechtens ſei, erheben ſich nur, wenn der Friedensvertrag darüber Stillſchweigen beobachtet. Darüber kann leicht Streit entſtehen, weil der eine Stat das Stillſchweigen anders auslegt als der andere. Ein bekannter Rechtsſtreit der Art fand zwiſchen England und den Vereinigten Staten von Nordamerika Statt über die Fiſcherei an den engliſchamerikaniſchen Küſtengewäſſern. Durch den Vertrag von 1783 hatte England den Fiſchern aus den Vereinigten Staten die „Freiheit“ zugeſtanden, gleich den engliſchen
(0412 : 390)
Achtes Buch.
Fiſchern an den engliſchen Küſten in Amerika die Fiſcherei auszuüben, und auch die unbeſetzten Buchten und Häfen zu benutzen. In dem Frieden von Gent von 1814 war dieſer Vertrag mit Stillſchweigen übergangen worden. Die engliſche Regierung behauptete nun, daß durch den Krieg jenes Zugeſtändniß, das die Natur eines Privilegiums habe, erloſchen und im Frieden nicht wieder erneuert worden ſei. Die Regierung der Vereinigten Staten dagegen behauptete, daß jener Vertrag nur einen ältern beſtehenden Rechtszuſtand anerkannt und nicht ſinguläres Recht geſchaffen habe und daher auch nicht im Krieg untergegangen, vielmehr im Frieden zu ungehemmter Wirkſamkeit gelangt ſei. Schließlich wurde in dem Vertrag von 1818 der Streit dadurch ausgeglichen, daß innerhalb beſtimmter geographiſcher Grenzen die Fiſcherei an der engliſchen Küſte in Amerika den Fiſchern aus den Vereinigten Staten geſtattet wurde. Vgl. die ausführliche Darſtellung bei Wheaton, Intern. Law. § 269 — 274.
3. Sollen die früheren Verträge definitiv außer Wirkſamkeit bleiben, ſo müſſen dafür beſondere Gründe angeführt werden.
Solche Gründe ſind:
a) daß ihr Inhalt mit den Friedensbeſtimmungen nicht vereinbar ſei. Z. B. Aeltere Grenzverträge gelten fort, inſofern die Grenze durch den Frieden nicht verändert worden iſt und ſind erloſchen, ſoweit die Grenze eine andere geworden iſt;
b) daß der frühere Vertrag der Natur der Sache durch den Krieg nicht bloß in ſeiner Wirkſamkeit gehemmt, ſondern aufgelöst worden ſei. Z. B. Ein Allianzvertrag zwiſchen den beiden Staten, welche ſich bekriegt und durch den Krieg die Allianz gelöst haben. Es bedarf eines neuen Vertrags, wenn der alte Vertrag zerſtört iſt, und es genügt nicht die Beſeitigung des Hinderniſſes ſeiner Wirkſamkeit.
Heffter § 181 fügt bei: „Vertragsverpflichtungen, deren Erfüllung erſt noch in Zukunft geſchehen ſollte, wo alſo noch eine Willensänderung in Betreff der übernommenen Verpflichtung möglich war“. Ich ſehe den Grund dafür nicht ein; denn der abgeſchloſſene Vertrag gilt fort, auch wenn der Wille eines Contrahenten ſich ändern ſollte. Wenn z. B. der Stat A mit dem Stat B einen Vertrag ſchloß über gemeinſame Herſtellung einer Eiſenbahn oder Brücke, und bevor der Bau vollzogen iſt, ein Krieg zwiſchen ihnen ausbricht, ſo wird die Ausführung wohl während des Kriegs gehemmt, aber es ſteht der Erfüllung im wieder gewonnenen Frieden Nichts mehr im Wege. Nur die Zeitfriſt wird mit Rückſicht auf die in Abrechnung fallende Zeit des Kriegs erſtreckt werden müſſen.
719.
Wird in dem Friedensvertrage die Rückgabe des im Kriege eingenommenen Gebietes verſprochen, ſo wird als Meinung der Vertragsparteien angenommen, daß das Rechtsverhältniß der Gebietshoheit wieder anerkannt ſei, wie es vor der feindlichen Beſitznahme geweſen war, und
(0413 : 391)
Das Kriegsrecht.
daß das Land in dem thatſächlichen Zuſtande zurückgegeben werde, wie er zur Zeit des Friedensſchluſſes beſchaffen iſt.
Die Beſitznahme im Krieg hatte die urſprüngliche Gebietshoheit nicht zerſtört, ſondern nur unwirkſam gemacht und in Frage geſtellt. Der Friede ſtellt ihre Wirkſamkeit wieder her. Natürlich nicht als eine neue, ſondern als die alte Statsgewalt und daher mit Beachtung der verfaſſungsmäßigen Rechte und Zuſtände. Aber eine vollſtändige Wiederherſtellung auch des thatſächlichen Zuſtands iſt nicht möglich und nicht gerechtfertigt, denn die thatſächlichen Aenderungen des Kriegs müſſen als eine Folge des Kriegs hingenommen werden.
720.
Für allfällige Beſchädigung während des Kriegs und während der feindlichen Beſitznahme iſt keine Entſchädigung zu leiſten, aber es darf nun auch keine weitere Beſchädigung vorgenommen werden. Für die inzwiſchen von der Kriegsgewalt erhobenen Einkünfte und Leiſtungen iſt kein Erſatz zu leiſten, aber es dürfen nun auch die öffentlichen Caſſen nicht weiter von dem Zwiſchenbeſitzer ausgebeutet werden, ſondern ſind zur Verfügung der berechtigten Statsgewalt zu ſtellen.
Vgl. zu § 644 ff.
721.
Auch für Verwendungen, welche der Beſitzer inzwiſchen gemacht hat, iſt kein Erſatz zu leiſten, wenn ſolcher nicht in dem Friedensvertrage vorbehalten wird.
Wohl aber kann derſelbe wegnehmen, was er auf ſeine Koſten hinzugefügt hat, z. B. neue befeſtigte Werke und den Zuſtand wieder herſtellen, wie er vor ſeiner Verwendung geweſen iſt.
Wenn der Beſitzer Bauten gemacht hat — z. B. er hat einen Spital gebaut oder neue Feſtungswerke angelegt, die bisherigen Werke reparirt u. ſ. f. — ſo darf er dafür keine Entſchädigung fordern. Er hat inzwiſchen kraft der Kriegshoheit gehandelt und Erſatzklagen ſind für die Kriegszeit im Frieden nicht zuläſſig, es wäre denn, daß im Friedensſchluß Entſchädigung verſprochen worden wäre.
722.
Wird einfach Rückgabe eines Gebietes verabredet, ſo ſind auch die
(0414 : 392)
Achtes Buch.
dazu gehörigen Archive, Documente, Acten u. ſ. f. zurückzugeben, auch wenn dieſelben inzwiſchen von dem Sieger weggeführt worden ſind.
Das Archiv gehört zum Land, gleichſam als Zubehörde, wie die Hausſchriften zum Haus. Die natürliche Beziehung derſelben, ſowie der einzelnen Urkunden und Actenſtücke zu den Rechtsverhältniſſen des Landes und der Verwaltung der Statshoheit iſt hier ſo enge und ſo ſtark, daß das Hoheitsrecht jene Gegenſtände anzieht und das Recht auf dieſe aus jenem Rechte folgt.
723.
Die Rückgabe anderer feindlicher Kriegsbeute, ſelbſt der wiſſenſchaftlichen und künſtleriſchen Sammlungen und der Denkmäler, die vor dem Friedensſchluß weggebracht worden ſind, verſteht ſich nicht von ſelber, ſondern iſt vertragsmäßig zu beſtimmen.
Vgl. oben § 650.
724.
Der Vollzug der Friedensbeſtimmungen ſoll ſofort, d. h. ſobald es nach den Umſtänden möglich iſt, und in guten Treuen geſchehn.
1. Erſt die Ratification macht den Vertrag perfect. Erſt von dieſem Tage an kann daher der Vollzug rechtlich gefordert werden. Gewöhnlich haben aber die Feindſeligkeiten ſchon vorher aufgehört, während der Friedensverhandlung, die durch einen Waffenſtillſtand eingeleitet worden iſt.
2. Oft enthält der Friedensvertrag auch genaue Termine für den Vollzug der Friedensbeſtimmungen, z. B. für die Räumung eines beſetzten Gebietes.
3. In allen Fällen aber gilt die Regel eines möglichſt raſchen Vollzugs, damit der Nothſtand des Kriegs ſobald als möglich dem normalen Zuſtand des Friedens weiche.
725.
Wird der Friedensſchluß, bevor er vollzogen iſt, wieder gebrochen, ſei es durch thatſächliche Erneuerung der Feindſeligkeiten, ſei es indem der Vollzug verweigert oder verhindert wird, oder dem Vertrag offenbar entgegengehandelt wird, ſo iſt die andere Partei berechtigt, ſofort den Krieg fortzuſetzen und zu handeln, wie wenn kein Friedensvertrag abgeſchloſſen
(0415 : 393)
Das Kriegsrecht.
worden wäre. Die unmögliche Erfüllung gilt nicht als Bruch des Friedensſchluſſes.
1. Das Völkerrecht unterſcheidet zwiſchen dem Friedensbruch und der Verletzung der im Friedensvertrag anerkannten oder durch denſelben begründeten Rechte. Der Friedensbruch kann nur in der erſten Zeit nach dem Friedensſchluß und bevor der Friede zu beiderſeitiger Geltung gelangt iſt, geſchehen. In dieſem Stadium des Uebergangs aus dem Kriegszuſtand in den Friedenszuſtand gefährdet der Friedensbruch die ganze Exiſtenz des Friedens und berechtigt die verletzte Partei, den Frieden als unwirkſam zu betrachten und demgemäß den Krieg fortzuſetzen, bis es zu einem neuen und dann durchgeführten Friedensſchluß kommt. Wird aber der Krieg, trotzdem daß einzelne Beſtimmungen des Friedens nicht ausgeführt werden, nicht erneuert, kommt es trotzdem zu thatſächlicher Erneuerung des Friedenszuſtandes, wie z. B. nach dem Züricher Frieden zwiſchen Oeſterreich und Italien von 1859, ſo ſpricht man nicht mehr von Friedensbruch, wenn gleich die Beſchwerden über den Nichtvollzug des Friedensvertrags fortdauern und unter Umſtänden zu neuen ernſten Verwicklungen führen können.
2. Die Verletzung des Friedensvertrags dagegen, zum Unterſchied des Friedensbruchs ſteht rechtlich jeder andern Vertragsverletzung gleich, und kann, wenn ſie ſchwer genug iſt und anders nicht geheilt wird, unter Umſtänden zu einem neuen Kriege führen.
3. Das Ultra posse nemo tenetur gilt auch von der Nichtausführung einzelner Friedensartikel. Wenn z. B. der Pragerfriede zwiſchen Oeſterreich und Preußen vom 23. Auguſt 1866 dem „Verein der ſüddeutſchen Staten“ eine „internationale unabhängige Exiſtenz“ zuſchrieb, ſo konnten doch dieſe Staten nicht gezwungen werden, einen Verein zu bilden. Soweit dieſer Zwang völkerrechtlich unmöglich und daher die Beſtimmung nicht ausführbar iſt, kann daher auch nicht von Verletzung des Friedensvertrags die Rede ſein.
726.
Der Friedensvertrag bildet ein Ganzes. Der Bruch einer Friedensbeſtimmung zieht den Bruch des Friedens nach ſich, wenn nicht in dem Frieden anders beſtimmt iſt.
Vgl. Wheaton Int. Law. § 550. Der Friedensſchluß kann beſtimmen, daß die übrigen Artikel fortgelten ſollen, wenn auch einer derſelben nicht zur Ausführung komme.
(0416 : 394)
Achtes Buch.
10. Postliminium.
727.
Ohne Friedensſchluß können ein Land und eine Bevölkerung, einzelne Perſonen und Güter, welche während des Kriegs in feindliche Gewalt gerathen waren, wieder von derſelben befreit werden und es kann in Folge deſſen das frühere Rechts- und Beſitzesverhältniß wieder in ungehemmte Wirkſamkeit treten, wie wenn eine Störung nicht vorgekommen wäre. Dieſe Wiederbelebung des durch die Kriegsgewalt geſtörten Zuſtandes heißt Postliminium.
1. Der Ausdruck postliminium iſt dem römiſchen Recht entnommen, hatte aber dort eine andere Grundlage und einen andern Sinn. Die Römer nahmen an, daß durch die feindliche Gefangenſchaft der römiſche Bürger, ſo lange dieſelbe dauere, ſeine Freiheits- und ſeine bürgerlichen Rechte verliere, daß er aber ſofort ſein vorheriges Recht wieder erlange, wenn es ihm gelinge, ſich jener Gefangenſchaft zu entziehn. Sie fingirten dann, er ſei niemals gefangen worden, ſondern habe ſein Recht fortwährend erhalten, und nannten dieſe Fiction postliminium. § 5. J. Quib. mod. jus pot. solv. (I. 12): „Dictum autem postliminium a limine et post, ut cum qui ab hostibus captus in fines nostros postea pervenit postliminio reversum recte dicimus; nam limina sicut in domibus finem quemdam faciunt, sic et imperii finem limen esse veteres voluerunt“. Dieſes antike und privatrechtliche postliminium hat nun aufgehört, weil die Kriegsgefangenſchaft nicht mehr die perſönlichen Rechte der Gefangenen zerſtört, ſondern nur vorübergehend ihre Ausübung hindert. Es bedarf daher keiner Wiederherſtellung des Rechts in dieſen Fällen mehr.
2. Das moderne völkerrechtliche Postliminium der heutigen Zeit hat vorzugsweiſe einen öffentlich-rechtlichen Charakter und wenn es auch privatrechtliche Wirkungen äußert, ſo ſetzt es nicht grundſätzlich eine vorherige Verneinung des wieder herzuſtellenden Rechts durch die Kriegsgewalt, ſondern nur eine Behinderung ſeiner Ausübung voraus.
728.
Wird ein von dem Feinde beſetzter Gebietstheil von demſelben freiwillig wieder geräumt oder wird derſelbe durch die befreundete Kriegsgewalt wieder daraus verdrängt, ſo hört das feindliche Kriegsrecht ſofort auf und es wird das frühere Rechtsverhältniß erneuert. Die vormalige Statsgewalt tritt wieder in ihre Rechte und Pflichten ein.
(0417 : 395)
Das Kriegsrecht.
Die Autorität der feindlichen Kriegsgewalt beruht nur auf dem thatſächlichen Beſitz und dem Nothrecht des Kriegs (vgl. oben § 540 f.). Wenn daher jene den Beſitz wieder verliert, ſo hört damit auch die Fortwirkung ihrer Kriegshoheit auf. Wurde inzwiſchen die Landesverfaſſung ſuspendirt, ſo tritt ſie nun wieder in volle Kraft. Das Hemmniß, welches der urſprünglichen Statsgewalt entgegenſtand, iſt damit wieder entfernt.
729.
Geſchieht die Verdrängung des Feindes durch eine dritte Kriegsmacht, welche weder die rechtmäßige Statsgewalt des befreiten Landes noch ein Bundesgenoſſe desſelben, wohl aber im Kriege mit dem Landesfeinde iſt, ſo verſteht ſich die Wiederbelebung der frühern Regierung und Verfaſſung des Landes nicht von ſelber. Vielmehr iſt die befreiende Macht, welche inzwiſchen die Kriegsgewalt handhabt, berechtigt, bei der neuen Regulirung der öffentlichen Zuſtände mitzuwirken. Der Befreier darf aber nicht ohne Rückſicht auf den Willen der Bevölkerung dauernd und willkürlich über das fremde Gebiet einſeitig verfügen.
Würde man lediglich die Analogie des Privatrechts anwenden, ſo müßte einfach das von einer dritten Macht befreite Gebiet an den Träger der legitimen Statsgewalt überlaſſen werden, wie der Dritte, welcher einem Räuber meine geraubte Sache abjagt, dieſelbe mir herauszugeben hat. Aber die Analogie paßt nicht, weil es ſich hier um öffentliche (politiſche) Verhältniſſe handelt. Die Statsgewalt, welche die Macht nicht mehr beſitzt, ihr Gebiet zu ſchützen oder zu befreien, hat auch kein ſicheres Recht mehr über das Gebiet; denn ein Volk und Land regieren kann man nur mit Macht und Autorität, nicht ohne dieſelben. Ferner die fremde Statsgewalt, welche durch ihre Anſtrengungen und Opfer die Befreiung vollzogen und zugleich ihre Macht bewährt hat, den Feind aus dem Lande zu verdrängen, hat ein natürliches Anrecht darauf, daß die neuen öffentlichen Verhältniſſe in dem befreiten Lande mit Berückſichtigung auch ihrer politiſchen Intereſſen neu geordnet werden. Auch wenn ſie das Land nicht für ſich erobern wollte, ſo wäre es doch völlig unnatürlich, ihr anzuſinnen, daß ſie lediglich für fremde Intereſſen ihre Volkskräfte verwende. Es bedarf alſo hier einer billigen Ausgleichung der verſchiedenen Rechte und Intereſſen, ſowohl des Befreiers als des befreiten Landes. Ein Beiſpiel der Art bieten die Verhandlungen Preußens mit dem Herzog Friedrich von Auguſtenburg über die Herzogthümer Schleswig und Holſtein (1865 und 1866) nach der Befreiung derſelben von der Däniſchen Herrſchaft. Vgl. Heffter § 188.
730.
Hat ein Volk, ohne Zuthun der vom Feinde vertriebenen Regierung
(0418 : 396)
Achtes Buch.
und ihrer Bundesgenoſſen ſich durch eigene Kraft von der feindlichen Herrſchaft befreit, ſo kann die frühere Regierung nur mit ſeiner Zuſtimmung nicht gegen ſeinen Willen in den Beſitz eintreten.
Durch dieſe Selbſtbefreiung bewährt ſich die ſtatliche Kraft des Volks im Gegenſatze zu der Ohnmacht der Träger der Statsgewalt. Da das öffentliche Recht weſentlich der Ausdruck der lebendig-politiſchen Kräfte im Volk iſt und ſein ſoll, ſo iſt das Volk durchaus berechtigt, die Statsverfaſſung nach der Befreiung neu zu ordnen, entſprechend den offenbar gewordenen Verhältniſſen, und ſich nicht lediglich durch die Hinweiſung auf eine zweifelhaft, weil eine Zeit lang unwirkſam, gewordene Legitimität des ältern Rechts daran verhindern zu laſſen. Freilich üben die aufgeregten Völker in ihrem Eifer für die Herſtellung der angeſtammten Dynaſtie in dieſem kritiſchen Moment zuweilen nicht die nöthige Vorſicht aus für ihre Zukunft. Die Spaniſche, Italieniſche und die Deutſche Geſchichte der Befreiung von der Napoleoniſchen Oberherrſchaft 1813 bis 1815 liefern manche Belege für die Wahrheit dieſer Bemerkung.
731.
Hat der Feind in der Zwiſchenzeit nicht bloß Kriegsrecht geübt, ſondern ſich eine wirkliche Landesherrſchaft angemaßt, und inzwiſchen behauptet, aber ohne daß dieſelbe durch einen Friedensſchluß beſtätigt und zu anerkanntem Rechtszuſtand geworden iſt, ſo wird zwar nach der Verdrängung des feindlichen Uſurpators der vorherige Rechtszuſtand erneuert, aber es können nicht alle einzelnen Regierungsacte des Zwiſchenherrſchers als ungeſchehen betrachtet werden.
Vielmehr bleiben dieſelben, ſoweit ſie bloße Verwaltungs- und Gerichtsacte ſind oder eine privatrechtliche Bedeutung haben, in der Regel in Kraft. Soweit ſie dagegen den Verfaſſungszuſtand des Landes ändern oder einen weſentlich politiſchen Charakter haben, können ſie von der erneuerten Statsgewalt für unwirkſam erklärt werden.
1. Der Unterſchied zwiſchen politiſcher Regierung und Verwaltung im engern Sinn (Adminiſtration) muß hier beachtet werden. Auch die politiſche Regierung wird inzwiſchen von der Kriegsgewalt und der Statsgewalt geübt, welche im Kriege das Land eingenommen hat. Aber die reſtaurirte rechtmäßige Landesregierung, welche andere — oft geradezu feindliche — politiſche Principien und Richtungen vertritt, iſt in keiner Weiſe an die politiſchen Anordnungen ihres Gegners gebunden. Die Politik ändert ſich mit der Aenderung des entſcheidenden Centrums.
2. Dagegen die Verwaltungsacte — ohne politiſche Bedeutung —
(0419 : 397)
Das Kriegsrecht.
wirken in der Regel fort, und zwar ſowohl die Acte der Verwaltung im engern Sinne — die Finanzverwaltung, die Volkswirthſchaftspflege und die Culturpflege inbegriffen — als die Acte der Rechtspflege — Urtheile im Civil- und im Strafproceß —. Da die Zwiſchenregierung durch das Kriegsrecht dazu ermächtigt war, die Verwaltung zu ordnen und zu leiten, da ferner die Fortführung der Detailgeſchäfte nothwendig iſt im allgemeinen öffentlichen Intereſſe und da endlich hier keine politiſche Bedenken im Wege ſtehen, ſo iſt die Anerkennung des Geſchehenen eine natürliche Folge der Fortdauer des Rechts und der nicht unterbrochenen ſtatlichen Functionen. Die Caſſation aller in der Zwiſchenzeit erlaſſenen Urtheile der vielleicht in ihrem Perſonal veränderten Gerichtsbehörden oder aller Verfügungen der neu beſetzten Policei- oder Finanzämter wäre eine Verkennung des natürlichen Zuſammenhangs und der Bedürfniſſe des Lebens und müßte eine Reihe von Verwirrungen und vielfältigen Schaden ſtiften.
732.
Die reſtaurirte Regierung iſt nicht verpflichtet, die Veräußerung von Statsdomänen oder Renten, welche die feindliche Zwiſchenregierung vorgenommen hat, oder Statsſchulden, welche dieſelbe für das beſetzte Land contrahirt hat, als rechtsverbindlich anzuerkennen, ſondern berechtigt, jene Statsgüter wieder an ſich zu ziehen und die Bezahlung dieſer Schulden zu verweigern.
Durch die Beſitznahme im Kriege geht nicht die Statshoheit ſelber auf den Sieger über, ſondern nur die Ausübung derſelben wird, ſoweit es die militäriſchen Rückſichten erfordern, von ihm in die Hand genommen. Die bloß proviſoriſche Zwiſchenregierung iſt daher auch nicht zu dauernder Vertretung des Landes berechtigt. Demgemäß wird ſie nicht befugt ſein, die Domänen zu veräußern, noch Landesſchulden einzugehn. Die wiederhergeſtellte Regierung wird jene Güter daher wieder vindiciren und die Anerkennung und Bezahlung dieſer Schulden, ſoweit dieſelben nicht für das Land und ſeine Wohlfahrt verwendet worden ſind, verweigern können. Obwohl dieſe Acte der Zwiſchenregierung zur Finanzwirthſchaft gehören, ſo haben ſie doch meiſtens einen eminent politiſchen Charakter und ſoweit dieß der Fall iſt, braucht ſich die mit Gewalt aus dem Beſitze verdrängte und dann wieder hergeſtellte Regierung jene Acte nicht gefallen zu laſſen.
733.
Wird aber die Eroberung durch die Anerkennung im Frieden vollzogen, ſo wird dadurch die Veräußerung der Domänen und die Uebernahme von Landesſchulden bekräftigt, und wenn ſpäter durch neuen Krieg die frühere Regierung reſtaurirt wird, ſo iſt ſie nicht mehr berechtigt, die
(0420 : 398)
Achtes Buch.
in der Zwiſchenzeit vollzogenen Rechtsgeſchäfte hinterdrein als ungültig zu erklären und demgemäß zu behandeln.
Nur in den Fällen des § 732 kann von Postliminium geſprochen werden, nicht in denen des § 733. Denn nur in jenen wird der urſprüngliche Rechtszuſtand von den Hemmniſſen und Zweifeln der kriegeriſchen Zwiſchenzeit wieder befreit, in dieſen iſt ein neuer Rechtszuſtand erwachſen, der ſpäter nicht mehr als nicht vorhanden fingirt werden darf. Wenn einmal der Friede die Eroberung beſtätigt, ſo iſt der Eroberer berechtigt, die Statshoheit zu üben und auch dritten Perſonen gegenüber für das Land zu handeln. Der Unterſchied der beiden Fälle tritt in dem bekannten Kurheſſiſchen Rechtsſtreit deutlich hervor. Der Kurfürſt von Heſſen beſtritt nach ſeiner Reſtauration (2. Dec. 1813) die Gültigkeit der Veräußerung von Domänengütern, welche die Weſtphäliſche Regierung nach ſeiner Verdrängung aus dem Beſitz (1806) vollzogen hatte und ſetzte ſich mit Gewalt wieder in den Beſitz der veräußerten Güter. Innerhalb des Kurheſſiſchen Landes freilich konnten die Privatkäufer nicht zu ihrem Rechte gelangen. Dagegen erkannte die Preußiſche Regierung die Rechtsgültigkeit der geſchehenen Veräußerungen in ihrem Gebiete an, weil das Königreich Weſtphalen im Frieden von Tilſit (9. Juli 1807) anerkannt und daher die Veräußerung von einer wirklichen Statsregierung rechtskräftig gemacht worden ſei. Vgl. Phillimore III. § 573. In ähnlichem Sinne wurde ein zweiter Proceß von dem Spruchcollegium der Juriſtenfacultät in Kiel (24. März 1831) entſchieden. Auch dieſes Urtheil führte aus, daß der reſtaurirte Kurfürſt nicht ſeine vor dem Krieg beſeſſene Landeshoheit fortſetze, als wäre nicht in der Zwiſchenzeit eine andere im Frieden anerkannte Regierung in Caſſel geweſen. Ebenda III. § 572.
734.
Der reſtaurirte Fürſt iſt nicht verpflichtet, Veräußerungen oder andere Verfügungen anzuerkennen, welche der feindliche Zwiſchenherrſcher bezüglich der Privatgüter des erſtern vorgenommen hat. Wenn aber dieſe Rechtsgeſchäfte in Folge des Friedens conſolidirt worden ſind, ſo kann der reſtaurirte Fürſt dieſelben nachher nicht wieder anfechten.
Das fürſtliche Privatgut iſt in höherm Grade als das Privatgut anderer Perſonen im Kriege der Kriegsgewalt ausgeſetzt, weil der Fürſt als ſolcher eine feindliche Perſon in beſonderem Sinne iſt (§ 569), und eine erhöhte Gefahr beſteht, daß jene Güter zur Förderung der Kriegszwecke benutzt werden. Der Fürſt iſt daher in Gefahr, daß nicht bloß die Domänen weggenommen, ſondern auch ſeine Privatgüter von dem Feinde mit Beſchlag belegt werden. Gelangt er aber während des Kriegs wieder in den Beſitz ſeines Gebiets, ſo kann er auch eine allfällige Veräußerung durch den Feind als ungültig betrachten, weil der Feind zu keiner defini-
(0421 : 399)
Das Kriegsrecht.
tiven Verfügung berechtigt war. Der Friede aber legitimirt auch die im Kriege geſchehenen unrechtmäßigen Handlungen der Kriegsgewalt, wenn er nicht darüber ausdrücklich anders beſtimmt. Vgl. oben § 710.
735.
Die reſtaurirte Regierung iſt nicht berechtigt, für die Zwiſchenzeit Verfügungen zu treffen mit rückwirkender Kraft, ſondern genöthigt, die Folgen einer thatſächlichen Zwiſchenregierung, welche ſie nicht zu verhindern vermochte, auch ihrerſeits zu tragen.
Vgl. oben zu § 733. Das Verfahren des 1813 reſtaurirten Kurfürſten Wilhelm I. von Heſſen und des 1814 reſtaurirten Königs Victor I. Emanuel von Sardinien-Piemont, welche die ganze lange Zwiſchenzeit, in welcher ſie ihrer Stammlande entſetzt waren, als nicht vorhanden fingirten, und alle Zuſtände (auch die Beamtenſtellungen) wieder auf den Zeitpunkt zurückſchraubten, in dem ſie die Herrſchaft verloren hatten, macht den Eindruck einer karikirten Legitimität, die an Wahnſinn gränzt. Die großen Ereigniſſe der Geſchichte, welche die Welt verändern, können nicht durch unnatürliche Fictionen als nicht geſchehen betrachtet werden.
736.
Das Postliminium tritt in öffentlichen Rechtsverhältniſſen nur während des Kriegs in Wirkſamkeit und wird durch den Friedensſchluß ausgeſchloſſen.
Der Friedensſchluß verwandelt die thatſächlichen Veränderungen, die während des Kriegs entſtanden ſind und im Frieden beſtätigt werden, in einen anerkannten Rechtszuſtand, der daher nur durch neue Rechtsbildung, nicht durch bloße Wiederherſtellung wieder geändert wird. Vgl. oben § 715.
737.
Kriegsgefangene können thatſächlich ihre Freiheit wieder gewinnen, wenn ſie von der Kriegsgewalt befreit werden oder ſich ſelber befreien. Dieſe Anwendung des Postliminium findet auch nach dem Friedensſchluß Statt, wenn die Gefangenſchaft thatſächlich über denſelben hinaus fortdauerte.
Gefangene, welche ihre Freiheit durch Bruch ihres Ehrenworts wieder gewonnen haben, können aber dem Feinde wieder ausgeliefert werden.
(0422 : 400)
Achtes Buch.
Vgl. oben § 609. Der Bruch des Ehrenworts iſt freilich zunächſt eine Verletzung des Stats, dem das Ehrenwort gegeben worden iſt, aber ſo anſtößig, daß auch der Stat, dem der Gefangene angehört, berechtigt iſt, einen ſo Befreiten zurückzuweiſen und dem Feind wieder zu überliefern.
738.
Das Postliminium der Privatperſonen hat die Bedeutung, daß ihre perſönlichen Rechte, an deren Ausübung ſie durch die Kriegsgefangenſchaft gehindert waren, nun wieder von ihnen ausgeübt werden können. Die Vormundſchaft, die inzwiſchen für ſie beſtellt worden iſt, hört auf und ſie treten in den perſönlichen durch keine Feindesgewalt gehinderten Genuß ihres Vermögens wieder ein. Ihr Recht war aber auch während der Gefangenſchaft nicht aufgehoben. Nach modernem Recht dauert die Ehe des Kriegsgefangenen fort und kann er auch über ſein Vermögen gültig unter Lebenden oder durch letzten Willen verfügen.
Da die heutige Kriegsgefangenſchaft die Vermögensrechte der Kriegsgefangenen keineswegs aufhebt, ſondern nur ſie in der Verwaltung ihres Vermögens thatſächlich hemmt, ſo bedeutet das moderne Postliminium nicht wie das antike Wiederherſtellung des Rechts, ſondern nur Beſeitigung jener Hemmniſſe. Rechtlich iſt der Kriegsgefangene nicht gehindert, über ſein Vermögen zu verfügen. Er kann z. B. einen Verwalter beſtellen und ermächtigen, der in ſeiner Abweſenheit die Wirthſchaft beſorge, einzelne Sachen veräußern, Verträge abſchließen, ein Teſtament machen u. ſ. f. Nur thatſächlich werden manche Anordnungen wegen der Verhinderung der Communication nicht ausführbar ſein. In allen dieſen Beziehungen beruhte das römiſche Postliminium auf einer ganz entgegengeſetzten Rechtsgrundlage. Der Kriegsgefangene hatte als ſolcher alle Rechte auch über ſein Vermögen verloren und nur das Postliminium ſtellte dieſelben durch die Fiction wieder her, daß er inzwiſchen nicht gefangen geweſen ſei.
739.
Das Postliminium wirkt ferner zu Gunſten des wieder wirkſam gewordenen Grundeigenthums, wenn dasſelbe während des Kriegs dem Eigenthümer durch die feindliche Kriegsgewalt entzogen und wieder unter die Autorität des befreundeten States zurückgelangt iſt.
Wenn die feindliche Kriegsgewalt z. B. einzelne Privaten aus dem Beſitz ihrer Häuſer und Güter verdrängt, und dieſelben für militäriſche Zwecke in ihren Beſitz genommen hat, aber vor dem Krieg wieder aus dieſer Gegend zurückgeworfen wird, ſo können die Privaten ſich unbedenklich wieder in den Beſitz ihres Eigenthums ſetzen. Wären gar jene Güter inzwiſchen von der feindlichen Kriegsgewalt veräußert
(0423 : 401)
Das Kriegsrecht.
worden, ſo iſt die — nicht im Frieden ausdrücklich oder ſtillſchweigend beſtätigte — Veräußerung ungültig und die Eigenthümer können vindiciren.
740.
Auch die beweglichen Sachen, welche von dem Feinde weggenommen worden ſind, können bis zum Friedensſchluß von dem verletzten Eigenthümer zurückgenommen werden, wenn die feindliche Gewalt wieder verdrängt iſt. Vorbehalten bleiben die privatrechtlichen Beſchränkungen, welche der dinglichen Verfolgung beweglicher Sachen im Wege ſtehen und die Beſtimmungen zu Gunſten des redlichen Verkehrs, welche den Erwerber ſchützen.
Wenn z. B. der Feind Vieh wegnimmt und wegtreibt, und im Verfolg der Märſche oder des Kampfs den Beſitz desſelben wieder verliert, ſo hindert Nichts den Eigenthümer, ſich ſeiner Hausthiere wieder zu bemächtigen, wenn er derſelben wieder habhaft werden kann, auch dann nicht, wenn jene Wegnahme durch das Kriegsrecht legitimirt war. Noch weniger Bedenken hat es natürlich, daß der Eigenthümer die unrechtmäßiger Weiſe ihm entzogenen Sachen, wenn er dazu Gelegenheit findet, wieder in ſeinen Beſitz nehme.
741.
Die Wiedernahme der als Priſe von dem Feinde weggenommenen Schiffe iſt vor der Verurtheilung oder Zuſprechung des Priſengerichts jederzeit geſtattet.
Vgl. darüber unten Buch IX. Cap. 6.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 26
(0424 : [402])
(0425 : [403])
Neuntes Buch. Recht der Neutralität.
1. Begriff und Arten der Neutralität.
742.
Neutralität heißt Nichtbetheiligung an dem Kriege Dritter und daher Behauptung der Friedensordnung für den eigenen Bereich.
Neutral heißen die Staten, welche weder Kriegspartei ſind noch zu Gunſten oder zum Nachtheil einer Kriegspartei an der Kriegsführung Theil nehmen.
Das Wort und der Begriff der Neutralität gehören vorzüglich der neuern Rechtsbildung an. Hugo Grotius nennt noch die Neutralen medii; Bynkershoek „nonhostes, quineutrarum partium sunt“. Die Ausbildung des Rechts der Neutralität iſt eine der fruchtbarſten und nützlichſten Errungenſchaften des neueren Völkerrechts; denn die neutralen Staten beſchränken die Uebel des Kriegs und ſchützen während des Kriegs, ſo weit es möglich iſt, das Recht und die Intereſſen des Friedens. In der Neutralität liegt die Ablehnung und Vermeidung jeder Theilnahme am Krieg. Klüber: „Ein neutraler Stat iſt weder Richter noch Partei“. Der neutrale Stat bleibt alſo im Frieden, während die Kriegsparteien einander bekämpfen.
743.
Die neutralen Staten verzichten nicht auf ihr Kriegsrecht. Aber ſie enthalten ſich, ſo lange ſie neutral bleiben, der Betheiligung am Kriege.
26*
(0426 : 404)
Neuntes Buch.
Das gilt auch von den Staten, welchen eine ſogenannte ewige Neutralität zugeſichert iſt. Verzicht auf das Recht des Kriegs wäre Selbſtentmannung, wäre Verzicht des States darauf, ſeine Rechte mit den Waffen zu ſchützen und zu vertreten, d. h. im Grunde Verzicht auf die ſelbſtändige Exiſtenz.
744.
Die thatſächliche Neutralität iſt die Grundbedingung des Rechts der Neutralität.
Ein Stat, welcher ſich am Kriege betheiligt, iſt nicht neutral, ſondern er wird ſelber Kriegspartei oder Bundesgenoſſe einer Kriegspartei oder Intervenient im Krieg. Wenn er ſich nicht neutral verhält, ſo kann er auch nicht die Rechte eines Neutralen anſprechen. Der Krieg ſelber hat zunächſt eine thatſächliche Bedeutung. Wer Krieg führt, iſt, weil er das thut, Kriegspartei und wird von dem Gegner mit Recht als Feind betrachtet und behandelt.
745.
Es gibt eine nothwendige durch völkerrechtliche Acte und Verträge garantirte ſogenannte ewige Neutralität einzelner Staten und eine freiwillige auf friedlichem Entſchluß beruhende Neutralität der Staten.
Die Neutralität kann in dem Charakter eines States und in allgemeinen Verhältniſſen eine fortwirkende Begründung haben und dann als ewige Neutralität erſcheinen. Von der Art ſind in Europa:
a) die Neutralität der Schweiz. Seit den unglücklichen italieniſchen Kriegen zu Anfang des ſechzehnten Jahrhunderts hat die ſchweizeriſche Eidgenoſſenſchaft ſich der Politik einer bleibenden Neutralität zugewendet, welche nur vorübergehend in den Revolutionskriegen 1798—1803 und dann wieder zur Zeit der Reſtauration 1814 verletzt worden iſt. Die Wiener Congreßacte Art. 84. 92. und eine beſondere Beurkundung der Mächte vom 20. Nov. 1815 erkennen es an, daß die fortwährende Neutralität der Schweiz in den politiſchen Intereſſen von ganz Europa begründet ſei. Wenn man erwägt, daß die Schweiz mitten zwiſchen großen nationalen Staten gelegen und ſelber aus Bruchtheilen der deutſchen, franzöſiſchen und italieniſchen Nationalität zuſammengefügt iſt, daß ſie allein eine republikaniſche Verfaſſung mitten unter den großen Monarchien behauptet, daß ſie im Beſitz der Gebirgspäſſe und Uebergänge iſt aus einem großen Ländergebiet in das andere, daß in ihr die großen Ströme und Thalöffnungen des Rheins, der Donau (Inn), der Rhone und des Po (Teſſin) ihren Urſprung nehmen, ſo begreift man ſowohl das ſchweizeriſche als das europäiſche Intereſſe, daß dieſes Centralland Europa’s ein Friedensland und daher neutral bleibe. Vgl. Wheaton Int. L. § 416—420.
b) Die immerwährende Neutralität des Königreichs Belgien, gemäß dem Londoner Vertrag vom 15. Nov. 1831, wodurch ein Land, das während Jahr-
(0427 : 405)
Recht der Neutralität.
hunderten vorzugsweiſe zum Kriegsſchauplatz zwiſchen Frankreich und Deutſchland dienen mußte, vor dieſen Gefahren geſichert und das europäiſche Kriegsfeld eingeengt werden ſoll. Wheaton Int. L. § 421.
c) Die Neutralität des Fürſtenthums Serbien zufolge des Pariſer Vertrags vom 30. März 1866.
d) Die Neutralität des Großherzogthums Luxemburg nach dem Londoner Vertrag von 1867.
746.
Es gibt eine vollſtändige und eine theilweiſe oder beſchränkte Neutralität, indem ein Stat einer Kriegspartei vertragsmäßig zu einer beſchränkten Hülfe verpflichtet ſein und dieſe Pflicht erfüllen kann, ohne ſich im übrigen an dem Kriege zu betheiligen.
Ein Beiſpiel iſt das Recht der Schweiz, einige Savoyiſche Gebietstheile in einem franzöſiſch-italieniſchen Kriege zu beſetzen und dadurch zu ſchützen, ein Recht, welches freilich einen ganz andern Sinn hatte, ſo lange Savoyen zu Piemont gehörte, als ſeitdem es eine franzöſiſche Provinz geworden iſt.
747.
Es kann ſogar zum Behuf der engeren Eingrenzung des Kriegsfeldes ein Theil des Statsgebiets der Kriegspartei ſelbſt neutraliſirt d. h. für neutral erklärt und dadurch von der Gefahr des Kriegs befreit werden.
Die Localiſirung des Kriegs beſchränkt die Leiden des Kriegs und iſt daher ſehr zu empfehlen. Es kann das freilich nur thatſächlich geſchehen, wie z. B. in dem Deutſch-Däniſchen Kriege von 1863/64 der Krieg auf das Herzogthum Schleswig und Jütland beſchränkt war. Dann iſt das noch nicht wirkliche Neutraliſirung der übrigen Gebiete der Kriegsparteien und hängt es von dem Ermeſſen der Heerführer ab, den Kriegsſchauplatz auch dorthin zu verlegen. Es kann das aber durch Uebereinkunft auch rechtlich feſtgeſtellt werden, z. B. daß der Krieg nur in den überſeeiſchen Colonien, nicht in Europa geführt werde, oder umgekehrt. Während des Kriegs von Oeſterreich wider Frankreich und Italien wurde ſo der theilweiſe von den Franzoſen und theilweiſe von den Oeſterreichern beſetzte Kirchenſtat neutraliſirt (1859). Die von den Parteien verabredete Eingrenzung des Kriegsfeldes ſchließt alſo eine beſchränkte Neutraliſirung der übrigen Statsgebiete in ſich.
748.
Die Neutralität heißt eine bewaffnete, wenn der neutrale Stat in der Abſicht zu den Waffen greift, ſeine Neutralität und damit ſeine Friedensrechte gegen jede Verletzung einer der Kriegsparteien zu ſchützen.
(0428 : 406)
Neuntes Buch.
Die bloße Rüſtung und ſelbſt die Truppenaufſtellung des neutralen Stats bedeutet noch nicht Theilnahme am Krieg, ſondern nur Schutz des Friedenszuſtands gegen Uebergriffe einer der Kriegsparteien. Eine Neutralität, die nicht im Nothfall mit den Waffen vertheidigt wird, iſt ein höchſt unſicheres Gut, und wird leicht von der einmal losgebundenen Kriegsgewalt mißachtet, wenn ſie das in ihrem Intereſſe findet.
2. Bedingungen der Neutralität und Pflichten der Neutralen.
749.
Es hängt in der Regel von dem freien Willen eines jeden States ab, ob er in dem Kriege anderer Staten neutral bleiben oder ſich an dem Kriege betheiligen wolle.
1. Wenn ein Krieg ausbricht, ſo können die zunächſt unbetheiligten Staten entweder einer der Kriegsparteien, deren Sache ſie unterſtützen wollen, beiſtehn und ſo ebenfalls in den Krieg eintreten, oder ſie können ſich ſolcher Theilnahme enthalten. Im letztern Falle ſind ſie neutral. Die Neutralität bedarf nicht eines beſondern Acts, ſondern verſteht ſich als Regel von ſelber, wenn nicht die Handlungen eines Stats auf kriegeriſche Betheiligung hinweiſen.
2. Für die Staten mit fortwährender Neutralität gilt die obige Vermuthung in erhöhter Stärke. Wenn dieſe Staten ſich, ohne zuvor ſelber verletzt zu ſein, bei einem Kriege anderer Staten betheiligen wollten, ſo wäre das Verzicht nicht wie bei den andern Staten nur auf die gegenwärtige Neutralität, ſondern zugleich auf die Vortheile der ewigen Neutralität. Die übrigen Staten würden ſich nicht mehr durch die früheren allgemeinen Anordnungen beſtimmen laſſen, einen Stat, der wie die andern je nach ſeinem freien Ermeſſen bald Theil am Kriege nimmt, bald ſich zurückhält, als einen vorzugsweiſe und dauernd neutralen Stat zu betrachten und zu behandeln. Ein ſolcher Stat würde dann eine abwechſelnde, bald kriegeriſche bald friedliche Politik treiben, nicht mehr eine dauernd und ſpecifiſch neutrale. Vgl. unten § 752.
750.
Die Bundesgenoſſenſchaft mit einer Kriegspartei verpflichtet nicht immer zur Theilnahme am Krieg. Die Bundesgenoſſenſchaft kann begrenzt und die Behauptung der Neutralität mit derſelben vereinbar ſein.
(0429 : 407)
Recht der Neutralität.
Die deutſchen Staten, odwohl für Sicherung des deutſchen Bundesgebiets die Bundesgenoſſen Oeſterreichs, verhielten ſich dennoch in dem Kriege Oeſterreichs gegen Frankreich und Italien 1859 neutral und blieben ſogar in dem von Preußen und Oeſterreich gegen Dänemark 1863/64 geführten Kriege in neutraler Haltung.
751.
Sogar wenn ein Bundesgenoſſe zur Unterſtützung einer Kriegspartei verpflichtet iſt, aber ſich trotzdem jeder Theilnahme an dem Kriege enthält und dieſen Willen der Gegenpartei ankündigt, ſo hat er einen Rechtsanſpruch darauf, von derſelben als neutraler Stat geachtet zu werden.
Die bloße vertragsmäßige Allianz mit einem kriegführenden State macht den Alliirten noch nicht nothwendig zum Feinde der andern Kriegspartei. Wenn der Bundesgenoſſe ſeiner Allianz keine Folge gibt und ſeine neutrale Geſinnung und Haltung offenbar macht, ſo darf der Feind ſeines Alliirten ihn nicht als Kriegspartei betrachten. Er beobachtet demſelben gegenüber das Recht des Friedens und hat daher auch ein Recht auf Frieden. Die Frage, ob er dadurch ſeine Bundespflichten gegen den Alliirten verletze, iſt nur zwiſchen ihm und dieſem Alliirten zu löſen, ſie geht deſſen Gegner Nichts an.
752.
Auch wenn ein Stat durch Verträge oder allgemeine völkerrechtliche Anordnungen zu ewiger Neutralität wie berechtigt ſo verpflichtet iſt, hört er dennoch auf, neutral zu ſein, wenn er thatſächlich als Kriegspartei oder für oder gegen eine Kriegspartei ſich am Kriege betheiligt.
Vgl. zu § 744 und 749. Wenn der fortwährend neutrale Stat zur Vertheidigung ſeines Rechts und daher auch ſeiner Neutralität Krieg führen muß, ſo verzichtet er damit nur vorübergehend, nicht dauernd auf ſeine immerwährende Neutralität. Wenn er dagegen ohne ſolche eigene Kriegsurſache ſich an dem Kriege dritter Staten betheiligt, ſo iſt das ein Aufgeben ſeiner immerwährenden Neutralität.
753.
Neutralität bedeutet nicht Gleichgültigkeit und Unparteilichkeit gegenüber den Kriegsparteien und dem Fortgang des Krieges.
Ein Stat kann ein lebhaftes Mitgefühl mit der einen Kriegspartei haben und ſeinem Unwillen wider die andere Kriegspartei einen offenen Ausdruck
(0430 : 408)
Neuntes Buch.
geben und trotzdem neutral bleiben. Bloße Meinungen und Meinungsäußerungen über Recht und Unrecht und über die Gegenſätze der Politik ſind keine kriegeriſchen Acte und keine Theilnahme am Krieg. Sie heben das Friedensverhältniß der Staten nicht auf, ſo wenig als derartige Urtheile und Aeußerungen von Privatperſonen über Andere ſchon einen Proceß bedeuten. Wenn aus der Art und Form der Meinungsäußerung eine Beleidigung erkennbar wird, ſo kann das zum Streite und ſelbſt zum Kriege führen. Aber erſt muß dieſe Folge eintreten. Bis dahin bleibt der Friedenszuſtand und mit ihm die Neutralität.
754.
Wenn ein Stat nur vorübergehend durch die Perſon des gemeinſamen Herrſchers mit einem andern State verbunden iſt, ſo iſt es möglich, daß der eine Stat zur Kriegspartei wird und der andere Stat neutral bleibt.
Da jeder von dieſen Staten eine Perſon für ſich iſt (§ 74), ſo kann auch der eine Stat im Kriege ſein, der andere im Frieden leben. Es war nicht nothwendig, daß das Kurfürſtenthum Hannover in die engliſchen Kriege verwickelt werde, als die Kurfürſten von Hannover zugleich Könige von England waren, ſo wenig als früher die Niederlande genöthigt waren, ſich an den engliſchen Kriegen zu betheiligen, als ihr Erbſtatthalter König von England geworden war. Jeder ſelbſtändige Stat entſcheidet ſich ſelbſtändig, ob er den Frieden behalten oder in den Krieg eintreten wolle.
755.
Es kann auch der Fürſt eines States perſönlich als Officier im Dienſte eines andern kriegführenden States an dem Kriege Theil nehmen und trotzdem die Neutralität des States gewahrt bleiben, deſſen Fürſt er iſt.
Indem er als Officier eines fremden feindlichen States an dem Kriege Theil nimmt, gehört er, wie jeder andere Officier zu dem feindlichen Heere, und erſcheint er nicht als Statshaupt, noch handelt er für ſeinen Stat. Perſönlich iſt er nun der Kriegsgefangenſchaft, aber nicht ſein Stat dem Kriege ausgeſetzt.
756.
Da die thatſächliche Nichtbetheiligung am Kriege die natürliche Vorausſetzung der Neutralität iſt, ſo iſt der neutrale Stat, wenn er die
(0431 : 409)
Recht der Neutralität.
Rechte der Neutralität behaupten will, verpflichtet, ſich jeder thatſächlichen Unterſtützung einer Kriegspartei zu Kriegszwecken zu enthalten.
1. Die Pflichten der Neutralen ſind nicht Dienſtbarkeiten, welche ihnen von andern Staten — insbeſondere den kriegführenden Staten — auferlegt werden; dafür gäbe es keinen Rechtsgrund; dieſe Pflichten ſind nur naturgemäße Bedingungen der Neutralität. Man kann nicht neutral d. h. im Frieden bleiben, wenn man am Kriege Theil nimmt. Das Recht der Neutralität iſt durch die neutrale Haltung bedingt. Ueber dieſen Grundgedanken kann kein Zweifel ſein. Nur die Anwendung und Ausdehnung desſelben kann in Frage kommen.
2. Die berühmte Proclamation der Amerikaniſchen Neutralität durch den Präſidenten Washington vom 22. April 1793 in dem franzöſiſch-engliſchen Krieg erklärt es als die Pflicht und das Intereſſe der Vereinigten Staten, ſich „freundlich und unparteiiſch zu den beiden kriegführenden Mächten zu verhalten“ und ermahnt alle Bürger, „ſich aller feindlichen Handlungen wider eine der beiden gänzlich zu enthalten“. Die Art, wie er beiden Mächten gegenüber dieſe Neutralität trotz großer Schwierigkeiten handhabte, trug vieles dazu bei, das Recht der Neutralität zu befeſtigen und auszubilden. Vgl. Wheaton Int. L. § 439 Anm. v. Dana und die Schrift von Bemis: American Neutrality. Boſton 1866.
757.
Insbeſondere darf der neutrale Stat nicht einer Kriegspartei Truppen liefern, noch Kriegsſchiffe zur Verfügung ſtellen, noch Subſidien für die Kriegsführung bezahlen.
Die bewaffnete unmittelbare Beihülfe zur Kriegsführung iſt Theilnahme an der Kriegsführung, aber auch die mittelbare Unterſtützung der Kriegsführung durch Zahlung von Kriegsſubſidien iſt Betheiligung am Krieg und mit der neutralen Haltung nicht verträglich.
758.
Wenn einzelne Angehörige des neutralen States ohne Statsauftrag und ohne Statsermächtigung von ſich aus als Reisläufer und Parteigänger einer Kriegspartei zulaufen und an der Kriegsführung Theil nehmen, ſo iſt das nicht eine Verletzung der Neutralität, welche dem State zur Laſt fällt, aber dieſe Perſonen haben nun auch nicht die Rechte von friedlichen Perſonen anzuſprechen, ſondern ſind als Feinde zu betrachten.
(0432 : 410)
Neuntes Buch.
Die einzelnen Privaten repräſentiren nicht den Stat; daher kann auch ihre perſönliche Theilnahme an einem fremden Kriege nicht als Betheiligung des States angeſehen werden, dem ſie angehören. Der neutrale Stat darf nur nicht dulden, daß auf ſeinem Gebiete ſich Freiwillige ſammeln und als militäriſche Truppe organiſiren, um von da aus dann einer der Kriegsparteien zuzuziehn. Das wäre nicht mehr That von Einzelnen, ſondern bekäme, weil die Truppenbildung immer eine ſtatliche Machtentfaltung iſt, einen öffentlich-rechtlichen Charakter. Würde der Stat die Bildung von ſolchen Freiſcharen gewähren laſſen, ſo würde er offenbar die Kriegsführung der einen Partei durch ſeine Connivenz unterſtützen und die Gegenpartei hätte Urſache, das als eine feindliche Haltung zu betrachten. Die neutrale Stellung wäre aufgegeben. Wenn aber ſolche Unternehmen heimlich vorbereitet werden, und der Stat, der es nicht hindert, dabei in bona fide iſt, kann man ihm dieſelben ſo wenig als das Reislaufen Einzelner zum Vorwurf machen.
759.
Wenn ein Stat durch frühere Verträge, welche nicht in der Vorausſicht des eingetretenen Krieges zum Behuf der Unterſtützung einer Kriegspartei abgeſchloſſen worden ſind, verpflichtet war, dem State, der nun Kriegspartei geworden iſt, Truppen zu ſtellen, ſo wird die Anweſenheit dieſer Truppen in Feindesland und ſelbſt die Theilnahme derſelben am Krieg nicht als Verletzung der Neutralität jenes States betrachtet, wenn im Uebrigen die friedliche Geſinnung des letztern unzweifelhaft iſt und er ſich ſtrenge innerhalb der Schranken ſeiner vertragsmäßigen Verpflichtung hält.
Die gelieferten Truppen ſind feindliche Perſonen, aber der Stat, der ſie nicht für dieſen Krieg geliefert hat, iſt nicht zum Feind geworden durch Ausbruch des Krieges.
Die neutrale Schweiz war, ſo lange ſie durch ſogenannte Militärcapitulationen gebunden war, oft in dieſer Lage, indem die im Dienſte und Solde einer fremden Macht ſtehenden Schweizertruppen an den Kriegen dieſer Macht Theil nahmen, während die Schweiz ſelber ſich an dem Kriege gar nicht betheiligte. Es kam ſogar nicht ſelten vor, daß ſolche ſchweizeriſche Werbetruppen in den beiden feindlichen Heerlagern zu finden waren und genöthigt wurden, wider einander zu kämpfen. Indeſſen iſt das immerhin ein Mißverhältniß, das zu aufrichtiger Neutralität nicht paßt. Indem die ſchweizeriſche Bundesverfaſſung von 1848 nun alle Militärcapitulationen unterſagt hat, ſchützt ſie die Neutralität der Schweiz beſſer gegen derartige Zweifel. Ein anderes Beiſpiel einer Lieferung von Hülfstruppen bei einer im übrigen fortdauernden neutralen Haltung hat Dänemark in dem
(0433 : 411)
Recht der Neutralität.
Schwediſch-Ruſſiſchen Kriege von 1788 gegeben. Die Correſpondenz darüber zwiſchen Dänemark, welches an Rußland Schiffe und Truppen geliefert hatte und trotzdem ſeine Neutralität behauptete, und Schweden, welches zwar dieſe Behauptung beſtritt, aber thatſächlich dennoch Dänemark als neutralen Stat behandelte, ſiehe bei Phillimore III. § 140.
760.
Kein Stat und daher auch kein kriegführender Stat iſt berechtigt, in einem fremden, insbeſondere einem neutralen Stat wider den Willen der Statsgewalt Truppen zu werben.
Die Truppenwerbung wie alle Truppenaushebung und Truppenſammlung iſt voraus eine Aeußerung der Kriegshoheit, welche ausſchließlich der einheimiſchen Statsgewalt zuſteht. Die fremde Werbung, die nicht von dieſer geſtattet worden, iſt daher eine Verletzung jener Statshoheit.
761.
Erlaubt der neutrale Stat ausſchließlich oder vorzugsweiſe einer Kriegspartei die Truppenwerbung in ſeinem Gebiet, ſo erſcheint dieſe Handlung als Beihülfe zur Kriegsführung und demgemäß als Verletzung der Neutralitätspflicht.
1. Indem der neutrale Stat die Werbung geſtattet, ſtellt er dem fremden Stat einen Theil ſeiner militäriſchen Volkskräfte zur Verfügung. Geſchieht das nur zu Gunſten einer Partei und daher wider die andere, ſo ergreift der bisher neutrale Stat dadurch ſelber Partei für jene wider dieſe, und gibt damit ſeine neutrale Haltung auf. Vielleicht läßt ſich das der Gegner gefallen, ohne deßhalb jenen Stat als Feind zu behandeln. Dann dauert trotzdem das Friedensverhältniß fort. Aber der befeindete Stat braucht ſich das nicht gefallen zu laſſen, und kann in Folge deſſen ſich weigern, länger jenen Stat als neutral anzuſehn.
2. Die Anwerbung von Truppen in fremdem Lande, ohne Erlaubniß der Landesregierung gilt daher als ein ſtrafbares Vergehen. Vgl. darüber das nordamerikaniſche Neutralitätsgeſetz vom 5. Juni 1794, beſtätigt und ergänzt den 20. April 1818 Art. 2, das engliſche Geſetz British foreign-enlistment Act v. 3. Juli 1819 (59 Georg III. c. 69) § 2 und die Rede Cannings im engliſchen Parlament bei Phillimore III. § 146 u. 147. Wheaton Int. L. § 439 und beſonders die Anmerkung dazu von Dana.
762.
Wenn der neutrale Stat beiden Kriegsparteien die Truppenwerbung
(0434 : 412)
Neuntes Buch.
in ſeinem Gebiete geſtattet, ohne eine derſelben vorzugsweiſe zu begünſtigen, ſo iſt das zwar kein offenbarer Bruch der Neutralitätspflicht, aber die völlige Unterſagung jeder fremden Werbung entſpricht beſſer und unzweideutiger der neutralen Haltung.
Neutralität bedeutet nicht gleichmäßige Begünſtigung der beiden Kriegsparteien, ſondern Enthaltung von jeder Kriegstheilnahme. Die Unparteilichkeit, welche ſich in jener äußert, hat einen zweideutigen und verdächtigen Charakter, einmal weil es unnatürlich iſt, daß der Stat ſeine jungen Männer in zwei feindliche Lager verlocken und dann wider einander kämpfen läßt, und ſodann weil ſie nicht Enthaltung von jeder Parteinahme, ſondern eher gleichzeitige Theilnahme auf beiden Seiten iſt. Die frühere Praxis der ſchweizeriſchen Eidgenoſſenſchaft, mit verſchiedenen Mächten Militärcapitulationen abzuſchließen und zuweilen den entgegengeſetzten Kriegsparteien Schweizertruppen zu liefern, (zu § 759), hat zwar damals ihre Neutralität nicht aufgehoben, war aber ein ſehr bedenklicher Vorgang, Vattel III. § 110. Dagegen Phillimore III. § 150. „Ein Volk, welches beiden Kriegsparteien in Mannſchaft oder Geld Hülfe leiſtet, mag unparteiiſch ſein, aber es iſt nicht neutral“.
763.
Der neutrale Stat darf nicht bloß ſelber keine Kriegsſchiffe einer Kriegspartei liefern; er iſt auch verpflichtet, in guter Treue darüber zu wachen und es zu verhindern, daß nicht auf ſeinem Gebiete durch Privatperſonen Kriegsſchiffe für eine Kriegspartei ausgerüſtet und derſelben überliefert werden.
1. Im Friedenszuſtand iſt der Verkauf von Kriegsſchiffen von Stat zu Stat unbedenklich, und ebenſo die Lieferung ſolcher von Seite der Privatinduſtrie. Dann ſind das friedliche Rechtsgeſchäfte. Aber während des Kriegs liegt in der Ausrüſtung und Zuwendung von Kriegsſchiffen eine offenbare Unterſtützung und Verſtärkung der Kriegsgewalt. Inſofern dieſe Abſicht aus den Umſtänden ſichtbar wird, iſt das kriegeriſche Beihülfe, die mit der neutralen Haltung nicht verträglich iſt.
2. Schon das Neutralitätsgeſetz der Vereinigten Staten von Nordamerika von 1794 (revidirt 1819) enthält in Art. 3 eine Strafbeſtimmung gegen alle Perſonen, welche „Schiffe ausrüſten und bewaffnen, oder dafür ſorgen, daß Schiffe ausgerüſtet und bewaffnet werden in der Abſicht für einen fremden Stat zu feindlichen Handlungen gegen einen andern Stat verwendet zu werden, der im Frieden iſt mit den Vereinigten Staten“. Dieſes Geſetz wurde unter der Präſidentſchaft des Generals Washington erlaſſen, nachdem für Frankreich im Kriege mit England in den amerikaniſchen Häfen Kreuzerſchiffe ausgerüſtet worden waren und die
(0435 : 413)
Recht der Neutralität.
engliſche Regierung darüber Beſchwerde geführt hatte, als über eine Verletzung der Neutralität. Die Regierung der Vereinigten Staten erklärte die Beſchwerde für gegründet, und das Geſetz ſchuf beſſere Garantien für die Bewahrung der Neutralität. Vgl. die Schrift Dr. G. Bemis American Neutrality. Boſton 1866 (wo ſich die amerikaniſchen und engliſchen Geſetze abgedruckt finden). Der engliſche Miniſter Canning berief ſich ſpäter auf das amerikaniſche Vorbild, um ſeinen Landsleuten eine ebenſo ſorgfältige Beachtung der Neutralitätspflicht zu empfehlen. Das engliſche Geſetz von 1819 enthält ein ähnliches Verbot.
3. Während der Unabhängigkeitskriege der amerikaniſchen Südſtaten gegen Spanien und Portugal hatten die Bundesgewalten der Vereinigten Staten vielfältigen Anlaß, den Verſuchen entgegenzutreten, welche in dem Gebiete der Union gemacht wurden, den aufſtändiſchen Colonien durch Ausrüſtung von Kreuzerſchiffen zu Hülfe zu kommen; und es war um ſo ſchwieriger für jene Behörden, die Pflichten der Neutralität zu erfüllen, als die Sympathien der Nordamerikaniſchen Bevölkerung naturgemäß ſehr entſchieden und ſehr lebhaft auf Seite der Aufſtändiſchen waren. Vgl. Dana Anm. zu Wheaton Int. Law. § 439 8. Ausg. S. 557 f.
764.
Sobald die Abſicht der Kriegshülfe offenbar wird, wenn auch vorerſt nur Vorbereitungen zur Ausrüſtung eines Kriegsſchiffs oder Caperſchiffs getroffen werden, ſo iſt der neutrale Stat zum Einſchreiten verpflichtet.
Es iſt nicht nöthig, daß das Schiff ſchon bewaffnet ſei. Wenn der Unternehmer ſcheinbar ein Handelsſchiff ausrüſtet, aber die Abſicht, dasſelbe, wenn es als ſolches ausgelaufen ſei, kriegeriſch zu bemannen und zu bewaffnen, nachgewieſen werden kann oder wenigſtens wahrſcheinlich iſt, ſo iſt das eine nicht zu duldende Umgehung der Neutralitätsgeſetze. Iſt aber jene Abſicht nicht vorhanden, ſo bewirkt auch die thatſächliche Verwendung eines Handelsſchiffs, das auf neutraler Werfte gebaut worden, aber von einem Kaufmann in einem kriegführenden State gekauft worden iſt, zu einem Kriegsſchiffe nicht eine Mißachtung der Neutralitätspflicht. Vgl. Wheaton a. a. O. S. 562. Anders iſt es, wenn ein Kriegsſchiff lediglich als Artikel der induſtriellen Unternehmung und des Handels, wenn auch an einen kriegführenden Stat, veräußert wird. Das iſt wohl Kriegscontrebande, aber nicht Verletzung der Neutralitätspflicht. Vgl. darüber den § 765.
765.
Ebenſo iſt es eine Verletzung der Neutralitätspflichten, wenn der
(0436 : 414)
Neuntes Buch.
neutrale Stat eine Kriegspartei mit Waffen oder anderem Kriegsmaterial ausrüſtet oder ausrüſten hilft.
Wenn aber Privatperſonen ohne die Abſicht der Kriegshülfe, lediglich in Form des Handelsgeſchäfts, Waffen oder Kriegsmaterial an einen kriegführenden Stat veräußern, ſo laufen ſie zwar Gefahr, daß dieſe Gegenſtände als Kriegscontrebande von der Gegenpartei weggenommen werden, aber durch die Duldung des Handelsverkehrs mit Kriegscontrebande wird die neutrale Haltung des States, von dem aus jener Verkehr betrieben wird, nicht verletzt.
1. Soweit die Ausrüſtung mit Waffen oder die Zuſendung von Waffen als beabſichtigte Kriegshülfe ſich darſtellt, ſoweit iſt das ein feindlicher Act, welcher mit neutraler Stellung ſich nicht verträgt. Dagegen der offene Handel mit Waffen von Seite der Waffenfabriken und Waffenhändler iſt ſeiner Natur nach ein friedliches Privatgeſchäft, welches ſowohl im Frieden als im Krieg in gleicher Weiſe geübt wird. Dem Effekte nach freilich wirkt der Ankauf von Waffen ganz ebenſo wie die Ausrüſtung mit Waffen. In beiden Fällen werden die Intereſſen der kriegführenden Partei dadurch gefördert. Daher kann ſich auch die Abſicht der kriegeriſchen Beihülfe, die den Neutralen durch das Völkerrecht unterſagt wird, in die Form des friedlichen Handelsgeſchäfts, welches völkerrechtlich den Neutralen nicht verwehrt wird, verſtecken. In den einzelnen Fällen alſo kann man Zweifel haben, ob jene oder ob dieſes gemeint ſei, und dieſe Zweifel müſſen aus den Umſtänden gelöst werden. Wird der Handel heimlich gemacht und vollzogen, wird er nur einſeitig einer Partei gewährt, ſo darf wohl daraus geſchloſſen werden, daß Kriegshülfe beabſichtigt und die Form des friedlichen Geſchäfts nur zur Verbergung jener Abſicht gewählt worden ſei.
2. Wer Kriegscontrebande einer Kriegspartei zuführt, der ſetzt ſich der Gefahr der Priſe aus (vgl. unten Cap. 4). Aber er verletzt nur die Kriegsintereſſen der einen Partei und verfällt inſofern ihrem Kriegsrecht. Der neutrale Stat hat keinen Grund, die Lieferung von Kriegscontrebande auch ſeinerſeits zu hindern. Bei den Verhandlungen vom Jahr 1793 über die nordamerikaniſche Neutralität in dem franzöſiſch-engliſchen Krieg erklärte Jefferſon, das Recht der Bürger, Waffen zu bearbeiten, zu verkaufen, auszuführen könne nicht durch einen fremden Krieg aufgehoben werden. Aber die amerikaniſchen Bürger üben dasſelbe auf ihre Rechnung und Gefahr aus. Wheaton a. a. O. S. 538.
766.
Der neutrale Stat iſt verpflichtet, Waffenſendungen im Großen, welche nach den Umſtänden als Kriegshülfe erſcheinen, auf ſeinem Gebiete möglichſt zu verhindern.
(0437 : 415)
Recht der Neutralität.
1. Man darf dem neutralen State nicht zumuthen, daß er die Verſchickung von Waffen im Einzelnen und Kleinen verhindere. Das hat auf die Beziehung von Stat zu Stat keinen Einfluß und die Durchführung einer ſolchen Obſorge würde eine unverhältnißmäßige Anſtrengung der Behörden erfordern und unerträgliche Quälereien für die Bürger nach ſich ziehen.
2. Anders verhält es ſich mit der Zuſendung im Großen. Darin liegt durchweg eine thatſächliche Förderung einer Kriegspartei und meiſtens auch eine kriegeriſche Beihülfe. Inſofern hat der neutrale Stat, um ſeine Nichtbetheiligung am Kriege außer Zweifel zu ſtellen, ein Intereſſe, und ſoweit die Abſicht der Kriegshülfe mindeſtens wahrſcheinlich iſt, die Pflicht, der Ausführung ſolcher Sendung entgegenzutreten.
767.
Die Geſtattung des freien Ankaufs von Lebensmitteln, wenn auch für die Verproviantirung der kriegführenden Armee, iſt nicht als Begünſtigung derſelben zu betrachten, wenn ſie allgemein iſt und gleichmäßig für beide Parteien gilt.
Die Ernährung der Menſchen iſt unter allen Umſtänden ein friedliches Geſchäft, keine feindliche That. Der Handel mit Lebensmitteln, Schlachtvieh, Getreide, Brod u. ſ. f. kann daher in der Regel nicht als kriegeriſche Beihülfe angeſehen werden. Nur wenn er der einen Partei gewährt aber der andern verſagt, oder wenn die Lieferung von Lebensmitteln an die eine Armee als Kriegsſubſidie ſich darſtellen würde, dann würde die offenbare Parteinahme für die eine Kriegspartei wider die andere die neutrale Haltung verletzen.
768.
Der neutrale Stat darf auch nicht einer Kriegspartei ein Gelddarlehen machen, um ihr für den Krieg die erforderlichen Mittel zu verſchaffen und es widerſtreitet der Neutralitätspflicht, wenn er geſtattet, daß im Lande eine Anleihe für eine Kriegspartei ausgeſchrieben oder ſonſt Gelder zur Unterſtützung derſelben öffentlich geſammelt werden. Die Geldbeiſchüſſe aber, welche Privatperſonen von ſich aus einer Kriegspartei leiſten, gefährdet die Neutralität des States nicht.
1. Wenngleich Gelddarlehen in der Regel ebenfalls Friedensgeſchäfte ſind, ſo iſt doch die Geldanleihe für Kriegszwecke ebenſo wie die Kriegsſubſidie (oben 756) eine offenbare Kriegshülfe, deren ſich die Neutralen enthalten müſſen. Das gilt aber auch von Privaten, welche die Kriegsanleihe machen.
(0438 : 416)
Neuntes Buch.
Es wird demnach keine Klage auf Erfüllung zugelaſſen. Vgl. die Erkenntniſſe in der helleniſchen Anleihe von 1826 bei Phillimore III. § 151. Oberrichter Beſt: „Es iſt wider das Völkerrecht, daß Perſonen, welche in dieſem Lande wohnen, ſich auf Unterhandlungen einlaſſen, um Darlehusgelder zu erheben, welche beſtimmt ſind, die aufſtändiſchen Unterthanen im Kriege gegen eine Regierung zu unterſtützen, mit welcher wir befreundet ſind; und deßhalb iſt keine auf Erfüllung gerichtete Klage zuzulaſſen“.
2. Meines Erachtens iſt jedoch nur die offenbare Kriegsanleihe nicht zu dulden. Dagegen iſt eine Geldſammlung aus Gründen der Humanität, z. B. zu Gunſten der Verwundeten, der vom Kriegsunglück betroffenen Familien, der Bertriebenen, der Kriegsgefangenen u. ſ. f. durchaus nicht eine feindliche Handlung, auch nicht wenn ſie ausſchließlich ſich auf die Angehörigen der einen Kriegspartei bezieht, und gefährdet die Neutralität nicht.
3. Das Ausſchreiben einer Kriegsanleihe hat, weil es öffentlich und in der Abſicht geſchieht, die Parteinahme möglichſt auszubreiten, einen ähnlichen Charakter, wie die Werbung von Hülfstruppen. Deßhalb darf der neutrale Stat das nicht dulden. Wenn aber einzelne Privatperſonen die kriegführende Macht mit Geld unterſtützen, ſo iſt das dem Beitritt einzelner Freiwilliger zu einer fremden Kriegsarmee zu vergleichen. Das ſind individuelle Handlungen, die der neutrale Stat nicht verhindern kann, und für die er nicht verantwortlich iſt. Es kann auch das durch die Strafgeſetze eines Landes verboten ſein. Aber das Völkerrecht kümmert ſich nicht weiter darum.
769.
Der neutrale Stat darf nicht geſtatten, daß ſein Gebiet von einer Kriegspartei zu Kriegszwecken benutzt werde.
Es iſt das der allgemeinſte Ausdruck eines Grundſatzes, deſſen nähere Ausführung ſich in den §§ 770 ff. findet. Der neutrale Stat muß ſein Gebiet neutral erhalten, was nicht geſchieht, wenn eine fremde Kriegspartei in demſelben Krieg führt oder ſich desſelben für die Kriegsführung bemächtigt.
770.
Es darf daher keiner Kriegspartei der Durchmarſch durch das neutrale Gebiet geſtattet werden.
Auch wenn der regelmäßige Weg, auf welchem die Staten, die nun zum Kriege kommen, mit einander oder in ſich verbunden ſind, über das neutrale Gebiet hinführt, ſo erfordert es dennoch die Pflicht der Neutralität, daß nun den feindlichen Heeren der Durchmarſch verweigert werde. Der Durchmarſch der franzöſiſchen Truppen über das neutrale Preußiſche Gebiet im October 1805 war eine Mißachtung der
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Recht der Neutralität.
preußiſchen Neutralität, und ebenſo der bewilligte Durchmarſch der Alliirten über ſchweizeriſches Gebiet nach Frankreich im Jahr 1814 ein Aufgeben der ſchweizeriſchen Neutralität.
771.
Wenn jedoch eine Verfaſſungspflicht oder eine Statsdienſtbarkeit oder eine ohne Rückſicht auf einen bevorſtehenden Krieg begründete Vertragspflicht des neutralen States beſteht, den Durchzug von Truppen einem andern State zu geſtatten, der nun Kriegspartei iſt, ſo iſt die gemeſſene Erfüllung dieſer Pflicht nicht als Unterſtützung dieſer Kriegspartei zu betrachten und es liegt darin keine Verletzung der Neutralitätspflicht.
Die Verfaſſungspflicht kann vorzüglich in zuſammengeſetzten Staten die Einzelſtaten nöthigen, daß ſie die Truppen ihrer Bundesgenoſſen über ihr Gebiet marſchiren laſſen, wie das z. B. den Rheinbundsſtaten im Jahr 1806 zur Pflicht gemacht war. Ebenſo können einem State Etappenſtraßen im Frieden und im Krieg geöffnet ſein. Ein Beiſpiel einer vertragsmäßigen Geſtattung des Truppendurchzugs beſtand früher zu Gunſten des Großherzogthums Baden gegenüber der Schweiz auf der Eiſenbahn von Conſtanz über Baſel. Da manche Straßen und Eiſenbahnen die Grenzen verſchiedener Statsgebiete abwechſelnd durchſchneiden, ſo iſt in manchen Fällen ein wechſelſeitiges Zugeſtändniß der Benutzung derſelben auch für Truppentransporte durch die örtlichen Verhältniſſe motivirt, ohne daß man daraus irgendwie auf Kriegshülfe zu ſchließen berechtigt iſt.
772.
Die Durchfahrt der Kriegsſchiffe durch das neutrale Küſtengewäſſer gilt nur inſofern als Verletzung der Neutralität, als der neutrale Stat dieſelbe den kriegführenden Mächten unterſagt hat.
Der Grund liegt darin, daß der flüſſige Küſtenſaum nur in beſchränktem Sinne der Statshoheit des Uferſtats unterworfen, als Beſtandtheil des Meeres aber der freien Schiffahrt aller Völker offen iſt. Daher iſt es auch nicht eine abſolute Pflicht des neutralen States, dieſe Durchfahrt zu verhindern; aber er kann ſie verhindern, weil er vom Ufer aus den Küſtenſaum beherrſcht. Die fremden Schifffahrer ſind verpflichtet, ſich ſeinen policeilichen und militäriſchen Vorſichtsmaßregeln auf dieſem Gebiete zu fügen. Vgl. oben § 309. 310. Wheaton Int. Law. § 432.
773.
In die Eigengewäſſer (Seehäfen) aber darf der neutrale Stat die
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 27
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Neuntes Buch.
Kriegsſchiffe der feindlichen Parteien nicht einlaufen, noch über ſeine Ströme, Flüſſe, Canäle hindurchfahren laſſen, außer zu offenbar friedlichen Zwecken (Aufnahme von Lebensmitteln, Waſſer, Kohlen) oder im Nothſtand zur Ausbeſſerung, nicht aber zum Behuf erneuerter oder verſtärkter Kriegsrüſtung.
1. Vgl. oben § 309 und 311. Amerikaniſches Neutralitätsgeſetz von 1818 Art. 5. Würde der neutrale Stat den feindlichen Kriegsſchiffen ſeine Häfen öffnen, ſo würde er damit die Kriegsführung derſelben unterſtützen, und würde er denſelben ſeine Waſſerſtraßen zur Benutzung überlaſſen, ſo wäre das der Einräumung der Landſtraßen für feindliche Truppenmärſche gleichzuſtellen. Das iſt Kriegshülfe und als ſolche dem Neutralen nicht erlaubt.
2. Dagegen die Aufnahme der Kriegsſchiffe zu friedlichen Zwecken iſt erlaubt, da der neutrale Stat im Frieden mit den kriegführenden Staten lebt, wenn gleich mittelbar daraus auch Vortheil für eine Kriegspartei erwachſen kann. Es iſt das der Geſtattung des Ankaufs von Lebensmitteln gleichzuſtellen. Vgl. oben § 767. Gewöhnlich wird den Kriegsſchiffen, wenn ſie Waſſer oder Kohlen einnehmen oder Reparaturen vornehmen wollen und zu dieſem Behuf in den neutralen Häfen zugelaſſen werden, nur eine ganz kurze Friſt (meiſtens nur von 24 Stunden) verſtattet. Dana zu Wheaton Int. L. § 429. Die Engliſche Geh.-RathsVerordnung vom 31. Jan. 1862 beſtimmt, daß die feindlichen Kreuzer, welche in die neutralen engliſchen Häfen einlaufen, binnen 24 Stunden dieſelben wieder verlaſſen müſſen, außer wenn die Seenoth oder das Bedürfniß für die Nahrung der Mannſchaft oder die Seefähigkeit des Schiffs zu ſorgen, einen längeren Aufenthalt erfordert. Auch die Erlaubniß, Kohlen aufzunehmen, wird darin beſchränkt durch die Rückſicht auf die Möglichkeit, zu einem andern Hafen zu gelangen.
774.
Verfolgte Truppentheile, die ſich auf neutrales Gebiet flüchten, darf der neutrale Stat jederzeit aufnehmen, ihnen Nahrung verſchaffen und jede menſchliche Hülfe gewähren, ohne dadurch ſeine Neutralität zu gefährden.
Man nennt auch dieſes Recht des neutralen States Aſylrecht. Vgl. oben § 396. Die feindliche Verfolgung muß an der Grenze des neutralen States Halt machen, denn das Gebiet desſelben iſt Friedensgebiet. Daher finden auch die verfolgten und verſprengten Krieger hier vorerſt Sicherheit und Ruhe. Indem der neutrale Stat ſie aufnimmt und ſchützt, übt er ſein Friedensrecht und keineswegs eine Kriegshülfe aus.
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Recht der Neutralität.
775.
Ebenſo darf der neutrale Stat den nothleidenden Kriegsſchiffen in ſeinen Häfen Aufnahme und Schutz gewähren.
Auch das iſt Aſyl und Ausübung menſchlicher (nicht kriegeriſcher) Beihülfe, die immer erlaubt, weil Menſchenpflicht iſt.
776.
Der neutrale Stat hat aber dafür zu ſorgen, daß dieſe Handlung der Menſchlichkeit nicht von den feindlichen Truppen mißbraucht werde, um den Krieg von dem neutralen Gebiet aus zu erneuern oder fortzuſetzen. Die flüchtigen Truppen und Kriegsſchiffe ſind daher in der Regel zu entwaffnen und erſtere je nach Umſtänden von der Grenze zu entfernen und zu interniren.
Würden ſich die flüchtigen Truppen auf dem neutralen Boden wieder ſammeln, und dann neuerdings vielleicht an einer günſtigeren Stelle auf das Kriegsfeld ziehen und den Kampf da wieder aufnehmen, ſo würden ſie das neutrale Gebiet für ihre Kriegsführung ausbeuten, was der neutrale Stat nicht dulden darf. Er gewährt den Verfolgten Schutz, aber er begünſtigt nicht die Kriegsführung einer Partei. Deßhalb die Regel der Entwaffnung und in manchen Fällen, beſonders wo die Anweſenheit der Truppen in der Nähe der Kriegsgrenze gefährlich iſt, die Internirung der Truppen in das Innere des Landes. Es iſt das nicht Kriegsgefangenſchaft, welche Friedensſtaten nicht üben, ſondern nur eine Maßregel der politiſchen Policei.
777.
Der neutrale Stat darf ſein Gebiet nicht hergeben zum Stützpunkt für kriegeriſche Unternehmen eines der Feinde, nicht für Waffenplätze, Schiffsſtationen, Magazine für Kriegsvorräthe u. dgl., auch nicht zur Ausübung der Priſengerichtsbarkeit, er darf nicht dulden, daß auf ſeinem Gebiete der Kampf fortgeſetzt, noch daß da Beute gemacht werde. Die Verfolgung geſchlagener Truppen hört auf, wo das neutrale Gebiet beginnt.
Die Gewährung des Gebiets zum Behuf kriegeriſcher Operationen wäre offenbar Kriegshülfe. Am meiſten beſtritten iſt es, ob der neutrale Stat nicht geſtatten
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Neuntes Buch.
dürfe, Priſen vorläufig in den neutralen Häfen zu ſichern; wie das die Vereinigten Staten vor ihren Neutralitätsgeſetzen Frankreich vertragsmäßig geſtattet hatten. Soweit das als eine Handlung der Sicherung des genommenen Schiffs gegen die Gefahr des Untergangs zu betrachten iſt, ſo hat dieſes Bergen desſelben eine durchaus friedliche Bedeutung. Inſofern aber die Einbringung des Schiffs in den neutralen Hafen nur in der Abſicht geſchieht, die gemachte Beute zu deponiren und möglichſt bald und bequem wieder auf neue Beute auszufahren, iſt das Benutzung des neutralen Gebiets zu Kriegszwecken, und dann nicht zu dulden. Der neutrale Stat wird daher wohl thun, um alle Zweifel gegen ſeine neutrale Haltung zu beſeitigen, die Aufnahme ſolcher Priſen überhaupt zu verweigern, außer ſoweit die Seenoth und daher die Intereſſen der Humanität die Gewährung eines Zufluchtsorts rechtfertigen. Ueberhaupt läßt ſich in der Entwicklung des Völkerrechts ein Zug zu ſtrengerer und ſorgfältigerer Wahrung der Neutralität nicht verkennen. Die heutige Welt nimmt leichter Anſtoß an irgend einer Begünſtigung der Kriegsführung, als die Vergangenheit, welche geneigter war, die Souveränetät des neutralen Stats in ausgedehntem Sinne anzuwenden. Manche frühere Verträge geſtatteten daher die Einbringung der Priſen zum Verkauf in die neutralen Häfen, während die neuere Praxis das eher verſagt. Vgl. Heffter § 147.
778.
Der neutrale Stat iſt verpflichtet, zur Wahrung ſeiner Neutralität gegen Verletzungen durch Andere die erforderlichen Maßregeln zu ergreifen und nöthigenfalls ſeine Statsmacht dafür einzuſetzen.
Die Staten ſind gegenüber andern Staten verantwortlich nicht bloß für die Rechtsverletzungen, welche in ihrem Auftrag verübt worden ſind, ſondern auch dafür, daß ſie Privatperſonen nicht hindern, in ihrem Gebiet oder von ihrem Gebiete aus andere Staten zu verletzen. Der Stat muß dafür ſorgen, daß das friedliche und freundliche Verhältniß zu andern Staten auch von ſeinen Angehörigen und Einwohnern geachtet werde. Vgl. oben § 467.
779.
Man darf dem neutralen Stat nicht jede durch ſeine Angehörigen oder Bewohner verübte Verletzung der Neutralitätspflichten zur Schuld anrechnen, wohl aber eine offenbare Vernachläſſigung der Sorge für ſeine Neutralität oder eine jede abſichtliche Begünſtigung des Neutralitätsbruchs.
So wenig ein Stat im Innern alle Verbrechen verhindern kann, ſo wenig kann er jeden Friedensbruch nach Außen verhindern. Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit des States reicht nicht weiter als ſeine Verſchuldung, und
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Recht der Neutralität.
dieſe iſt nur dann vorhanden, wenn der Stat entweder den Neutralitätsbruch hervorruft oder doch in feindlicher Abſicht begünſtigt oder wenn ihm eine grobe Fahrläſſigkeit vorgeworfen werden kann, indem er es verſäumt, denſelben zu verhindern. Wenn ihm z. B. angezeigt wird, oder er ſonſt es erfährt, daß ſich Truppen oder Freiſcharen an der Grenze ſammeln, um einen feindlichen Einfall in das benachbarte Kriegsland zu machen oder dem feindlichen Heere zuzuziehn, ſo wird er dieſe Schaaren zerſtreuen und den Einfall verhindern müſſen, damit ihm nicht Connivenz mit dem Neutralitätsbruch vorgeworfen werde.
780.
Fällt der Neutralitätsbruch lediglich dritten Perſonen, nicht dem neutralen State ſelbſt zur Laſt, ſo iſt der dadurch verletzte und geſchädigte kriegführende Stat berechtigt, von dem neutralen State Abſtellung des Unrechts, ſo weit es in deſſen Macht ſteht und je nach Umſtänden Beſtrafung der Schuldigen, nicht aber deren Auslieferung zu fordern.
Die dritten Perſonen können ſein:
a) eine der Kriegsparteien ſelber,
b) Unterthanen oder Bürger des neutralen Stats,
c) Fremde Individuen in dem neutralen Gebiete.
Die Abſtellung des Unrechts iſt in allen Fällen Aufgabe des neutralen Stats. Die Beſtrafung der Schuldigen wird in der Regel nur gegen die Individuen durchzuführen ſein, welche in dem Bereich der neutralen Strafgewalt ſind. Die Auslieferung der Einheimiſchen an eine fremde Strafgewalt wird von dem heutigen internationalen Strafrecht nicht gebilligt; die Auslieferung der Fremden iſt zwar zuläſſig, aber der Stat, der ſie — ohne die dringendſten Motive — gegen politiſche Flüchtlinge vollzieht, würde ſich dem Vorwurf der Grauſamkeit und der Inhumanität ausſetzen, weßhalb ſie von dem neutralen State nicht erwartet werden kann. Vgl. § 398. 399.
781.
Hat der neutrale Stat den Bruch der Neutralität ſelbſt verſchuldet, ſo iſt die dadurch verletzte Kriegspartei berechtigt, von demſelben Genugthuung und Entſchädigung zu fordern und in ſchweren Fällen die Neutralität als erloſchen zu erklären und auch ſeinerſeits nicht weiter zu beachten.
Die Verletzung der Neutralitätspflichten berechtigt keineswegs die verletzte Kriegspartei, nun auch den neutralen Stat als Feind zu behandeln. In ſehr vielen Fällen wäre eine ſolche Wirkung unverhältnißmäßig. Sie fällt lediglich
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Neuntes Buch.
in die Claſſe der Rechtsbrüche und Friedensſtörungen überhaupt. Vgl. darüber § 464 f. Oft genügt, um die Verletzung gut zu machen, die bloße Zuſicherung des neutralen Stats, in Zukunft die Neutralitätspflicht vollſtändiger zu erfüllen; in andern iſt die bloße Beſeitigung des Unrechts ausreichend. Nur in den ſchwerſten Fällen wird darin eine Kriegsurſache gegen den neutralen Stat zu erkennen ſein.
782.
Auch wenn der neutrale Stat zwar Willens iſt, ſeine Neutralität zu bewahren und ſich ſelber aller neutralitätswidrigen Handlungen enthält, aber offenbar die Macht nicht hat, den fortgeſetzten Angriffen einer überlegenen Kriegspartei gegenüber ſeine Neutralität dauernd zu behaupten oder wieder herzuſtellen, ſo iſt auch die andere Kriegspartei nicht mehr verflichtet, die Neutralität ſeines Gebiets in ihrer Kriegsführung zu beachten, ſondern berechtigt, ohne Rückſicht darauf diejenigen Maßregeln zu ergreifen, welche zur Kriegsführung nöthig ſind.
Die neutrale Geſinnung reicht nicht aus zur Neutralität. Dieſe muß vielmehr thatſächlich beſtehn. Wenn daher eine Kriegspartei den Durchmarſch durch das neutrale Gebiet erzwingt, ohne ſich um deſſen Neutralität zu kümmern, oder ſich eines neutralen Platzes oder Hafens zu ihren Kriegsoperationen bemächtigt, ſo iſt das einerſeits eine Verletzung der Rechte des Neutralen, aber andrerſeits auch, wenn der Neutrale zu ſchwach iſt, um Widerſtand zu leiſten oder die Verletzung wieder aufzuheben, für die andere Kriegspartei eine Veranlaſſung, das bisher neutrale Gebiet als nicht mehr neutral, ſondern dem Feinde dienſtbar zu betrachten und demgemäß innerhalb dieſes Gebiets dem Feinde ebenfalls mit Gewalt entgegenzutreten.
3. Rechte der Neutraſen.
783.
Für den neutralen Stat dauert das Friedensrecht fort, auch im Verhältniß zu den kriegführenden Staten.
(0445 : 423)
Recht der Neutralität.
Vgl. zu 224. Es iſt das freilich nur die Hauptregel, welche allerdings durch die Rückſichten auf den Krieg einige Modificationen erleidet, wie z. B. bezüglich der Enthaltung von jeder Kriegshülfe, des Blocaderechts, des Durchſuchungsrechts u. ſ. f.
784.
Die feindlichen Staten ſind verpflichtet, die Gebietshoheit der neutralen Staten auch während ihres Krieges vollſtändig zu achten und ſich jeden Eingriffs in dieſelbe zu enthalten, auch wenn das Bedürfniß der Kriegsführung denſelben verlangen ſollte.
Das Nothrecht der Kriegsgewalt iſt auf das Kriegsfeld beſchränkt. Es darf ſich nicht in das neutrale Gebiet hinein erſtrecken, denn dieſes Gebiet iſt Friedensgebiet, in welchem die fremde Kriegsgewalt Nichts zu befehlen hat.
785.
Wenn feindliche Truppen auf der Flucht das neutrale Gebiet erreichen, ſo iſt der neutrale Stat berechtigt, ſie vor der Verfolgung zu ſchützen (774) und die Verfolger zurückzuweiſen. Er darf innerhalb ſeines Gebietes die Kriegsgefangenen des Feindes und die gemachte Beute wieder frei geben.
786.
Wenn innerhalb der neutralen Eigengewäſſer von einem feindlichen Schiff ein feindliches Schiff weggenommen worden iſt, ſo iſt der neutrale Stat berechtigt, die Herausgabe der Priſe zu fordern und dieſelbe frei zu geben.
1. Alle Wegnahmen innerhalb der neutralen Eigengewäſſer ſind rechtswidrig, denn es ſind das feindliche Acte innerhalb des fremden Friedensgebiets. Darin liegt immer eine Verletzung der neutralen Rechte. Der neutrale Stat iſt daher berechtigt, die Wegnahme als ungültig zu behandeln und die Priſe frei zu geben und ebenſo berechtigt, die Perſonen, welche ſeine Neutralitätsrechte verletzt haben, wenn ſie ſich in dem Bereiche ſeiner Gerichtsgewalt finden, zur Verantwortung und Strafe zu ziehen.
2. Einen merkwürdigen Fall, in welchem die obige Regel zur Anwendung kam, berichtet Dana in der Anmerkung zu Wheaton Int. L. § 428. Die Mannſchaft eines amerikaniſchen Handelsſchiffs Cheſapeake empörte ſich während
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Neuntes Buch.
des Bürgerkriegs gegen den Capitän und trat als Caperſchiff in den Dienſt der conföderirten Südſtaten. Ein Kriegsſchiff der Vereinigten Staten verfolgte dasſelbe und nahm es innerhalb der Brittiſchen Eigengewäſſer weg. Darüber beſchwerte ſich die engliſche Regierung als über eine Verletzung ihrer neutralen Gebietshoheit. Der amerikaniſche Miniſter Seward erkannte in einer Depeſche vom 9. Jan. 1864 an, daß das Verfahren des amerikaniſchen Kriegsſchiffs nicht gerechtfertigt ſei nach der Strenge des Rechts, wenn auch einigermaßen zu entſchuldigen durch den rühmlichen Eifer, „offenbare Seeräuber zu ſtrafen“, und daß er daher dieſe Verletzung des Völkerrechts und der freundlichen Beziehungen der beiden Staten bedaure und gegen den Officier jenes Kriegsſchiffs disciplinariſch verfahren werde. Die engliſche Regierung begnügte ſich mit dieſer Erklärung. Das genommene Schiff aber wurde den Engliſchen Behörden zur Verfügung geſtellt, und ſchließlich den urſprünglichen Eigenthümern zurückgegeben.
3. Nur der neutrale Stat iſt zunächſt berechtigt, von dem kriegführenden Stat die Herausgabe der Priſe, beziehungsweiſe die Wiederherſtellung des frühern Zuſtands zu fordern, denn nur ſein Recht iſt durch die feindliche Wegnahme verletzt worden, nicht aber der feindliche Eigner des genommenen Schiffs. Allerdings kommt dieſe Befreiung dem Eigenthümer des genommenen Schiffs zu Gute, da natürlich der neutrale Stat keine Anſprüche auf dasſelbe erheben kann. Aber dieſe Wirkung iſt für ihn nur ein glückliches Ereigniß. Wenn das genommene Schiff dem Priſengericht des Nehmers zugeführt worden iſt, ſo hängt es daher von dem neutralen State ab, die Vertheidigung des Eigenthümers durch ſeine Beſchwerde zu unterſtützen. In dieſem Falle erkennt auch das feindliche Priſengericht die Wegnahme als ungültig. Aber wenn der neutrale Stat ſtillſchweigt und ſich die Verletzung ſeiner Gebietshoheit gefallen läßt, dann nimmt man an, habe das Priſengericht keine Veranlaſſung, gegenüber einem feindlichen genommenen Schiffe die Beſchwerde des Neutralitätsbruchs zu beachten, welche nur dem neutralen State zuſteht. Vgl. Wheaton Int. L. § 430.
787.
Die Verfolgung eines feindlichen Schiffes, das ſich in die Eigengewäſſer eines neutralen States flüchtet, darf innerhalb dieſer Gewäſſer nicht fortgeſetzt werden.
Die Praxis der Seemächte hat zwar dieſe Regel oft mißachtet und die neutralen Staten haben dieſen Eingriff in ihre friedliche Gebietshoheit oft ungerügt ertragen. Dennoch zwingt die Logik zur Verwerfung dieſer Praxis und findet dieſelbe in der Hitze des kriegeriſchen Eifers zwar eine pſychologiſche Erklärung, aber keine Rechtfertigung. Vgl. Wheaton Int. L. 429 und Anm. von Dana.
788.
Der neutrale Stat iſt berechtigt, feindliche Truppen, welche in ſein
(0447 : 425)
Recht der Neutralität.
Gebiet gewaltſam einbrechen, zu entwaffnen und gefangen zu nehmen. Haben dieſelben im Auftrag des Befehlshabers gehandelt, ſo iſt der Stat, dem ſie dienen, zur Genugthuung und Entſchädigung verpflichtet, haben ſie eigenmächtig den Frieden gebrochen, ſo iſt der neutrale Stat berechtigt, die einzelnen Schuldigen ſtrafrechtlich zu verfolgen.
Inwiefern die Führer der feindlichen Truppen im Auftrag ihres States handelten, muß der ſtrafrechtliche Standpunkt hinter dem entſcheidenden völkerrechtlichen zurücktreten. Dann liegt ein Friedensbruch von Stat gegen Stat vor. Wenn dagegen die Soldaten auf eigene Fauſt die Grenze gewaltſam überſchreiten und den Frieden brechen, dann kann die gewohnte Strafgerichtsbarkeit des neutralen Stats begründet ſein, indem jeder Stat berechtigt iſt, alle in ſeinem Gebiete verübten Verbrechen und Vergehen zu beſtrafen. Zuweilen freilich wird es der neutrale Stat auch in ſolchen Fällen vorziehn, die Schuldigen dem kriegführenden State zur Beſtrafung zu überliefern, als ſelber die Strafgerichtsbarkeit zu üben, beſonders dann, wenn die Schuldigen einem geordneten Heereskörper angehören. Wenn ſie aber Räuber oder vereinzelte Abenteurer ſind, dann iſt die Anwendung der Strafgerichtsbarkeit am Platz.
789.
Iſt die Verletzung des neutralen States lediglich aus Unkenntniß der Grenze, nicht aus böswilliger Abſicht geſchehen, ſo iſt derſelbe nur veranlaßt, die ſofortige Beſeitigung des Unrechts, Entſchädigung und die erforderlichen Maßregeln von dem verletzenden State dafür zu verlangen, daß in Zukunft ſich nicht eine ähnliche Mißachtung der Neutralität wiederhole.
In manchen Grenzgebieten, zumal in Gebirgsgegenden und Wäldern, iſt die Grenze ſchwer zu erkennen und daher ein Ueberſchreiten derſelben aus Irrthum leicht möglich und zu entſchuldigen. Die Verletzung der Neutralität iſt dann nicht beabſichtigt, vielleicht nicht einmal fahrläſſig, ſondern zufällig; und es bedarf nur der einfachen Wiederherſtellung und Sicherung für die Zukunft.
790.
Iſt die Verletzung des neutralen Gebiets oder des neutralen Rechts als ein verſchuldeter Rechts- oder Friedensbruch anzuſehen, ſo treten dieſelben Folgen ein, wie bei andern Rechts- und Friedensbrüchen (§ 464 f.). Nur in den ſchwerſten Fällen iſt der neutrale Stat berechtigt, ſofort aus
(0448 : 426)
Neuntes Buch.
ſeiner Neutralität herauszutreten und ſei es ſelbſtändig, ſei es in Verbindung mit der Gegenpartei des verletzenden Stats dieſen zu bekriegen. Die bloße bewaffnete Vertheidigung des neutralen Gebiets und die Zurückweiſung eines kriegeriſchen Angriffs hebt den neutralen Charakter nicht auf, ſondern bekräftigt ihn.
1. Vgl. oben Buch VII. Cap. 1. Aus der Verletzung der Neutralitätsrechte durch eine Kriegspartei folgt noch nicht das ſofortige Recht des Neutralen am Kriege Theil zu nehmen. Dieſe Folge wäre ebenſo unverhältnißmäßig, wie die umgekehrte aus der Verletzung der Neutralitätspflichten (oben § 781). In den meiſten Fällen wird ein auf Genugthuung gerichtetes Verfahren den Bedürfniſſen entſprechen. Im October 1864 fand ein den nordamerikaniſchen Südſtaten dienendes Kreuzerſchiff Florida Aufnahme in dem Braſiliſchen Hafen zu Bahia auf 48 Stunden, um die nöthigen Reparaturen vorzunehmen. Dieſes Schiff wurde von einem Kriegsſchiff der Vereinigten Staten, Wachuſett, in der Nacht angegriffen und genommen. Die Regierung von Braſilien forderte nun Genugthuung für dieſen Bruch der neutralen Gebietshoheit. Die Unionsregierung erkannte das Recht jener an, und erbot ſich, den Commandanten des Wachuſett vor ein Kriegsgericht zu ſtellen, den nordamerikaniſchen Conſul in Bahia, der zu dieſem Rechtsbruch geholfen hatte, zu entlaſſen und die gefangene Mannſchaft der Florida, obwohl ſie dieſelbe als Seeräuber betrachte, frei zu geben. Da das Schiff ſelbſt in Folge eines ſpätern Unglücks geſunken war, wofür die Vereinigten Staten keine Verantwortlichkeit hatten, ſo war in dieſer Hinſicht die Herausgabe unmöglich geworden. Mit dieſer Genugthuung erklärte ſich die Braſiliſche Regierung zufrieden. Vgl. Dana zu Wheaton Int. L. zu § 430.
2. Wenn aber der Friedensbruch, welchen der neutrale Stat durch eine Kriegspartei erleidet, ſo groß und ſchwer iſt, daß derſelbe als unmittelbare Kriegsurſache gilt, ſo kann der neutrale Stat entweder ſelbſtändig einen neuen und zweiten Krieg führen gegen den Friedensbrecher oder er kann, was in den meiſten Fällen zweckmäßiger ſein wird, ſich mit den Feinden des Friedensbrechers zum Kriege verbünden und den bisherigen Krieg durch ſeine Theilnahme erweitern.
3. In manchen Fällen wird die militäriſche Abwehr einer Neutralitätsverletzung die Wirkſamkeit der Neutralität bewahren. Dieſe iſt noch nicht Krieg, wenn ſie auch mit Kriegsmitteln wirkt. Zum Kriege fehlt die feindliche Abſicht. Die Friedensabſicht iſt hier entſcheidend und die Kriegsmittel werden nur vorübergehend angewendet, um die friedliche Haltung des neutralen States zu ſichern.
791.
Hat ein Hülfscorps des neutralen Stats (§ 736) an dem Kriege
(0449 : 427)
Recht der Neutralität.
ſich betheiligen müſſen und wird dasſelbe von dem Feinde in das neutrale Gebiet hinein verfolgt, ſo begeht auch der Feind keine Verletzung der Neutralität, wenn er die Verfolgung nicht an der Grenze ſtille ſtellt, ſondern über die Grenze fortſetzt.
Die unvollſtändig neutrale Haltung rechtfertigt die entſprechende unvollſtändige Achtung der Neutralität. Solche unreine Zwitterverhältniſſe zwiſchen Neutralität und Theilnahme am Krieg trüben die Reinheit der Friedensordnung und des Kriegsrechts und ſind daher möglichſt zu vermeiden.
792.
Der neutrale Stat iſt berechtigt, Päſſe und andere Urkunden auszuſtellen, welche auch bei den beiden Kriegsparteien auf öffentlichen Glauben Anſpruch haben.
Der neutrale Stat lebt in Frieden und Freundſchaft mit beiden Parteien. Daher werden auch ſeine Päſſe und andere Urkunden von denſelben reſpectirt.
793.
Der neutrale Stat hat ein Recht, ſeinen Statsſchutz auch auf ſeine Angehörigen und ihre Güter außerhalb des Statsgebiets ſo weit zu erſtrecken, als das friedliche Völkerrecht dieſen Schutz rechtfertigt.
Die kriegführenden Mächte dürfen auch innerhalb des Kriegsfeldes die neutralen Perſonen und die neutralen Güter nicht feindlich behandeln, ſondern nur denjenigen gemeinſamen Anordnungen unterwerfen, welche durch die Noth der Kriegsführung geboten ſind.
Wenn ſchon die Perſonen und das Eigenthum der friedlichen Angehörigen des feindlichen States zu ſchonen ſind, ſoweit nicht das Bedürfniß der Kriegsführung einen Eingriff erfordert und rechtfertigt, ſo gilt das in höherem Grade von den neutralen Perſonen und Gütern. Denn hier tritt zu den allgemeinen Rückſichten der Menſchlichkeit die beſondere Rückſicht auf die freundlichen Beziehungen zu dem neutralen State förderlich hinzu. Insbeſondere iſt die Wegnahme neutraler Schiffe zum Behuf des Transports von Kriegsleuten und Kriegsmaterial oder der Preſſung neutraler Perſonen zum Kriegsdienſt zur See oder zu Land durch einen kriegführenden Stat eine ſchwere Verletzung der Rechte des neutralen Stats.
(0450 : 428)
Neuntes Buch.
794.
Die neutrale Flagge ſchützt nicht bloß das neutrale Schiff, ſondern ebenſo die feindliche Ladung desſelben, mit Ausnahme der Kriegscontrebande. Frei Schiff, frei Gut.
Der Satz, daß die neutrale Flagge, d. h. die Neutralität und Nationalität des Schiffs zugleich die Ladung decke, obwohl dieſe Kaufleuten der feindlichen Nation angehört, wurde zum erſten Mal in einem Holländiſchen Vertrage mit Spanien im Jahr 1650 ausgeſprochen und erhielt zuerſt eine allgemeinere Vertretung in den Grundſätzen, welche die bewaffnete Neutralität vom Jahre 1780 während des engliſch-franzöſiſchen Kriegs, auf die Anregung des Ruſſiſchen Cabinettes proclamirte. Die frühere Praxis der Seemächte (beſonders Englands) hatte das feindliche Gut auf neutralem Schiffe mit Wegnahme bedroht, oder gar (wie zuweilen Frankreich) das neutrale Schiff ſelber in die Gefahr der Wegnahme gebracht, wenn und weil dasſelbe feindliche Waare führe. Indeſſen gelangte jener Satz damals noch nicht zu allgemeiner Anerkennung. Beſonders England hielt die frühere Praxis feſt, und ſelbſt die Gerichte der Vereinigten Staten betrachteten dieſe als unanfechtbar, ſolange nicht durch Verträge ein anderes und allerdings beſſeres Recht hergeſtellt ſei. Die Statenverträge darüber waren ſehr verſchiedenartig, wodurch natürlich die Rechtsverwirrung vermehrt ward. So z. B. hatten England und die Vereinigten Staten in einem Vertrag von 1794 den Grundſatz anerkannt, daß das neutrale Schiff frei, aber die feindliche Waare darauf Gegenſtand der Confiscation ſei; während dieſelben Vereinigten Staten in einem Vertrag mit Frankreich von 1778, und einem ſolchen mit Preußen von 1785 die Regel: Frei Schiff, frei Gut bekräftigt hatten. Im Jahr 1799 fanden darüder wieder ausführliche Verhandlungen zwiſchen den Vereinigten Staten und Preußen Statt und nur dem zähen Feſthalten Preußens gelang es ſchließlich, das freiere Princip neuerdings in dem Vertrag von 1799 zu beſtätigen. (Vgl. darüber Wheaton Int. L. § 456—469). Erſt der Pariſer Congreß von 1856 hat endlich dieſes Princip zu einem allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundſatz erhoben, am 12. Juni: „Le pavillon neutre couvre la marchandise ennemie à l’exception de la contrebande de guerre“. Das neutrale Schiff iſt neutrales Gebiet. So wenig feindliches Gut in neutralem Land vom Feinde als Beute betrachtet werden darf, ſo wenig nun auch auf neutralem Schiffe. Die Anerkennung dieſes Grundſatzes iſt unzweifelhaft ein Fortſchritt der Civiliſation und eine wichtige Beſchränkung des an ſich barbariſchen Rechts der Seebeute.
795.
Die neutralen Güter ſind auch auf feindlichen Schiffen vor der Wegnahme geſchützt, außer wenn ſie in Kriegscontrebande beſtehn. Unfrei Schiff, frei Gut.
(0451 : 429)
Recht der Neutralität.
Auch dieſer Satz iſt erſt durch den Pariſer Congreß von 1856, 12. Juli allgemein anerkannt worden: „La marchandise neutre à l’exception de la contrebande de guerre n’est pas saisissable sous pavillon de guerre“. Einzelne Staten, welche früher durch die neutrale Flagge die feindliche Waare hatten decken laſſen, waren zugleich der Meinung, daß folgerichtig die feindliche Flagge die neutrale Waare in die Gefahr der Wegnahme verwickle, und wendeten den Grundſatz an: Unfrei Schiff, unfrei Gut, Enemy’s ships, enemy’s goods. Mehrere Staten, wie vorzüglich Frankreich, waren überhaupt geneigt, die Verbindung von neutralen mit feindlichen Beſtandtheilen als feindlich zu betrachten und vertheidigten ebenfalls den Grundſatz: Feindliches Schiff, feindliches Gut. Andere Staten freilich unterſchieden durchgreifend zwiſchen der feindlichen und der neutralen Eigenſchaft von Schiff und Gut, und ſchonten das neutrale Gut auf feindlichem Schiff, wie ſie das feindliche Gut auf neutralem Schiff der Priſe ausſetzten. Der ſpaniſche Consolato del Marc hatte für dieſen Fall die neutralen Kaufleute angewieſen, ſich mit dem Nehmer des Schiffs über die Fracht zu verſtändigen, aber die neutrale Waare ſelber für frei erklärt. Die engliſchen, holländiſchen und italieniſchen Gerichte ſprachen ſich für denſelben Grundſatz aus, daß die neutrale Waare frei bleibe, während das feindliche Schiff der Wegnahme verfalle. In der Litteratur waren die Meinungen ebenſo verſchieden.
Der Gedanke, daß in beiden Fällen die rechtliche Lage des Schiffs auch das Schickſal der Ladung beſtimmen müſſe, iſt deßhalb nicht richtig, weil die Freiheit von Schiff und Waare immer die natürliche Regel, die Wegnahme nur als Noth- und Ausnahmerecht zu erklären und zu vertheidigen iſt, man aber dieſe Ausnahme nicht über ihre natürlichen Grenzen, alſo nicht auf neutrales Friedensgut ausdehnen darf. Die neutralen Handelsleute leben wie der neutrale Stat mit den kriegführenden Staten in voller Freundſchaft mit den Schiffseigenthümern dieſer Staten, und wenn ſie deren Schiffe mit ihrer Waare befrachten, ſo beeinträchtigen ſie damit die Rechte der kriegführenden Gegenpartei in keiner Weiſe. Ihre Waare darf daher auch nicht Gegenſtand der Wegnahme werden.
796.
Die neutralen Staten können ihren diplomatiſchen Friedensverkehr mit den kriegführenden Staten fortſetzen, ſoweit nicht die militäriſchen Maßregeln vorübergehende Hemmniſſe bereiten.
Die neutralen Staten haben keinen Grund, ihre Geſanten abzuberufen, da ſie mit den kriegführenden Staten in Freundſchaft bleiben. Aber der Krieg kann thatſächlich die Verbindung theils der Perſonen, theils der Correſpondenz ſtören; und dieſes Uebel müſſen ſich, ſoweit es unvermeidlich iſt, auch die neutralen Staten gefallen laſſen.
(0452 : 430)
Neuntes Buch.
797.
Die neutralen Staten können auch den Kriegsparteien zur Vermittlung von Unterhandlungen während des Krieges dienen und die diplomatiſche Vertretung für die Angehörigen einer Kriegspartei bei dem andern feindlichen State übernehmen.
Vgl. oben § 485. Die neutrale Stellung erleichtert ſowohl die Vermittlung als die Stellvertretung, weil der neutrale Stat mit beiden Kriegsparteien in Freundſchaft iſt, aber ſelbſtverſtändlich bedarf dieſelbe dazu der Ermächtigung der Kriegsparteien.
4. Neutraler Handelsverkehr. Kriegscontrebande. Durchſuchungsrecht.
798.
Die Angehörigen der neutralen Staten ſind berechtigt, mit den Angehörigen der Kriegsſtaten während des Kriegs, wie im Frieden Handel zu treiben. Der Kriegszuſtand unterbricht den Handelsverkehr nur inſoweit, als das Bedürfniß der Kriegsführung eine militäriſche Hemmung erfordert.
Nur allmählich und mit ſteigender Macht kam dieſer Grundſatz zur Geltung. Früher wurde oft der entgegengeſetzte Satz behauptet, daß der Kriegsſtat allen Handel, auch der Neutralen, mit dem Feindesland verbieten könne. Man wollte dadurch dem Feinde möglichſt viel Schaden zufügen und ließ ſich von dieſem Eifer zu ſchädigen nicht einmal durch die Rückſicht abhalten, daß man damit zugleich die Neutralen, mit denen man doch in Friede und Freundſchaft lebte, ebenſo empfindlich ſchädige. Der Handel aber iſt ein Friedens- und nicht ein Kriegsgeſchäft, und es iſt weder Grund noch Recht vorhanden, dieſes Friedensgeſchäft der Neutralen mehr zu hemmen, als die militäriſche Nothwendigkeit es erfordert.
799.
Die Anwendung dieſer Regel des friedlichen Handelsverkehrs der Neutralen wird nicht durch die Rückſicht ausgeſchloſſen, daß ein Kriegsſtat
(0453 : 431)
Recht der Neutralität.
einen beſtimmten Handelsverkehr erlaubt, den er vor dem Kriege nicht geſtattet hat und vielleicht nach dem Kriege wieder beſchränken wird.
1. Dieſer Satz ſpricht ſich gegen die ſogenannte Regel von 1756 aus, welche früher vorzüglich von den engliſchen Richtern und Juriſten gehandhabt und vertheidigt worden iſt. Letztere Regel wurde zuerſt in dem engliſch-franzöſiſchen Kriege ausgeſprochen, als die Franzoſen, welche durch die engliſche Marine verhindert wurden, mit ihren überſeeiſchen Colonien den Handelsverkehr fortzuſetzen, den neutralen Holländiſchen Schiffen erlaubten, dieſen Handel nun zu beſorgen, von dem vor dem Kriege die Neutralen überhaupt ausgeſchloſſen worden waren. Manche Holländiſchen Schiffe wurden nun von den engliſchen Kreuzern als Priſe aufgebracht und ſammt ihrer Ladung verurtheilt. Damals freilich konnte man für dieſen Eingriff in die Freiheit des neutralen Handels noch den Grund anführen, daß derſelbe nicht überhaupt den Neutralen geſtattet worden ſei, ſondern ausſchließlich den Holländern und daß die Holländiſchen Schiffe gewiſſermaßen nur die Lücke der franzöſiſchen Schiffahrt ausfüllen und das abgeſchloſſene Syſtem des franzöſiſchen Handels im franzöſiſchen Intereſſe für die Kriegszeit bewahren. Die Regel wurde aber ſpäter allgemeiner verſtanden und angewendet. Man führte dafür hauptſächlich folgende Gründe an:
a) Die Neutralen können höchſtens verlangen, daß ihre herkömmliche Handelsverbindung (customary trade) mit den Ländern der Kriegsparteien nicht über die Nothdurft des Kriegs hinaus gehemmt, nicht aber, daß ihnen nun während des Krieges neue Handelswege in jene Länder eröffnet werden; ſie ſollen geſchont werden in ihren in der Friedenszeit angeknüpften Handelsbeziehungen, aber ſie ſollen nicht den Kriegszuſtand zu einer Erweiterung ihres Handels in Feindesland ausbeuten dürfen.
b) Würde man das geſtatten, ſo würde die Vertheidigungsfähigkeit des Feindes zum Schaden des Gegners vergrößert, was dieſer nicht zu dulden brauche.
2. Allein dieſe Gründe halten doch der Prüfung nicht Stand, und vermögen die unbeſtreitbare Grundwahrheit, daß der Handel ein Friedensgeſchäft und daher den Neutralen nicht zu verwehren, nicht zu entkräften. Die friedliche Natur des Handels wird durch den Krieg nicht aufgehoben und nicht geändert. Daher iſt
a) kein Grund zwiſchen dem herkömmlichen Handel vor dem Krieg und dem neuen Handel während des Kriegs zu unterſcheiden und einerſeits die Fortſetzung des erſten zu geſtatten, aber andererſeits dieſen zu verbieten. Der Handel iſt nicht Bewahrung des Hergebrachten, ſondern ſucht fortwährend neue Wege und knüpft unabläſſig erweiterte Verbindungen an.
b) Wenn auch ausnahmsweiſe ſich im Kriege neue günſtige Chancen für die Neutralen ergeben, ſo darf man ihnen dieſe Vortheile um ſo
(0454 : 432)
Neuntes Buch.
weniger mißgönnen oder verſagen, als nothwendig für den neutralen Handel aus jedem Kriege auch zahlreiche Nachtheile entſpringen, die ſie ebenfalls tragen müſſen, obwohl ſie weder den Krieg verſchuldet haben, noch daran Theil nehmen, und welche ihnen durch die kriegeriſchen Entſchlüſſe und Thaten der Kriegsparteien zugefügt werden.
c) Das civiliſirte Kriegsrecht geſtattet überhaupt nicht mehr die friedlichen Privaten nur deßhalb beliebig zu ſchädigen, um die Hülfsquellen des Feindes zu zerſtören, ſondern erlaubt nur ſolche Schädigungen, welche durch das militäriſche Bedürfniß der Kriegsführung gerechtfertigt ſind. Das Blocaderecht und das Recht, die Contrebande zu verhindern, ſind Ausnahmen, die eher zu beſchränken, als analog auszudehnen ſind.
800.
Auch wenn der Küſtenhandel in Friedenszeiten ausſchließlich den nationalen Schiffen vorbehalten und erſt während des Kriegs von einer Kriegspartei den Neutralen eröffnet wird, ſo machen ſich die neutralen Handelsſchiffe, welche dieſe Erlaubniß benutzen, keiner Verletzung der Kriegsrechte ſchuldig und dürfen von dem andern Kriegsſtate nicht deßhalb weggenommen werden, weil ſie einen verbotenen Handelsverkehr betreiben.
Vgl. zu § 798. 799. Der ſogenannte Küſtenhandel (Cabotage, coasting rade) — d. h. der Handel aus einem Hafen in den andern desſelben States mit inländiſcher Ladung — war in früheren Zeiten oft ausſchließlich den nationalen und keinen fremden Schiffen geſtattet. Das galt auch meiſtens als Geſetz für den Handel aus dem Mutterſtat nach den überſeeiſchen Colonien und umgekehrt. Der Krieg konnte nun dieſes Syſtem durchbrechen, und da der nationale Verkehr an manchen Stellen gehemmt war, das Bedürfniß nach neutralem Handel hervorrufen; während der feindliche, zur See mächtige Kriegsſtat das nicht dulden wollte. Die engliſchen Juriſten — noch Phillimore (III. § 214 f.) — vertheidigten dieſe Beſchränkung vorzüglich, während die amerikaniſchen und allgemeiner noch die franzöſiſchen Rechtsgelehrten ſie beſtritten. Dieſelben Gründe, welche gegen die Regel von 1756 ſprechen, nöthigen auch hier, dieſen Binnenhandel der neutralen Schiffe als völkerrechtlich erlaubt und nur unter Umſtänden ſtatsrechtlich beſchränkt anzuſehn. Da überdem heute dieſe engen Schiffahrtsbeſchränkungen großen Theils dem Princip des freien Handelsverkehrs, ohne Rückſicht auf Nationalität, haben weichen müſſen, ſo hat die ganze Frage viel von ihrem practiſchem Intereſſe verloren.
801.
Die Zufuhr von Kriegscontrebande aber iſt kein Friedensgeſchäft.
(0455 : 433)
Recht der Neutralität.
Jede Kriegspartei iſt berechtigt, die Lieferung und die Zufuhr von Kriegscontrebande zu verhindern, auch wenn dieſelbe von Neutralen und auf neutralen Schiffen beſorgt wird.
1. Die Freiheit des neutralen Handels darf nicht zu wirklicher Kriegshülfe mißbraucht werden, denn dieſe iſt im Widerſpruch mit wahrhaft neutraler Haltung. Der Ausdruck Contrebande (urſpr. contra bannum, wider das Verbot) ſtammt aus dem Mittelalter, als die Päpſte unter der Strafe des Banns (der Excommunication) den Chriſten verboten, den Ungläubigen, welche bekriegt wurden, Waffen zuzuführen. Die Rückſichten auf die offenbare Unterſtützung einer Kriegspartei in ihrer Kriegsführung überwiegt hier über die Rückſicht auf die Handelsfreiheit der Neutralen. Der Kriegsſtat kann das nicht dulden, ohne Gefahr für ſeine Kriegsführung, und iſt berechtigt, die Contrebande wegzunehmen, weil in ihrer Zufuhr die beabſichtigte Kriegshülfe offenbar wird.
2. Im Allgemeinen wird dieſer Grundſatz von allen civiliſirten, auch von den neutralen Staten anerkannt, z. B. von der bewaffneten Neutralität von 1780 und von dem Pariſer Congreß von 1856. Aber über die Ausdehnung des Begriffs der Contrebande und über die Mittel, ſie zu verhindern, war von jeher viel Streit. England, als die größte Seemacht, war lange Zeit geneigt, jenen Begriff und dieſe Mittel möglichſt weit auszudehnen; und hinwieder die neutralen Staten, welche vorzugsweiſe ihren Handel ſchützen wollten, ſuchten im Gegentheil den Begriff möglichſt zu beſchränken und das Verfahren gegen neutrale Schiffe und Güter, welchen Contrebande vorgeworfen wurde, zu ermäßigen. Allmählich haben ſich die Anſichten genähert, obwohl ſie noch hin und her ſchwanken. Heute ſind alle Seemächte zugleich ſtark intereſſirt, daß nicht im Seekrieg der neutrale Seehandel zu ſehr beläſtigt und gefährdet werde, und keine iſt mehr davor ſicher, daß nicht eine ſchroffe und übertriebene Anwendung der Mittel gegen die Contrebande auch ihre Handelsintereſſen ſchwer verletze.
802.
Als Kriegscontrebande ſind zu betrachten diejenigen Sachen, welche einer Kriegspartei zum Behuf und zur Unterſtützung der Kriegsführung als Kriegsmittel und Kriegsausrüſtung zugeführt werden.
Daß die Zufuhr ſolcher Sachen als Contrebande zu beurtheilen ſei, ergibt ſich aus dem Grundgedanken mit logiſcher Nothwendigkeit; und es kann nur in Frage kommen, einmal ob wirklich im beſondern Fall gewiſſe Sachen der Kriegsführung als Mittel zudienen (§ 803) und ob die Abſicht der Kriegshülfe vorhanden oder auch erforderlich ſei (§ 806), um die Wegnahme der Contrebande zu begründen. Im Einzelnen kann die Thatfrage oder die Rechtsfrage ſtreitig ſein.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 28
(0456 : 434)
Neuntes Buch.
803.
Allgemein und abgeſehen von beſonderen Verträgen, welche andere für die Vertragsparteien bindende Vorſchriften treffen, gehören hieher:
a) die Kriegswaffen, Kanonen, Flinten, Säbel, Kugeln, Pulver und ähnliche Kriegswerkzeuge;
b) aber auch Salpeter und Schwefel, die zur Pulverfabrication dienen;
c) Kriegsfahrzeuge;
d) feindliche Kriegsdepeſchen, die im Intereſſe einer Kriegspartei transportirt werden.
1. Oft werden in Statenverträgen die Gegenſtände näher bezeichnet, welche ausſchließlich als Contrebande behandelt werden dürfen. Aber dieſes Vertragsrecht gilt nur im Verhältniß der Vertragsparteien zu einander, nicht als allgemeines Recht.
2. Zu a) Gewiſſe Sachen dienen ihrer Natur nach immer und nur — oder doch gewöhnlich — der Kriegsführung, wie beſonders Waffen aller Art und Kriegsinſtrumente. Dieſe ſind unzweifelhaft Contrebande. Indeſſen ſogar da iſt die Aufzählung aller einzelnen Gegenſtände deßhalb nicht möglich, weil von Zeit zu Zeit neue Kriegswaffen erfunden werden, welche weder in den Verträgen noch in den Geſetzen vorher benannt werden konnten. Dem Pulver z. B. ſteht die Schießbaumwolle gleich, obwohl ſie nicht genannt iſt, und ebenſo den Feuerſteinen und dem Zunder der alten Flinten die neueren metallenen Zündhütchen, die Patronenhülſen und die Einheitspatronen.
Wenn aber Verbandzeug und ärztliche Inſtrumente für die militäriſche Krankenpflege zugeführt werden, ſo iſt das keine Contrebande, ſondern friedlicher Verkehr, obwohl er auch dem Heere zu Gute kommt.
3. Zu b) Salpeter und Schwefel ſind freilich keine Waffen, aber ihre Beziehung zur Pulverfabrication iſt eine ſo nahe, daß ſie deßhalb von allen Völkern wie Kriegsmaterial betrachtet werden, wenn nicht ausnahmsweiſe ein anderer friedlicher Gebrauch dieſer Stoffe klar vorliegt. Auch die zweite bewaffnete Neutralität von 1800 erwähnt dieſer Gegenſtände ausdrücklich als Contrebande.
4. Zu c) Die kriegeriſche Natur der Kriegsfahrzeuge iſt zweifellos; aber da auch Schiffe, welche bisher dem Handel dienten, in Kriegsfahrzeuge umgewandelt werden können, ſo kann es im einzelnen Fall zweifelhaft werden, ob ein Schiff noch als Handelsſchiff frei, oder bereits als Kriegsſchiff Contrebande ſei. Die letztern Zweifel können nur im einzelnen Fall nach Erwägung aller Umſtände und Anzeichen entſchieden werden.
5. Zu d) Die ſogenannten Kriegsdepeſchen ſind unzweifelhaft wieder Contrebande, z. B. Befehle des Feldherrn an einen detachirten Corpscommandanten
(0457 : 435)
Recht der Neutralität.
oder eine Flottenſtation zu kriegeriſchen Zwecken. Dagegen Friedensdepeſchen, wohin auch die diplomatiſche Correſpondenz durchweg zu rechnen iſt, dürfen unbedenklich auf neutralen Schiffen ſicher verſendet werden. So z. B. wurde das Bremer Schiff Atalante von dem engliſchen Richter Scott im Jahr 1808 verurtheilt, weil es Kriegsdepeſchen von dem franzöſiſchen Gouverneur von Isle de France an den franzöſiſchen Marineminiſter zu befördern übernommen hatte; dagegen die nordamerikaniſche Carolina in demſelben Jahr freigeſprochen, weil ſie nur diplomatiſche Depeſchen des franzöſiſchen Geſanten in den Vereinigten Staten an die franzöſiſche Regierung an Bord hatte. Siehe die Fälle bei Wheaton Int. Law. § 504. Anm. von Dana. Auch in dem Krimmkriege von 1854 wurden von England und Frankreich die Neutralen davor gewarnt, daß ſie nicht Kriegsdepeſchen befördern, indem derartige Verſuche von den Kriegsmächten nicht geduldet würden.
804.
Was das neutrale Schiff zu eigenem Bedarf an Waffen und Munition mit ſich führt, iſt nicht Contrebande.
Auch friedliche Handelsſchiffe führen gewöhnlich Schiffskanonen mit, und bedürfen, wenn ſie durch Seeräuber gefährdete Meere befahren, je nach Umſtänden einer ausgiebigeren Selbſtbewaffnung. Das iſt unbeſtreitbares Recht der Neutralen und darf daher nicht als verbotene Contrebande behandelt werden.
805.
Die Zufuhr von Gegenſtänden, welche auch dem friedlichen Gebrauche zudienen, wie insbeſondere von Kleidungsſtücken, Geldſummen, Pferden, Schiffsbauholz, Segeltüchern, Eiſenplatten, Dampfmaſchinen, Brennkohlen, Privatſchiffen u. ſ. f. iſt in der Regel als erlaubt zu betrachten, und darf nur ausnahmsweiſe als Kriegscontrebande behandelt werden, wenn entweder die beſonderen Verträge ſie als ſolche bezeichnen oder wenn im einzelnen Fall erweisbar iſt, daß die Zufuhr einen unmittelbaren Bezug auf die Kriegsführung hatte und zugleich die Unterſtützung derſelben beabſichtigt war, wie z. B. zur Uniformirung der feindlichen Truppen, zur Lieferung von Kriegsſubſidien, zur Ausrüſtung der feindlichen Cavallerie mit Pferden, zur Erbauung von Panzerſchiffen und Kriegsfahrzeugen, zum Transport feindlicher Truppen. Die Vermuthung iſt jederzeit für den friedlichen Gebrauch und gegen die Annahme von Kriegscontrebande.
Dieſes Gebiet der ſogenannten relativen Kriegscontrebande iſt vorzüglich
28*
(0458 : 436)
Neuntes Buch.
dem Zweifel und Streit ausgeſetzt. Soweit die Verträge Näheres beſtimmen, ſind dieſelben anzuwenden. Abgeſehen aber von Vertragsbeſtimmungen bleibt nur übrig, die Frage aus der Natur der Sache zu entſcheiden. Da gehen nun meines Erachtens die beiden extremen Meinungen zu weit. Die eine betrachtet ſolche für die Kriegsführung je nach Umſtänden brauchbare Gegenſtände in der Regel als Contrebande, ſobald ſie dem Feinde zugeführt werden. Die Neutralen können ſolche Gegenſtände, welche ſowohl im Frieden als im Krieg brauchbar ſind (res anticipis usus) zu Friedens- oder zu Kriegszwecken dem feindlichen Lande zuführen. Erſteres iſt ein reines Friedensgeſchäft, letzteres iſt Kriegshülfe. Jenes muß erlaubt ſein, dieſes wird von der Kriegspartei mit Recht unterſagt. Es iſt aber kein Grund für die letztere Auslegung zu vermuthen. Im Gegentheil, der friedliche Handel der Neutralen iſt die Regel, die Kriegshülfe die Ausnahme. Oefter wird die entgegengeſetzte Meinung verfochten, daß dieſe Gegenſtände niemals als Kriegscontrebande behandelt werden dürfen, ſondern immer als erlaubter Handel gelten. Dieſe Meinung wird von manchen Publiciſten insbeſondere auch damit vertheidigt, daß die Unterſcheidung im einzelnen Fall allzu ſchwierig und daß es gefährlich ſei, das Urtheil darüber der Kriegspartei zu überlaſſen. Dieſer Einwand iſt richtig, aber er bezieht ſich nur auf die Organiſation der Rechtspflege und das Rechtsverfahren und kann nicht die ſachliche Rechtsfrage entſcheiden, ob das Contrebande ſei oder nicht.
2. Wenn die Beſtimmung dieſer Waaren für die Kriegszwecke aus den Umſtänden klar wird, und zugleich die Abſicht der Kriegshülfe, dann kann man der Kriegsmacht unmöglich zumuthen, daß ſie ruhig zuſehe, wie die militäriſchen Kräfte des Feindes verſtärkt werden, und der Neutrale darf ſich nicht beklagen, wenn nun ſeine beabſichtigte Unterſtützung der feindlichen Kriegsmacht nicht als ein Friedensgeſchäft, ſondern als unerlaubte Kriegshülfe behandelt wird, was ſie iſt. Wenn z. B. dem Feind Panzerplatten zugeführt werden, ſo wirkt das ganz ähnlich, wie wenn ihm Panzerſchiffe geliefert werden. Es iſt weſentlich einerlei, ob demſelben Säbel, oder ob ihm Klingen und Handgriffe beſonders zugeführt werden. Kriegsſubſidien wirken in vielen Fällen ſtärkender für das Heer, das ſie empfängt, als Pulver und Blei. Es kommt alſo nur auf den Beweis an, einerſeits der Kriegsbeſtimmung, andererſeits der Abſicht der Kriegshülfe. Beides muß aus der Erwägung aller Umſtände bona fide geſchloſſen werden. Der neutrale und freie Handel wird hinreichend geachtet, wenn man eher für als gegen denſelben vermuthet und zur Verurtheilung den Schuldbeweis fordert.
806.
Es genügt keineswegs, daß derartige Gegenſtände nach den Umſtänden für die Kriegsführung nützlich verwendet werden könnten und vermuthlich, wenn ſie an ihre Adreſſe gelangten, auch verwendet würden, um dieſelben als Kriegscontrebande wegzunehmen. Es darf höchſtens in dieſem
(0459 : 437)
Recht der Neutralität.
Fall die Zufuhr dann thatſächlich gehemmt werden, wenn aus den Umſtänden die Verwendung zur Kriegsführung als eine nahe und ernſte Gefahr erſcheint.
1. Die Wegnahme der Kriegscontrebande rechtfertigt ſich als Kriegsrecht nur dann gegen Neutrale, wenn dieſe Kriegshülfe gewähren, d. h. eine feindliche Handlung begehen, nicht aber, wenn dieſe nur ein friedliches Handelsgeſchäft vollziehn. Aber die Gefahr der Verwendung für die feindliche Kriegsführung und daher für die Verſtärkung des Feindes kann ſo groß und dringend ſein, daß die kriegführende Macht veranlaßt iſt, ſolchen Verkehr in Kriegszeiten zu verhindern. Die Waare erſcheint dann zwar ohne Schuld ihres Eigenthümers und ohne Schuld des Schiffers gleichſam als „zufällige“ Contrebande. Sie darf nicht confiscirt werden, weil keine Schuld dazu berechtigt, aber ihre Verwendung zu Gunſten des Feindes darf gehindert werden, weil das Bedürfniß der Kriegsführung es erfordert. Das gilt z. B. auch von der Zufuhr von Brennkohlen in einen Seehafen, wo die feindliche Kriegsflotte vor Anker liegt. Iſt dieſelbe beabſichtigt zur Ausrüſtung der Flotte, ſo wird ſie mit Recht weggenommen, iſt ſie nicht beabſichtigt, aber würde derſelbe Effekt erreicht, wenn man ſie ungehindert ihre Beſtimmung erreichen ließe, ſo iſt eine wirkſame Beſchlagnahme, gegen Entſchädigung der Eigenthümer, wohl gerechtfertigt.
2. Die Gerechtigkeit erfordert, daß hier das friedliche Handelsrecht und das unvermeidliche Kriegsrecht mit einander ausgeglichen werden. Der Handel hat nur den Gewinn, nicht den Sieg einer Kriegspartei vor Augen. Den Kaufleuten iſt es gleichgültig, wozu ihre Waaren verwendet werden; ihnen liegt nur daran, daß ſie zu möglichſt günſtigen Preiſen je nach Umſtänden verkauft oder gekauft werden. Inſofern werden viele Verträge der Art nicht zur Kriegshülfe gemacht, und nur wenn die Waare ihrer Natur nach ausſchließlich für den Krieg beſtimmt iſt (§ 804) wird dieſe Einrede der Kaufleute nicht weiter zu beachten, ſondern unbedenklich auf unzweifelhafte Contrebande zu ſchließen ſein. Bei den Waaren ancipitis usus hat jene Einrede der friedlichen Abſicht einen guten Sinn. Die Kriegsmacht aber muß umgekehrt dafür ſorgen, daß nicht die feindliche Macht eine Verſtärkung erhalte, gleichviel ob die Abſicht derer, welche die Verſtärkung zuführen, friedlich oder feindlich ſei. Vgl. Dana Anm. zu Wheaton Int. L. § 501 und die engliſche Geheimerathsverordnung vom 18. Febr. 1854 bei Phillimore III. § 266.
807.
Es iſt wider die gute Sitte, die Zufuhr von Lebensmitteln als Kriegscontrebande zu behandeln, wenn gleich dieſelbe zur Ernährung des feindlichen Heeres dient. Aber die Kriegsgewalt iſt berechtigt, einen bela-
(0460 : 438)
Neuntes Buch.
gerten Platz abzuſperren und durch thatſächliche Hemmung der Zufuhr auch von Lebensmitteln die Uebergabe zu erzwingen.
Auch in dieſer Hinſicht ſtimmen die Meinungen der Schriftſteller und die Beſtimmungen der Verträge nicht überein. In dem franzöſiſch-engliſchen Revolutionskriege ſuchte England den Kornhandel mit Frankreich, wenigſtens mit der franzöſiſchen Regierung, zu verhindern. Indeſſen traf dieſer Verſuch auf den Widerſtand der neutralen Staten, welche mit Recht entgegneten, daß die Ernährung der Menſchen ein weſentlich friedliches Geſchäft und daher und abgeſehen von der Ausnahme der Blocade — nicht zu verhindern, und nicht als Contrebande zu behandeln ſei. Auch das eigene Bedürfniß, Lebensmittel zu erwerben, rechtfertigt nicht die Wegnahme neutraler Zufuhr von Seite der bedürftigen Kriegspartei. Vgl. die Note des Grafen Bernſtorff vom Jahre 1793 bei Phillimore III. § 247.
808.
Der Handel mit Kriegsgeräthſchaften oder die fabrikmäßige Bearbeitung derſelben iſt den neutralen Perſonen auf neutralem Boden nicht durch das Völkerrecht verboten, auch nicht, wenn dieſelben von einer Kriegspartei gekauft oder beſtellt werden.
Aber es iſt Pflicht des neutralen Stats, zu verhindern, daß nicht von neutralem Boden aus einer Kriegspartei Kriegshülfe geleiſtet werde (766) und Recht der Kriegspartei, die Kriegscontrebande wegzunehmen und die Verſtärkung der feindlichen Kriegsmacht zu verhindern.
Waffenfabriken, Pulverfabriken, Anſtalten für den Bau von Kriegsſchiffen u. ſ. f. ſind wie der Handel mit ſolchen Gegenſtänden an ſich friedliche Geſchäfte und ſie verändern ihre Natur auch im Kriege dritter Staten nicht. Das Völkerrecht kümmert ſich erſt darum, wenn entweder die Abſicht der Kriegshülfe offenbar wird, oder doch die Gefahr der thatſächlichen Förderung der feindlichen Kriegsführung nahe erſcheint. Der neutrale Stat hat daher erſt von da an ein Intereſſe einzuſchreiten, damit er ſich nicht dem gerechten Vorwurf ausſetze, daß er ſein Gebiet zu feindlichen Handlungen mißbrauchen laſſe. Zu dieſem Behuf kann und ſoll er je nach Umſtänden Sicherheit gegen den Mißbrauch fordern und wenn es nöthig iſt, auch Beſchlag auf die Kriegsrüſtung legen.
809.
Die feindliche Kriegsmacht darf ſich der Contrebande während der
(0461 : 439)
Recht der Neutralität.
Zufuhr bemächtigen und dieſelbe als gute Priſe behandeln, aber ſie hat kein anderes Strafrecht gegenüber den Neutralen auszuüben.
Da der Kriegsſtat außerhalb ſeines Gebiets — und das Meer gehört nicht zu ſeinem Gebiet — keine Strafgerichtsbarkeit beſitzt, ſo darf er auch in dieſem Falle die Kaufleute oder Schiffer, welche Contrebande führen, nicht ſtrafen. Die Wegnahme der Contrebande iſt nur eine völkerrechtlich anerkannte Ausübung des Kriegsrechts, nicht des Strafrechts. Aber der neutrale Stat darf wohl ſeine Angehörigen, welche ſeine Neutralität durch feindliche Handlungen in Gefahr bringen, deßhalb zur Verantwortung und Strafe ziehn. Das iſt aber Anwendung des einheimiſchen Strafrechts, deſſen Natur auch dann ſtatsrechtlich bleibt, wenn es völkerrechtliche Rückſichten nimmt.
810.
Die Beſchlagnahme bezieht ſich auf das Frachtſchiff, welches die Contrebande führt, nur inſofern, als es zum Vollzug der Wegnahme der Contrebande erforderlich iſt, alſo nicht, wenn dieſelbe nur einen untergeordneten Theil der Ladung ausmacht und daher ausgeſchieden und für ſich allein weggenommen werden kann. Das Schiff darf nur dann als Priſe dem Nehmeſtat zugeſprochen werden, wenn der Schiffsherr gewußt und geſtattet hat, daß das Schiff Contrebande zuführe.
Die Wegnahme und Confiscation des Schiffs wird nur durch Verſchuldung gerechtfertigt. Vgl. oben zu § 806.
811.
Wenn die Verſchuldung des Eigenthümers der Contrebande nicht aus den Umſtänden klar und dennoch die Beſchlagnahme derſelben wegen der offenbaren Beſtimmung für die feindliche Kriegsführung gerechtfertigt erſcheint, ſo hat der Nehmeſtat dem Eigenthümer den vollen Werth der weggenommenen Gegenſtände zu erſetzen. In dieſem Falle iſt der wegnehmende Kriegsſtat als Zwangskäufer zu behandeln.
Obwohl hier kein mit Confiscation bedrohter Handel vorhanden, ſondern nur die Behinderung der thatſächlichen — wenn auch nicht beabſichtigten — Kriegshülfe gerechtfertigt iſt, ſo macht der Eingriff in die Intereſſen der Eigenthümer ihre Entſchädigung nöthig. Aus dieſem Grunde iſt die Analogie des Zwangsverkaufs in dem völkerrechtlichen Gebrauch angewendet worden. Die ältere Praxis unterſchied weniger ſorgfältig und war ſogar in ſolchen Fällen geneigt
(0462 : 440)
Neuntes Buch.
zur Confiscation. Die neuere Praxis dagegen iſt mäßiger geworden. Die engliſchen Priſengerichte erkennen dem geſchädigten Eigenthümer über den realen Werth des entzogenen Gutes noch 10% Gewinn zu und es iſt dieſe Beſtimmung auch in mehrere Statenverträge aufgenommen worden, ſo in dem Vertrag zwiſchen England und den Vereinigten Staten vom 19. Nov. 1794. Vgl. Phillimore III. § 267 f. und beſonders das Erkenntniß des Lord Stowell, ebenda § 270.
812.
Der Kriegsſtat darf ſich keineswegs ſolcher Schiffe und Waaren bemächtigen, welche zwar für die Kriegsführung brauchbar ſind, aber nicht dem Feinde, ſondern einem neutralen Lande oder einem dritten Kriegslande, mit welchem er aber im Frieden iſt, zugeführt werden.
In dieſen Fällen iſt auch nicht die Gefahr einer zufälligen Kriegshülfe und daher auch keine zufällige Contrebande vorhanden (806). In den Verkehr der Neutralen mit andern Ländern als der Gegenpartei hat ſich der Kriegsſtat in keiner Weiſe einzumiſchen.
813.
Wird aber die Fahrt nach einem neutralen Hafen nur in der Abſicht unternommen, um auf dieſem Umwege ſicherer die Kriegsführung des Feindes zu unterſtützen, ſo iſt das Contrebande und die Wegnahme gerechtfertigt.
Z. B. eine Schiffsladung mit Waffen und Munition aus Amerika fährt nach dem neutralen Hamburg, während Petersburg der eigentliche Beſtimmungsort iſt und die Abſicht, Rußland im Kriege mit England zu unterſtützen aus den Umſtänden erhellt. Oder in einem Kriege zwiſchen Deutſchland und Frankreich wird ein Panzerſchiff aus England nach dem neutralen Holland geführt, zur Unterſtützung einer der beiden Kriegsparteien.
814.
Die Beſchlagnahme kann auf dem Kriegsfelde, aber nicht in den neutralen Eigengewäſſern von der Kriegsmacht vollzogen werden. Zu dem Kriegsfelde wird auch die offene See inſofern gerechnet, als ſie zur Vermittlung der Kriegshülfe dient.
Die neutralen Eigengewäſſer ſind ſo wenig als das neutrale Land
(0463 : 441)
Recht der Neutralität.
der Kriegspolicei der Kriegſtaten unterworfen. Es iſt bedenklich genug, daß man dieſen geſtattet, auf offener See, die in Niemandes Herrſchaft iſt und allen Nationen dient, neutrale Schiffe anzugreifen, wenn dieſelben Contrebande führen. Aber auch das bedarf der Ermäßigung. In entlegenen Meeren, welche dem Kriegsſchauplatz fern liegen und füglich nicht zur Kriegshülfe benutzt oder mißbraucht werden können, darf der Kriegsſtat nicht neutrale Schiffe wegen Verdachts der Kriegscontrebande anhalten, ohne ſich den gerechten Beſchwerden der neutralen Staten auszuſetzen. Vgl. unten § 819.
815.
Die Zufuhr von Kriegstruppen oder von militäriſchen Führern auf neutralen Schiffen wird ebenſo als Kriegscontrebande behandelt, wie die Zufuhr von Kriegsartikeln. Dieſe Truppen und Militärperſonen können kriegsgefangen gemacht werden.
1. Die Zufuhr von Hülfstruppen iſt ſelbſtverſtändlich eine feindliche That und Kriegshülfe, nicht minder als die Zufuhr von Waffen und Munition. Als Truppen ſind auch bloße militäriſche Unterabtheilungen — z. B. ein Trupp Soldaten mit einem Unterofficier — gemeint, nicht bloß größere Truppenkörper, ebenſo Freiſcharenzüge.
2. Ganz dasſelbe gilt auch von Heerführern ohne Truppen. Es können unter Umſtänden einzelne Generale oder Officiere für den Erfolg militäriſcher Operationen eine ebenſo große und noch größere Bedeutung haben, als größere Maſſen von Soldaten.
816.
Wenn jedoch friedliche Auswanderer, obwohl ſie vielleicht die Abſicht haben, ſich in dem kriegführenden Lande anwerben zu laſſen, demſelben zugeführt werden, ſo iſt dieſer Transport doch nicht als durch das Kriegsrecht unterſagt zu betrachten.
In dieſen Fällen liegt keine directe Beziehung zur Kriegsführung vor und die indirecte iſt zu entfernt und unſicher, um als Kriegscontrebande angeſehen werden zu können. Die Auswanderung iſt weſentlich eine friedliche That. In einer Reihe von neueren Verträgen iſt das ſo beſtimmt. Die franzöſiſchen Verträge z. B. haben noch 1858 folgende Formel: „Il est également convenu, que la liberté du pavillon s’étend aux individus, qui seraient trouvés à bord des bâtiments neutres, a moins qu’ils ne soient militaires, et alors engagés au service de l’ennemi“. Die nordamerikaniſchen drücken
(0464 : 442)
Neuntes Buch.
das ſo aus: „unless they are officers or soldiers and in the actual service of the enemy“. Vgl. Marquardſen. Der Trentfall. Erlangen 1862. S. 61.
817.
Ebenſo wenig iſt es Contrebande, wenn ein neutrales Schiff friedliche Angehörige des feindlichen Landes, oder Geſante desſelben hin- oder wegführt.
Die neutralen Staten ſind berechtigt, den Geſantenverkehr mit beiden Kriegsſtaten zu unterhalten (796). Die Kriegspartei kann wohl verhindern, daß ein feindlicher Geſanter über ihr Gebiet reiſe und ihn, wenn er es ohne ihre Erlaubniß thut, als eine politiſch wichtige feindliche Perſon gefangen nehmen, oder als Geiſel behandeln, aber ſie iſt nicht dazu berechtigt, gegen ein neutrales Schiff auf offener See oder in neutralen Gewäſſern deßhalb Gewalt zu brauchen, weil es ſolche Perſonen an Bord hat. Die Verhaftung der Geſanten des amerikaniſchen Südbundes Maſon und Slidell auf einem engliſchen Poſtſchiff durch ein nordamerikaniſches Kriegsſchiff im Febr. 1861 war daher nicht gerechtfertigt, und wäre auch dann nicht zu entſchuldigen geweſen, wenn das neutrale Schiff aus einem feindlichen und nicht aus einem neutralen Hafen gefahren wäre. Die Vereinigten Staten gaben denn auch die Gefangenen frei, als ſich England über dieſe Verletzung des Völkerrechts beſchwerte. Vgl. die zu § 816 citirte Schrift von Marquardſen und die Anm. v. Dana zu Wheaton Int. L. § 504.
818.
Neutrale Schiffe, welche den Transport von feindlichen Truppen beſorgen, verlieren dadurch jeden Anſpruch auf den Schutz ihrer Neutralität und werden mit Recht als gute Priſe behandelt, aber nur während ſie dieſe feindliche Handlung vornehmen, nicht wenn dieſelbe vollzogen iſt, alſo nicht auf dem Rückwege ohne Kriegsladung.
Der Transport von Truppen der feindlichen Macht, z. B. im Krimmkriege der franzöſiſchen und engliſchen Truppen nach der Krimm iſt unzweifelhaft eine Unterſtützung der Kriegsführung, und ſetzt daher die neutralen Schiffe, die ſich dazu hergeben, der Wegnahme aus. Aber dieſe iſt wieder nur zuläſſig, wenn dieſelben auf der That ergriffen werden, nicht ſpäter, wenn ſie wieder auf friedlicher Fahrt begriffen ſind.
819.
Zum Schutz gegen den Mißbrauch des freien neutralen Verkehrs
(0465 : 443)
Recht der Neutralität.
zur Unterſtützung einer Kriegspartei iſt jeder Kriegsſtat berechtigt, innerhalb des Kriegsfeldes, wozu außer den eigenen und den feindlichen Eigengewäſſern auch die offene See inſoweit gehört, als ſie für die Fahrt dahin benutzt wird, auch die neutralen Schiffe während des Kriegs anzuhalten und zu unterſuchen, ob ſie nicht Contrebande führen.
Die Durchſuchung iſt nicht geſtattet in den Eigengewäſſern neutraler Staten und nicht in entlegenen Meeren.
Vgl. oben § 304 f. und zu § 814. Das Durchſuchungsrecht auf offener See in Kriegszeiten iſt freilich eine erhebliche Beſchränkung des ſonſt allgemein anerkannten Grundſatzes, daß das Meer frei und keiner beſondern Statshoheit unterworfen ſei. Dasſelbe iſt aber durch das dringende Bedürfniß der kriegführenden Staten, ſich gegen alle feindlichen Handlungen auch der Neutralen zu ſchützen, in den Gebrauch des Seekriegs aufgenommen und auch von den Neutralen als Nothrecht des Kriegs zugeſtanden worden.
820.
Die Prüfung erſtreckt ſich auf die Statsangehörigkeit des Schiffes, und auf die Beſchaffenheit, die Herkunft und die Beſtimmung der Ladung.
Nur nach Maßgabe ernſter Verdachtsgründe darf die Prüfung zu einer Durchſuchung geſteigert werden, insbeſondere wenn ſich zeigen ſollte, daß die Schiffspapiere falſch oder mit der gebrauchten Flagge im Widerſpruch ſind oder aus den Umſtänden auf Verheimlichung und Täuſchung geſchloſſen werden kann. Vgl. oben § 344 f. und unten § 822 ff.
821.
Berechtigt zu der Prüfung iſt der Kriegsſtat, beziehungsweiſe die zum Vollzug ermächtigten Kriegsſchiffe.
822.
Zunächſt beſteht die Prüfung nur in der Einſicht der Schiffspapiere.
Nur wenn ernſte Verdachtsgründe ſich zeigen, darf eine Durchſuchung der Schiffsräume ſelber vorgenommen werden; und nur wenn Contrebande vorgefunden wird, darf das Priſenrecht geübt werden.
Vgl. zu § 820.
(0466 : 444)
Neuntes Buch.
823.
Der Stat, deſſen Kriegsſchiffe die Durchſuchung vornehmen, iſt dem neutralen State dafür verantwortlich, daß bei der Prüfung und Durchſuchung nicht mit ungebührlicher Gewalt und Härte verfahren werde.
Darin liegt das nöthige Correctiv gegen den Mißbrauch jenes Nothrechts. Indem der Kriegsſtat auf offener See das neutrale Schiff anhält, greift er immerhin ein in die Freiheit und Selbſtändigkeit auch des neutralen Statsgebiets, zu welchem der auf der See ſchwimmende Gebietstheil gehört. Damit iſt die Verantwortlichkeit desſelben gegenüber dem neutralen State begründet, der ſich dieſen Eingriff nur mit Rückſicht auf das Nothrecht des Kriegs, nicht darüber hinaus gefallen läßt. Die prüfende und durchſuchende Mannſchaft des Kriegsſchiffs muß ſich erinnern, daß ſie, genau genommen, auf fremdem, neutralem Gebiete und gegenüber von Perſonen ihre Controle übt, welche an ſich ihrer Statsherrſchaft nicht unterworfen und als Freunde keinen feindſeligen Maßregeln ausgeſetzt ſind. Sie hat daher auch die Rückſichten der Freundlichkeit (com ity) zu beobachten, welche Staten, die im Frieden leben, einander ſchulden, und darf weder herriſch noch gewaltthätig verfahren, ſo lange keine Verſchuldung des neutralen Schiffs offenbar iſt.
824.
Wenn der neutrale Stat durch Statsſchiffe die neutralen Handelsſchiffe begleiten läßt, und dem Kriegsſtate die Verſicherung gibt, daß die begleiteten Schiffe keine Contrebande enthalten, ſo darf keine weitere Durchſuchung vorgenommen werden, ſondern es hat ſich das feindliche Kriegsſchiff zu begnügen, die Vollmacht des neutralen Geleitſchiffs und durch deſſen Vermittlung die erforderlichen Aufſchlüſſe über die geleiteten Schiffe zu empfangen.
Wenn der neutrale Stat ſelber die Aufſicht und Controle über die neutralen Schiffe beſorgt und durch Mitſendung eines Statsſchiffs als Geleitſchiffs die Garantie dafür übernimmt, ſo hat er ein Recht darauf, daß nicht der Kriegsſtat die Freiheit ſeiner Flagge und die Achtung ſeiner Selbſtändigkeit durch eine Unterſuchung verletze, die nur aus Noth und nur um des Verdachtes der Kriegshülfe willen von dem Völkerrecht geſtattet wird. Zwar iſt jenes Recht zuweilen, beſonders von England, beſtritten worden. Aber es hat doch guten Grund in dem friedlichen Verhältniß der neutralen zu den Kriegsſtaten. Jene dürfen von dieſen fordern, daß ſie ihrem ſtatlich bekräftigten Worte vertrauen. Die bewaffnete nordiſche Neutralität von 1800 (womit zu vergleichen iſt der Vertrag zwiſchen
(0467 : 445)
Recht der Neutralität.
England und Rußland von 1801) hat den Grundſatz in folgenden Sätzen ausgeſprochen:
Que la déclaration de l’officier commandant le vaisseau ou les vaisseaux de la marine royale ou impériale, qui accompagneront le convoi d’un ou de plusieurs bâtiments marchands, que son convoi n’a à bord aucune marchandise de contrebande, doit suffire pour qu’il n’y ait lieu à aucune visite sur son bord ni à celui des bâtiments de son convoi.
Pour assurer d’autant mieux à ces principes le respect dû à des stipulations dictées par le désir des intéressés, de maintenir les droits imprescriptibles des nations neutres, et donner une nouvelle preuve de leur loyanté et de leur amour pour la justice, les hautes parties contractantes preunent ici l’engagement le plus formel, de renouveler les défenses les plus sévères à leurs capitaines, soit de hautbord, soit de la marine marchande, de charger, tenir ou recéler à leurs bords aucun des objets, qui, aux termes de la présente convention, pourraient être réputés de contrebande et de tenir respectivement la main à l’exécution des ordres qu’elles feront publier dans leurs amirautés et partout où besoin sera, à l’éffet de quoi l’ordonnance, qui renouvellera cette défense sous les peines les plus graves, sera imprimée à la suite du présent acte pour qu’il n’en puisse être prétendu cause d’ignorance.
Les hautes parties contractantes voulant encore prévenir tout sujet de dissension à l’avenir limitant le droit de visite des vaisseaux marchands allaut sous convoi, aux seuls cas où la puissance belligérante pourrait essuyer un préjudice réel par l’abus du pavillion neutre, sont convenus:
1. Que le droit de visiter les navires marchands appartenant aux sujets de l’une des puissances contractantes et naviguant sous le convoi d’un vaisseau de guerre de ladite puissance ne sera exercé que par les vaisseaux de guerre de la partie belligérante, et ne s’étendra jamais aux armateurs, corsaires ou autres bâtiments, qui n’appartiennent pas à la flotte impériale ou royale de leurs Majestés, mais que leurs sujets auraient armés en guerre.
2. Que les propriétaires de tous les navires marchands appartenant aux sujets de l’un des Souverains contractants, qui seront destinés à aller sous convoi d’un vaisseau de guerre, seront tenus, avant qu’ils ne reçoivent leurs instructions de navigation, de produire au commandant du vaisseau de convoi leurs passeports et certificats ou lettres de mer, dans la forme annexée au présent traité.
3. Que, l’orsqu’un tel vaisseau de guerre, ayant sous convoi des navires marchands, sera rencontré par un vaisseau ou des vaisseaux de guerre de l’autre partie contractante qui se trouvera alors en état de guerre, pour éviter tout désordre, ou se tiendra hors de la portée du canon, à moins que l’état de la mer ou le lieu de la rencontre ne nécessite un plus grand rapprochement; et le commandant du vaisseau de la puissance belligérante
(0468 : 446)
Neuntes Buch.
enverra une chaloupe à bord du vaisseau de convoi, où il sera procédé réciproquement à la vérification des papiers et certificats, qui doivent constater, d’une part que le vaisseau de guerre neutre et autorisé à prendre sous son escorte tels ou tels vaisseaux marchands de sa nation, chargés de telle cargaison et pour tel port; de l’autre part, que le vaisseau de guerre de la partie belligérante appartient à la flotte impériale ou royale de leurs Majestés.
4. Cette vérification faite, il n’y aura lieu à aucune visite, si les papiers sont reconnus en règle, et s’il n’existe aucun motif valable de suspicion. Dans le cas contraire le commandant du vaisseau de guerre neutre (y étant dûment requis par le commandant du vaisseau ou des vaisseaux de la puissance belligérante) doit amener et détenir son convoi pendant le temps nécessaire pour la visite des bâtiments, qui le composent; et il aura la faculté de nommer et de déléguer un ou plusieurs officiers pour assister à la visite desdits bâtiments, la quelle se fera en sa présence sur chaque bâtiment marchand, conjointement avec un ou plusieurs officier préposés par le commandant du vaisseau de la partie belligérante.
5. S’il arrive que le commandant du vaisseau ou des vaisseaux de la puissance en guerre, ayant examiné les papiers trouvés à bord, et ayaut interrogé le maître et l’equipage du vaisseau, apercevra des raisons justes et suffisantes pour détenir le navire marchand, afin de procéder à une recherche ultérieure, il notifiera cette intention au commandant du vaisseau de convoi, qui aura le pouvoir d’ordonner à un officier de rester à bord du navire aussi détenu, et assister à l’examen de la cause de sa détention. Le navire marchand sera amené tout de suite au port le plus proche et le plus convenable appartenant à la puissance belligérante, et la recherche ultérieure sera conduite avec toute la diligence possible.
825.
Ergibt ſich bei der Prüfung dieſer Papiere ein ernſter Verdacht von Contrebande, ſo wird zwar ausnahmsweiſe die Durchſuchung des verdächtigen Schiffes vorgenommen, aber es iſt dem geleitenden Statsſchiffe Gelegenheit zu geben, bei der Vornahme derſelben repräſentirt zu ſein. Wird dann nach der Meinung des Kriegsſchiffs Contrebande entdeckt, ſo iſt dem Commandanten des Geleitſchiffes davon Anzeige zu machen, und dieſer kann einen Officier beauftragen, der Stellung des vermeintlichen Contrebandeſchiffes vor das nächſte Priſengericht und der Verhandlung vor demſelben im Intereſſe des neutralen Verkehrs beizuwohnen.
Der Kriegsſtat hat immerhin ſein ſelbſtändiges Recht und Intereſſe zu wahren. Daher kann ihm nicht zugemuthet werden, daß die Berufung auf das
(0469 : 447)
Recht der Neutralität.
Zeugniß des neutralen Stats jede weitere Prüfung auch verdächtiger Schiffe abſolut verhindere. Es iſt möglich, daß der neutrale Stat ſelber getäuſcht worden war und ſeinerſeits nicht ſorgfältig genug geprüft hatte. Es iſt überdem noch eher möglich, daß der Kriegsſtat und der neutrale Stat eine verſchiedene Meinung über die Ausdehnung des Begriffs Contrebande haben, und jener eine Ladung für Contrebande hält, welche dieſer nicht als Contrebande anſieht. Da kommt es wieder darauf an, den Conflict der Meinungen und Intereſſen auszugleichen. Damit ſtimmen auch die Satzungen der bewaffneten Neutralität von 1800 (vgl. zu § 824) überein. Vgl. Heffter § 170. Ganz paſſend iſt die Beſtimmung des engliſch-ruſſiſchen Vertrags von 1801: „It is in like manner agreed, that if any merchant ships thus conveyed should be detained without just and sufficient cause, the commander of the ships or ships of war of the belligerant power shall not only be bound to make to the owners of the ships and of the cargo a full and perfect compensation for all the losses, expenses, damages and costs occasioned by such a detention, but shall, moreover, undergo an ulterior punishment for every act of violence or other fault which he may have committed, according as the nature of the case may require“.
826.
Dieſer Schutz des neutralen Geleitſchiffes erſtreckt ſich nur auf die früher ſchon ausdrücklich und nach vorheriger Prüfung in den Geleitſchutz aufgenommenen Handelsſchiffe und kann nicht erſt unterwegs angerufen werden, wenn ein neutrales Schiff ohne dieſe Vorſicht die Fahrt unternommen hat und nun befürchtet, durchſucht zu werden.
Schiffe, welche ſich erſt unterwegs an die geleiteten Schiffe (convoi) anſchließen, ſind demnach als nicht durch das Geleite legitimirt der gewöhnlichen Prüfung ausgeſetzt. Aber es bleibt auch in dieſem Falle dem Commandanten des Geleites unverwehrt, einen Officier mitzuſchicken, damit er der Unterſuchung beiwohne.
(0470 : 448)
Neuntes Buch.
5. Blocade.
827.
Die Kriegsſtaten ſind berechtigt, im Intereſſe wirkſamer Kriegsführung feindliche Häfen, Feſtungen, unter Umſtänden eine beſtimmte feindliche Küſtenſtrecke gegen jede Handelsverbindung auch mit den Neutralen abzuſperren.
1. Das Recht der Kriegsſtaten, einen Hafen oder eine Küſte des feindlichen Gebiets für den Handel abzuſperren, zu blokiren, wird in Kriegszeiten von Alters her geübt und völkerrechtlich anerkannt. Aber über den Grund dieſes Rechts gehen die Meinungen aus einander. Die Uebung bezeugt nur die verbreitete Rechtsüberzeugung, aber erklärt dieſelbe nicht. Manche Publiciſten, wie Hübner, Ortolan und Hautefeuille erklären ſie aus der ſouveränen Gewalt, welche die Kriegsmacht über die feindlichen Küſtengewäſſer ergreife und ausübe. Aber einmal iſt dieſe Gewalt (die Beſitznahme) nicht unbeſtritten, denn die blokirte Küſte ſelbſt iſt meiſtens noch im Beſitze des Feindes, der ſeine Gewalt, ſoweit die Strandbatterien ſchießen, auch über den Hafen und den Küſtenſaum behauptet und ausübt. Sodann wird das Blocaderecht in das offene Meer hinein geübt, wo die Wachſchiffe ſtationirt ſind und auf offenem Meere gibt es keine beſondere Souveränetät eines Stats gegenüber andern Staten. Endlich erklärt die Gebietshoheit — zumal eine bloß proviſoriſche — nicht das allgemeine Verbot des an ſich berechtigten, vielleicht vertragsmäßig geſchützten Handelsverkehrs.
2. Der Grund kann nicht in der Souveränetät, ſondern wieder nur in dem Nothrecht des Kriegs gefunden werden. Die energiſche, auf raſchen Erfolg hinarbeitende Kriegsführung kann der Blocade nicht entbehren. Gewiß iſt jede Blocade auch eine ſchwere Schädigung der neutralen Intereſſen, aber man nimmt an, die Neutralen müſſen ſich dieſelbe als eine unvermeidliche Folge des Kriegs, wie dieſen ſelber, gefallen laſſen, welcher die neutralen Intereſſen auch ſonſt vielfältig verletzt. Schon Grotius und Bynkershoek, neuerlich auch Geßner (Droit des Neutres. Berlin 1865) erklären das Blocaderecht mit guten Gründen aus der Kriegsnothwendigkeit. Gerade weil es Nothrecht iſt, muß es auf die Fälle und das Maß der Noth eingeſchränkt werden.
828.
Die Neutralen ſind verpflichtet, eine wirkſame Blocade während des Kriegs zu beachten.
Als wirkſam gilt dieſelbe, wenn der blokirende Kriegsſtat die Zu-
(0471 : 449)
Recht der Neutralität.
fahrt zu der blokirten Küſte durch eine ausreichende Macht fortwährend und thatſächlich verhindert. Die bloße Erklärung der Blocade genügt nicht.
1. In frühern Zeiten wurde das Blocaderecht von den Seemächten in viel weiterem Umfange ausgeübt. Die allmähliche Einſchränkung des Blocaderechts iſt ein Fortſchritt des neueren Bölkerrechts, weil ſie die Gewaltthaten des Kriegs ermäßigt und den friedlichen Verkehr ſchützt. Insbeſondere behaupteten die Seemächte früher, daß die bloße Erklärung der Blokade genüge, um den Handel auch den Neutralen nach der als blokirt erklärten Küſte zu unterſagen. So hatte z. B. England 1780 die ganze franzöſiſche Küſte und im Jahr 1806 der Kaiſer Napoleon alle engliſchen Küſten in Blocadezuſtand erklärt. Auf dem Pariſer Congreß von 1856 wurde endlich (16. April) der früher ſchon von der erſten bewaffneten Neutralität vertretene, aber auch von England und Frankreich 1854 im Ruſſiſchen Krieg angenommene Grundſatz anerkannt: „Les blocus pour être obligatoires, doivent être effectifs, c’est à dire maintenus par une force suffisante pour interdire réellement l’accès du littoral de l’ennemi“. Es wird alſo nur die „effective“ (wirkſame), nicht die fictive (Papier blocus) Seeſperre anerkannt.
2. Ein Antrag, die bloße Handelsblocade, d. h. die Hemmung des reinen militäriſch unverfänglichen Handelsverkehrs, überhaupt nicht mehr zuzulaſſen, ſondern nur noch die militäriſche Blocade, d. h. welche den Verkehr mit einer Feſtung oder einer militäriſch-wichtigen Seeſtation abſchneidet, iſt bisher noch nicht zu weiterer Anerkennung gelangt. Man begreift es, daß die Seemächte, deren Macht und Zwang weſentlich auf die Küſten beſchränkt ſind, ſich dagegen ſträuben, eine ſolche Beſchränkung anzunehmen, durch welche ihre Nöthigungsmittel ſehr erheblich vermindert würden. Vgl. Dana zu Wheaton Int. L. § 510. und oben zu § 673.
829.
Für wirkſam geſperrt iſt ein Hafen dann zu erachten, wenn die Ein- und Ausfahrt entweder durch Kriegsſchiffe, welche vor dem Hafen liegen, oder durch Landbatterien des blokirenden Stats verhindert werden. Eine beſtimmte Anzahl von Kriegsſchiffen wird nicht erfordert, ebenſo wenig als eine beſtimmte Anzahl von Kanonen der Landbatterie. Aber es muß die vorhandene Kriegsmacht nahe und ſtark genug ſein, um nicht bloß in einzelnen Fällen, aber auch nicht nothwendig in allen Fällen, ſondern regelmäßig den Verkehr der Handelsſchiffe verhindern zu können.
Man muß ſich hier vor zwei extremen Auslegungen des Wortes „effective Blocade“ hüten. Die eine überſpannt die Anforderung an dieſelbe, indem ſie
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 29
(0472 : 450)
Neuntes Buch.
nur die Sperre als wirkſam betrachten will, die allen Verkehr abſolut zu hindern vermag, und jede Blocade als unwirkſam erklärt, wenn es auch nur Einem Schiffe gelingt, unbemerkt und unaufgehalten hindurchzukommen. Das heißt von der ſperrenden Kriegsgewalt Unmögliches verlangen. Eine andere ebenfalls extreme Meinung begeht den entgegenſetzten Fehler, indem ſie die Wirkſamkeit des Blocus zu leicht nimmt und ſchon eine gelegentliche Behinderung einzelner Schiffe durch ein Kreuzerſchiff der Kriegsmacht für genügend erachtet. Das anerkannte Völkerrecht hält ſich in der Mitte zwiſchen dieſen Extremen. Die Ausnahme einer glücklichen Ein- oder Ausfahrt trotz der Blocade macht dieſelbe nicht unwirkſam und die Ausnahme einer unglücklichen Wegnahme eines neutralen Schiffs durch einen Kreuzer macht dieſelbe nicht wirkſam. Es muß vielmehr nach dem Ausdruck des Grafen Granville (16. Mai 1861) in Folge der Blocade wirklich ſchwierig ſein, ungehemmt in den blokirten Hafen ein- oder aus demſelben auszulaufen. Es muß eine ernſte und nahe Gefahr ſein, durch die Wachſchiffe hindurch zu kommen. In dem nordamerikaniſchen Bürgerkrieg 1861—65 wurde die effective Blocade in dieſem Sinne von den Vereinigten Staten gehandhabt und von den Neutralen anerkannt.
830.
Weder iſt eine fingirte Blocade durch ein bloßes Decret, ohne die thatſächliche Geltendmachung zuläſſig noch eine Blocade der Seehäfen durch hin und her fahrende Kreuzer ohne dauernde Kriegsſtation.
Allerdings iſt auch heute noch die Blocade einer Küſte, nicht bloß einzelner Seehäfen möglich; und inſofern wird jene noch durch Kreuzer gehandhabt, aber doch nur in Verbindung mit einer feſten Schiffsſtation, welche regelmäßige Wache hält. Die bewaffnete Neutralität von 1780 hatte den Grundſatz ſo ausgedrückt: „on accorde cette détermination (d’un port bloqué) qu’ à celui où il y a, par la disposition de la puissance qui l’attaque avec des vaisseaux arrêtés et suffisamment proches un danger évident d’entrer. In dem Neutralitätsvertrag zwiſchen Rußland und England vom Jahr 1801 wurde dann dieſe Beſtimmung durch die nur ſcheinbar unerhebliche Wandlung des Wörtchens et in das bedenkliche ou ſehr abgeſchwächt, und dem Mißbrauch einer Blocade durch bloße Kreuzer wieder eine Thüre eröffnet. Vgl. Geßner a. a. O. S. 167.
831.
Der Kriegsſtat iſt verpflichtet, die Blocade öffentlich und allgemein zu erklären und davon auch ſoweit ſein regelmäßiger diplomatiſcher Verkehr reicht, den neutralen Staten ſofort davon Anzeige zu machen, damit die-
(0473 : 451)
Recht der Neutralität.
ſelben ihre Handelsſchiffe rechtzeitig vor der drohenden Gefahr warnen können. Die vorherige Kenntnißgabe iſt eine Bedingung der rechtmäßigen Blocade. Wenn dieſelbe aber wegen der großen Entfernung des blokirten Hafens unthunlich erſcheint, ſo daß die Anordnung der Blocade antecipirt werden muß, ſo iſt jene Anzeige doch auch in dieſem Falle möglichſt zu beſchleunigen.
1. Nur die Statsgewalt kann eine Blocade anordnen. Es iſt das ein Act der Souveränetät. Da derſelbe aber auch für die Neutralen wichtige und gefährliche Folgen hat, ſo iſt dieſe eingreifende Maßregel möglichſt bald den neutralen Staten zur Kenntniß zu bringen. Dieſe würden mit vollem Recht ſich beſchweren können, wenn ihre Schiffe, ohne vorherige Anzeige und Warnung von den blokirenden Kriegsſchiffen des Kriegsſtats wegen Verletzung der Blocade weggenommen würden. Zuweilen haben darüber Statsverträge nähere Beſtimmungen getroffen, z. B. der engliſch-amerikaniſche von 1794.
2. Die antecipirte Blocade wird inſofern ſofort wirkſam, als den neutralen Schiffen die Fahrt zu oder aus dem blokirten Hafen je nach Umſtänden verwehrt oder doch erſchwert wird. Aber ſie darf nicht zur Wegnahme von neutralen Schiffen führen, die in gutem Glauben ſind.
832.
Die Kenntnißgabe iſt aber auch direct in einzelnen Fällen an die zur See befindlichen und ſich in gutem Glauben nähernden neutralen Schiffe zu richten, damit dieſelben dadurch veranlaßt werden, nach einem nicht blokirten Hafen zu ſteuern und ſo den Folgen der Blocade ausweichen.
1. Die Proclamation des Präſidenten Lincoln vom 19. April 1861 ſchreibt den Commandanten der Wachſchiffe vor: „Wenn ein neutrales Schiff ſich nähere, dasſelbe ohne Verzug zu warnen, und die Warnung in die Schiffspapiere eintragen zu laſſen. Würde das gewarnte Schiff ſpäter wieder verſuchen, trotz der Blocade in den blokirten Hafen ein- oder aus demſelben auszulaufen, dann ſoll es weggenommen werden“. Bei den gerichtlichen Verhandlungen darüber wurde indeſſen anerkannt, daß die individuelle Warnung nur da eine Bedingung der Wegnahme des Schiffs ſei, wo dasſelbe nicht ohnehin Kenntniß von der Blocade gehabt habe, nur inſofern es in gutem, nicht wenn es in böſem Glauben ſei. Vgl. Dana zu Wheaton § 518.
2. Eine Rechtsvermuthung, daß den neutralen Schiffen die Blocade bekannt geworden ſei, beſteht nur inſofern, als dieſelben aus einem Hafen kommen, in welchem die Blocade notoriſch bekannt war. Dieſe Notorietät verſteht ſich für den blokirten Hafen, aber nicht ohne weiters für die neutralen Häfen.
29*
(0474 : 452)
Neuntes Buch.
3. Die Anzeige für ſich allein wirkt nicht, ſondern nur in Verbindung mit der thatſächlichen Sperre. Würde alſo z. B. angezeigt, es ſeien ſämmtliche Häfen einer Küſte blokirt, aber in Wahrheit nur die einen wirklich durch Blocadeſchiffe geſperrt, die andern nicht, ſo wäre das neutrale Schiff nicht gehindert, in einen der letztern Häfen zu fahren.
833.
Die Blocade dauert nicht länger, als ſie wirkſam iſt.
Wenn die Kriegsſchiffe ihre Station verlaſſen und wegfahren, oder wenn dieſelben durch einen feindlichen Angriff vertrieben oder durch Stürme zerſtreut werden, ſo iſt die Blocade nicht mehr wirkſam und damit hört auch die Verbindlichkeit der Neutralen auf, die Blocade zu beachten. Die von engliſchen Publiciſten öfter vertheidigte Meinung, daß die Neutralen es abwarten müſſen, bis ſie eine Erklärung über die Aufhebung der Blocade erhalten, iſt im Widerſpruch mit dem von dem Pariſer Congreß von 1856 anerkannten Grundprincip und würde wieder zu einem bloß fictiven Blocus führen.
834.
Nur wenn die Störung der Blocade eine bloß momentane und vorübergehende war und ohne Verzug durch Wiederherſtellung wieder beſeitigt wird, ſo wird angenommen, die alte Blocade daure fort.
Die bloße vorübergehende Störung der Blocade iſt nicht Aufhebung derſelben. Während der Störung, die nur einen thatſächlichen Charakter hat, haben wohl die neutralen Schiffe eine glückliche Ausſicht, ungehemmt durchzukommen. Aber die ſofortige Beſeitigung der Störung und Wiederherſtellung des frühern Blocadezuſtands wird als Fortſetzung desſelben und nicht als eine neue Blocade betrachtet. Es bedarf alſo keiner neuen Notification. Anders iſt’s, wenn die Blocade thatſächlich aufgegeben oder dauernd aufgelöst worden iſt. Wird dieſelbe ſpäter wieder erneuert, ſo iſt das nicht mehr die fortgeſetzte alte, ſondern eine neue Blocade.
835.
Die Bedingungen, unter welchen der Kriegsſtat ein neutrales Schiff wegen Verletzung wegnehmen darf, ſind:
a) die Kenntniß des Neutralen von dem wirklichen Beſtand der Blocade,
b) das Schiff muß während des Verſuchs, die Blocade zu brechen, ergriffen worden ſein.
(0475 : 453)
Recht der Neutralität.
1. Zu a) Vgl. zu 829 u. 832. Das neutrale Schiff kann ſich aber nicht allezeit damit ausreden, daß es zwar von der Blocade Kenntniß gehabt, aber vorerſt habe nachſehen wollen, ob dieſelbe auch wirklich gehandhabt werde. Der Kriegsſtat kann nicht zugeben, daß der Verſuch, die Blocade zu brechen, ſich hinter den Vorwand dieſer Prüfung verſtecke, um ohne Gefahr der Wegnahme unternommen zu werden. Nur wenn aus den Umſtänden, z. B. wegen der großen Entfernung, klar wird, daß das kein bloßer Vorwand und Deckmantel ſei für die Durchfahrt trotz der Blocade, iſt das neutrale Schiff frei zu erklären.
2. Zu b) So lange ſich das neutrale Schiff nur vorbereitet, vielleicht noch im Hafen, um je nach Umſtänden die Fahrt zu wagen, darf es nicht genommen werden, weil es die Blocade noch nicht verletzt hat. Es kann noch immer ſeinen Vorſatz ändern, und nicht ſchon der Wille, ſondern erſt die That wird durch das Völkerrecht bedroht. Aus dieſem Grunde darf das Schiff auch, ſo lange es in großer Entfernung von dem blokirten Hafen iſt, noch nicht weggenommen werden, denn noch kann es ſeinen Lauf ändern und die Blocade beachten. Erſt wenn es ſich ſoweit annähert, daß darin der Verſuch offenbar wird, trotz der Blocade durchzufahren, wird es der Wegnahme ausgeſetzt.
3. Bei der Beurtheilung dieſer Bedingungen des Blocaderechts und der Blocadepflicht iſt voraus auf den guten Glauben (bona fides) zu achten, der aus den Umſtänden erſchloſſen wird. Man darf nicht übeln Willen vermuthen, aber ſich auch nicht durch die bloße Behauptung des guten Glaubens irreführen laſſen.
4. Die bewaffnete Neutralität von 1800 verſuchte es, noch ſtrengere Bedingungen feſtzuſetzen, insbeſondere außer der vorherigen individuellen Warnung auch den offenbaren Verſuch, „mit Gewalt oder Liſt“ — en emploiant la force ou la ruse — durchzudringen. Dieſe Beſtimmung wurde aber in den engliſch-ruſſiſchen Vertrag von 1801 nicht aufgenommen und ein Beweis der verſuchten Gewalt oder Liſt wird auch von der neueren Praxis nicht gefordert.
836.
Die blokirende Kriegsmacht iſt nicht berechtigt, ein neutrales Schiff außerhalb der blokirten Gewäſſer zu nehmen, ſelbſt dann nicht, wenn dasſelbe der Blocade glücklich entkommen iſt.
Die Verfolgung freilich kann ſich über die blokirten Gewäſſer hinaus erſtrecken, nicht aber darf der Angriff außerhalb dieſes Gebiets unternommen werden. Die Blocade iſt nach ihrer Natur an eine beſtimmte Oertlichkeit gebunden. Dort wird ſie gehandhabt und dort allein, nicht auf dem weiten Meer überhaupt macht ſie ſich geltend. Das entkommene Schiff wird ſich daher davor hüten müſſen, daß es nicht wieder auf dem Rückweg dem Blocadegeſchwader in die Hände fällt. Aber wenn es nach der glücklichen Durchfahrt in einen nicht blokirten Hafen eingelaufen iſt, ſo kann es ungehindert von da die neutrale Reiſe fortſetzen. Vgl.
(0476 : 454)
Neuntes Buch.
oben § 299. Indeſſen verfahren einige Seemächte auch in dieſer Hinſicht noch ſtrenger und gewaltſamer. Auch die amerikaniſchen Gerichte erkannten noch in dem letzten Bürgerkrieg das Recht der Wegnahme auf der Rückfahrt an; aber nicht mehr, nachdem die Reiſe beendigt war. Dana zu Wheaton § 523.
837.
Die neutralen Schiffe, welche vor der Blocade in dem blokirten Hafen lagen, haben ein Recht zu fordern, daß ihnen die ungehinderte Ausfahrt geſtattet werde, wenn ſie nach einem unverfänglichen Beſtimmungsorte fahren, ohne Kriegscontrebande, mit Ballaſt oder mit einer Ladung, welche ſie ſchon vor der Blocadeerklärung aufgenommen haben.
Die neuere Praxis iſt zuweilen noch milder und geſtattet den neutralen Schiffen, während einer beſtimmten Friſt, mit beliebiger Ladung, ausgenommen Contrebande, auszulaufen, ohne Rückſicht darauf, daß dieſelbe erſt nach der Erklärung der Blocade aufgenommen worden. Die ſtrengere Praxis, welche eine neue Ladung von feindlichem Gut unterſagt, iſt aber noch die Regel. Vgl. Hautefeuille Droit des neutres II. S. 214.
838.
Den neutralen Schiffen darf nicht zugemuthet werden, in der Noth vor dringender Seegefahr in dem blokirten Hafen eine Zufluchtsſtätte zu ſuchen.
Es iſt das ein Gebot der Menſchlichkeit, welche auch das Kriegsnothrecht achten muß. Vgl. oben § 774.
839.
Ein neutrales Schiff, welches die Blocade verletzt, kann während der verſuchten Verletzung weggenommen und confiscirt werden. Aber die Mannſchaft verfällt keiner weiteren Strafe.
Eine eigentliche Strafgerichtsbarkeit ſteht dem Kriegsſtat wider die Neutralen auf offener See nicht zu (oben § 827). Aber die Androhung der Wegnahme des neutralen Schiffs, wenn dasſelbe bei Verletzung der Blocade ergriffen iſt, ſichert die Wirkſamkeit dieſer und wird inſoweit von dem Völkerrecht geſtattet. Der Blocadebrecher iſt dieſer Gefahr ausgeſetzt, nicht aber einem eigentlichen Strafverfahren. Die Mannſchaft des neutralen Schiffs iſt daher auch nicht der
(0477 : 455)
Recht der Neutralität.
Kriegsgefangenſchaft unterworfen. Im Grunde war ihr Verkehr doch nur Friedensverkehr, nicht Kriegshülfe.
840.
Ebenſo unterliegt die Ladung ſolcher Schiffe der Beſchlagnahme und der Confiscation, außer wenn der Eigenthümer der Waare es glaubhaft machen kann, daß die Verletzung der Blocade gegen ſeinen Willen verſucht worden ſei.
Wenn Schiff und Waare denſelben Eigenthümer haben, ſo iſt die Confiscation der Waare unbedenklich. Wenn aber dieſelben verſchieden ſind, ſo verſteht ſich die letztere nicht mehr von ſelbſt, wie eine Folge der Wegnahme des Schiffs. Aber man wird auch in den letztern Fällen nicht leicht annehmen dürfen, daß der Eigenthümer der Waare unbetheiligt ſei bei der Verletzung der Blocade, welche meiſtens in ſeinem Handelsintereſſe verſucht wird. Nur wenn nachgewieſen werden kann, daß derſelbe von der Exiſtenz der Blocade nichts habe wiſſen können, als er den blokirten Hafen zum Beſtimmungsort der Waare machte, oder daß er den Schiffer beſtimmt und nicht etwa nur zum Scheine anwies, die Blocade zu beachten und trotzdem dieſer auf eigene Gefahr hin gegen ſeinen Auftrag die Blocade brechen wollte, wäre es ungerecht, die ſchweren Nachtheile der Confiscation dem Eigenthümer aufzuerlegen. Vgl. Phillimore III. § 318.
6. Priſengerichte.
841.
Die Beſchlag- und die Wegnahme ſowohl feindlicher Schiffe als der neutralen Schiffe und ihrer Ladung iſt der Beurtheilung der Priſengerichte unterworfen.
Das Priſengericht entſcheidet über die Rechtmäßigkeit der Priſe und über die Folgen der Beſchlag- oder Wegnahme.
Die Einrichtung der Priſengerichte gibt einige, wenn auch eine unvollkommene Gewähr dafür, daß auch im Seekrieg nicht bloß die Gewalt — ſondern das Recht herrſche. Die Priſengerichte dienen zur Controle der gewaltſamen Beſchlag- und Wegnahme, welche im Kriege gegen fremde (feindliche oder neutrale) Schiffe und
(0478 : 456)
Neuntes Buch.
Waaren geübt wird. Dieſelbe ſoll nach Rechtsgrundſätzen und durch Richter geprüft und je nach Umſtänden entweder beſtätigt oder verbeſſert werden. Die Rückſicht auf die Neutralen hat hauptſächlich zur Ausbildung der Priſengerichtsbarkeit geführt, aber auch den Eigenthümern der feindlichen Nation kommt die Einrichtung gelegentlich zu Gute.
842.
Als zuſtändig wird in der Regel das Priſengericht des Nehmeſtates betrachtet, auch wenn das aufgebrachte Schiff ein neutrales iſt, und ſogar dann, wenn das neutrale Schiff wegen Führung von Kriegscontrebande oder Verletzung der Blocade auf offener See genommen worden iſt.
Wenn das neutrale Schiff in den beſetzten Eigengewäſſern genommen wird, ſo iſt die Zuſtändigkeit der beſetzenden Statsgewalt und ihrer Gerichtsbarkeit ſchon aus allgemeinen Rechtsgrundſätzen erklärt. Eher erheben ſich Zweifel, wenn die Wegnahme auf offener See geſchehen iſt, denn dieſe iſt nicht einer beſondern Gebietshoheit unterworfen (§ 304), alſo auch nicht des Kriegsſtats. Man kann überdem mit Grund das Bedenken erheben, daß die neutralen Schiffe in den Gerichten des Nehmeſtats nicht genügende Garantien für eine unparteiiſche Rechtspflege zu finden vermögen, indem der Nehmeſtat ſelber Partei und bei der Verurtheilung der aufgebrachten Schiffe intereſſirt iſt. Es bleibt eine Aufgabe der zukünftigen Verbeſſerung des Völkerrechts, dieſen Mangel zu heben und beſſere Garantien der Unparteilichkeit zu gewähren. Friedrich der Große hatte im Jahr 1753 eine preußiſche Commiſſion niedergeſetzt, welche die Urtheile der engliſchen Priſengerichte gegen Preußiſche, damals neutrale, Schiffe nochmals prüfen und darüber erkennen ſollte, wogegen freilich England als gegen eine unerhörte Neuerung Proteſt erhob. Man verſuchte es auch einige Male mit Beſtellung gemiſchter Gerichte. Gegenwärtig aber wird die ausſchließliche Zuſtändigkeit der Gerichte des Nehmeſtats allgemein anerkannt. Man betrachtet ſie theils als eine Folge des Kriegsrechts, welches die Kriegspartei zu gewaltſamem Eingreifen ermächtigt, theils als eine Ermäßigung dieſes Rechts, indem es in der Vollziehung einer gerichtlichen Controle unterworfen wird.
843.
Die Beſetzung und Ermächtigung des Priſengerichts iſt ein Act der Souveränetät des Kriegsſtates, welcher die Priſengerichtsbarkeit übt.
1. Die Priſengerichte ſind außerordentliche Gerichtshöfe, welche in Kriegszeiten ad hoc errichtet werden. Obwohl ihre Aufgabe eine völkerrechtliche iſt, ſo iſt ihre Begründung und Beſetzung dennoch ſtatsrechtlich normirt. Deßhalb iſt die Organiſation der Priſengerichte in den verſchiedenen Staten verſchieden;
(0479 : 457)
Recht der Neutralität.
und die Richter, welche dieſelben bilden, erhalten ihre Ernennung und Inſtruction jederzeit von der oberſten Statsgewalt ihres Stats.
2. Die Einſetzung des Priſengerichts iſt eine Handlung des Kriegsrechts. Die neutralen Staten ſetzen demgemäß keine Priſengerichte ein und geſtatten auch nicht, daß ein Kriegsſtat auf ihrem Gebiete Priſengerichtsbarkeit übe. Auch wenn etwa der Kriegsſtat ſeine Geſanten oder Conſuln in dem neutralen State ermächtigen wollte, Priſengerichtsbarkeit zu üben, ſo iſt der neutrale Stat berechtigt, das zu hindern. Er duldet in ſeinem friedlichen Gebiete keine Kriegsanordnungen der Kriegsparteien.
844.
Das Priſengericht iſt auch dann zuſtändig, wenn der Nehmer das genommene Schiff in Folge von Seenoth nicht in einen Hafen des eigenen Stats hat bringen können, ſondern dasſelbe in einem neutralen Hafen geſichert hat.
Die Aufbringung des genommenen Schiffs in den Seehafen, wo das Priſengericht ſitzt, iſt nicht eine unerläßliche Vorbedingung des priſengerichtlichen Verfahrens, wenn gleich ſie in der Regel als Einleitung dazu dient. In manchen Fällen iſt dieſelbe nicht möglich, weil das genommene Schiff nicht mehr ſeetüchtig iſt und man genöthigt iſt, für dasſelbe in einem neutralen Hafen Schutz zu ſuchen.
845.
Aus dem Aſyl, welches der neutrale Stat dem feindlichen Nehmer ſammt ſeiner Priſe gewährt, folgt nicht eine ſelbſtändige Gerichtsbarkeit des neutralen Stats über die Rechtmäßigkeit der Priſe. Aber der neutrale Stat iſt nunmehr in der Lage, gegenüber von völkerrechtswidrigen Wegnahmen den neutralen Eigenthümer beſſer ſchützen zu können.
1. Weil die Priſengerichtsbarkeit als eine Wirkung des Kriegsrechts betrachtet wird, ſo kann nur ein Kriegsſtat, und nie ein neutraler Stat ſie üben (vgl. zu 842. 843), alſo auch dann nicht, wenn ſich das genommene Schiff innerhalb der neutralen Eigengewäſſer befindet, alſo der ordentlichen Gerichtsbarkeit des neutralen Stats unterworfen iſt.
2. Aber eben aus dem letzten Grunde iſt der neutrale Stat auch in der Lage, dem aufgebrachten Schiffe ſeinen ordentlichen Rechtsſchutz zuzuwenden, inſofern gegen dasſelbe völkerrechtswidrig verfahren worden iſt. Er iſt nicht verbunden, ſeine Beihülfe dem fremden Priſengerichte zu gewähren. Würde z. B. ein Kriegsſtat noch die Kaperei geſtatten, und ein von einem Kaper auf-
(0480 : 458)
Neuntes Buch.
gebrachtes neutrales Schiff würde in einen neutralen Hafen gebracht, ſo wäre der neutrale Stat in ſeinem Rechte, wenn er die Auslieferung und Wegführung des Schiffs verhinderte, ungeachtet vielleicht das Priſengericht die Wegnahme gutgeheißen hat.
846.
Hat aber der Nehmer der Priſe in einen ihm feindlichen Hafen flüchten müſſen, ſo ſetzt er dieſelbe der Repriſe aus, welche die Wirkſamkeit der erſten Priſe aufhebt.
Iſt der feindliche Hafen im Beſitz des Kriegsſtats, der die Priſe gemacht hat, ſo iſt freilich der Nehmer ſo lange geſichert, als dieſer Beſitz fortdauert, und wenn inzwiſchen die Verurtheilung erfolgt, ſo wirkt dieſelbe ohne Hemmniß. Wenn aber der Hafen im Beſitz des Feindes iſt oder vor der Verurtheilung wieder in den Beſitz desſelben kommt, ſo hat der Feind das entgegengeſetzte Intereſſe, dem Nehmer die Beute wieder wegzunehmen, und durch die Repriſe die Wirkſamkeit der Priſe zu zerſtören.
847.
Die Priſengerichte haben bei ihren Entſcheidungen die Grundſätze des Völkerrechts und die Geſetze und Verordnungen ihres Landes, ſo weit dieſe mit jenen in Harmonie zu bringen ſind, zu beachten. Wenn beide einander widerſprechen, ſo kann zwar das Priſengericht ſtatsrechtlich genöthigt werden, dem Landesgeſetze zu gehorchen. Aber es ſind die beſondern Landesordnungen möglichſt ſo auszulegen und zu handhaben, daß ſie in Uebereinſtimmung mit den allgemeinen Grundſätzen des Völkerrechts verbleiben und immer wird der Kriegsſtat dem neutralen State gegenüber verantwortlich, wenn die Vorſchriften des Völkerrechts zum Schaden des neutralen Rechts mißachtet werden.
Der Widerſpruch zwiſchen der völkerrechtlichen Beſtimmung und der ſtatsrechtlichen Organiſation und Beſetzung der Priſengerichte zeigt ſich hier wieder. Die Priſengerichte ſollen das Völkerrecht handhaben und weſentlich nach Völkerrecht urtheilen, und trotzdem können ſie ſich nicht frei machen von der Unterordnung unter die ſouveräne Statsautorität, welche ſie ins Leben gerufen hat und von der ſie abhängig bleiben. Würden ſie ohne Rückſicht auf die Priſenreglemente ihres Stats lediglich nach ihrem Verſtändniß des Völkerrechts dieſes anwenden, ſo wären ſie in Gefahr, von ihrer Statsregierung zur Verantwortung gezogen zu werden. Würden ſie einfach die beſondern Vorſchriften ihrer Statsautorität anwen-
(0481 : 459)
Recht der Neutralität.
den ohne alle Rückſicht auf das Völkerrecht, ſo würden ſie ſich gegen ihren völkerrechtlichen Beruf verfehlen. Es bleibt daher nur übrig, jeden Conflict möglichſt zu vermeiden. Das geſchieht, wenn das Landesrecht im Geiſte des Völkerrechts ausgelegt wird. Iſt trotzdem ein Widerſpruch zwiſchen den beiden Rechten vorhanden, der nicht zu verſöhnen iſt, ſo iſt das Gericht zwar verpflichtet, die beſtimmte Vorſchrift ſeines Landesgeſetzes zu befolgen. Dann aber wird auch der Stat, der ein völkerrechtswidriges Geſetz gegeben hat, dem neutralen State verantwortlich, welcher durch dasſelbe in ſeinen Schutzangehörigen verletzt wird; denn der neutrale Stat iſt nicht ſchuldig, ſich ein Verfahren gefallen zu laſſen, welches im Widerſpruch iſt mit den anerkannten Grundſätzen des Völkerrechts. Derſelbe kann von dem Nehmeſtat verlangen, daß er trotz des Spruchs ſeines Priſengerichts das neutrale Schiff oder die neutrale Waare frei gebe, wenn ſolches nach Völkerrecht geſchehen muß. Da das Völkerrecht für alle Staten verbindlich iſt (§ 3), ſo darf das ſtatliche Geſetz nicht demſelben widerſprechen. Vgl. Dana zu Wheaton, Intern. Law. § 388.
848.
Das Verfahren vor dem Priſengerichte richtet ſich in Ermanglung völkerrechtlicher Vorſchriften nach der Proceßordnung des Nehmeſtats. Die Neutralen haben aber ein Recht auf Vertheidigung und auf unparteiiſche Rechtspflege.
1. Die Priſengeſetze und Priſenverordnungen der einzelnen Staten beſtimmen das Nähere. Das Verfahren hat durchweg den Charakter einer Unterſuchung von Amts wegen. Der Priſenführer iſt verpflichtet, die Gründe, aus denen und die Umſtände, unter welchen er das Schiff genommen hat, darzulegen und das Priſengericht prüft ſodann die Schiffsurkunden, vernimmt den Schiffsführer und ſoweit nöthig die Mannſchaft des aufgebrachten Schiffs und ſtellt die Thatſachen feſt, welche die Grundlage des Proceſſes bilden. Dieſes Vorverfahren geſchieht meiſtens ſummariſch, nicht in Form einer gegenſeitigen Parteiverhandlung, ſondern durch gerichtliche Commiſſionen.
2. Zuweilen wird, wie in Preußen, ein Statsanwalt beſtellt, der die Anträge ſtellt, der nicht etwa die Intereſſen des Nehmers vertritt, ſondern eine unparteiiſche Haltung im Intereſſe der gerechten Erledigung der Prüfung behauptet. Er iſt nicht advocatus fisci, ſondern patronus juris.
3. Ergibt ſich die Sache als unzweifelhaft, ſo kann ſofort geſprochen werden. Insbeſondere iſt, wenn eine Freiſprechung erfolgen muß, dieſe ohne Verzug auszuſprechen. Früher nahm man es mit den Verurtheilungen ziemlich leicht. Die neuere Ausbildung des Rechts fordert hier ein ſorgfältigeres Verfahren, welches dem bedrohten Eigenthümer des Schiffs oder der Ladung Gelegenheit gibt, ſich gehörig zu vertheidigen. Sie können ihre Reclamationen ſchriftlich einreichen und werden dazu von dem Gerichte aufgefordert. Ein contra-
(0482 : 460)
Neuntes Buch.
dictoriſches Verfahren iſt durchweg begründet, wenn irgend welche Zweifel über die Schuld ſich zeigen und nicht die Schuld eingeſtanden wird.
849.
Der Nehmer iſt verpflichtet, ſofort nach ſeiner Ankunft in dem Hafen, die Papiere des aufgebrachten Schiffs ſammt dem Protokoll über die Nehmung dem Gericht zu übergeben und dieſem die Verfügung über das Schiff, ſowie die Unterſuchung ſeines Verfahrens anheim zu geben.
Indem die Thätigkeit des Gerichts beginnt, hört die Gewalt des Nehmers über das Schiff auf. Voraus ſoll nun die That des Nehmers und die Schuld des Schiffers geprüft und demgemäß weiter entſchieden werden.
850.
Der Spruch des Priſengerichts iſt für die Parteien verbindlich und begründet formelles Recht.
Es iſt das eine Folge der anerkannten Zuſtändigkeit (§ 842). Daß der Nehmer ſich dem Urtheil unterwerfen muß, iſt freilich ſelbſtverſtändlich, da das Priſengericht von demſelben State autoriſirt iſt, dem er angehört. Aber daß auch der fremde Neutrale das Urtheil als formelles Recht gelten laſſen muß, welches vielleicht im Widerſpruch iſt mit ſeinem heimatlichen Landesrecht, das iſt eine Anomalie, denn die Souveränetät des Nehmeſtats erſtreckt ſich nicht über ihn. Nur das Nothrecht des Kriegs erklärt die Ausnahme.
851.
Indeſſen iſt der Kriegsſtat, welcher das Priſengericht beſtellt hat, dem neutralen State verantwortlich für offenbares Unrecht, welches das Priſengericht im Widerſpruch mit dem Völkerrecht den neutralen Eigenthümern zugefügt hat. Die Berufung auf die Landesgeſetze, welche das Priſengericht angewendet hat, befreit nicht von dieſer Verantwortlichkeit, wenn durch das Landesgeſetz die natürlichen Rechte der Neutralen mißachtet worden ſind.
Entſteht darüber Streit zwiſchen dem Kriegsſtat und dem neutralen Stat, ſo iſt dieſer Streit nach völkerrechtlichen Grundſätzen und zunächſt durch Unterhandlung und friedliche Mittel zu ſchlichten.
(0483 : 461)
Recht der Neutralität.
1. Der neutrale Stat wird nicht als befugt erachtet, eine eigentliche Reviſion des Proceſſes vorzunehmen. Seine Gerichte ſind keine Reviſions- noch Appellations- noch Caſſationsinſtanzen gegenüber den Priſengerichten. Nur dieſe ſind competent, über den einzelnen Fall zu urtheilen, die erheblichen Thatſachen zu couſtatiren und zu würdigen, und über Freiſprechung oder Verurtheilung zu entſcheiden. Dieſes Urtheil wirkt rechtskräftig ſowohl für den Nehmer als für den Eigenthümer des genommenen Schiffs oder der genommenen Ladung (§ 850). Aber der neutrale Stat hat ein Recht, zu fordern, daß dieſe ausnahmsweiſe durch das Völkerrecht erlaubte Juſtiz dem Völkerrecht gemäß gehandhabt und nicht zu völkerrechtswidriger Benachtheiligung ſeiner Angehörigen mißbraucht werde. Vgl. zu § 847. Dieſe Grundſätze ſind auch in den Verhandlungen zwiſchen den Vereinigten Staten von Amerika und der Däniſchen Regierung im Jahr 1830 beſtätigt worden. Vgl. Wheaton Int. Law. § 397.
2. Wenn zwiſchen dem neutralen und dem Kriegsſtat ein völkerrechtlicher Streit entſteht, ſo iſt derſelbe wie andere völkerrechtliche Streitigkeiten zu erledigen. Vgl. Buch VII. Unter Umſtänden wird trotz der Verurtheilung durch das Priſengericht der neutrale Stat die Beſchwerden des neutralen Stats dadurch berückſichtigen, daß er die Priſe freigibt, oder dadurch, daß er an denſelben eine Entſchädigung zahlt zu Gunſten der verletzten Eigenthümer.
852.
Wird die Nehmung als nicht rechtmäßig erfunden, ſo iſt Schiff und Ladung ſofort den Eigenthümern frei zu geben.
Dabei wird natürlich ein rechtskräftiges Urtheil vorausgeſetzt. Durch die Berufung an den Oberpriſenrath (Obergericht) kann die Wirkſamkeit des angefochtenen erſtinſtanzlichen Urtheils gehemmt werden.
853.
Auch wenn die Nehmung nicht gutgeheißen wird, kann doch dem Eigenthümer des genommenen Schiffs jede Entſchädigungsforderung dann abgeſprochen und es können ihm ſogar die Koſten des Verfahrens auferlegt werden, wenn das Schiff durch ſein Verhalten ſich verdächtig gemacht hat.
Auch in ſolchem Verhalten liegt eine Verſchuldung — zwar keine ſo große, daß ſie die Wegnahme rechtfertigt, aber eine ſo genügende Urſache, um die Aufbringung und Unterſuchung des verdächtigen Schiffs zu begründen.
854.
Wenn dagegen der Nehmer keinerlei Grund hatte zur Beſchlagnahme,
(0484 : 462)
Neuntes Buch.
ſo iſt er verpflichtet, die Proceßkoſten zu tragen und den Eigenthümer des genommenen Schiffs und der Ladung zu entſchädigen. Ueber dieſe Entſchädigungsforderung entſcheidet das Priſengericht.
Unter dieſer Vorausſetzung bewirkt die Verſchuldung des Nehmers ſeine Entſchädigungspflicht.
855.
Bloße Vermuthungen zu Gunſten des Nehmers und zum Nachtheil der Neutralen ſind mit den Grundſätzen einer unparteiiſchen Rechtspflege unvereinbar.
Die ältere Praxis mancher Seemächte war zu ſolchen Vermuthungen zu Gunſten des Nehmers und wider das aufgebrachte Schiff geneigt. Das widerſpricht aber den Grundprincipien aller Rechtspflege, welche ihrer beſchränkten Einſicht eingedenk und nur mit äußern Mitteln wirkend nur die offenbare Schuld bedroht, nicht die verborgene Sünde, und darf daher nicht von dem Völkerrecht gebilligt werden, auch wenn die Völkerſitte ſolche Mißgriffe noch duldet. Die Schuld muß alſo, wenn ſie beſtritten wird, erwieſen werden, ebenſo wie jede andere ſtrafbare Schuld.
856.
Wird die Nehmung gutgeheißen, ſo wird das Eigenthum an Schiff und Ladung, in ſo weit als beide mit Recht genommen ſind, ſei es dem Nehmeſtat mit Belohnung des Nehmers, ſei es dieſem ſelber je nach Umſtänden mit gewiſſen Auflagen an den Nehmeſtat zugeſprochen. Nur die genommenen Kriegsſchiffe und die Kriegscontrebande fallen jederzeit dem Nehmeſtat, nicht dem Nehmer zu.
Der ganze Gedanke und die Erklärung des Priſenrechts weist auf das Nothrecht des Krieges und daher die Kriegsgewalt hin. Niemand kann ein perſönliches Beuterecht ausſprechen. Eben deßhalb hat auch die Statsautorität allein darüber zu verfügen, wem die Priſe zufallen ſoll. Wenn der Nehmer dieſelbe zu Eigenthum bekommt, ſo kann er dieſes Eigenthum nur von der Statsautorität, nicht von ſeiner eigenen Arbeit ableiten. Der Stat kann es ihm ganz oder theilweiſe oder gar nicht geben. Lord Stowell vgl. Phillimore III. § 128: „Prize is altogether a creature of the Crown. No man has, or can have any interest, but what he takes as the mere gift of the Crown; beyond the extent of that gift he has nothing“. Aber es können in einem Lande beſondere Maximen feſtgeſtellt
(0485 : 463)
Recht der Neutralität.
werden über die Bedingungen und das Maß der Belohnung des Nehmers, und das Priſengericht des Landes richtet ſich in ſeinen Entſcheidungen darnach.
857.
Das Völkerrecht hindert nicht die Verſilberung der in neutralem Hafen geborgenen Priſe zum Vollzug des Urtheils. Aber wenn der neutrale Stat gegen das Verfahren des Priſengerichts völkerrechtliche Beſchwerden zu führen hat, ſo iſt er, um ſein Beſchwerderecht zu ſichern, berechtigt, auch dieſe Verſilberung zu unterſagen.
Vgl. zu § 845. 847.
858.
Die neutralen Eigenthümer haben das Urtheil des Priſengerichts auch ihrerſeits in ſo weit anzuerkennen, als nicht der neutrale Stat, dem ſie angehören, wegen völkerrechtswidrigen Verfahrens ſie zum Widerſpruch ermächtigt.
Vgl. zu § 842. 845. 847. 848.
859.
Die in geordnetem Verfahren dem Nehmeſtat oder dem Nehmer zugeſprochene Priſe kann nicht mehr durch Repriſe demſelben entzogen werden, ſondern nur durch eine neue berechtigte Priſe des feindlichen Nehmers.
Die Repriſe (Wiedernahme, recapture) iſt nur ſo lange möglich, als die Priſe gleichſam in der Schwebe iſt. Wenn erſt dieſe durch den Spruch des Priſengerichts in ihren Wirkungen vollendet worden iſt, dann hat die Priſe ſelber aufgehört. Das Schiff iſt nun in dem unzweifelhaften Eigenthum deſſen, dem es zugeſprochen iſt. Wenn ihm dasſelbe von dem Feinde wieder weggenommen wird, ſo iſt das ganz ebenſo, wie wenn ihm ein anderes Schiff, das er urſprünglich durch Kauf erworben hatte, weggenommen wird. Das iſt eine neue Priſe, und nicht mehr eine Repriſe. Es folgt das aus dem gewohnheitsrechtlichen Satze, daß das Urtheil des Priſengerichts Recht ſchaffe, auch für die betheiligten Parteien. Wenn das aus irgend einem Grunde nicht der Fall iſt, dann liegt auch kein Grund vor, die Anwendung der Repriſe auszuſchließen.
(0486 : 464)
Neuntes Buch.
860.
Vor der gerichtlichen Verurtheilung der Priſe kann dem Nehmer die Priſe durch Repriſe wieder abgenommen werden. In dieſem Falle iſt jedoch das neutrale Eigenthum von dem Wiedernehmer zu reſpectiren.
1. Bis das Priſengericht über die Priſe erkannt und dieſelbe verurtheilt hat, iſt das Schickſal derſelben immer noch ungewiß, und noch kein formelles Recht des Nehmeſtats oder des Nehmers an dem genommenen Schiffe oder der Waare vorhanden. Bis dahin kann die Wirkſamkeit der Priſe, die zunächſt auf die Gewalt der Kriegsmacht gegründet iſt, wieder ebenfalls durch Gewalt unwirkſam gemacht werden. Es iſt das eine beſondere Anwendung des postliminium, eine in integrum restitutio. Die Beute wird dem Erbeuter wieder abgejagt.
2. Weil die Repriſe zunächſt nur negativ wirkt, als Verneinung der Priſe, und nicht ſelber eine neue Priſe iſt noch ſein will, ſo muß der Wiedernehmer (recaptor) auch das Eigenthum ſeinerſeits reſpectiren, das er aus der feindlichen Wegnahme gerettet hat, und er kann nur, je nach Umſtänden, für die Arbeiten und Opfer, welche er auf die Repriſe verwendet hat, eine angemeſſene Entſchädigung (servaticium) verlangen, die zuweilen zur Vermeidung von Streit und Beweis auf einen Achttheil (amerikaniſches Geſetz von 1800. Cap. 14. und engliſches 17 Victor. c. 18) oder gar auf einen Drittheil des Werths der Repriſe angeſetzt iſt. Schon der Consolato del Marse c. 287 hat dieſe Regel anerkannt.
3. Manche Rechtsgelehrte und Landesordnungen beſchränken die Repriſe noch mehr, z. B.: bis das genommene Schiff in einen ſichern Hafen gebracht worden iſt, oder: in den erſten 24 Stunden nach der Wegnahme. Wo beſondere Geſetze das ſo beſtimmen, müſſen dieſelben wohl geachtet werden. Die Natur der Dinge und die gerechten Bedenken gegen jede Ausdehnung des Priſenrechts rechtfertigen meines Erachtens die Regel des Texts.
861.
Sobald der Friede geſchloſſen iſt, ſo hört auch alles Recht, Priſen zu machen, auf. Die nach dem Friedensſchluß — wenn auch in gutem Glauben — vollzogenen Nehmungen ſind ſofort wieder zurückzugeben.
Vgl. oben § 709.
862.
Die Priſengerichte ſind, wenn nicht der Friedensſchluß anders be-
(0487 : 465)
Recht der Neutralität.
ſtimmt, berechtigt, die vor demſelben anhängig gemachten Priſenproceſſe auch nach demſelben fortzuführen und durch Urtheil zu erledigen.
Oft wird durch den Frieden beſtimmt, daß alle genommenen, aber noch nicht verurtheilten Schiffe frei gegeben werden ſollen. Iſt das nicht geſchehen, ſo duldet das herkömmliche Völkerrecht die Fortſetzung und Vollendung der Priſenproceſſe auch nach dem Abſchluß des Friedens, obwohl gegen dieſelben das ernſte Bedenken erhoben werden kann, daß die Priſengerichtsbarkeit nur Kriegs- und nicht Friedensgerichtsbarkeit iſt.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 30
(0488 : [466])
(0489 : [467])
Anhang. Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
30*
(0490 : [468])
(0491 : [469])
Instructions for the Government of Armies of the United States in the field.
Section I.
Martial law — Military jurisdiction — Military necessity — Retaliation.
1.
A place, district, or country occupied by an enemy stands, in consequence of the occupation, under the Martial Law of the invading or occupying army, whether any proclamation declaring Martial Law, or any public warning to the inhabitants, has been issued or not. Martial Law is the immediate and direct effect and consequence of occupation or conquest.
The presence of a hostile army proclaims its Martial Law.
2.
Martial Law does not cease during the hostile occupation, except by special proclamation, ordered by the commander-in-chief; or by special mention in the treaty of peace concluding the war, when the occupation of a place or territory continues beyond the conclusion of peace as one of the conditions of the same.
(0492 : 470)
Anhang.
3.
Martial Law in a hostile country consists in the suspension, by the occupying military authority, of the criminal and civil law, and of the domestic administration and government in the occupied place or territory, and in the substitution of military rule and force for the same, as well as in the dictation of general laws, as far as military necessity requires this suspension, substitution, or dictation.
The commander of the forces may proclaim that the administration of all civil and penal law shall continue, either wholly or in part, as in times of peace, unless otherwise ordered by the military authority.
4.
Martial Law is simply military authority exercised in accordance with the laws and usages of war. Military oppresion is not Martial Law; it is the abuse of the power which that law confers. As Martial Law is executed by military force, it is incumbent upon those who administer it to be strictly guided by the principles of justice, honor, and humanity — virtues adorning a soldier even more than other men, for the very reason that he possesses the power of his arms against the unarmed.
5.
Martial Law should be less stringent in places and countries fully occupied and fairly conquered. Much greater severity may be exercised in places or regions where actual hostilities exist, or are expected and must be prepared for. Its most complete sway is allowed — even in the commander’s own country — when face to face with the enemy, because of the absolute necessities of the case, and of the paramount duty to defend the country against invasion.
To save the country is paramount to all other considerations.
6.
6. All civil and penal law shall continue to take its usual course in the enemy’s places and territories under Martial Law,
(0493 : 471)
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
unless interrupted or stopped by order of the occupying military power; but all the functions of the hostile government — legislative, executive, or administrative — whether of a general, provincial, or local character, cease under Martial Law, or continue only with the sanction, or if deemed necessary, the participation of the occupier or invader.
7.
Martial Law extends to property, and to persons, whether they are subjects of the enemy or aliens to that government.
8.
Consuls, among American and European nations, are not diplomatic agents. Nevertheless, their offices and persons will be subjected to Martial Law in cases of urgent necessity only: their property and business are not exempted. Any delinquency they commit against the established military rule may be punished as in the case of any other inhabitant, and such punishment furnishes no reasonable ground for international complaint.
9.
The functions of Ambassadors, Ministers, or other diplomatic agents, accredited by neutral powers to the hostile government, cease, so far as regards the displaced government; but the conquering or occnpying power usually recognizes them as temporarily accredited to itself.
10.
Martial Law affects chiefly the police and collection of public revenue and taxes, whether imposed by the expelled government or by the invader, and refers mainly to the support and efficiency of the army, its safety, and the safety of its operations.
11.
The law of war does not only disclaim all cruelty and bad
(0494 : 472)
Anhang.
faith concerning engagements concluded with the enemy during the war, but also the breaking of stipulations solemnly contracted by the belligerents in time of peace, and avowedly intended to remain in force in case of war between the contracting powers.
It disclaims all extortions and other transactions for individual gain; all acts of private revenge, or connivance at such acts.
Offences to the contrary shall be severely punished, and especially so if committed by officers.
12.
Whenever feasible, Martial Law is carried out in cases of individual offenders by Military Courts; but sentences of death shall be executed only with the approval of the chief executive, provided the urgency of the case does not require a speedier execution, and then only with the approval of the chief commander.
13.
Military jurisdiction is of two kinds: first, that which is conferred and defined by statute; second, that which is derived from the common law of war. Military offences under the statute law must be tried in the manner therein directed; but military offences which do not come within the statute must be tried and punished under the common law of war. The character of the courts which exercise these jurisdictions depends upon the local laws of each particular country.
In the armies of the United States the first is exercised by courtsmartial; while cases which do not come within the „Rules and Articles of War“, or the jurisdiction conferred by statute on courts-martial, are tried by military commissions.
14.
Military necessity, as understood by modern civilized nations, consists in the necessity of those measures which are indispensable for securing the ends of the war, and which are lawful according to the modern law and usages of war.
(0495 : 473)
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
15.
Military necessity admits of all direct destruction of life or limb of armed enemies, and of other persons whose destruction is incidentally unavoidable in the armed contests of the war; it allows of the capturing of every armed enemy, and every enemy of importance to the hostile government, or of peculiar danger to the captor; it allows of all destruction of property, and obstruction of the ways and channels of traffic, travel, or communication, and of all withholding of sustenance or means of life from the enemy; of the appropriation of whatever an enemy’s country affords necessary for the subsistence and safety of the army, and of such deception as does not involve the breaking of good faith either positively pledged, regarding agreements entered into during the war, or supposed by the modern law of war to exist. Men who take up arms against one another in public war do not cease on this account to be moral beings, responsible to one another, and to God.
16.
Military necessity does not admit of cruelty, that is, the infliction of suffering for the sake of suffering or for revenge, nor of maiming or wounding except in fight, nor of torture to extort confessions. It does not admit of the use of poison in any way, nor of the wanton devastation of a district. It admits of deception, but disclaims acts of perfidy; and, in general, military neccessity does not include any act of hostility which makes the return to peace unnecessarily difficult.
17.
War is not carried on by arms alone. It is lawful to starve the hostile belligerent, armed or unarmed, so that it leads to the speedier subjection of the enemy.
18.
When the commander of a besieged place expels the noncombatants, in order to lessen the number of those who consume
(0496 : 474)
Anhang.
his stock of provisions, it is lawful, though an extreme measure, to drive them back, so as to hasten on the surrender.
19.
Commanders, whenever admissible, inform the enemy of their intention to bombard a place, so that the non-combatants, and especially the women and children, may be removed before the bombardment commences. But it is no infraction of the common law of war to omit thus to inform the enemy. Surprise may be a necessity.
20.
Public war is a state of armed hostility between sovereign nations or governments. It is a law and requisite of civilized existence that men live in political, continuous societies, forming organized units, called states or nations, whose constituents bear, enjoy, and suffer, advance and retrograde together, in peace and in war.
21.
The citizen or native of a hostile country is thus an enemy, as one of the constituents of the hostile state or nation, and as such is subjected to the hardships of the war.
22.
Nevertheless, as civilization has advanced during the last centuries, so has likewise steadily advanced, especially in war on land, the distinction between the private individual belonging to a hostile country and the hostile country itself, with its men in arms. The principle bas been more and more acknowledged that the unarmed citizen is to be spared in person, property, and honor as much as the exigencies of war will admit.
23.
Private citizens are no longer murdered, enslaved, or carried off to distant parts, and the inoffensive individual is as little disturbed
(0497 : 475)
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
in his private relations as the commander of the hostile troops can afford to grant in the overruling demands of a vigorous war.
24.
The almost universal rule in remote times was, and continues to be with barbarous armies, that the private individual of the hostile country is destined to suffer every privation of liberty and protection, and every disruption of family ties. Protection was, and still is with uncivilized people, the exception.
25.
In modern regular wars of the Europeans, and their descendants in other portions of the globe, protection of the inoffensive citizen of the hostile country is the rule; privation and disturbance of private relations are the exceptions.
26.
Commanding generals may cause the magistrates and civil officers of the hostile country to take the oath of temporary allegiance or an oath of fidelity to their own victorious government or rulers, and they may expel every one who declines to do so. But whether they do so or not, the people and their civil officers owe strict obedience to them as long as they hold sway over the district or country, at the peril of their lives.
27.
The law of war can no more wholly dispense with retaliation than can the law of nations, of which it is a branch. Yet civilized nations acknowledge retaliation as the sternest feature of war. A reckless enemy often leaves to his opponent no other means of securing himself against the repetition of barbarous outrage.
28.
Retaliation will, therefore, never be resorted to as a measure of mere revenge, but only as a means of protective retribution, and,
(0498 : 476)
Anhang.
moreover, cautiously and unavoidably; that is to say, retaliation shall only be resorted to after careful inquiry into the real occurrence, and the character of the misdeeds that may demand retribution.
Unjust or inconsiderate retaliation removes the belligerents farther and farther from the mitigating rules of a regular war, and by rapid steps leads them nearer to the internecine wars of savages.
29.
Modern times are distinguished from earlier ages by the existence, at one and the same time, of many nations and great governments related to one another in close intercourse.
Peace is their normal condition; war is the exception. The ultimate object of all modern war is a renewed state of peace.
The more vigorously wars are pursued, the better it is for humanity. Sharp wars are brief.
30.
Ever since the formation and coexistence of modern nations, and ever since wars have become great national wars, war has come to be acknowledged not to be its own end, but the means to obtain great ends of state, or to consist in defence against wrong; and no conventional restriction of the modes adopted to injure the enemy is any longer admitted; but the law of war imposes many limitations and restrictions on principles of justice, faith, and honor.
Section II.
Public and private property of the enemy — Protection of persons, and especially women; of religion, the arts and sciences — Punishment of crimes against the inhabitants of hostile countries.
31.
A victorious army appropriates all public money, seizes all public movable property until further direction by its government,
(0499 : 477)
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
and sequesters for its own benefit or that of its government all the revenues of real property belonging to the hostile government or nation. The title to such real property remains in abeyance during military occupation, and until the conquest is made complete.
32.
A victorious army, by the martial power inherent in the same, may suspend, change, or abolish, as far as the martial power extends, the relations which arise from the service, due, according to the existing laws of the invaded country, from one citizen, subject, or native of the same to another.
The commander of the army must leave it to the ultimate treaty of peace to settle the permanency of this change.
33.
It is no longer considered lawful—on the contrary, it is held to be a serious breach of the law of war—to force the subjects of the enemy into the service of the victorious government, except the latter should proclaim, after a fair and complete conquest of the hostile country or district, that it is resolved to keep the country, district, or place permanently as its own and make it a portion of its own country.
34.
As a general rule, the property belonging to churches, to hospitals, or other establishments of an exclusively charitable character, to establishments of education, or foundations for the promotion of knowledge, whether public schools, universities, academies of learning or observatories, museums of the fine arts, or of a scientific character —such property is not to be considered public property in the sense of paragraph 31; but it may be taxed or used when the public service may require it.
35.
Classical works of art, libraries, scientific collections, or precious
(0500 : 478)
Anhang.
instruments, such as astronomical telescopes, as well as hospitals, must be secured against all avoidable injury, even when they are contained in fortified places whilst besieged or bombarded.
36.
If such works of art, libraries, collections, or instruments belonging to a hostile nation or government, can be removed without injury, the ruler of the conquering state or nation may order them to be seized and removed for the benefit of the said nation. The ultimate owner-ship is to be settled by the ensuing treaty of peace.
In no case shall they be sold or given away, if captured by the armies of the United States, nor shall they ever be privately appropriated, or wantonly destroyed or injured.
37.
The United States acknowledge and protect, in hostile countries occupied by them, religion and morality; strictly private property; the persons of the inhabitants, especially those of women; and the sacredness of domestic relations. Offences to the contrary shall be rigorously punished.
This rule does not interfere with the right of the victorious invader to tax the people or their property, to levy forced loans, to billet soldiers, or to appropriate property, especially houses, land, boats or ships, and churches, for temporary and military uses.
38.
Private property, unless forfeited by crimes or by offences of the owner, can be seized only by way of military necessity, for the support or other benefit of the army or of the United States.
If the owner has not fled, the commanding officer will cause receipts to be given, which may serve the spoliated owner to obtain indemnity.
39.
The salaries of civil officers of the hostile government who
(0501 : 479)
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
remain in the invaded territory, and continue the work of their office, and can continue it according to the circumstances arising out of the war—such as judges, administrative or police officers, officers of city or communal governments—are paid from the public revenue of the invaded territory, until the military government has reason wholly or partially to discontinue it. Salaries or incomes connected with purely honorary titles are always stopped.
40.
There exists no law or body of authoritative rules of action between hostile armies, except that branch of the law of nature and nations which is called the law and usages of war on land.
41.
All municipal law of the ground on which the armies stand, or of the countries to which they belong, is silent and of no effect between armies in the field.
42.
Slavery, complicating and confounding the ideas of property, (that is of a thing,) and of personalty, (that is of humanity,) exists according to municipal or local law only. The law of nature and nations has never acknowledged it. The digest of the Roman law enacts the early dictum of the pagan jurist, that „so far as the law of nature is concerned, all men are equal.“ Fugitives escaping from a country in which they were slaves, villains, or serfs, into another country, have, for centuries past, been held free and acknowledged free by judicial decisions of European countries, even though the municipal law of the country in which the slave had taken refuge acknowledged slavery within its own dominions.
43.
Therefore, in a war between the United States and a belligerent which admits of slavery, if a person held in bondage by that belligerent be captured by or come as a fugitive under the protection
(0502 : 480)
Anhang.
of the military forces of the United States, such person is immediately entitled to the rights and privileges of a freeman. To return such person into slavery would amount to enslaving a free person, and neither the United States nor any officer under their authority can enslave any human being. Moreover, a person so made free by the law of war is under the shield of the law of nations, and the former owner or State can have, by the law of post-liminy, no belligerent lien or claim of service.
44.
All wanton violence committed against persons in the invaded country, all destruction of property not commanded by the authorized officer, all robbery, all pillage or sacking, even after taking a place by main force, all rape, wounding, maiming, or killing of such inhabitants, are prohibited under the penalty of death, or such other severe punishment as may seem adequate for the gravity of the offence.
A soldier, officer or private, in the act of committing such violence, and disobeying a superior ordering him to abstain from it, may be lawfully killed on the spot by such superior.
45.
All captures and booty belong, according to the modern law of war, primarily to the government of the captor.
Prize money, whether on sea or land, can now only be claimed under local law.
46.
Neither officers nor soldiers are allowed to make use of their position or power in the hostile country for private gain, not even for commercial transactions otherwise legitimate. Offences to the contrary committed by commissioned officers will be punished with cashiering or such other punishment as the nature of the offence may require; if by soldiers, they shall be punished according to the nature of the offence.
(0503 : 481)
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
47.
Crimes punishable by all penal codes, such as arson, murder, maiming, assaults, highway robbery, theft, burglary, fraud, forgery, and rape, if committed by an American soldier in a hostile country against its inhabitants, are not only punishable as at home, but in all cases in which death is not inflicted, the severer punishment shall be preferred.
Section III.
Deserters — Prisoners of War — Hostages — Booty on the battle-field.
48.
Deserters from the American army, having entered the service of the enemy, suffer death if they fall again into the hands of the United States, whether by capture, or being delivered up to the American army; and if a deserter from the enemy, having taken service in the army of the United States, is captured by the enemy, and punished by them with death or otherwise, it is not a breach against the law and usages of war, requiring redress or retaliation.
49.
A prisoner of war is a public enemy armed or attached to the hostile army for active aid, who has fallen into the hands of the captor, either fighting or wounded, on the field or in the hospital, by individual surrender or by capitulation.
All soldiers, of whatever species of arms; all men who belong to the rising en masse of the hostile country; all those who are attached to the army for its efficiency and promote directly the object of the war, except such as are hereinafter provided for; all disabled men or officers on the field or elsewhere, if captured; all enemies who have thrown away their arms and ask for quarter, are prisoners of war, and as such exposed to the inconveniences as well as entitled to the privileges of a prisoner of war.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 31
(0504 : 482)
Anhang.
50.
Moreover, citizens who accompany an army for whatever purpose, such as sutlers, editors, or reporters of journals, or contractors, if captured, may be made prisoners of war, and be detained as such.
The monarch and members of the hostile reigning family, male or female, the chief, and chief officers of the hostile government, its diplomatic agents, and all persons who are of particular and singular use and benefit to the hostile army or its government, are, if captured on belligerent ground, and if unprovided with a safe-conduct granted by the captor’s government, prisoners of war.
51.
If the people of that portion of an invaded country which is not yet occupied by the enemy, or of the whole country, at the approach of a hostile army, rise, under a duly authorized levy, en masse to resist the invader, they are now treated as public enemies, and if captured, are prisoners of war.
52.
No belligerent has the right to declare that he will treat every captured man in arms of a levy en masse as a brigand or bandit.
If, however, the people of a country, or any portion of the same, already occupied by an army, rise against it, they are violaters of the laws of war, and are not entitled to their protection.
53.
The enemy’s chaplains, officers of the medical staff, apothecaries, hospital nurses and servants, if they fall into the hands of the American army, are not prisoners of war, unless the commander has reasons to retain them. In this latter case, or if, at their own desire, they are allowed to remain with their captured companions, they are treated as prisoners of war, and may be exchanged if the commander sees fit.
(0505 : 483)
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
54.
A hostage is a person accepted as a pledge for the fulfilment of an agreement concluded between belligerents during the war, or in consequence of a war. Hostages are rare in the present age.
55.
If a hostage is accepted, he is treated like a prisoner of war, according to rank and condition, as circumstances may admit.
56.
A prisoner of war is subject to no punishment for being a public enemy, nor is any revenge wreaked upon him by the intentional infliction of any suffering, or disgrace, by cruel imprisonment, want of food, by mutilation, death, or any other barbarity.
57.
So soon as a man is armed by a sovereign government, and takes the soldiers oath of fidelity, he is a belligerent; his killing, wounding, or other warlike acts, are no individual crimes or offences. No belligerent has a right to declare that enemies of a certain class, color, or condition, when properly organized as soldiers, will not be treated by him as public enemies.
58.
The law of nations knows of no distinction of color, and if an enemy of the United States should enslave and sell any captured persons of their army, it would be a case for the severest retaliation, if not redressed upon complaint.
The United States cannot retaliate by enslavement; therefore death must be the retaliation for this crime against the law of nations.
59.
A prisoner of war remains answerable for his crimes committed
31*
(0506 : 484)
Anhang.
against the captor’s army or people, committed before he was captured, and for which he has not been punished by his own authorities.
All prisoners of war are liable to the infliction of retaliatory measures.
60.
It is against the usage of modern war to resolve, in hatred and revenge, to give no quarter. No body of troops has the right to declare that it will not give, and therefore will not expect, quarter; but a commander is permitted to direct his troops to give no quarter, in great straits, when his own salvation makes it impossible to cumber himself with prisoners.
61.
Troops that give no quarter have no right to kill enemies already disabled on the ground, or prisoners captured by other troops.
62.
All troops of the enemy known or discovered to give no quarter in general, or to any portion of the army, receive none.
63.
Troops wo fight in the uniform of their enemies, without any plain, striking, and uniform mark of distinction of their own, can except no quarter.
64.
If American troops capture a train containing uniforms of the enemy, and the commander considers it advisable to distribute them for use among his men, some striking mark or sign must be adopted to distinguish the American soldier from the enemy.
65.
The use of the enemy’s national standard, flag, or other emblem
(0507 : 485)
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
of nationality, for the purpose of deceiving the enemy in battle, is an act of perfidy by which they lose all claim to the protection of the laws of war.
66.
Quarter having been given to an enemy by American troops, under a misapprehension of his true character, he may, nevertheless, be ordered to suffer death if, within three days after the battle, it be discovered that he belongs to a corps which gives no quarter.
67.
The law of nations allows every sovereign government to make war upon another sovereign state, and, therefore, admits of no rules or laws different from those of regular warfare, regarding the treatment ef prisoners of war, although they may belong to the army of a government which the captor may consider as a wanton and unjust assailant.
68.
Modern wars are not internecine wars, in which the killing of the enemy is the object. The destruction of the enemy in modern war, and, indeed, modern war itself, are means to obtain that object of the belligerent which lies beyond the war.
Unnecessary or revengeful destruction of life is not lawful.
69.
Outposts, sentinels, or pickets are not to be fired upon, except to drive them in, or when a positive order, special or general, has been issued to that effect.
70.
The use of poison in any manner, be it to poison wells, or food, or arms, is wholly excluded from modern warfare. He that uses it puts himself out of the pale of the law and usages of war.
(0508 : 486)
Anhang.
71.
Whoever intentionally inflicts additional wounds on an enemy already wholly disabled, or kills such an enemy, or who orders or encourages soldiers to do so, shall suffer death, if duly convicted, whether he belongs to the army of the United States, or is an enemy captured after having committed his misdeed.
72.
Money and other valuables on the person of a prisoner, such as watches or jewelry, as well as extra clothing, are regarded by the American army as the private property of the prisoner, and the appropriation of such valuables or money is considered dishonorable, and is prohibited.
Nevertheless, if large sums are found upon the persons of prisoners, or in their possession, they shall be taken from them, and the surplus, after providing for their own support, appropriated for the use of the army, under the direction of the commander, unless otherwise ordered by the government. Nor can prisoners claim, as private property, large sums found and captured in their train, although they had been placed in the private luggage of the prisoners.
73.
All officers, when captured, must surrender their side-arms to the captor. They may be restored to the prisoner in marked cases, by the commander, to signalize admiration of his distinguished bravery, or approbation of his humane treatment of prisoners before his capture. The captured officer to whom they may be restored cannot wear them during captivity.
74.
A prisoner of war, being a public enemy, is the prisoner of the government, and not of the captor. No ransom can be paid by a prisoner of war to his individual captor, or to any officer in
(0509 : 487)
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
command. The government alone releases captives, according to rules prescribed by itself.
75.
Prisoners of war are subject to confinement or imprisonment such as may be deemed necessary on account of safety, but they are to be subjected to no other intentional suffering or indignity. The confinement and mode of treating a prisoner may be varied during his captivity according to the demands of safety.
76.
Prisoners of war shall be fed upon plain and wholesome food, whenever practicable, and treated with humanity.
They may be required to work for the benefit of the captor’s government, according to their rank and condition.
77.
A prisoner of war who escapes may be shot, or otherwise killed in his flight; but neither death nor any other punishment shall be inflicted upon him simply for his attempt to escape, which the law of war does not consider a crime. Stricter means of security shall be used after an unsuccessful attempt at escape.
If, however, a conspiracy is discovered, the purpose of which is a united or general escape, the conspirators may be rigorously punished, even with death; and capital punishment may also be inflicted upon prisoners of war discovered to have plotted rebellion against the authorities of the captors, whether in union with fellowprisoners or other persons.
78.
If prisoners of war, having given no pledge nor made any promise on their honor, forcibly or otherwise escape, and are captured again in battle, after having rejoined their own army, they shall not be punished for their escape, but shall be treated as
(0510 : 488)
Anhang.
simple prisoners of war, although they will be subjected to stricter confinement.
79.
Every captured wounded enemy shall be medically treated, according to the ability of the medical staff.
80.
Honorable men, when captured, will abstain from giving to the enemy information concerning their own army, and the modern law of war permits no longer the use of any violence against prisoners, in order to extort the desired information, or to punish them for having given false information.
Section IV.
Partisans — Armed enemies not belonging to the hostile army — Scouts — Armed prowlers—War-rebels.
81.
Partisans are soldiers armed and wearing the uniform of their army, but belonging to a corps which acts detached from the main body for the purpose of making inroads into the territory occupied by the enemy. If captured, they are entitled to all the privileges of the prisoner of war.
82.
Men, or squads of men, who commit hostilities, whether by fighting, or inroads for destruction or plunder, or by raids of any kind, without commission, without being part and portion of the organized hostile army, and without sharing continuously in the war, but who do so with intermitting returns to their homes and avocations, or with the occasional assumption of the semblance of peaceful pursuits, divesting themselves of the chrracter or appearance
(0511 : 489)
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
of soldiers—such men, or squads of men, are not public enemies, and therefore, if captured, are not entitled to the privileges of prisoners of war, but shall be treated summarily as highway robbers or pirates.
83.
Scouts or single soldiers, if disguised in the dress of the country, or in the uniform of the army hostile to their own, employed in obtaining information, if found within or lurking about the lines of the captor, are treated as spies, and suffer death.
84.
Armed prowlers, by whatever names they may be called, or persons of the enemy’s territory, who steal within the lines of the hostile army, for the purpose of robbing, killing, or of destroying bridges, roads, or canals, or of robbing or destroying the mail, or of cutting the telegraph wires, are not entitled to the privileges of the prisoner of war.
85.
War-rebels are persons within an occupied territory who rise in arms against the occupying or conquering army, or against the authorities established by the same. If captured, they may suffer death, whether they rise singly, in small or large bands, and whether called upon to do so by their own, but expelled, government or not. They are not prisoners of war; nor are they, if discovered and secured before their conspiracy has matured to an actual rising, or to armed violence.
Section V.
Safe-conduct — Spies — War-traitors — Captured messengers—Abuse of the flag of truce.
86.
All intercourse between the territories occupied by belligerent
(0512 : 490)
Anhang.
armies, whether by traffic, by letter, by travel, or in any other way, ceases. This is the general rule, to be observed without special proclamation.
Exceptions to this rule, whether by safe-conduct, or permission to trade on a small or large scale, or by exchanging mails, or by travel from one territory into the other, can take place only according to agreement approved by the government, or by the highest military authority.
Contraventions of this rule are highly punishable.
87.
Ambassadors, and all other diplomatic agents of neutral powers, accredited to the enemy, may receive safe conducts trough the territories occupied by the belligerents, unless there are military reasons to the contrary, and unless they may reach the place of their destination conveniently by another route. It implies no international affront if the safe conduct is declined. Such passes are usually given by the supreme authority of the state, and not by subordinate officers.
88.
A spy is a person who secretly, in disguise or under false pretence, seeks information with the intention of communicating it to the enemy.
The spy is punishable with death by hanging by the neck, whether or not he succeed in obtaining the information or in conveying it to the enemy.
89.
If a citizen of the United States obtains information in a legitimate manner, and betrays it to the enemy, be he a military or civil officer, or a private citizen, he shall suffer death.
90.
A traitor under the law of war, or a war-traitor, is a person
(0513 : 491)
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
in a place or district under martial law who, unauthorized by the military commander, gives information of any kind to the enemy, or holds intercourse with him.
91.
The war-traitor is always severely punished. If his offence consists in betraying to the enemy anything concerning the condition, safety, operations or plans of the troops holding or occupying the place or district, his punishment is death.
92.
If the citizen or subject of a country or place invaded or conquered gives information to his own government, from which he is separated by the hostile army, or to the army of his government, he is a war-traitor, and death is the penalty of his offence.
93.
All armies in the field stand in need of guides, and impress them if they cannot obtain them otherwise.
94.
No person having been forced by the enemy to serve as guide is punishable for having done so.
95.
If a citizen of a hostile and invaded district voluntarily serves as a guide to the enemy, or offers to do so, he is deemed a wartraitor, and shall suffer death.
96.
A citizen serving voluntarily as a guide against his own country commits treason, and will be dealt with according to the law of his country.
(0514 : 492)
Anhang.
97.
Guides, when it is clearly proved that they have misled intentionally, may be put to death.
98.
All unauthorized or secret communication with the enemy is considered treasonable by the law of war.
Foreign residents in an invaded or occupied territory, or foreign visitors in the same, can claim no immunity from this law. They may communicate with foreign parts, or with the inhabitants of the hostile country, so far as the military authority permits, but no further. Instant expulsion from the occupied territory would be the very least punishment for the infraction of this rule.
99.
A messenger carrying written despatches or verbal messages from one portion of the army, or from a besieged place, to another portion of the same army, or its government, if armed, and in the uniform of his army, and if captured while doing so, in the territory occupied by the enemy, is treated by the captor as a prisoner of war. If not in uniform, nor a soldier, the circumstances connected with his capture must determine the disposition that shall be made of him.
100.
A messenger or agent who attempts to steal trough the territory occupied by the enemy, to further, in any manner, the interests of the enemy, if captured, is not entitled to the privileges of the prisoner of war, and may be dealt with according to the circumstances of the case.
101.
While deception in war is admited as a just and necessary means of hostility, and is consistent with honorable warfare, the
(0515 : 493)
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
common law of war allows even capital punishment for clandestine or treacherous attempts to injure an enemy, because they are so dangerous, and it is so difficult to guard against them.
102.
The law of war, like the criminal law regarding other offences, makes no difference on account of the difference of sexes, concerning the spy, the war-traitor, or the war-rebel.
103.
Spies, war-traitors, and war-rebels are not exchanged according to the common law of war. The exchange of such persons would require a special cartel, authorized by the government, or, at a great distance from it, by the chief commander of the army in the field.
104.
A successful spy or war-traitor, safely returned to his own army, and afterwards captured as an enemy, is not subject to punishment for his acts as a spy or war-traitor, but he may be held in closer custody as a person individually dangerous.
Section VI.
Exchange of prisoners — Flags of truce — Flags of protection.
105.
Exchanges of prisoners take place—number for number—rank for rank—wounded for wounded—with added condition for added condition—such, for instance as not to serve for a certain period.
106.
In exchanging prisoners of war, such numbers of persons of inferior rank may be substituted as an equivalent for one of superior
(0516 : 494)
Anhang.
rank as may be agreed upon by cartel, which requires the sanction of the government, or of the commander of the army in the field.
107.
A prisoner of war is in honor bound truly to state to the captor his rank: and he is not to assume a lower rank than belongs to him, in order to cause a more advantageous exchange; nor a higher rank, for the purpose of obtaining better treatment.
Offences to the contrary have been justly punished by the commanders of released prisoners, and may be good cause for refusing to release such prisoners.
108.
The surplus number of prisoners of war remaining after an exchange has taken place is sometimes released either for the payment of a stipulated sum of money, or, in urgent cases, of provision, clothing, or other necessaries.
Such arrangement, however, requires the sanction of the highest authority.
109.
The exchange of prisoners of war is an act of convenience to both belligerents. If no general cartel has been concluded, it cannot be demanded by either of them. No belligerent is obliged to exchange prisoners of war.
A cartel is voidable so soon as either party has violated it.
110.
No exchange of prisoners shall be made except after complete capture, and after an accurate account of them, and a list of the captured officers, has been taken.
111.
The bearer of a flag of truce cannot insist upon being admit-
(0517 : 495)
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
ted. He must always be admitted with great caution. Unnecessary frequency is carefully to be avoided.
112.
If the bearer of a flag of truce offer himself during an engagement, he can be admitted as a very rare exception only. It is no breach of good faith to retain such a flag of truce, if admitted during the engagement. Firing is not required to cease on the appearance of a flag of truce in battle.
113.
If the bearer of a flag of truce, presenting himself during an engagement, is killed or wounded, it furnishes no ground of complaint whatever.
114.
If it be discovered, and fairly proved, that a flag of truce has been abused for surreptitiously obtaining military knowledge, the bearer of the flag thus abusing his sacred character is deemed a spy.
So sacred is the character of a flag of truce, and so necessary is its sacredness, that while its abuse is an especially heinous offence, great caution is requisite, on the other hand, in convicting the bearer of a flag of truce as a spy.
115.
It is customary to designate by certain flags, (usually yellow,) the hospitals in places which are shelled, so that the besieging enemy may avoid firing on them. The same has been done in battles, when hospitals are situated within the field of the engagement.
116.
Honorable belligerents often request that the hospitals within the territory of the enemy may be designated, so that they may be spared.
(0518 : 496)
Anhang.
An honorable belligerent allows himself to be guided by flags or signals of protection as much as the contingencies and the necessities of the fight will permit.
117.
It is justly considered an act of bad faith, of infamy or fiendishness, to deceive the enemy by flags of protection. Such act of bad faith may be good cause for refusing to respect such flags.
118.
The besieging belligerant has sometimes requested the besieged to designate the buildings containing collections of works of art, scientific museums, astronomical observatories, or precious libraries, so that their destruction may be avoided as much as possible.
Section VII.
The Parole.
119.
Prisoners of war may be released from captivity by exchange and, under certain circumstances, also by parole.
120.
The term Parole designates the pledge of individual good faith and honor to do, or to omit doing, certain acts after he who gives his parole shall have been dismissed, wholly or partially, from the power of the captor.
121.
The pledge of the parole is always an individual, but not a private, act.
122.
The parole applies chiefly to prisoners of war whom the captor
(0519 : 497)
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
allows to return to their country, or to live in greater freedom within the captor’s country or territory, on conditions stated in the parole.
123.
Release of prisoners of war by exchange is the general rule; release by parole is the exception.
124.
Breaking the parole is punished with death when the person breaking the parole is captured again.
Accurate lists, therefore, of the paroled persons must be kept by the belligerents.
125.
When paroles are given and received there must be an exchange of two written documents, in which the name and rank of the paroled individuals are accurately and truthfully stated.
126.
Commissioned officers only are allowed to give their parole, and they can give it only with the permission of their superior, as long as a superior in rank is within reach.
127.
No non-commissioned officer or private can give his parole except through an officer. Individual paroles not given through an officer are not only void, but subject the individual giving them to the punishment of death as deserters. The only admissible exception is where individuals, properly separated from their commands, have suffered long confinement without the possibility of being paroled through an officer.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 32
(0520 : 498)
Anhang.
128.
No paroling on the battle-field; no paroling of entire bodies of troops after a battle; and no dismissal of large numbers of prisoners, with a general declaration that they are paroled, is permitted, or of any value.
129.
In capitulations for the surrender of strong places or fortified camps the commanding officer, in cases of urgent necessity, may agree that the troops under his command shall not fight again during the war, unless exchanged.
130.
The usual pledge given in the parole is not to serve during the existing war, unless exchanged.
This pledge refers only to the active service in the field, against the paroling belligerent or his allies actively engaged in the same war. These cases of breaking the parole are patent acts, and can be visited with the punishment of death; but the pledge does not refer to internal service, such as recruiting or drilling the recruits, fortifying places not besieged, quelling civil commotions, figthing against belligerents unconnected with the paroling belligerents, or to civil or diplomatic service for which the paroled officer may be employed.
131.
If the government does not approve of the parole, the paroled officer must return into captivity, and should the enemy refuse to receive him, he is free of his parole.
132.
A belligerent government may declare, by a general order, whether it will allow paroling, and on what conditions it will allow it. Such order is communicated to the enemy.
(0521 : 499)
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
133.
No prisoner of war can be foreed by the hostile government to parole himself, and no government is obliged to parole prisoners of war, or to parole all captured officers, if it paroles any. As the pledging of the parole is an individual act, so is paroling, on the other hand, an act of choice on the part of the belligerent.
134.
The commander of an occupying army may require of the civil officers of the enemy, and of its citizens, any pledge he may consider necessary for the safety or security of his army, and upon their failure to give it he may arrest, confine, or detain them.
Section VIII.
Armistice—Capitulation.
135.
An armistice is the cessation of active hostilities for a period agreed upon between belligerents. It must be agreed upon in writing, and duly ratified by the highest authorities of the contending parties.
136.
If an armistice be declared, without conditions, it extends no further than to require a total cessation of hostilities, along the front of both belligerents.
If conditions be agreed upon, they should be clearly expressed, and must be rigidly adhered to by both parties. If either party violates any express condition, the armistice may be declared null and void by the other.
137.
An armistice may be general, and valid for all points and
32*
(0522 : 500)
Anhang.
lines of the belligerents; or special, that is, referring to certain troops or certain localities only.
An armistice may be concluded for a definite time; or for an indefinite time, during which either belligerent may resume hostilities on giving the notice agreed upon to the other.
138.
The motives which induce the one or the other belligerent to conclude an armistice, whether it be expected to be preliminary to a treaty of peace, or to prepare during the armistice for a more vigorous prosecution of the war, does in no way affect the character of the armistice itself.
139.
An armistice is binding upon the belligerents from the day of the agreed commencement; but the officers of the armies are responsible from the day only when they receive official information of its existence.
140.
Commanding officers have the right to conclude armistices binding on the district over which their command extends, but such armistice is subject to the ratification of the superior authority, and ceases so soon as it is made known to the enemy that the armistice is not ratified, even if a certain time for the elapsing between giving notice of cessation and the resumption of hostilities should have been stipulated for.
141.
It is incumbent upon the contracting parties of an armistice to stipulate what intercourse of persons or traffic between the inhabitants of the territories occupied by the hostile armies shall be allowed, if any.
(0523 : 501)
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
If nothing is stipulated the intercourse remains suspended, as during actual hostilities.
142.
An armistice is not a partial or a temporary peace; it is only the suspension of military operations to the extent agreed upon by the parties.
143.
When an armistice is concluded between a fortified place and the army besieging it, it is agreed by all the authorities on this subject that the besieger must cease all extension, perfection, or advance of his attacking works as much so as from attacks by main force.
But as there is a difference of opinion among martial jurists, whether the besieged have the right to repair breaches or to erect new works of defence within the place during an armistice, this point should be determined by express agreement between the parties.
144.
So soon as a capitulation is signed, the capitulator has no right to demolish, destroy, or injure the works, arms, stores, or ammunition, in his possession, during the time which elapses between the signing and the execution of the capitulation, unless otherwise stipulated in the same.
145.
When an armistice is clearly broken by one of the parties, the other party is released from all obligation to observe it.
146.
Prisoners, taken in the act of breaking an armistice, must be treated as prisoners of war, the officer alone being responsible who
(0524 : 502)
Anhang.
gives the order for such a violation of an armistice. The highest authority of the belligerent aggrieved may demand redress for the infraction of an armistice.
147.
Belligerents sometimes conclude an armistice while their plenipotentiaries are met to discuss the conditions of a treaty of peace; but plenipotentiaries may meet without a preliminary armistice; in the latter case, the war is carried on without any abatement.
Section IX.
Assassination.
148.
The law of war does not allow proclaiming either an individual belonging to the hostile army, or a citizen, or a subject of the hostile government, an outlaw, who may be slain without trial by any captor, anymore than the modern law of peace allows such international outlawry; on the contrary, it abhors such outrage. The sternest retaliation should follow the murder committed in consequence of such proclamation, made by whatever authority. Civilized nations look with horror upon offers of rewards for the assassination of enemies as relapses into barbarism.
Section X.
Insurrection—Civil War—Rebellion.
149.
Insurrection is the rising of people in arms against their government, or a portion of it, or against one or more of its laws, or
(0525 : 503)
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
against an officer or officers of the government. It may be confined to mere armee resistance, or it may have greater ends in view.
150.
Civil war is war between two or more portions of a country or State, each contending for the mastery of the whole, and each claiming to be the legitimate government. The term is also sometimes applied to war of rebellion, when the rebellious provinces or portions of the State are contiguous to those containing the seat of government.
151.
The term rebellion is applied to an insurrection of large extent, and is usually a war between the legitimate government of a country and portions or provinces of the same who seek to throw off their allegiance to it, and set up a government of their own.
152.
When humanity induces the adoption of the rules of regular war toward rebels, whether the adoption is partial or entire, it does in no way whatever imply a partial or complete acknowledgment of their government, if they have set up one, or of them, as an independent or sovereign power. Neutrals have no right to make the adoption of the rules of war by the assailed government toward rebels the ground of their own acknowledgment of the revolted people as an independent power.
153.
Treating captured rebels as prisoners of war, exchanging them, concluding of cartels, capitulations, or other warlike agreements with them; addressing officers of a rebel army by the rank they may have in the same; accepting flags of truce; or, on the other hand, proclaiming martial law in their territory, or levying war-taxes or forced loans, or doing any other act sanctioned or demanded by the
(0526 : 504)
Anhang.
law and usages of public war between sovereign belligerents, neither proves nor establishes an acknowledgment of the rebellious people, or of the government which they may have erected, as a public or sovereign power. Nor does the adoption of the rules of war toward rebels imply an engagement with them extending beyond the limits of these rules. It is victory in the field that ends the strife and settles the future relations between the contending parties.
154.
Treating, in the field, the rebellious enemy according to the law and usages of war has never prevented the legitimate government from trying the leaders of the rebellion or chief rebels for high treason, and from treating them accordingly, unless they are included in a general amnesty.
155.
All enemies in regular war are divided into two general classes; that is to say, into combatants and non-combatants, or unarmed citizens of the hostile government.
The military commander of the legitimate government, in a war of rebellion, distinguishes between the loyal citizen in the revolted portion of the country and the disloyal citizen. The disloyal citizens may further be classified into those citizens known to sympathize with the rebellion, without positively aiding it, and those who, without taking up arms, give positive aid and comfort to the rebellious enemy, without being bodily forced thereto.
156.
Common justice and plain expediency require that the military commander protect the manifestly loyal citizens, in revolted territories, against the hardships of the war as much as the common misfortune of all war admits.
The commander will throw the burden of the war, as much as lies within his power, on the disloyal citizens of the revolted portion or province, subjecting them to a stricter police than the
(0527 : 505)
Amerikaniſche Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863.
non-combatant enemies have to suffer in regular war; and if he deems it appropriate, or if his government demands of him that every citizen shall, by an oath of allegiance, or by some other manifest act, declare his fidelity to the legitimate government, he may expel, transfer, imprison, or fine the revolted citizens who refuse to pledge themselves anew as citizens obedient to the law and loyal to the government.
Whether it is expedient to do so, and whether reliance can be placed upon such oaths, the commander or his government have the right to decide.
157.
Armed or unarmed resistance by sitizens of the United States against the lawful movements of their troops is levying war against the United States, and is therefore treason.
(0528 : [506])
(0529 : [507])
Regiſter.
(S. = Seitenzahl in der Einleitung. Die übrigen Zahlen verweiſen auf die Paragraphen. n. = Anmerkung.)
[Spaltenumbruch]
A.
Aachener Congreß 103.
„ Protokoll 105 n., 155 n., 171 n.
Abberufung von Geſandten 210, 228, 238, 537.
Abbrechung des diplomat. Verkehrs 234, 235, 237 n., 537.
Abſchließung, eines States gegen jeden Fremdenverkehr S. 25; eines Meeres vom Weltverkehr 305.
Abſolutismus 65.
Abtretung von Statsgebiet 46 ff., 706, 707.
Abzugsrecht S. 24.
Abzugsſteuern 393 n.
Aerzte, Apotheker u. ſ. w. S. 34; 578, 599.
Agenten: 159 ff.; völkerrechtliche 243, nicht völkerrechtliche 241, geheime 170 n., 242, 637.
Alexander II., Kaiſer, S. 20.
Alexander VI., Pabſt, S. 26; 278 n.
Allianz, heilige, S. 17. — 6 n. 1, 68 n. 101, 102, 114 n., 446 n.
Allianz, bewaffnete, der neutralen Staten 447 n. 1.
Allianzen: Begriff und Arten 446, 447, 448, 98 n.
Allianzverträge, Auslegung und Anwendung der, 449.
[Spaltenumbruch]
Allianzpflicht 515 n.
Alternat 178.
Altersrang, diplomatiſcher 187.
Ambassadeur ſ. Botſchafter.
Ambulancen ſ. Krankenwagen.
Amneſtie 710—714.
André, engliſcher Major 628 n.
Anerkennung, eines neuen States 28 ff.
„ einer auswärtigen Regierung 122, 169.
Anerkennung, einer neuen Statsgewalt 288, 289, 293.
Anfänge, des Völkerrechts, im Alterthum S. 10 u. 11, im Mittelalter S. 12—15.
Annahme, eines Geſanten 169.
Annexionen 50.
Anſchluß der Bevölkerung eines States an einen andern Stat 288.
Anſiedlung 280.
Anzeige von der Abſendung eines Geſanten 167.
Anzeigepflicht, des Perſonenwechſels im Statshaupt 125.
arbitratio, arbitrium 488 n. 1 u. n. 2.
Ariſtoteles S. 11.
Aſyl, Aſylrecht 151, 200, 394—398, 400, 586 n., 774 n., 775 n., 845.
(0530 : 508)
Regiſter.
[Spaltenumbruch]
Aufleben des modernen Völkerrechts S. 15 ff.
Aufnahmepflicht des States gegen ſ. Angehörigen 368, 401.
Aufſtand im Kriege 598.
Ausdehnung, räumliche, des Völkerrechts S. 17.
Auslieferung 200, 201, 395, 396, 399, 400, 401, 466, 780.
Austräge, Austrägeverfahren S. 29; 496 n.
Auswanderer, friedliche, 816.
Auswanderung 370—372.
Auswechslung von Kriegsgefangenen 612—616, 623.
Auswechslung der Vertragsurkunden 419 n.
Aus- und Zurückweiſung, fremder Statsangehöriger 500.
Aus- und Zurückweiſung, von Bewohnern während einer Belagerung 553.
B.
Barbareskenſtaten 363 n.
Barbariſche Völker 425 n.
Beamte, des Heeres 578, 595.
Bedenken, gegen das Völker-R. u. deren Widerlegung S. 2—10.
Beendigung, des Krieges 700 ff.
Befreiung des V.R. von religiöſer Befangenheit S. 16.
Befreiungskriege 545 n. 2.
Beglaubigungsſchreiben 185.
Belagerer 553, 554.
Bergelohn 336.
Berichterſtatter im Felde 595, 638 n. 2.
Beſchlagnahme 500, 806 n. 1., 810, 811.
Beſeitigung einer Statsgewalt 288.
Beſitz, unvordenklicher 354.
Beſitznahme, militäriſche, von Feindesland 539 ff., 576, 719.
Beſitzſtand, Wirkung des dauernden 290.
Beſitzſtörung, widerrechtliche 464.
Beſtrafung eines Geſanten 210.
[Spaltenumbruch]
Beſteuerung 376, 377, 389, 390.
Beſuche (und Einladungen) der (u. bei) Geſanten 190.
Beſuchsrecht, wechſelſeitiges, der Schiffe 352.
Beuterecht im Landkriege: S. 38 u. 39; 657, 659—61.
Beuterecht im Seekriege: S. 40. — 15 n., 665 ff.
Bewohner, friedliche, in Feindesland 573—575, 594.
Binnenſeen 306, 316.
Binnenſtaten 325.
Blocade, Blocaderecht, (blocus) S. 43; 506, 827 ff.
Bombardement 554.
Botſchafter 171, 172.
Bourbonen 118 n.
Boten 639.
Bremer Seerechts-Agitation S. 44; 665 n.
Briefgeheimniß, Verletzung des 199.
Briganti 513 n. 1.
Bürge, der Stat als, 441.
Bürgerkriege 512 n. 3., 514 n. 1.
Bürgſchaftsgarantie 432 n., 440 n.
Buchten S. 27; 309.
Bund, deutſcher, 160 n.; norddeutſcher 70 n., 160 n.
Bundesgenoſſenſchaft mit einer Kriegspartei 750, 751.
Bundesſtat 70 ff., 160, 373.
Bundesverfaſſung, ſchweizeriſche 122 n. 160 n.
Bynkershoek 14 n. 1, 151 n., 164 n., 568 n, 674 n. 1, 742 n.
C.
Caboto, Seefahrer, 278 n.
Cabotage ſ. Küſtenhandel.
Canning 30 n., 763 n. 2.
Carl II. 117 n.
Carl V. 186 n.
Capellenrecht 204—207.
Caper ſ. Kaper.
(0531 : 509)
Regiſter.
[Spaltenumbruch]
Capitulation 697—699.
Cartelſchiffe 680.
Cartelverträge 614 n. 679.
Casus fœderis 449 n. 1.
Chriſtenthum, deſſen Einfluß auf das Völkerrecht S. 12 ff.
Ceremonialgeſandte 181. 227.
Ceremoniel 171 n. 188. 189.
Clauſel: „rebus sic stantibus“ 456.
Codifikation, erſte nordamerikaniſche, des Kriegsrechts im Landkriege S. 5 ff. und Anhang.
Collektivgarantie 440.
Colonialſtaten 79.
Colonieen, ſüd- und nordamerikaniſche, 29 n. 31 n. 120 n. 277 n. 2.
Coloniſten 279. 280.
Combattanten ſ. Kämpfer.
Commandant, eines feſten Platzes 552, 553.
Commiſſäre, völkerrechtliche 243.
Concordate 26 n. 443.
Conferenzen 12 n. 1.
Conflikt der Statsrechte und Bürgerpflichten 374.
Conflikte, Entſcheidung der, über die Rechte der Exterritorialen 224.
Conflikte, Schlichtung der völkerrechtlichen 481 ff.
Congreßakte, Wiener 53 n. 710 n. 1. 745 a.
Congreſſe, allgemeine, S. 4. 12 n. 1, 108—114.
Congreſſe, von Wien S. 19; 91. 108 n.; von Genf S. 35; von Aachen, Laibach und Verona S. 47; — 3 n. 2. 84 n. 90 n. 106 n. 108 n. 120 n. 351 n. 474 n. 3.
Connivenz, ſtatliche 466 n. 467 n. 2.
Consensus gentium 13.
Conſularagenten 271 n.
Conſulate, Conſule: im Allgemeinen S. 22; Begriff und Stellung 244; Patent 245; Exequatur 246. 248. [Spaltenumbruch] 556 n.; Errichtung 247: Arten 249; ſind diplomatiſche Agenten 250; Recht zur Ausfertigung von Päſſen 251; Gerichtsbarkeit 252. 259. 269; Schiedsrichteramt 253. 259. 320; Schutzrecht (pflicht) 254—257; Schiffspolizei 258; Disziplinargewalt 260; Unterſtützung der Schiffsführer 261; Conſtatirung der Seeſchäden 262; Schiffsreparaturen u. Verkaufsrecht 263; Recht bei Schiffbrüchen 264; R. zur Führung der Standesregiſter 265; R. zur Ertheilung der Volljährigkeit 266; Privilegien der levantiniſchen Conſuln insbeſ. 269; Beſoldung 270; Rangklaſſenbeſtimmung 271; Wappen- u. Flaggenrecht 272.
Continentalſperre S. 41.
Contrebande S. 45. ſiehe auch: Kriegscontrebande.
Contributionen S. 39. ſ. auch: Geldcontributionen.
Contumazanſtalten 508.
Convocirung 824—826.
Courtoiſie 154 n.
Creditiv 183—187. 228—233. 236—238. 245.
Cromwell 117 n. 500 n. 3.
Cultus, Unterdrückung des 577.
Curiere 198. 199. 639.
D.
Dante 5 n.
Decretum Gratiani S. 12. 679 n.
Deditionsformel, altrömiſche 702 n.
Defenſivallianzen 446 n. 447 n. 1.
Deſerteure 627.
Dienſte, gute (bons offices) S. 29; 483, 484, 498 n.
Diplomaten, diplomatiſcher Körper S. 22; — 27, 182, 473.
Diplomatiſche Sendung, deren Ende 227 ff., deren Unterbrechung 237.
Diplomatiſche Verhandlung 482.
(0532 : 510)
Regiſter.
[Spaltenumbruch]
Diplomatiſcher Verkehr 537, 796, 797.
Directorialregierung, franzöſiſche 117 n.
Donaufürſtenthümer 432 n.
Droit d’aubaine 393 n.
„ de perquisition 393 n.
„ du renvoi 383 n.
„ de visite 352 n.
Dufour, General 586 n.
Dunant, Genfer Arzt 586 n.
Durchfahrt 310.
Durchſuchungsrecht S. 45; 819—826.
Dynaſtie, Verträge eines States mit einer 43 n. 443 n. 1; — reſtaurirte Dyn. 44.
E.
Ehre, Verletzung der, eines States 463.
Eid u. Ehrenwort 425, 737.
Eigengewäſſer S. 28. 321 n. 2. 342; neutrale: 773, 786, 787, 814.
Einigung, nationale 517 n.
Einquartierung 653 n. 2.
Einverleibung 50 ff., 287, 288; 715 n.
Einzelkampf 578.
Einzelſtat 71, 444 n. 1.
Embargo 509, 669.
Enge Meere 309 n.
Entdeckung ſtatenloſer Länder 278.
Entlaſſung, eines Geſanten 169 n.
„ der Kriegsgefangenen, auf Ehrenwort 617—626.
Entſchädigungspflicht für Requiſitionen 653, 655, 656.
Entſtehung eines neuen States 28 ff. 279 n. 288 n. 4.
Entwaffnung, flüchtiger Truppen 776, einbrechender Truppen 788.
Entwicklung des Völkerrechts S. 10 ff.
Erbrecht, Erwerbgrund der Statshoheit 293.
Erbverträge 443 n. 1.
Erfüllungs- und Erſatzforderung 462.
Eroberung 289, 576 n. 2, 715 n., 733.
Etappenſtraßen 771 n.
[Spaltenumbruch]
Etiketteverſtöße 190 n.
Exekutionskrieg 514.
Exemtionsrecht 139, 141, 154, 197, 209, 218, 267.
Exequatur 246, 248, 273, 274. ſ. auch Conſuln.
Exterritorialität 129 n., 135—153, 196, 216 n., 267, 321.
F.
Familie, ſouveräne 127.
Familiengenoſſen der ſouveränen Perſonen 154—158.
Familiengenoſſen und Gefolge eines Exterritorialen 145—149, 211—215, 219.
Fecialrecht, altrömiſches 406 n.
Fehderecht 511 n. 522 n. 1.
Feinde S. 31 und 35; 531—533, 569, 578 ff., 594.
Feindesſchonung, Grundſatz der 585.
Feindliche Perſonen im eigentl. Sinne 569, 570, 575, 578, 594.
Feldgeiſtliche S. 34. 578, 587, 599.
Fiſcherboote 667.
Fiſcherei, freie 307, 310, — an den engliſch-amerikaniſchen Küſtengewäſſern 718 n. 2.
Fiskus 442 n.
Flagge 324. 325. 328. 329. 339. 343.
„ neutrale, deckt die feindliche Waare S. 42; 794.
Flagge (Fahne), weiße, Aufhiſſen und Aufſtecken derſ. 697 n. 1.
Flibuſtier 513 n. 1.
Flüchtlinge 395—400.
Flüſſe S. 27.
Fluß, als Grenze 298, 299.
Flußſchiffahrt 47.
Fluß- und Schiffahrtspolizei 313.
Flußzölle S. 28.
Fœdus iniquum 444 n. 2.
Franklin S. 41.
Freiheit, der Staten 8, 9, 64 ff.
„ perſönliche 360 ff.
(0533 : 511)
Regiſter.
[Spaltenumbruch]
Freiheit, religiöſe S. 21.
„ des Verkehrs S. 25.
„ der Schiffahrt S. 25 ff.
Freiſcharen 512 n. 2, 570, 572, 758 n.
Frei Schiff, frei Gut S. 43; 794.
Freizügigkeit S. 24.
Fremdenrecht S. 23 ff.; 381—394; 411, 472.
Friede S. 9.
„ von Adrianopel (1829) S. 26; von Nanking (1842) S. 25; von Paris (1856) S. 26, S. 28, S. 29, S. 42, S. 43, S. 45; 305 n., 308 n.; von Paris (1814) S. 27; von Utrecht (1713) S. 19; 351 n.
Friedens-Allianzen 446 n.
„ -Blokade zur See 507.
„ -Bruch 465, 725, 726.
„ -Congreß, Pariſer (1856): S. 17. S. 26; 106 n., 111 n., 484 n., 498 n., 670 n. 2, 794 n., 795 n., 801 n. 2, 828 n. 1. ſiehe auch: Friede.
Friedens-Congreß, in Münſter 149 n.
„ -Schluß: 289, 703—709, 714— 724; 731, 733, 734, 736, 861.
Friedens-Unterhandlung, Eröffnung der 705 n. 1.
Friedens-Vertragsverletzung 725 n. 2.
Friedrich d. Große 500 n. 3, 658 n., 842 n.
Fürſten, entthronte 118, 443 n. 1.
G.
Garantie, Garantieverträge: 430—439, 486.
Garantibeſchluß 432 n., 440 n.
Garibaldi 512 n. 2, 570 n. 1 und 2.
Gebietshoheit: Begriff 276; Inhalt 277; Subjekt 277 n. 1; Begründung 289, 291, 293; Formen des Erwerbs 292; concurrirende der Uferſtaten 300, 303, 304, 316; beſchränkte 309, 310; ſiehe auch: Statsdienſtbarkeiten. Ausdehdehnung auf Schiffe u. ſ. w. S. 27, — 318; Verpfändung derſ. 428.
[Spaltenumbruch]
Gebietsverminderung 46.
Gebirgszug, als Grenze 297.
Gefangennahme, eines Exterritorialen überhaupt 142, 500 e und f; eines Geſandten 136 n. 210; — eines Neutralitätsbrechers 788; — eines Souveräns 130 n., 142; diplomatiſcher Agenten 637.
Geiſeln 426, 427, 500 e, 600.
Geldcontributionen 654, 717.
Geleitſcheine 675—677.
Geleitſchiffe 824—826.
Gemal, Gemalin, fürſtlicher (e) 154 ff.
Gemeinflüſſe 314 n.
Gemeingefährliche Verletzungen des Völkerrechts 471—473, 478.
Generalconſuln S. 23, 271.
Genfer-Vertrag v. 1864: 586 n.
Gerichtsbarkeit, der Civilgerichte, über die Exterritorialen 140.
Germanen, das Völkerrecht der S. 14 und 15.
Geſammtſtat (Statenverein) 71 ff., 432 n., 444 n. 1, 480, 496, 514.
Geſante: deren: Unverletzlichkeit S. 21 ff.; Einrichtung ſtändiger S. 22; völkerrechtl. Perſönlichkeit 27; Begriff 170; Klaſſen u. Arten 171 ff.; im Alterthum 171 n.; ſtändige und nichtſtändige 180; Beginn des Charakters 183 ff.; perſönliche Rechte u. Pflichten 191 ff.; Disziplinargewalt über ihre Angehörigen 216, Gerichtsbarkeit über dieſelben 216 n., 217, 220, 221; Steuerfreiheit 222, 223; Abberufung 228; Beförderung 236; Verabſchiedung, feierliche 238; Verlaſſenſchaft 240; Suspenſion ihrer Thätigkeit im Kriege 555; neutrale Geſ. 555; Bruch ihrer Rechte 191 ff., 472.
Geſantſchaftsrecht, aktives 159 ff.
Geſchäftsträger (chargés d’affaires) 171, 174, 233.
Geſetzesrecht 12 n. 2.
(0534 : 512)
Regiſter.
[Spaltenumbruch]
Geſetzgebung, völkerrechtl. S. 2—7.
Gewäſſer, Gemeinſchaft der S. 25 ff.
„ öffentliche 304 ff.
Gewalt, angebliche Herrſchaft der S. 9 ff.
Glaubensverfolgungen 411, 472.
Gleichgewicht 95—100.
Gottesfriede (treuga Dei) 687 n.
Gregor XVI. Pabſt 117 n.
Grenzen, des Statsgebiets 296 ff.
„ des Völkerrechts S. 17, — 1 u. ff.
Grenzregulirungen 47.
Grenzverhältniſſe 42 n.
Grenzzeichen 296 n.
Groot (Grotius) Hugo de S. 16, S. 26, S. 31, S. 32; 1 n. 2, 16 n., 151 n., 210 n., 304 n., 657 n. 1, 709 n., 742 n.
Großſtat, nationaler, 99 n.
Grundlage des Völkerrechts S. 1 u. 2. 1 u. ff.
Güter, geborgene, 668.
H.
Hafenordnungen 327 n.
Halbſouveränetät 78.
Hamilton S. 45.
Handel, mit Waffen u. dergl. 765.
Handelsconſuln S. 22 u. 23.
Handelsſchiffe, feindliche, 669.
Handelsverkehr, deſſen Hemmung, 500.
„ neutraler, 798 ff.
Handlungsfähigkeit der Staten 62 u. 63.
Häuſer, dynaſtiſche 293 n.
Hausrecht, des Geſandten 206 n.
Haverei 262.
Heffter 16 n., 367 n., 568 n., 718 n. 3.
Heimatsloſigkeit 369.
Heimfallsrecht S. 24.
Heinrichs’ VII., engliſche Parlamentsakte v. 1494: 117 n.
Hellenen, das Völkerrecht der, S. 10 u. 11.
Herrenloſe Sache 277 n. 2.
Hierarchie, römiſche, 165 n.
[Spaltenumbruch]
Hörigkeit, bäuerliche S. 19.
Hülfslohn 336 n.
Hülfstruppen, Zufuhr von 815.
Humanität, die, das Weſen der Civiliſation 5 n.
Humboldt, Wilhelm von, S. 28, 312 n.
I.
Incognito 133.
Indult 669 n.
Innocenz III., Pabſt, 560 n.
Inſeln, neugebildete, 295.
Inſtruktion, für die Armeen der Vereinigten Staten im Feld S. 5 u. 6 und Anhang.
Interimsgeſandter 180.
International law 1 n. 2.
Internirung 398 n., 776.
Internuncius, öſterreichiſcher 173 n.
Internuncien, päbſtliche, 173.
Interpretation der Statenverträge 449.
Intervention, deren: Unzuläßigkeit im Allgemeinen 474; Geſchichte 474 n. 2—4; Zuläßigkeit auf Anrufen 475— 477; Zuläßigkeit ohne Anrufen 478, 480, 515 n.; Abwehr durch die übrigen Mächte 479.
Intervention, des Heimatſtates 380 n.,
„ des Garanten 431 u. ff.
Interventionen, der heiligen Allianz, 68 n.
Interventionsrecht u. Politik 107, 120 n.
Italien, Königreich 104 n., 125 n.
Jakob II. 117 n., 118 n.
jus albinagii 393 n.
„ avocandi 375, 394.
K.
Kämpfer (combattans) 578, 594.
Kaiſerthum, römiſch-deutſches S. 15.
Kant S. 24.
Kanonenſchußweite 302, 309 n.
Kaperbriefe 670 n. 1.
Kaperei, Abſchaffung der, S. 41 u. 42, — 670 n. 2 u. 3.
(0535 : 513)
Regiſter.
[Spaltenumbruch]
Kaperſchiffe 349 n. 3, 501 n. 2, 572, 670.
Katharina II. von Rußland S. 44.
Kent 16 n.
Kirche, römiſch-katholiſche, im Mittelalter 26 n.
Kirchen, die chriſtlichen, ſind keine völkerrechtl. Perſonen i. engern Sinne 26.
Klüber 742 n.
Knechtſchaft, erbliche S. 19.
Königskammern 309 n.
Krankenwagen (Ambulancen) 586 ff.
Krieg S. 7, S. 9, S. 30; deſſen: Begriff 510; gerechter, ungerechter, völkerrechtswidriger 447, 515, 519, 520, 535; ſein Einfluß auf die Verträge 461.
Kriegs-Allianzen 446 n., 447.
„ -Anleihe 768.
„ -Artikel, nordamerik., ſ. Anhang.
„ -Ausrüſtung 57, 645, 664.
„ -Beute im Landkriege: 644—650, 659.
Kriegs-Beute im Seekriege: 664; — Rückgabe derſelben 722, 723.
Kriegs-Contrebande S. 42, — 765, 794, 795, 801, 802; abſolute 803; relative 805, 806; dann noch 807—817.
Kriegs-Depeſchen 803 n. 5.
„ -Dienſt 576.
„ -Erklärung 521—525, 537.
„ -Eröffnung 525—528.
„ -Gefangene S. 35, 349 n. 2 u. 3, 582, 585, 593—626, 639, 716, 737, 738.
Kriegs-Gerichte, ſtandrechtliche, 547 n. 2, 548.
Kriegs-Gewalt, Rechte und Pflichten der 541—551; 568—577.
Kriegs-Laſten S. 39.
„ -Manifeſt 522, 524.
„ -Mittel 534; unerlaubte: 557— 563, 566; erlaubte: 564, 565, 583.
Kriegs-Parteien 511—514, 530.
„ -Rebellen 643.
[Spaltenumbruch]
Kriegs-Recht S. 30 u. ff.; Ausübung desſ. 542, 543, 550; Mißbrauch desſ. 542.
Kriegs-Rüſtung, iſt Gegenſtand des Beuterechts S. 39.
Kriegs-Schiffe 321; nothleidende: 775, 776.
Kriegs-Sitte, gute, 554, 560, 567, 578 n., 622 n., 661, 685, 807.
Kriegs-Trophäen 650 n. 1 und 3.
„ -Urſachen 516—519, 536.
„ -Verräther 631—634, 639.
„ -Ziel 536.
„ -Zuſtand, Wirkungen des, 529 ff.
Kündigungsrecht, einſeitiges, eines Vertrages 454, 458.
Küſten S. 26 u. 27.
„ -Gewäſſer, neutrale, 772.
„ -Handel (Cabotage) der Neutralen 800.
Küſten-Saum 302, 303, 309, 322.
„ -Schutz 303.
„ -Stat 322, 323, 325, 338.
Kurfürſten, Rang der, 87 n.
Kurheſſiſcher Rechtsſtreit 733 n.
L.
Landeskirche 26 n.
Landesverrath 631 n., 634 n.
Landſee, als Grenze 301.
Landſperre 506 n. 2.
Landſturm 597, 598.
Laurent S. 14; 425 n., 663 n.
Lebensmittel, Zufuhr von, 807.
Legaten und Nuncien, päbſtliche 165 n., 172.
Legati a (de) latere 172 n. 2.
„ reverentiæ 181 n.
Legitimität (Illegitimität) einer Statsregierung 120.
Legitimitätspolitik 120 n.
Legitimitätsprinzip S. 47 u. ff.
Lehensherrlicher (oberherrlicher) Stat 76, 77, 444 n. 1.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 33
(0536 : 514)
Regiſter.
[Spaltenumbruch]
Leibeigenſchaft, Aufhebung der in Rußland, S. 20.
Leinpfad 312.
Licenzen (Erlaubnißſcheine) 674 n. 4.
Lieber, Profeſſor S. 5, S. 30.
Lincoln S. 5, 349 n., 3, 832 n., 1.
Localiſirung d. Krieges S. 44, 747.
Londoner Vertrag (v. 15. Nov. 1831) 745, b. (v. 1867) 745 d.
Loos, Entſcheidung durch das, 178.
Losſagungsrecht (von den Concordaten) 443 n. 3.
Ludwig XIV. S. 22.
Ludwig XVIII. 117 n.
Ludwig Philipp 117 n.
Lüneviller Friede 298 n. 2.
M.
Magna Charta, engliſche (v. 1215), 657 n. 1.
Majeſtät (Titel) 89.
Manus Geſetzbuch 585 n.
Maria Stuart 130 n.
Marinegerichtsbarkeit 321 n.
Marketender 578.
Marode, Marodeurs S. 35, S. 39, 642.
Martens 200 n., 202 n.
Mediatiſirung 288 n. 4.
Meer, als Grenze 302.
Meer, Freiheit desſelben S. 26; 304, 305.
Meere, geſchloſſene, 306.
Meereseinbrüche 309.
Mehrheitsbeſchlüſſe 10, 113.
Menſch, der einzelne 23.
Menſchenrechte S. 19; 529 n. 2, 533.
Metternich 120 n.
Militärcapitulationen 759 n.
Militärpflicht 391.
Militärſpitäler 586 ff., 685.
Miniſter, bevollmächtigte 171, 173 n.
Miniſterreſidenten 171, 174.
Minneverfahren 481—487.
Mittel, friedliche, des Völkerrechts S. 8.
[Spaltenumbruch]
Miſſion, außerordentliche, 175.
Mobiliar, eines Exterritorialen, 153.
Monroedoktrin 474 n. 3.
Montesquieu 7 n.
Mortara, Raub des, S. 21.
Moynier, Präſident 586 n.
N.
Napoleon I. 117 n., 130 n.
Napoleon III. 108 n., 109 n., 117 n., 124 n.
Nation 1 n. 2.
Nationalität, der Schiffe 324 u. ff.
Nationalſtat 288.
Naturzuſtand, angeblicher, 529 n. 1, 538 n. 1.
Navigationsakte 327 n.
Nebenländer 80.
Nebenvertrag 430—432.
Neugeſtaltung e. States 517.
Neutralität im Allgemeinen S. 44 u. ff.; Begriff der N. 742, 743; Grundbedingung d. N. 744; Arten der N. 745—748; Bedingungen der N. 749 u. ff.; Pflichten der Neutralen 756 u. ff.; Rechte der Neutralen 783 u. ff.; Handelsverkehr d. Neutralen 798 ff.
Neutralität, Belgiens 432 n., 440 n., 745 b); Luxemburgs 440 n., 745 d); der Schweiz 745 a); Serbiens 745 c).
„ bewaffnete (von 1780 und 1800) S. 44, 447 n. 1, 794 n., 801 n. 2, 803 n. 3, 824 n., 825 n., 830 n., 835 n. 4.
„ der Krankenwagen, Militärſpitäler u. ſ. w. 586—592.
Neutralitätsakte, engliſche (v. 1819) u. nordamerikaniſche (v. 1794 u. 1818) S. 45.
Neutralitätsbuch 779—781, 788—790.
Neutralitätsgeſetz der Ver. St. v. Nordamerika 763 n. 2.
(0537 : 515)
Regiſter.
[Spaltenumbruch]
Nichterfüllung, der völkerrechtlichen Verbindlichkeiten 462.
Nichtinterventionsprincip 474 n. 3 u. 4.
Nichtkämpfer (non combattans) S. 34, 578, 595.
Nikolaus I. Kaiſer 124 n.
Nomadenvölker 20.
Nothwehr, Recht der, 144, 194.
Notifikation, der Ankunft von Geſandten 187; der Thronfolge 229.
Nuncien ſiehe Legaten.
O.
Occupation herrenloſer Sachen 277 n. 2.
„ geſtrandeter Waaren u. ſ. w. 335.
„ ſtatenloſen Landes 278, 279 —283.
Offene See — als Kriegsfeld 814.
Offenſivallianzen 446 n., 447 n. 2.
Officiere neutraler Staten 638 n. 1.
Organe, völkerrechtliche 115 ff.
P.
Pacifico-Angelegenheit 500 n. 3, 502 n.
pacta 405 n.
pactum instar legis 402 n.
Päbſte, deren völkerrechtliche Stellung im Mittelalter S. 12; 425 n.
Panin, ruſſiſcher Kanzler, S. 44.
Pardon, ſiehe Quartiergeben.
Pariſer-Vertrag vom 30. März 1866 745 c.
Parlamentäre 681—684, 687 n., 697 n. 1.
Parlamentärflagge (Fahne) 681, 684.
Parole ſ. Ehrenwort.
Parteigänger 570.
Parteien, ſind nicht Subjekte des Völkerrechts im e. Sinne 24.
Partikularſtaten 99 n.
Päſſe 186.
Päſſe, militäriſche 675—678, 792.
Paßzuſtellung an einen Geſandten 210.
[Spaltenumbruch]
Patent, der Conſuln 245.
Penn, William 280 n.
Pentarchie 103—107, 471 n.
Perſonal, der Spitäler und Ambulancen 587 u. ff.
Perſonalprincip 379 n.
Perſonalunion 51, 74, 75.
Perſonen u. Güter, neutrale, 793—795.
Perſonen, völkerrechtliche 17 u. ff.
Peter d. Gr., von Rußland 133 n., 218 n.
Pfandnahme, gewaltſame, 429.
Philimore 762 n.
Piraten, Piraterie 349, 351, 472, 513, 521 n.
Piratenſchiffe 343—351.
Piratenſtaten 349.
Plätze, offene und feſte, 554 n.
Platen S. 11.
Plünderung 661.
Portalis 531 n.
Postliminium 727—741, 860 n. 1.
Präſident, einer Republik, 126, 128.
Praxis, ſtatliche, des vor. Jahres 77 n.
Praxis, ſtatsmänniſche, deren Einfluß auf das Völkerrecht S. 15; amerik. S. 46.
Preßfreiheit während des Kriegs 545 n. 1.
Preußen 104 n.
Prinzen und Prinzeſſinen, der ſouveränen Häuſer 157, 158.
Priſe, Priſenrecht, Priſengericht S. 45; 346, 347; 500 n. 3, 507, 509 n., 527 n., 668, 672, 741, 777 n., 786, 809—811, 818, 822, 825, 841 u. ff.
Privateigenthum, im Landkriege S. 36 ff. 652, 653 u. ff.; im Seekriege: 665, 666.
Privateigenthum, des States 58.
Privatgut, fürſtliches, 734.
Privatgut, deſſen Beſchlagnahme, 500.
Privatkrieg 670 n. 1.
Privatperſonen im Kriege 530, 531.
Privatrechte, Schutz derſelben durch das Völkerrecht S. 18.
(0538 : 516)
Regiſter.
[Spaltenumbruch]
Privatrepreſſalien 503 n.
Proteſt 482.
Protokolle, völkerrechtliche 12 n. 2.
Provincialſchulden 47.
Pufendorf S. 16, S. 31; 7 n.
Punktationen 418.
Q.
Quartiergeben 580—584.
Quellen, des Völkerrechts S. 3 u. ff., 10—16.
R.
Rang, der Staten 84 ff.
„ kaiſerlicher 86.
„ königlicher 87, 172.
„ der Familiengenoſſen eines Souveräns 155 u. ff.
„ der Geſandten 171 u. ff.
Rangerhöhung, eines States, 94.
Rangordnung, der Geſandten untereinander 176.
Ratifikation, der Verträge, 419—421.
Raubſtaten, afrikaniſche, 513 n. 2.
Räuber 571, 641.
Recht, der nationalen Entwicklung und der Selbſtbeſtimmung der Völker S. 46 u. ff.
„ conventionelles und nothwendiges 402 n., 460 n.
„ internationales 1 n. 2.
„ der königlichen und kaiſerlichen Staten 89.
Rechtsbruch 464, 465.
Rechtsbücher, völkerrechtliche S. 6.
Rechtsgleichheit der Staten 81 u. ff.
„ der Völker 2.
Rechtspflege, völkerrechtliche S. 7—8.
Rechtsſchutz S. 7; ſtatlicher in der Fremde S. 24—25.
Rechtsverſchiedenheit, kein Grund zur Retorſion 505 n. 2.
Rechtsverwahrung 482.
[Spaltenumbruch]
Recreditivſchreiben 238.
Recognitionspatrouillen 630.
Reichsverfaſſung, alte deutſche, 160 n.
Reihenfolge, der Staten, bei der Unterzeichnung v. Akten u. Verträgen 178.
Reisläufer 758.
Religion und Recht 6 n. 2.
Religionsübung, Recht der Geſandten auf freie, 203, 208.
Repräſentationsrecht im Völkerrecht 115, 116, 454 n.
Repreſſalien: S. 34; zuläſſige, ohne Krieg 500; unzuläſſige 501.
„ Umfang der 502.
„ berechtigt dazu 503.
„ Dauer derſelben 504.
„ im Kriege 567, 580, 685 n.
Repriſe 846, 859, 860.
Requiſitionen 653, 717.
Reſtaurirte Regierung 731—735.
Retorſion 505.
Rettungsanſtalten 337, 338.
Rettungslohn 336 n.
Revolution, griechiſche, belgiſche, franzöſiſche 120 n.
Rheden S. 27.
Rheinſchiffahrt S. 27.
Richelieu S. 22.
Römer, das Völkerrecht der S. 11, 512 n. 4.
Rücktrittsrecht vom Vertrage 455, 462, 500 g.
S.
Säkulariſation 288 n. 4.
Saint Pierre, Abbé, 95 n.
Schätzungsverfahren 488 n.
Schiedsgericht, S. 8, S. 29 u. ff.; der Päbſte im M.-A. S. 12 u. ff.
Schiedsrichterliches Verfahren 488—498.
Schiffahrt, freie, S. 25 ff., 307, 308, 310, 312, 314, 316, 325, 327, 411.
Schiffahrtsakte, engliſche (1854) 330 n., 333 n., 335 n., 336 n., 337 n.
(0539 : 517)
Regiſter.
[Spaltenumbruch]
Schiffahrtsgebühren 315.
Schiffe, geſtrandete 668.
Schiffe: Gebietstheile des Landes 317.
„ Handels- oder Kriegsſchiffe 317 n.
„ fremde 319, 323, 328, 339, 341.
„ auf offener See 318.
„ Gerichtsbarkeit darüber 319, 320. 322.
„ exterritoriale 321.
„ barbariſcher Stämme 325 n.
„ Papiere derſelben 326.
„ Ausweichen der 330.
„ Fahrregeln für die 331, 332.
„ „ in Seegefahr 333.
„ „ nationale 350.
Schiffbrüchige 334, 337, 338.
Schiffsrecht 317 u. ff.
Schill 512 n. 2.
Schleſiſche Landesſchuld 500 n. 3.
Schranken des Völkerrechts S. 17 u. ff.
Schutzfahnen 685.
Schutzhoheit 78, 403 n.
Schutzpflicht, der Staten gegenüber den Geſandten 192, 239, 275.
Schutzrecht u. Pflicht d. Staten, gegenüber ihren Angehörigen im Auslande 380, 384, 468.
Schutzſtaten 78; deren Rang 92, 444 n. 1.
Schutzwachen, Schutzbriefe 686.
Schutz- und Trutzbündniſſe 446 n.
Schweden 104 n.
Seebeute 111 n.
Seeblokade 506 n. 2.
Seehäfen S. 27, 309.
Seeherrſchaft, angemaßte 304 n., 305 n., 310 n. 2, 472.
Seehoheit, angemaßte, d. Engländer S. 26.
Seekriegsrecht S. 40 u. ff.
Seepolizei, völkerrechtliche S. 20; 341 n., 344 n.
Seeraub, autoriſirter S. 41.
Seeräuber S. 35, 343.
Selbſtändigkeiten der Staten 8.
[Spaltenumbruch]
Selbſtändigkeiten, deren Beſchränkung 9.
Selbſtbefreiung eines Volkes vom Feinde 730.
Selbſthülfe, gewaltſame, S. 7 ff., 429, 448, 464, 449 ff., 510 ff.
„ zur See 340 n., 348.
Siegelung der Verlaſſenſchaft von Geſanten 240.
Siegesdenkmäler 650 n. 2.
Sklavenhandel 351, 363.
Sklavenmärkte S. 20, 363.
Sklavenſchiffe 351.
Sklaverei, Verhalten der Römer, des Chriſtenthums dagegen S. 18 —19.
„ die, im germaniſirten Europa S. 19.
„ in Amerika S. 19;
„ Verhalten der Engländer dazu S. 19.
„ Erklärung des Wiener Congreſſes dagegen S. 19, 351 n.
„ Verbot derſelben durch die V. St. v. N.-Amerika S. 19.
„ Maßregeln dagegen S. 20.
„ Aufhebung in Nordamerika S. 20, 15 n., dann 360, 361, 362, 411, 472.
Sonderbundskrieg, Schweizer, 514 n. 1.
Souveräne, deren völkerrechtliche Perſönlichkeit 27; Verträge derſ. 443.
Souveränetät der Staten 64—80.
Souveränetätsrechte, des States, 68.
Spanien 104 n.
Spione, Spionerie S. 35, 628, 629, 630, 633, 639, 683.
sponsiones 405 n.
Stämme, barbariſche, 280.
„ wilde, 535 n. 2, 557 n.
Standrecht S. 35. 348, 547, 548.
Stapel- und Landungsplätze 315.
Stat, der, Begriff S. 2.
Staten: Subjekte des Völkerrechts 17 u. ff.; Entſtehung und Anerkennung neuer
(0540 : 518)
Regiſter.
[Spaltenumbruch] Staten 28 ff.; Untergang der St. 46 ff.; völkerrechtliche Eigenſchaften der St. 62 ff.; halbſouveräne 78, 79; deren Rang 92, 93; Bildung neuer St. 279 n.; paciscirende 444; Subjekte des Krieges 530 ff.; neutrale St., deren bewaffnete Allianz 447 n. 1, deren Handel 507.
Statenbildung 28 n., 279 n.
Statenbünde 70 ff.; 160.
Statenbund, allgemeiner, 10 n.
Statenfamilie, europäiſche 98 n.
Statenfolge 46 ff.
Statenreiche 70 ff., 160, 373.
Statenſyſteme S. 96 u. ff.
Statenverträge 442, 489 n. 1, 497, 538.
Statsdienſtbarkeiten 42 n., 69, 353 u. ff., 771.
Statsehre, Recht auf, 83.
Statsgebiet: Eigenſchaften 284; Abtretungen von 46 ff., 285, 286, 287; Erweiterung und Verminderung desſ. 294, 295; Grenzen desſ. 296—299.
Statsgenoſſen, im fremden Lande 378, 379.
Statgenoſſenſchaft: Erwerb und Verluſt im Allgemeinen 364; der Ehefrau u. ehel. Kinder 365; der unehel. Kinder 366; der Landſaſſen im weiteſten Sinne des Wortes 367; Auflöſung 371; zweifache 373, 374.
Statshäupter: deren völkerrechtliche Perſönlichkeit 27; als Schiedsrichter 489 n. 2;
„ deren Repräſentationsrecht 115—125.
„ die, als ſouveräne Perſonen 126—134.
Statsintereſſe 518.
Statsperſönlichkeit: Repräſentant derſelben 115, 116, 117.
Statsrecht, äußeres 1 n. 2.
Statsſchulden 59.
Statsumwälzungen 474.
[Spaltenumbruch]
Statsvermögen 54.
„ deſſen Beſchlagnahme 500.
Statthalter 161.
status quo (post und ante bellum) 700 n., 715.
Steuerbefreiung der Exterritorialen 138. 267.
Strandrecht 334. 335.
Straßen, offene, 47.
Ströme und Flüſſe S. 27; 311, 312, 314.
Sühneverſuch 521.
Sundzoll, Aufhebung desſelben S. 26 u. 27; 310 n. 2.
T.
Talionsprincip 501 n. 1.
Territorialprincip 379 n.
Thalweg 298, 299.
Thronfolge, Verträge über, 443.
Thurn- und Taxis, Familie, deren Poſtregal 443 n. 2.
Titel, der Staten 84 ff.; der Familiengenoſſen eines Souveräns 155 ff.
Tödtung, unnöthige 579.
Tractate 418.
Truppentheile, verfolgte, 774, 776, 785.
Truppenwerbung 760—762.
Türkei, deren Aufnahme in’s europäiſche Völkerrecht S. 17; Schutz der chriſtlichen Rajahs gegen dieſelbe S. 21.
U.
Ueberfall, gewaltſamer, fremder Statsgebiete ohne Kriegsurſache 472, 481.
Uebergabe auf Gnade u. Ungnade 698.
Ueberläufer 627.
Ufer S. 26.
Uferbauten 47, 299 n.
Uferſtaten 288, 295, 299, 300, 301, 303, 310 n., 312, 314, 316, 322, 337.
Unabhängigkeit, der Staten 64 u. ff.
Unfrei Schiff, frei Gut 795.
(0541 : 519)
Regiſter.
[Spaltenumbruch]
Unfrei Schiff, unfrei Gut 795 n.
Univerſalherrſchaft, Streben nach, 99 100, 412, 472.
Unterdrückung, fremder Völker 81, 412, 472.
Unterpfand 428.
Unterſuchungsrecht: gegen die Sklavenſchiffe S. 20; Widerſpruch der Ver. Staten und Frankreichs dagegen 352 n.; gegen verdächtige Schiffe 344, 345, 352.
Unterthaneneid 551.
Unterwerfung des beſiegten Feindes 701, 702.
Unverletzbarkeit, Recht der, 191, 192, 193, 239.
Uſurpator 117.
Uti possidetis 715 n.
V.
Vaſallenſtaten 76, 77; deren Rang 92, 444 n. 1.
Vattel S. 33, S. 34, 147 n., 150 n., 201 n., 573 n., 585 n., 594 n. 1, 692 n.
Veränderungen des Flußbettes u. Thalweges 299.
Verbittung und Verweigerung der Annahme eines Geſanten 164, 165, 166.
Verbrechen, politiſche, deren Unterſchied von gemeinen 564 n. 1.
Verbrecher, fremde, 395, 401.
Verdrängung des Feindes 728 u. ff.
Vereinigte Staten von Nordamerika 98 n., 111, 114 n., 160 n., 310 n. 2.
Vereins- u. Verſammlungsrecht während des Krieges 545 n. 1.
Verfahren, ſchiedsrichterliches S. 29 ff., 488 u. ff.
Verfaſſungsänderungen, innere, eines States S. 46.
Verfaſſungsſtreitigkeiten 474.
Verfaſſungswandlung, deren Einfluß auf die völkerrechtlichen Verhältniſſe der Staten 39 ff.
[Spaltenumbruch]
Vergleich 482, 494.
Verhältnißmäßigkeit, Grundſatz der, zwiſchen Schuld und Folgen 469—502 n.
Verhandlungen, unter den Kriegsparteien 679 ff.
Verjährung, völkerrechtliche 290 n.
Verkehr, friedlicher, Pflege desſ. S. 21 ff.; allgemeine Verkehrsgemeinſchaft S. 25; Verkehr zur See S. 27.
Verkehrsrecht, internationales, S. 24.
Verkehr, unter den Kriegsparteien 674 ff.
Verkehr, Recht u. Pflicht des völkerrechtlichen 159 ff.
Verkehrsanſtalten, muthwillige Zerſtörung der, 651.
Verkehrsſperre (blocus) 506, 507, 508.
Verletzung eines Geſanten 193.
Vermittlung S. 29, 485—487.
Vermögen, feindliches, im Landkriege S. 36 ff.; im Seekriege S. 40 ff.
Verſuche, bösartige, zur Schädigung des Feindes 640.
Vertilgungskrieg 535.
Vertrag, völkerrechtlicher, 12 n. 2.
Verträge, zur Abſchaffung der Negerſklaverei 351 n.; über wechſelſeitiges Unterſuchungsrecht d. Schiffe 352.
Verträge, völkerrechtliche S. 5, 402 ff.;
Fähigkeit zur Abſchließung von, 403;
Erforderniſſe zur Gültigkeit derſ. 404 —407, 416, 444;
Einfluß des Zwanges u. dgl. darauf 408, 409.
Rechtsgrund der Verbindlichkeit der Vertr. 410;
ungültige Verträge insbeſondere 411, 412, 474;
wirkungsloſe Vertr. 413, 414.
Losſagungsrecht von Vertr. 415.
Form der Vertr. 417 ff. — 424.
Verſtärkung der Vertr. 425 ff., 441.
Arten der Vertr. 442—445.
Vertragserneuerung, ſtillſchweigende, 451.
Vertragsrecht 3 n. 1, 12 n. 2, 494 n.
(0542 : 520)
Regiſter.
[Spaltenumbruch]
Vertragsverbindlichkeit, Aufhören der 450—461.
Vertragsververhältniſſe, zwiſchen den Staten, Einfluß des Krieges auf dieſe 538; des Friedensſchluſſes auf dieſe 718.
Vertreter des Völkerrechts 5.
Verwaltung und Rechtspflege während des Krieges 541, 545, 547.
Verweigerung der Ratifikation der Verträge 420.
Verwundete im Kriege 582, 586, 590, 591.
Verzicht 288, 482, 494 n.
Veto 113 n.
Vicekönige 161.
Victor I. Emanuel König 735 n.
Viſitationsrecht, der Kriegsſchiffe gegen verdächtige Sklavenſchiffe S. 20.
Völkergericht S. 7.
Völkerrecht: Begriff S. 1 und 2 § 1; Keime desſelben bei den wilden und barbariſchen Stämmen S. 10; chriſtliches S. 12; der Barbaren, Hellenen, Römer, Germanen S. 10 u. ff.; ſeine Befreiung von religiöſer Befangenheit S. 16 ff.; — Aufleben des modernen S. 15 ff.; Schranken desſelben S. 17 ff.; Ausdehnung S. 17; Aufgabe S. 17 ff.; Begründung, Natur und Grenzen des Völkerrechts 1—16; conventionelles u. nothwendiges 13 n. 2.
Völkerrecht: Verletzungen desſ. und Verfahren zur Herſtellung desſ. 462 ff.
Vortritt 89 ff.
W.
Waare, neutrale, auf feindlichem Schiffe iſt freies Gut S. 43.
Waffenruhe 687—689, 691—696.
Waffenſtillſtand 688—696.
Waffenvorräthe 57.
Washington S. 45, 756 n. 2; 763 n. 2.
Wechſel der Regierung, Einfluß auf die völkerrechtliche Perſönlichkeit 123; auf die Fortdauer der Creditive 230—232.
[Spaltenumbruch]
Wechſel, des Miniſters des Aeußern, Einfluß auf die Creditive 233.
Wegeführer 634—636.
Wegnahme d. Kriegscontrebande 806 n. 1, 808, 809, 813, 818.
Wegeweiſung, von Flüchtigen 398 n.
Wegweiſung, fremder Kriegsſchiffe 321 n.
„ e. Geſanten 210, 235, 637.
„ von Korreſpondenten 638.
Wegzug, freier, 392, 393.
Weltbürgerrecht S. 24, 23 n.
Weltcongreß 108, 111, 112.
Weltherrſchaft, Anſpruch der Päbſte darauf S. 13; der deutſchen Kaiſer S. 15, 412.
Weltordnung, Gefährdung der allgemeinen, 471, 472.
Weltſtat u. Weltgeſetzgebung 10 n., 22 n.
Weltſtröme, mehrſtatliche u. einſt. S. 29.
Weltverkehr 314 n.
Weltverkehrswege 307, 472.
Widerſtand, deſſen Erlöſchen 289.
Wienercongreß-Akte (v. 1815) S. 28 n., 103n., 312n., 314n., 315n.
„ -Protokoll 171 n., 172 n. 2, 175n., 176n., 177n., 178n.
Wildfangsrecht S. 24.
Wilhelm I. Kurfürſt 735 n.
Wilhelm III. v. England 117 n.
Wiſſenſchaft, Einfluß der auf das Völkerrecht S. 15.
Wohnort 367, 376.
Wohnung, Quartier, Wagen des Exterritorialen 150—152, 200, 201.
Wrack 335.
Würde, Mißachtung der e. States 453.
Z.
Zerſtörung von Privateigenthum im Kriege 662, 663.
Zurückhaltung der Geiſeln 426.
Zwangsabtretung, von Privateigenthum im Kriege 655.
Zwangsverkauf 811.
Zwiſchenregierung 44, 45, 731—735.