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Gedanken und Erinnerungen.
Von
Otto Fürſt von Bismarck.
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Gedanken und Erinnerungen.
Von
Otto Fürſt von Bismarck.
Zweiter Band.
[Abbildung]
Stuttgart 1898.
Verlag der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung
Nachfolger.
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Alle Rechte, insbeſondere das Ueberſetzungsrecht, vorbehalten.
Copyright 1898 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger.
Druck von C. Grumbach in Leipzig.
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Inhaltsverzeichniß.
Seite
Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein 1–31
I. Differenz mit Graf R. v. der Goltz über die Behandlung der ſchles¬
wig-holſteiniſchen Frage S. 1. Brief Bismarcks an Goltz 1. II. Mi¬
niſterrath über die in der däniſchen Frage einzunehmende Haltung 8.
Möglichkeiten der Löſung 8. Ungangbarkeit des von der öffentlichen
Meinung vorgeſchlagenen Weges 9. Einfluß des Liberalismus auf
die deutſchen Regierungen 10, auf König Wilhelm 11. Die Auguſten¬
burgiſche Geſinnung der öffentlichen Meinung 12. Das letzte Lebens¬
zeichen der Wochenblattspartei 13. III. Schwierigkeiten bei Abſchluß des
Gaſteiner Vertrags 15. Schreiben Bismarcks an den König 15. Pſycho¬
logiſcher Wandel in der Stimmung des Königs ſeit der Beſitznahme
von Lauenburg 17. Haltung der Fortſchrittspartei in Hinſicht auf
Kiel und die preußiſche Flotte 18. Aus Bismarcks Rede vom
1. Juni 1865 18. Vaterlandsloſigkeit politiſcher Parteien in Deutſch¬
land unter der Einwirkung des Parteihaſſes 21. Ein ächt deutſcher
Gedanke 21. Deutſcher Parteigeiſt in Politik und Religion 21.
Erhebung Bismarcks in den Grafenſtand 22. IV. Verhandlungen
mit Graf Platen über eine Verheirathung der Prinzeſſin Friederike von
Hannover mit Prinz Albrecht Sohn 23. Hannöverſche Rüſtungen 24.
Unterredung mit dem Kurprinzen Friedrich Wilhelm von Heſſen 24.
Ablehnung der Februarbedingungen durch den Erbprinzen von Auguſten¬
burg 25. Welfiſche Lügen 25. Ein Brief des Erbprinzen an Bis¬
marck 26. Briefe des Königs an Bismarck in Sachen des Auguſten¬
burgers 27. Denkſchrift des Kronprinzen vom 26. Februar 1864 28.
Unterredung mit dem Erbprinzen am 1. Juni 1864 28. Der Wiener
Friede 29. Die Februarbedingungen von 1865 29. V. Bedeutung
des Nord-Oſtſee-Kanals 29. Widerſpruch Moltkes gegen den Kanal¬
bau 29. Wichtigkeit der Kanalverbindung für die militäriſche Siche¬
rung der deutſchen Küſte 30. Welchen Werth würde eine Fortſetzung
des Kanals bis zur Weſermündung, ev. Jahde und Ems haben? 30.
Helgoland 31.
[VI/0014]
Inhaltsverzeichniß.
Seite
Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg 32–50
I. Mit dem Hauptquartier in Reichenberg S. 32. Verſtimmung der
Militärs gegen Bismarck wegen Einmiſchung in Angelegenheiten
ihres Reſſorts 32. Franzöſiſche Einmiſchung nach der Schlacht bei
Königgrätz 33. Dilatoriſche Antwort des Königs 33. Moltkes An¬
ſicht über einen eventuellen Krieg gegen Frankreich neben dem öſter¬
reichiſchen 33. Bismarck für Frieden mit Oeſterreich ohne territorialen
Gewinn an öſterreichiſchem Staatsbeſitz 34. Gefahren einer Verbindung
franzöſiſcher und ſüddeutſcher Truppen 34. Bismarck räth dem König
den Appell an die ungariſche Nationalität 35. II. Kriegsrath in
Czernahora 35. Bismarck ſchlägt anſtatt eines Angriffs auf die
Floridsdorfer Linien den Donauübergang bei Preßburg vor 36.
Widerſtrebender Gehorſam des großen Generalſtabs 37. Diplo¬
matiſche Erwägungen über das Maß der Oeſterreich aufzuerlegenden
Friedensbedingungen 37. Reſſortpolitik und Staatspolitik im Wider¬
ſtreit mit einander 38. III. Erſte Skizze der Friedensbedingungen 38.
Steigerung der Begehrlichkeit des Königs 38. Sein Wunſch nach
Rückerwerb der fränkiſchen Fürſtenthümer 39. Was ſprach gegen den
Erwerb bairiſcher und öſterreichiſcher Gebiete? 39. Karolyi verweigert
jede Landabtretung und fordert auch die Integrität Sachſens als
conditio sine qua non des Friedensſchluſſes 41. Waffenſtillſtand 41.
Gefecht bei Blumenau 42. IV. Verhandlungen mit Karolyi und
Benedetti über die Bedingungen des Präliminarfriedens 42. Schwierig¬
keit der Lage gegenüber den militäriſchen Einflüſſen 42. Verantwort¬
lichkeit Bismarcks für die Geſtaltung der Zukunft 42. Kriegsrath
vom 23. Juli 43. Weinkrampf 43. Denkſchrift an den König 43.
Vortrag beim Könige 44. Meinung des Königs 45. Seine Erregung
über Bismarcks Widerſpruch 46. Bismarcks Stimmung (Selbſtmord¬
gedanken) 47. Vermittlung des Kronprinzen 47. Marginal des
Königs 47. V. Die ſüddeutſchen Bevollmächtigten in Nikolsburg 48.
Herr v. Varnbüler 48. Die franzöſiſchen Beziehungen des Stutt¬
garter Hofes, getragen durch die Vorliebe der Königin von Holland
für Frankreich 48. Ihre anti-öſterreichiſche Geſinnung 49. Varnbülers
Abweiſung in Nikolsburg, ſeine Annahme in Berlin 49.
Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund 51–77
I. Innere Lage Preußens nach dem Kriege S. 51. Der franzöſiſche
Krieg eine Nothwendigkeit, wenn Preußen die Mainlinie überſchritt 51.
Rheinbundreminiſcenzen Napoleons III. 52. Sein Irrthum über
die nationale Geſinnung in Süddeutſchland 52. Gründe Bismarcks
für Hinausſchiebung des Krieges mit Frankreich 52. Die Beilegung
des Conflicts durch das Indemnitätsgeſuch 53. Unſicherheit eines
[VII/0015]
Inhaltsverzeichniß.
Bündniſſes mit Italien 53. Haltung der italieniſchen Politik während
des öſterreichiſchen Krieges 53. Wahrſcheinlichkeit eines Dreibundes
Frankreich-Oeſterreich-Italien 53. Beunruhigung Rußlands durch das
Wachsthum Preußens 54. Platoniſche Haltung der engliſchen Po¬
litik 55. II. Ergebniß der Erwägungen über die auswärtige Lage
für Bismarcks innere Politik 56. Bornirtheit der Fortſchrittspoli¬
tiker 57. III. Das allgemeine Wahlrecht als Mittel zum nationalen
Zweck 58. Anſicht Bismarcks vom Werthe des allgemeinen Wahl¬
rechts 58. Die Heimlichkeit der Wahl begünſtigt die Herrſchaft ehr¬
geiziger Führer über die Maſſen und läßt den Einfluß der Gebildeten
nicht zu ſeinem Rechte kommen 58. Ein Uebergewicht der Beſitzen¬
den über die Begehrlichen iſt für die Sicherheit des Staates nütz¬
lich 59. Ein Ueberwiegen des begehrlichen Elements führt leicht nach
dem Zuſammenſturze des alten Staates zur Dictatur, Gewaltherrſchaft
und Abſolutismus zurück 60. Nothwendigkeit der Kritik im monarchi¬
ſchen Staate 60. Die freie Preſſe und die Parlamente als Organe
der Kritik 61. Aufgabe einer conſervirenden Politik 61. IV. Reactio¬
näre Beſtrebungen innerhalb der conſervativen Fraction und ihre
Vertreter in Prag 62. Anträge auf eine Reviſion der Verfaſſung 62.
Als Epiſode: Vorſchlag eines preußiſch-ruſſiſchen Bündniſſes zur Lö¬
ſung des innern Conflicts und der deutſchen Frage im Jahre 1863 62.
Beurtheilung des ruſſiſchen Antrags durch Bismarck 63. Wahr¬
ſcheinliche Entwicklung der Dinge bei einem ſiegreichen Kriege Preußens
und Rußlands gegen Oeſterreich und Frankreich 65. Ablehnung des
ruſſiſchen Antrags durch den König 67. V. Zaudern des Königs im
Jahre 1866 gegenüber reactionären Vorſchlägen conſervativer Hei߬
ſporne 67. Welche Folgen hätte ein Entſchluß im Sinne der Reaction
gehabt? 67. Kritik der preußiſchen Verfaſſung 68. Abneigung des
Königs gegen das Indemnitätsgeſuch 69. Der König giebt den Er¬
wägungen Bismarcks nach 70. VI. Die Annexionen, wenn auch
nicht unbedingt geboten, ſo doch um des territorialen Zuſammenhangs
der preußiſchen Gebietstheile erwünſcht 70. Unvereinbarkeit eines
ſelbſtändigen Hannover mit der Durchführung deutſcher Einheit unter
preußiſcher Leitung 71. Zurückweiſung des Briefes Georgs V. 71.
Bismarck bringt den König von dem Gedanken einer Zerſtückelung
von Hannover und Kurheſſen ab 72. Abneigung des Königs gegen
Naſſau ein väterliches Erbtheil 72. Friedensverträge mit den ſüd¬
deutſchen Staaten 72. Herr v. Varnbüler ſchließt für Württemberg
Frieden und Bündniß mit Preußen 73. Roggenbachs Anträge auf
eine Vergrößerung Badens auf Koſten Baierns 73. Ablehnung
dieſer Anträge durch Bismarck 73. Ein verſtümmeltes Baiern wäre
ein Bundesgenoſſe Oeſterreichs und Frankreichs geweſen 74. VII. Die
Welfenlegion, ihre Bildung und Auflöſung 75. VIII. Bismarck in
[VIII/0016]
Inhaltsverzeichniß.
Seite
Urlaub 76. Verhandlungen mit Sachſen 77. Loyale Haltung der
Könige Johann und Albert von Sachſen 77. Concentrirender Druck
des Bundes mit Oeſterreich auf Baiern und Sachſen 77. Die parla¬
mentariſchen Exceſſe des deutſchen Elements in Oeſterreich gefährden
das Gewicht des deutſch-nationalen Elements 77.
Zweiundzwanzigſtes Kapitel: Die Emſer Depeſche 78–93
Das ſpaniſche Miniſterium entſcheidet ſich für die Thronbeſteigung des
Erbprinzen Leopold von Hohenzollern S. 78. Der Name „Hohen¬
zollern“ ein völkerrechtlich nicht haltbarer Vorwand zum Eingriffe
Frankreichs in die Freiheit der ſpaniſchen Königswahl 78. Eine
Differenz Preußens mit Frankreich hat Bismarck bei der Candidatur
des Hohenzollernſchen Prinzen nicht erwartet 78. Ein Geſpräch Bis¬
marcks über die dem Prinzen nach ſeiner Wahl zum Könige von
Spanien erwachſenden Pflichten gegenüber Frankreich 78. Auffaſſung
der ſpaniſchen Thronfrage durch Bismarck 79. Bismarck erwartete
von der Wahl des Hohenzollern mehr wirthſchaftliche als politiſche
Erfolge 79. Frankreich macht die ſpaniſche Angelegenheit durch Fäl¬
ſchung zu einer preußiſchen 81. Paſſivität Spaniens gegenüber der
franzöſiſchen Einmiſchung 81. Die Candidatur des Prinzen nur
eine Familienangelegenheit des Hohenzollernſchen Hauſes 82. Unter¬
ſchätzung des nationalen Sinnes in Deutſchland durch die franzöſiſchen
Politiker 82. Ultramontane Tendenzen in der franzöſiſchen Politik 83.
Preußens Bedrohung durch Frankreich aus Anlaß der ſpaniſchen
Königswahl eine internationale Unverſchämtheit 83. Verſchärfung
des beleidigenden Charakters der franzöſiſchen Zumuthung durch die
Haltung des Miniſteriums Gramont-Ollivier 83. La Prusse cane 84.
Bismarck verläßt Varzin 84. Eindruck der Nachrichten aus Ems 84.
Entſchluß Bismarcks, aus dem Dienſt zu ſcheiden, beſtärkt durch die
Mittheilung von der Entſagung des Erbprinzen 84. Aufgabe der
Reiſe nach Ems 85. Unterredung mit Roon 85. Die Verhandlungen
des Königs mit Benedetti waren incorrect vom conſtitutionellen Stand¬
punkt aus 86. Einwirkungen auf den König ſeitens der Königin im
Sinne des Friedens mit Frankreich 86. Roon und Moltke zu Tiſch
bei Bismarck (13. Juli 1870) 86. Eingang von Abekens Depeſche 87.
Erörterung mit Moltke über die deutſche Kriegsbereitſchaft 88. Die
Annahme der franzöſiſchen Provocation eine Forderung des natio¬
nalen Gefühls, auch den ſüddeutſchen Staaten gegenüber 88. Re¬
daction der „Emſer Depeſche“ 90. Grund ihrer Wirkſamkeit 91.
Eindruck der gekürzten Redaction auf Moltke und Roon 91. Zur
Charakteriſtik Moltkes 92. Seine Kampfluſt mitunter unbequem 92.
Darf der Staatsmann einen wahrſcheinlichen Krieg provociren? 92.
[IX/0017]
Inhaltsverzeichniß.
Seite
Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles 94–122
I. Verſtimmung der „Halbgötter“ gegen Bismarck S. 94. Bismarck
wird Ohrenzeuge eines Geſprächs des Generals v. Podbielski mit
Roon über die zur Fernhaltung Bismarcks von den militäriſchen Be¬
rathungen getroffenen Vorkehrungen 94. Nachtheil dieſer Reſſort¬
rivalität für die Geſchäftsführung 95. Aufgaben der Heeresleitung
und der Diplomatie im Kriege. Nothwendigkeit ihres Zuſammen¬
wirkens 96. Militäriſcher Boycott Bismarcks in Verſailles 96. II. Situa¬
tion vor Paris 98. Humanitäre Einwirkungen fürſtlicher Frauen
zu Gunſten der Pariſer 98. Beſorgniß Bismarcks vor einer Ein¬
miſchung der Neutralen 99. Graf Beuſts Bemühungen, eine collec¬
tive Mediation der Neutralen zu Stande zu bringen 100. Welche
Mahnung Bismarck daraus entnahm 102. Freundſchaft des Königs
von Italien für Napoleon und Frankreich, antifranzöſiſche Geſinnung
der republikaniſchen Italiener 103. Stimmung in Rußland 104.
Gortſchakows Uebelwollen gegen Bismarck und Preußen 105. Seine
Eitelkeit 105. Gortſchakow auf dem Berliner Congreß 106. Graf
Kutuſoff und Großherzog Alexander als Vermittler am ruſſiſchen
Hofe 108. Stagnation der Belagerung 109. Bismarcks Sorge vor
ſchließlichem Mißerfolge 110. III. Bedrohte Stellung der Deutſchen
vor Paris 111. Mangel an ſchwerem Belagerungsgeſchütz und an
Transportmaterial 112. Bedenken wegen der Koſten 112. Weibliche
(engliſche) Einwirkungen im Hauptquartier im Geiſte der „Humani¬
tät“ 114. IV. Die Annahme des Kaiſertitels durch den König bei
Erweiterung des Norddeutſchen Bundes ein politiſches Bedürfniß 115.
Widerſtreben König Wilhelms I. und deſſen Urſache 115. Anfäng¬
liche Abneigung des Kronprinzen gegen den Kaiſertitel 116. Poli¬
tiſche Phantaſien des Kronprinzen 116. Das Tagebuch des Kron¬
prinzen und ſeine Veröffentlichung durch Geffcken 117. Graf Holn¬
ſtein als Ueberbringer eines Schreibens Bismarcks an den König
von Baiern 117. Schreiben des Königs von Baiern an König Wil¬
helm 118. Schwierigkeiten der Formulirung des Kaiſeritels, Kaiſer
von Deutſchland oder deutſcher Kaiſer? 119. Bismarck in Ungnade
am Tage der Kaiſerproclamation 122.
Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf 123–141
I. Graf Ledochowſki und Cardinal Bonnechoſe in Verſailles S. 123.
Der Papſt lehnt eine Einwirkung auf die franzöſiſche Geiſtlichkeit im
Sinne des Friedens ab 123. Streitende Richtungen in Italien 124.
Wirkung einer Parteinahme der preußiſchen Regierung für den
Papſt 124. Verhandlungen Bismarcks mit Biſchof v. Ketteler wegen
Aufnahme der preußiſchen Verfaſſungsartikel über die Stellung der
Kirche im Staate in die Reichsverfaſſung 125. Neubildung der katho¬
[X/0018]
Inhaltsverzeichniß.
Seite
liſchen Fraction (Centrum) 126. Stärke des Centrums gegenüber
dem Papſte 126. II. Polniſche Seite des Culturkampfs 127. Fort¬
ſchritt der polniſchen Nationalität unter der Wirkſamkeit der „katholiſchen
Abtheilung“ im Cultusminiſterium 127. Die katholiſche Abtheilung
ein Organ des Radziwillſchen Hauſes 128. Bismarck ſucht den König
für Erſetzung der katholiſchen Abtheilung durch einen päpſtlichen
Nuntius zu gewinnen 128. Aufhebung der katholiſchen Abtheilung 129.
III. Antheil Bismarcks an den Maigeſetzen 130. Juriſtiſche Mi߬
griffe der Falkſchen Geſetzgebung 130. Urſachen von Falks Rück¬
tritt 131. IV. Entbehrliches und Unentbehrliches an den Maigeſetzen 132.
v. Puttkamer als Falks Nachfolger 133. Die Beilegung des Cultur¬
kampfs wird erſchwert durch den Zorn der kampfgewöhnten Miniſterial¬
räthe 133. Widerſtand des Kaiſers gegen den Frieden mit Rom 133.
Der Abfall der freiſinnigen Partei, ihr Uebergang in die Bundes¬
genoſſenſchaft des Centrums macht den Culturkampf ausſichtslos 134.
Definitive Ergebniſſe für den Staat 135. Proviſoriſcher Charakter des
Friedens zwiſchen Staat und Kirche 135. V. Beſuch des Königs
Victor Emanuel in Berlin 137. Die Doſe mit Brillanten 137. Portrait
und Alabaſtervaſe 138. VI. M. v. Blanckenburg 139. Bismarck und
die Civilehe 140.
Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen 142-161
I. Debatten über den hannöverſchen Provinzialfonds S. 142. Ablehnende
Haltung der conſervativen Partei im Abgeordneten- und im Herren¬
haus 142. Mittel zum Stimmenfang 143. Die Conſervativen fordern
Bismarcks Eintritt in die Fraction 144. Roons Briefe vom 19. und
25. Februar 1868 über die Nothwendigkeit einer Reorganiſation der
conſervativen Partei 144. II. Die Gegner Bismarcks in der conſer¬
vativen Partei und die Motive ihrer Gegnerſchaft 147. Der Neid
der Standesgenoſſen über die Verleihung des Fürſtentitels 148. Wie
Bismarck ſelbſt über den Fürſtentitel dachte 148. Oppoſition der
Conſervativen gegen das Schulaufſichtsgeſetz 149. Auszüge aus Bis¬
marcks Reden 149. Bruch der conſervativen Partei mit Bismarck 150.
Politiſche Folgen des Bruchs 150. Gleichgültigkeit der Frage nach
der Partei, wenn es ſich um dauernde Sicherung des Errungenen
gegenüber dem Auslande handelt 151. III. Geſteigerte Animoſität
der Conſervativen wegen der Annäherung Bismarcks an die National¬
liberalen 151. Junkerverſammlungen bei Roon 152. Graf H. Arnim 152.
Herr v. Caprivi 152. Bismarcks angebliche Feindſchaft gegen die
Armee, widerlegt durch die Thatſachen 152. IV. Die Kreuzzeitung
ſagt Bismarck Fehde an 153. Ein Verleumdungsfeldzug 153. Richter¬
liche Entſcheidung unter der Einwirkung des Parteigeiſtes 153.
V. Rohheit im Parteikampfe wie im Streit über religiöſe Fragen 154.
[XI/0019]
Inhaltsverzeichniß.
Seite
Die Verleumdungen der Kreuzzeitung, die Declaranten als ihre Eides¬
helfer 156. Einwirkung des Bruchs mit alten Freunden auf Bis¬
marcks Nerven 156. Verantwortlichkeitsgefühl eines ehrliebenden
Miniſters 157. VI. Theilnahmloſigkeit der Nationalliberalen im Streite
Bismarcks mit den Conſervativen 158. Fractionsbeſchränktheit 159.
Die parlamentariſchen Condottieri und ihre Herrſchaft über die Frac¬
tionsgenoſſen 160. Größere Trägheit der Conſervativen, Arbeitſam¬
keit der das Beſtehende angreifenden Parteien 160. Die „Reichsglocke“
am Hofe 161.
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen 162–205
I. Graf Harry Arnim S. 162. Seine Jugend 162. Ernennung zum
Botſchafter in Paris 163. Sein Eintreten zu Gunſten der Legi¬
timität 163. Sein Verſuch, Bismarck zu ſtürzen, ſcheitert 164. Pre߬
angriffe der „Spenerſchen Zeitung“ auf Bismarck 165. Des Grafen
Arnim Vorſchläge zur Bekämpfung des „unfehlbar“ gewordenen
Papſtes 165. Zweck und Motive des Gerichtsverfahrens gegen Ar¬
nim 166. 167. Auffaſſung der diplomatiſchen Kreiſe 167. Beziehungen
der „Reichsglocke“ zu Graf H. Arnim 168. II. Hoffnungen der römi¬
ſchen Curie auf einen Sieg Frankreichs 168. Zuſammenhang der Partei¬
nahme der Kaiſerin Eugenie für die kriegeriſche Strömung der fran¬
zöſiſchen Politik mit ihrer Hingebung für den Papſt 169. Die Reſtau¬
ration des Königthums in Frankreich eine Gefahr für den Frieden 169.
Arnim und Gontaut Biron als Verbündete gegen Bismarck 170.
Bewunderung für katholiſches Weſen in evangeliſchen Kreiſen und
am Hofe 170. „Proteſtantiſch iſt ja jeder dumme Junge“ 171. Vor¬
liebe der Kaiſerin Auguſta für den Katholicismus 172. Ein ge¬
heimer franzöſiſcher Polizeiagent (Gérard) als Privatſekretär der
Kaiſerin 172. Die Komödie Gontaut-Gortſchakow im Jahre 1875 172.
Gortſchakows Eitelkeit und ſein Neid auf den ehemaligen „Schüler“ 173.
Gortſchakow als angeblicher Friedensengel und Protector Frank¬
reichs 174. Kaiſer Alexander II. durchſchaut Gortſchakow 175. Ab¬
neigung Bismarcks gegen einen provocirten Krieg 175. Friedlicher
Charakter der deutſchen Reichsgründung 176. Gortſchakows Einfluß
auf die Correſpondenz des Zaren Alexander II. 176. Schreiben
Bismarcks an den Kaiſer vom 13. Auguſt 1875 177. III. Die
Verwaltungsreform des Grafen Friedrich zu Eulenburg 179. Bureau¬
kratiſirung des Landrathspoſtens 179. Der Landrath ſonſt und
jetzt 179. Verhandlungen mit Rudolf v. Bennigſen über ſeinen Ein¬
tritt in's Miniſterium 180. Ueberſpannung der nationalliberalen
Forderungen auf Mitbeſitz des Regiments 181. Abbruch der Ver¬
handlungen mit Bennigſen 183. Graf Eulenburg als Zwiſchen¬
träger 183. Zorn des Kaiſers über Bismarcks „Eigenmächtigkeit“ 183.
[XII/0020]
Inhaltsverzeichniß.
Seite
v. Bennigſen lehnt definitiv ab 184. Ungeſchicktheit der national¬
liberalen Führer 184. „Nr. 109, Regiment Stauffenberg“ 185. Ur¬
ſachen der Abneigung des Kaiſers gegen Bennigſen 185. Die Ver¬
bündeten der Nationalliberalen im Miniſterium 186. Die Conſeil¬
ſitzung vom 5. Juni 1878 186. Urſprung der Redensart: „an die
Wand drücken, bis ſie quietſchen“ 187. Verbindungen der National¬
liberalen am Hofe, General v. Stoſch ihr Bundesgenoſſe 188. IV. Graf
Botho zu Eulenburg 188. Die Differenz Tiedemann-Eulenburg-Bis¬
marck 189. Schreiben Bismarcks an Tiedemann 189. Schreiben
des Grafen Eulenburg an Bismarck 191. Antwort Bismarcks 192.
Ein Kaiſerlicher Traum 193. Briefwechſel des Kaiſers mit Bis¬
marck 193. Ueble Folgen der Differenz Bismarck-Eulenburg für
Bismarcks Geſundheit 195. Ausbruch der Neſſelſucht 195. Das
Aufreibende in der Stellung eines leitenden Miniſters 195. Rück¬
gang der Kräfte Bismarcks im Anfang der ſiebziger Jahre 195.
Uebergabe des Präſidiums im preußiſchen Miniſterium an Roon 195.
Entmuthigung Bismarcks durch die Intrigen des Reichsglocken¬
ringes 196. Mangel an Aufrichtigkeit bei den amtlichen Mit¬
arbeitern 196. Syſtematiſche Abdrängung Bismarcks von den Ge¬
ſchäften der politiſchen Leitung 196. Gedanken an ein Miniſterium
Gladſtone 197. Ihre Unausführbarkeit bei der Geſinnung des Königs
und des Kronprinzen 197. Bruch mit Delbrück 198. Geſundheits¬
bankerott (Schweninger) 198. V. Unterſtaatsſekretär v. Gruner 198.
Seine Berufung in das Hausminiſterium und Ernennung zum Wirk¬
lichen Geheimen Rathe ohne Gegenzeichnung eines verantwortlichen
Miniſters 199. Schreiben Bismarcks an Geh. Rath Tiedemann 199.
Schreiben Bismarcks an Miniſter v. Bülow 203. Die Veröffent¬
lichung der Ernennung Gruners im Staatsanzeiger unterbleibt 205.
Siebenundzwanzigſtes Kapitel: Die Reſſorts 206–210
Bismarcks Zurückhaltung gegenüber den Reſſorts S. 206. Sein Ein¬
ſpruch nur zur Wahrnehmung eines großen öffentlichen Intereſſes
gegenüber Sonderintereſſen und zur Verhütung übertriebener Re¬
glementirerei 206. Warum trotz ſeiner Zurückhaltung Bismarcks
Ausſcheiden als eine Erleichterung empfunden wurde 207. Wider¬
ſtand des Cultusminiſteriums gegen geſetzliche Normirung des Bei¬
trags jeder einzelnen Gemeinde zur Schule 207. Widerſtand der
Räthe des Finanzminiſteriums gegen die von Bismarck geforderten
Grundlagen einer Steuerreform 207. Widerſtand im landwirthſchaft¬
lichen Miniſterium gegen Viehſperre zur Fernhaltung von Seuchen 208.
Gute Beziehungen Bismarcks zum Reichsſchatzamte 209. Unterord¬
nung des Reichsſchatzamtes unter den preußiſchen Finanzminiſter 209.
Beziehungen Bismarcks zum Reichspoſtamt 209. Herr v. Stephan 209.
[XIII/0021]
Inhaltsverzeichniß.
Seite
Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß 211–228
I. Anfrage des Generals v. Werder im Auftrage Alexanders II. über
die Haltung Deutſchlands im Falle eines ruſſiſch-öſterreichiſchen
Krieges S. 211. Ungewöhnlichkeit der gewählten Form 211. Stellung
des preußiſchen Militärbevollmächtigten am ruſſiſchen Hofe 212. Sein
directer Verkehr mit dem Kaiſer ohne Vermittlung des auswärtigen
Amtes 212. Was Gortſchakow mit jener Anfrage bezweckte 213.
Dilatoriſche Rückäußerung Bismarcks 213. Sein Antrag auf Ab¬
berufung Werders wird vom Kaiſer Wilhelm abgelehnt. Erneuerung
der Anfrage durch die ruſſiſche Botſchaft 214. Antwort Bismarcks 214.
Ihre Wirkung 214. Annäherung Rußlands an Oeſterreich 214. Ab¬
ſchluß der Convention von Reichſtadt 215. II. Zweck des Balkanfeld¬
zugs 215. Herſtellung eines von Rußland abhängigen Bulgarien 215.
Mißerfolg dieſer Berechnung 215. Eine unehrliche Fiction 215. Der
ruſſiſche Antrag auf Berufung einer Conferenz 215. Gortſchakows
Theilnahme an der Berliner Conferenz wider den Wunſch des
Zaren 216. Schuwalow und Gortſchakow als Gegner 216. Ver¬
logenheit der ruſſiſchen und der engliſchen Politik 216. Leichtigkeit
der Täuſchung von Preſſe und Parlament 216. Ruſſiſche Nörgelei
über die Haltung Deutſchlands bei Ausführung des Berliner Ver¬
trags 217. Berechnete Unehrlichkeit der Haltung Gortſchakows 218.
Der Vorwurf „platoniſcher“ Liebe Deutſchlands zu Rußland 218.
Rußland verlangt von den deutſchen Commiſſaren generelle Zuſtim¬
mung zu allen ruſſiſchen Wünſchen 218. Kriegsdrohung des Zaren
in einem Briefe an Kaiſer Wilhelm 219. Beweiſe für die Mit¬
wirkung Gortſchakows am Schreiben des Zaren 219. Kaiſer Wilhelms
Reiſe nach Alexandrowo von Bismarck nicht gebilligt 220. III. Graf
Peter Schuwalow ſchlägt ein deutſch-ruſſiſches Schutz- und Trutz-
Bündniß vor 220. Brief Bismarcks an Schuwalow 220. Schuwalows
Antwort 222. Perſönlicher Charakter jedes Bundes mit Rußland 224.
Mögliche Verſtimmungen des Zaren durch übelwollende Berichte der
Vertreter Rußlands am Berliner Hofe 225. Pikante Berichte diplo¬
matiſcher Vertreter nützen nicht der Geſammtpolitik 226. Bismarck
lehnt eine „Option“ zwiſchen Rußland und Oeſterreich ab 227.
Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund 229–250
I. Tendenz des Bundes der drei Kaiſer: Aufrechterhaltung der Mon¬
archie S. 229. Zuſammenkunft der drei Kaiſer in Berlin 1872 230.
Trübung der daran geknüpften Hoffnungen durch Fürſt Gortſchakow
1875 230. Bismarck als Gegner von Präventivkriegen 230. Wahr¬
ſcheinliche Wirkung eines Angriffes Deutſchlands auf Frankreich im
Jahre 1875 231. Deutſchfeindlicher Charakter der Gortſchakowſchen
[XIV/0022]
Inhaltsverzeichniß.
Politik 232. II. Le cauchemar des coalitions 233. Die Möglich¬
keit und Gefahr der Coalition von Frankreich, Oeſterreich und Ru߬
land 233. Unberechenbarkeit der engliſchen Haltung 233. Deutſchland
vor der Alternative eines Bundes mit Rußland oder Oeſterreich 234.
Bedenken einer Verbindung mit Oeſterreich 234. III. Der Brief des
Zaren Alexander II. zwingt zur Entſcheidung 236. Popularität eines
deutſch-öſterreichiſchen Bündniſſes in Deutſchland 236. Das Bündniß
mit Oeſterreich im Lichte der völkerrechtlichen Traditionen 237. IV. Be¬
gegnung Bismarcks mit Graf Andraſſy in Gaſtein und vorläufige Ver¬
ſtändigung über Abſchluß eines Defenſivbundes gegen einen ruſſiſchen
Angriff 237. Brief Bismarcks an den König von Baiern 238. Ant¬
wort des Königs von Baiern und Bismarcks Replik 243. V. Empfang
Bismarcks auf der Reiſe von Gaſtein nach Wien 244. Popularität
des Bündniſſes bei den Deutſchen Oeſterreichs 245. Abneigung des
Kaiſers Wilhelm gegen einen Bund mit Oeſterreich 246. Unſicherheit
eines Bundes mit Rußland 246. Wirkſamkeit von Verträgen ſonſt
und jetzt 247. Bismarck bewegt den Kaiſer durch Stellung der
Cabinetsfrage zur Genehmigung des Bündniſſes 247. Ritterlichkeit
des Kaiſers Wilhelm dem ruſſiſchen Kaiſer gegenüber 248. VI. Motive
für Bismarcks Gedanken an eine Aufnahme des deutſch-öſterreichiſchen
Bündniſſes in die Geſetzgebung beider Länder 248. Bedingte Halt¬
barkeit aller Verträge zwiſchen Großſtaaten 249. Deutſchland muß ſich
bei aller Freundſchaft für Oeſterreich doch den Weg nach Petersburg frei¬
halten 250. Vermittlerrolle Deutſchlands zwiſchen den concurrirenden
Beſtrebungen Oeſterreichs und Rußlands 251. VII. Das deutſch-öſter¬
reichiſche Bündniß läßt Deutſchland ohne Deckung gegen Frankreich 251.
Mangel an Streitpunkten zwiſchen Deutſchland und Rußland 251.
Fälſchung der öffentlichen Meinung in Rußland 252. Gute Be¬
ziehungen Deutſchlands zu Rußland geben dem Bunde mit Oeſterreich
eine größere Bürgſchaft 252. Eine Entfremdung zwiſchen Deutſch¬
land und Rußland ſteigert Oeſterreichs Anforderungen an den Bundes¬
genoſſen 252. Inoffenſiver Charakter des deutſch-öſterreichiſchen Ver¬
trags 253. Unſicherheit der zukünftigen Entwicklung Oeſterreichs 253.
Möglichkeit einer Annäherung Oeſterreichs an Frankreich bei Herſtel¬
lung der franzöſiſchen Monarchie 254. Aufgabe einer vorausſehenden
Politik Deutſchlands dem öſterreichiſchen Verbündeten gegenüber 256.
Perſönliche Verſtimmung darf unſre Politik gegenüber Rußland
nicht beſtimmen 257. Nationale Intereſſen allein müſſen den
Ausſchlag geben 257. VIII. Vertrauen Alexanders III. zu Bis¬
marcks friedlicher Politik 257. Sein Zweifel an der Fortdauer
der Kanzlerſchaft Bismarcks im Jahre 1889 258. Die clausula
rebus sic stantibus bei Staatsverträgen 258. Toujours en
vedette! 259.
[XV/0023]
Inhaltsverzeichniß.
Seite
Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands 260–270
Urſachen für Rußlands gegenwärtige Zurückhaltung S. 260. Mangel
eines Kriegsgrundes für Rußland Deutſchland gegenüber 260. Wahr¬
ſcheinlicher Zweck der Truppenaufſtellung im Weſten 261. Rußlands
Streben nach einem ruſſiſchen Verſchluß des Bosporus unter Garantie
des europäiſchen Beſitzſtandes der Türkei 261. Wahrſcheinlichkeiten
für den Erfolg dieſes Strebens 262. Deutſchlands Intereſſe an einer
Feſtſetzung der Ruſſen in Konſtantinopel 263. Aufgabe der öſterreichi¬
ſchen Politik in ſolchem Falle 263. Welche Folgen würde eine Partei¬
nahme Deutſchlands für Oeſterreich haben im Falle eines ruſſiſchen
Vorſtoßes nach dem Bosporus? 264. Die Aufgabe der deutſchen Politik
darf nicht ſein, durch wirthſchaftliche Trinkgelder die Begehrlichkeit
befreundeter Mächte zu ſteigern 265. Für Deutſchland iſt in allen
Fragen, die kein unmittelbares Intereſſe der Nation betreffen, Zurück¬
haltung geboten 265. Deutſchlands Vortheil: ſeine Freiheit von directen
orientaliſchen Intereſſen, ſein Nachtheil: die centrale Lage 266. Die
Wahrung des Friedens bleibt Deutſchlands wichtigſtes Intereſſe 266.
Bismarcks Ideal nach Herſtellung der deutſchen Einheit 267. Fiasco
der ruſſiſchen „Befreiungspolitik“ auf der Balkanhalbinſel 268. Un¬
dankbarkeit „befreiter“ Völker 268. Nächſter Zielpunkt der ruſſiſchen
Politik: ruſſiſcher Verſchluß des Schwarzen Meeres 270.
Einunddreißigſtes Kapitel: Der Staatsrat 271–275
Zweck der Reactivirung des Staatsraths im Jahre 1852 S. 271. Un¬
vollkommenheit der durch das Staatsminiſterium vorbereiteten Geſetz¬
entwürfe 271. Particularismus der Reſſortminiſter 272. Gegenſeitige
Schonung der Reſſortminiſter in den Sitzungen des Staatsmini¬
ſteriums 272. Die parlamentariſchen Berathungen kein unbedingter
Schutz gegen ungeſchickte Geſetzentwürfe des Miniſteriums 273. Arbeits¬
trägheit der meiſten Parlamentarier und Parteiverblendung der Frac¬
tionsführer 273. Ein Denkmal der Flüchtigkeit der Reichstagsverhand¬
lungen 273. Staatsrath und Volkswirthſchaftsrath als Corrective 274.
Eiferſucht der zünftigen Räthe und Parlamentarier gegen unzünftiges
Mitreden andrer 274. Günſtiger Eindruck der Staatsrathsſitzungen 274.
Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I. 276–303
I. Günſtige Einwirkung des Nobilingſchen Attentats auf das Wohl¬
befinden des Kaiſers S. 276. Letzte Krankheit und Tod des Kaiſers 276.
II. Militäriſche Vorbildung des Prinzen Wilhelm von Preußen 277.
Seine Stellung zum General v. Gerlach 278. Was iſt ein Pietiſt? 278.
Unbekanntſchaft des Prinzen mit den ſtaatlichen Einrichtungen, ſpeciell
[XVI/0024]
Inhaltsverzeichniß.
Seite
der Stellung des Gutsherrn zu den Bauern 279. III. Fleiß und Ge¬
wiſſenhaftigkeit des „Regenten“ in Erledigung der Staatsgeſchäfte 280.
Sein Menſchenverſtand 281. Zähes Feſthalten an den Traditionen 281.
Particularismus Wilhelms I. 281. Seine Furchtloſigkeit auf dem
Wege der Pflicht und der Ehre 282. Urſache des Bruchs mit den
Miniſtern der neuen Aera 282. IV. Grundſätzliche Oppoſition der
Prinzeſſin und Königin Auguſta gegen die Regierungspolitik 283.
Herr v. Schleinitz als Gegenminiſter der Königin 283. Amtliche Bericht¬
erſtattung des Hausminiſteriums in politicis 283. Seine Verbindung
mit einem Agenten Drouyns de L'Huys und der „Reichsglocken"-
Partei 284. „Unſer allergnädigſter Reichskanzler iſt heut ſehr un¬
gnädig“ 285. Der Kaiſer unter dem Einfluß der Kaiſerin 285. Die
Kaiſerin Auguſta als Kryſtalliſationspunkt aller Oppoſition 286.
Wilhelm I. unter dem Conflict ſeines Königlichen Pflichtgefühls mit
dem häuslichen Frieden 286. V. Die „Königliche Vornehmheit“ Wil¬
helms I. 287. Seine Freiheit von jeder Eitelkeit 287. Seine Furcht
vor berechtigter Kritik 288. Sein Gerechtigkeitsgefühl gegen Freunde
wie Gegner 288. Wilhelm I. ein gentleman in's Königliche überſetzt 288.
Heftigkeitsausbrüche während der Diſcuſſion 289. Perſönliches Ver¬
hältniß Bismarcks zu Wilhelm I. 289. VI. Wilhelms I. Anſprachen und
Proclamationen, die Wärme ihres Tons ein Ergebniß ſeiner Liebens¬
würdigkeit 290. Treue um Treue 291. König und Miniſter, Herr
und Diener 291. Die Feier vom 1. April 1885 292. Bismarcks Roya¬
lismus 292. VII. Briefe Wilhelms I. an Bismarck 293. Letzter Brief
der Kaiſerin Auguſta an Bismarck 302.
Dreiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Friedrich III. 304–311
Beziehungen Bismarcks zu dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm S. 304,
zur Kronprinzeſſin 305. Die angebliche Verzichtleiſtung des Kron¬
prinzen im Jahre 1887 zu Gunſten ſeines Sohnes 305. Bismarcks
Eingriff in die ärztliche Behandlung des Dulders 306. Eine ſtaats¬
rechtliche Erörterung über das Recht des Kaiſers und des Königs von
Preußen in Concurrenz mit dem Rechte der parlamentariſchen Corpora¬
tionen 306. Inwieweit iſt der Reichskanzler verantwortlich für das
geſammte Verhalten der Reichsregierung? 307. Der Reichskanzler hat
nur als Mitglied des Bundesraths das Recht, im Reichstag zu er¬
ſcheinen 307. Erwägungen über die Nothwendigkeit einer anderweitigen
Vertheilung des Schwergewichts 308. Ueberſchätzung des Patriotismus
des Reichstags, Unterſchätzung der Treue der Dynaſtien 309. Schädigung
unſrer Zukunft durch den Fractionsgeiſt und die Unfähigkeit der Frac¬
tionsführer 309. Reichsfeindlicher Charakter der Centrumspartei 310.
Ein Brief Kaiſer Friedrichs III. an Bismarck 311.
[[1]/0025]
Neunzehntes Kapitel.
Schleswig-Holſtein.
I.
Zu meinem Nachfolger in Paris war Graf Robert von der
Goltz ernannt worden, der ſeit 1855 Geſandter in Athen,
Conſtantinopel und Petersburg geweſen war. Meine Er¬
wartung, daß das Amt ihn diſciplinirt, der Uebergang von der
ſchriftſtelleriſchen zu einer geſchäftlichen Thätigkeit ihn praktiſcher,
nüchterner gemacht und die Berufung auf den derzeit wichtigſten
Poſten der preußiſchen Diplomatie ſeinen Ehrgeiz befriedigt haben
würde, ſollte ſich nicht ſogleich und nicht völlig erfüllen. Am Ende
des Jahres 1863 ſah ich mich zu einer ſchriftlichen Erörterung mit
ihm genöthigt, die leider nicht vollſtändig in meinem Beſitz iſt;
von ſeinem Briefe vom 22. December, welcher den unmittelbaren
Anlaß dazu gab, iſt nur ein Bruchſtück vorhanden 1), und in der
Abſchrift meiner Antwort fehlt der Eingang. Aber auch ſo hat
dieſe ihren Werth als Schilderung der damaligen Situation und
als Beleuchtung der daraus hervorgegangenen Entwicklung.
„Berlin, den 24. December 1863.
... Was die däniſche Sache betrifft, ſo iſt es nicht möglich,
daß der König zwei auswärtige Miniſter habe, d. h. daß der
1) S. Bismarck-Jahrbuch V 231 f.
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 1
[2/0026]
Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.
wichtigſte Poſten in der entſcheidenden Tagesfrage eine der mini¬
ſteriellen Politik entgegengeſetzte immediat bei dem Könige vertrete.
Die ſchon übermäßige Friction unſrer Staatsmaſchine kann nicht
noch geſteigert werden. Ich vertrage jeden mir gegenüber geübten
Widerſpruch, ſobald er aus ſo competenter Quelle wie die Ihrige
hervorgeht; die Berathung des Königs aber in dieſer Sache kann
ich amtlich mit niemandem theilen und ich müßte, wenn Seine
Majeſtät mir dies zumuthen ſollte, aus meiner Stellung ſcheiden.
Ich habe dies dem Könige bei Vorleſung eines Ihrer jüngſten Be¬
richte geſagt; Seine Majeſtät fand meine Auffaſſung natürlich, und
ich kann nicht anders als an ihr feſthalten. Berichte, welche nur
die miniſteriellen Anſchauungen wiederſpiegeln, erwartet niemand;
die Ihrigen ſind aber nicht mehr Berichte im üblichen Sinne,
ſondern nehmen die Natur miniſterieller Vorträge an, die dem
Könige die entgegengeſetzte Politik von der empfehlen, welche er
mit dem geſammten Miniſterium im Conſeil ſelbſt beſchloſſen und
ſeit vier Wochen befolgt hat. Eine, ich darf wohl ſagen ſcharfe,
wenn nicht feindſelige Kritik dieſes Entſchluſſes iſt aber ein andres
Miniſterprogramm und nicht mehr ein geſandſchaftlicher Bericht.
Schaden kann ſolche kreuzende Auffaſſung allerdings, ohne zu
nützen; denn ſie kann Zögerungen und Unentſchiedenheiten her¬
vorrufen, und jede Politik halte ich für eine beſſere als eine
ſchwankende.
Ich gebe Ihnen die Betrachtung vollſtändig zurück, daß eine
‚an ſich höchſt einfache Frage preußiſcher Politik‘ durch den Staub,
den die däniſche Sache aufrührt, durch die Nebelbilder, welche ſich
an dieſelbe knüpfen, verdunkelt wird. Die Frage iſt, ob wir eine
Großmacht ſind oder ein deutſcher Bundesſtaat, und ob wir, der
erſtern Eigenſchaft entſprechend, monarchiſch oder wie es in der
zweiten Eigenſchaft allerdings zuläſſig iſt, durch Profeſſoren, Kreis¬
richter und kleinſtädtiſche Schwätzer zu regiren ſind. Die Jagd
hinter dem Phantom der Popularität ‚in Deutſchland‘, die wir
ſeit den vierziger Jahren betrieben, hat uns unſre Stellung in
[3/0027]
Differenz mit Goltz über Behandlung der Herzogthümerfrage.
Deutſchland und in Europa gekoſtet, und wir werden ſie dadurch
nicht wieder gewinnen, daß wir uns vom Strome treiben laſſen
in der Meinung, ihn zu lenken, ſondern nur dadurch, daß wir feſt
auf eignen Füßen ſtehn und zuerſt Großmacht, dann Bundes¬
ſtaat ſind. Das hat Oeſtreich zu unſerm Schaden ſtets als richtig
für ſich anerkannt, und es wird ſich von der Komödie, die es mit
deutſchen Sympathien ſpielt, nicht aus ſeinen europäiſchen Allianzen,
wenn es überhaupt ſolche hat, herausreißen laſſen. Gehn wir ihm
zu weit, ſo wird es ſcheinbar noch eine Weile mitgehn, namentlich
mitſchreiben, aber die 20 Procent Deutſche, die es in ſeiner Be¬
völkerung hat, ſind kein in letzter Inſtanz zwingendes Element,
ſich von uns wider eignes Intereſſe fortreißen zu laſſen. Es wird
im geeigneten Momente hinter uns zurückbleiben und ſeine Richtung
in die europäiſche Stellung zu finden wiſſen, ſobald wir dieſelbe
aufgeben. Die Schmerlingſche Politik, deren Seitenſtück Ihnen
als Ideal für Preußen vorſchwebt, hat ihr Fiasco gemacht. Unſre
von Ihnen im Frühjahr ſehr lebhaft bekämpfte Politik hat ſich in
der polniſchen Sache bewährt, die Schmerlingſche bittre Früchte
für Oeſtreich getragen. Iſt es denn nicht der vollſtändigſte Sieg,
den wir erringen konnten, daß Oeſtreich zwei Monate nach dem
Reformverſuch froh iſt, wenn von demſelben nicht mehr geſprochen
wird, und mit uns identiſche Noten an ſeine frühern Freunde
ſchreibt, mit uns ſeinem Schooßkinde, der Bundestags-Majorität,
drohend erklärt, es werde ſich nicht majoriſiren laſſen? Wir haben
dieſen Sommer erreicht, wonach wir 12 Jahre lang vergebens
ſtrebten, die Sprengung der Bregenzer Coalition, Oeſtreich hat
unſer Programm adoptirt, was es im October v. J. öffentlich ver¬
höhnte; es hat die preußiſche Allianz ſtatt der Würzburger geſucht,
empfängt ſeine Beihülfe von uns, und wenn wir ihm heut den
Rücken kehren, ſo ſtürzen wir das Miniſterium. Es iſt noch nicht
dageweſen, daß die Wiener Politik in dieſem Maße en gros
et en détail von Berlin aus geleitet wurde. Dabei ſind wir von
Frankreich geſucht, Fleury bietet mehr als der König mag; unſre
[4/0028]
Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.
Stimme hat in London und Petersburg das Gewicht, was ihr ſeit
20 Jahren verloren war; und das acht Monate, nachdem Sie mir
die gefährlichſte Iſolirung wegen unſrer polniſchen Politik prophe¬
zeiten. Wenn wir jetzt den Großmächten den Rücken drehn, um
uns der in dem Netze der Vereinsdemokratie gefangenen Politik
der Kleinſtaaten in die Arme zu werfen, ſo wäre das die elendeſte
Lage, in die man die Monarchie nach Innen und Außen bringen
könnte. Wir würden geſchoben ſtatt zu ſchieben; wir würden uns
auf Elemente ſtützen, die wir nicht beherrſchen und die uns noth¬
wendig feindlich ſind, denen wir uns aber auf Gnade oder Ungnade
zu ergeben hätten. Sie glauben, daß in der ‚deutſchen öffentlichen
Meinung‘, Kammern, Zeitungen ꝛc. irgend etwas ſteckt, was uns
in einer Unions- oder Hegemonie-Politik ſtützen und helfen könnte.
Ich halte das für einen radicalen Irrthum, für ein Phantaſie¬
gebilde. Unſre Stärkung kann nicht aus Kammern- und Pre߬
politik, ſondern nur aus waffenmäßiger Großmachtspolitik hervor¬
gehn, und wir haben nicht nachhaltiger Kraft genug, um ſie in
falſcher Front und für Phraſen und Auguſtenburg zu verpuffen.
Sie überſchätzen die ganze däniſche Frage und laſſen ſich dadurch
blenden, daß dieſelbe das allgemeine Feldgeſchrei der Demokratie
geworden iſt, die über das Sprachrohr von Preſſe und Vereinen
diſponirt und dieſe an ſich mittelmäßige Frage zum Mouſſiren
bringt. Vor zwölf Monaten hieß es zweijährige Dienſtzeit, vor
acht Monaten Polen, jetzt Schleswig-Holſtein. Wie ſahn Sie
ſelbſt die europäiſche Lage im Sommer an? Sie fürchteten Ge¬
fahren jeder Art für uns und haben in Kiſſingen kein Hehl ge¬
macht über die Unfähigkeit unſrer Politik; ſind denn nun dieſe
Gefahren durch den Tod des Königs von Dänemark plötzlich ge¬
ſchwunden und ſollen wir jetzt an der Seite von Pfordten, Coburg
und Auguſtenburg, geſtützt auf alle Schwätzer und Schwindler
der Bewegungspartei, plötzlich ſtark genug ſein, alle vier Gro߬
mächte zu brüskiren, und ſind letztre plötzlich ſo gutmüthig oder
ſo machtlos geworden, daß wir uns dreiſt in jede Verlegen¬
[5/0029]
Differenz mit Goltz über Behandlung der Herzogthümerfrage.
heit ſtürzen können, ohne etwas von ihnen zu beſorgen zu
haben?
Sie nennen es eine ‚wundervolle‘ Politik, daß wir das
Gagernſche Programm ohne Reichsverfaſſung hätten verwirklichen
können. Ich ſehe nicht ein, wie wir hätten dazu gelangen ſollen,
wenn wir im Bunde mit den Würzburgern, auf deren Unter¬
ſtützung angewieſen, Europa hätten beſiegen müſſen. Entweder
ſtanden die Regirungen uns ehrlich bei, und der Kampfpreis
war ein Großherzog mehr in Deutſchland, der aus Sorge
für ſeine neue Souveränetät am Bunde gegen Preußen ſtimmt,
ein Würzburger mehr; oder wir mußten, und das war das Wahr¬
ſcheinlichere, unſern Verbündeten durch eine Reichsverfaſſung den
Boden unter den Füßen wegziehn und dennoch dabei auf ihre
Treue rechnen. Mißlang das, wie zu glauben, ſo waren wir
blamirt; gelang es, ſo hatten wir die Union mit der Reichsver¬
faſſung.
Sie ſprechen von dem Staatencomplex von 70 Millionen mit
einer Million Soldaten, der in compacter Weiſe Europa trotzen
ſoll, muthen alſo Oeſtreich ein Aushalten auf Tod und Leben
bei einer Politik zu, die Preußen zur Hegemonie führen ſoll, und
trauen doch dem Staate, der 35 dieſer 70 Millionen hat, nicht über
den Weg. Ich auch nicht; aber ich finde es für jetzt richtig, Oeſt¬
reich bei uns zu haben; ob der Augenblick der Trennung kommt
und von wem, das werden wir ſehn. Sie fragen: wann in aller
Welt ſollen wir denn Krieg führen, wozu die Armeereorganiſation?
und Ihre eignen Berichte ſchildern uns das Bedürfniß Frankreichs,
im Frühjahr Krieg zu haben, die Ausſicht auf eine Revolution in
Galizien daneben. Rußland hat 200000 Mann über den polniſchen
Bedarf auf den Beinen und kein Geld zu Phantaſie-Rüſtungen,
muß alſo muthmaßlich doch auf Krieg gefaßt ſein; ich bin es auf
Krieg und mit Revolution combinirt. Sie ſagen dann, daß wir
uns dem Kriege garnicht ausſetzen; das vermag ich mit Ihren
eignen Berichten aus den letzten drei Monaten nicht in Einklang
[6/0030]
Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.
zu bringen. Ich bin dabei in keiner Weiſe kriegsſcheu, im Gegen¬
theil; bin auch gleichgültig gegen Revolutionär oder Conſervativ,
wie gegen alle Phraſen; Sie werden ſich vielleicht ſehr bald über¬
zeugen, daß der Krieg auch in meinem Programme liegt; ich halte
nur Ihren Weg, dazu zu gelangen, für einen ſtaatsmänniſch un¬
richtigen. Daß Sie dabei im Einverſtändniß mit Pfordten, Beuſt,
Dalwigk und wie unſre Gegner alle heißen, ſich befinden, macht
für mich die Seite, die Sie vertreten, weder zur revolutionären
noch zur conſervativen, aber nicht zur richtigen für Preußen. Wenn
der Bierhaus-Enthuſiasmus in London und Paris imponirt, ſo
freut mich das, es paßt ganz in unſern Kram; deshalb imponirt
er mir aber noch nicht und liefert uns im Kampfe keinen Schuß
und wenig Groſchen. Mögen Sie den Londoner Vertrag revo¬
lutionär nennen: die Wiener Tractate waren es zehnmal mehr
und zehnmal ungerechter gegen viele Fürſten, Stände und Länder,
das europäiſche Recht wird eben durch europäiſche Tractate ge¬
ſchaffen. Wenn man aber an letztre den Maßſtab der Moral
und Gerechtigkeit legen wollte, ſo müßten ſie ziemlich alle ab¬
geſchafft werden.
Wenn Sie ſtatt meiner hier im Amte wären, ſo glaube ich,
daß Sie ſich von der Unmöglichkeit der Politik, die Sie mir heut
empfehlen und als ſo ausſchließlich ,patriotiſch‘ anſehn, daß Sie
die Freundſchaft darüber kündigen, ſehr bald überzeugen würden.
So kann ich nur ſagen: la critique est aisée; die Regirung,
namentlich eine ſolche, die ohnehin in manches Wespenneſt hat
greifen müſſen, unter dem Beifall der Maſſen zu tadeln, hat nichts
Schwieriges; beweiſt der Erfolg, daß die Regirung richtig verfuhr,
ſo iſt von Tadeln nicht weiter die Rede; macht die Regirung
Fiasco in Dingen, die menſchliche Einſicht und Wille überhaupt
nicht beherrſchen, ſo hat man den Ruhm, rechtzeitig vorhergeſagt
zu haben, daß die Regirung auf dem Holzwege ſei. Ich habe
eine hohe Meinung von Ihrer politiſchen Einſicht; aber ich halte
mich ſelbſt auch nicht für dumm; ich bin darauf gefaßt, daß Sie
[7/0031]
Differenz mit Goltz über Behandlung der Herzogthümerfrage.
ſagen, dies ſei eine Selbſttäuſchung. Vielleicht ſteigen mein Patrio¬
tismus und meine Urtheilskraft in Ihrer Anſicht, wenn ich Ihnen
ſage, daß ich mich ſeit 14 Tagen auf der Baſis der Vorſchläge
befinde, die Sie in Ihrem Bericht Nro. — machen. Mit einiger
Mühe habe ich Oeſtreich beſtimmt, die holſteiniſchen Stände zu
berufen, falls wir es in Frankfurt durchſetzen; wir müſſen erſt
darin ſein im Lande. Die Prüfung der Erbfolgefrage am Bunde
erfolgt mit unſerm Einverſtändniß, wenn wir auch mit Rückſicht
auf England nicht dafür ſtimmen; ich hatte Sydow ohne Inſtruction
gelaſſen, er iſt zur Ausführung ſubtiler Inſtructionen nicht gemacht.
Vielleicht werden noch andre Phaſen folgen, die Ihrem Pro¬
gramm nicht ſehr fern liegen; wie aber ſoll ich mich entſchließen,
mich über meine letzten Gedanken frei gegen Sie auszulaſſen, nach¬
dem Sie mir politiſch den Krieg erklärt haben und ſich ziemlich
unumwunden zu dem Vorſatz bekennen, das jetzige Miniſterium und
ſeine Politik zu bekämpfen, alſo zu beſeitigen? Ich urtheile dabei
blos nach dem Inhalt Ihres Schreibens an mich und laſſe alles
bei Seite, was mir durch Colportage und dritte Hand über Ihre
mündlichen und ſchriftlichen Auslaſſungen in Betreff meiner zugeht.
Und doch muß ich als Miniſter, wenn das Staatsintereſſe nicht
leiden ſoll, gegen den Botſchafter in Paris rückhaltlos offen bis
zum letzten Worte meiner Politik ſein. Die Friction, welche Jeder
in meiner Stellung mit den Miniſtern und Räthen, am Hofe, mit
den occulten Einflüſſen, Kammern, Preſſe, den fremden Höfen zu
überwinden hat, kann nicht dadurch vermehrt werden, daß die
Diſciplin meines Reſſorts einer Concurrenz zwiſchen dem Miniſter
und dem Geſandten Platz macht, und daß ich die unentbehrliche
Einheit des Dienſtes durch Diſcuſſion im Wege des Schriftwechſels
herſtelle. Ich kann ſelten ſo viel ſchreiben wie heut in der Nacht
am heiligen Abend, wo alle Beamte beurlaubt ſind, und ich würde
an niemanden als an Sie den vierten Theil des Briefes ſchreiben.
Ich thue es, weil ich mich nicht entſchließen kann, Ihnen amtlich
und durch die Bureaus in derſelben Höhe des Tones zu ſchreiben,
[8/0032]
Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.
bei welchem Ihre Berichte angelangt ſind. Ich habe nicht die
Hoffnung, Sie zu überzeugen, aber ich habe das Vertrauen zu Ihrer
eignen dienſtlichen Erfahrung und zu Ihrer Unparteilichkeit, daß
Sie mir zugeben werden, es kann nur Eine Politik auf einmal
gemacht werden, und das muß die ſein, über welche das Miniſterium
mit dem Könige einig iſt. Wollen Sie dieſelbe und damit das
Miniſterium zu werfen ſuchen, ſo müſſen Sie das hier in der
Kammer und der Preſſe an der Spitze der Oppoſition unternehmen,
aber nicht von Ihrer jetzigen Stellung aus; und dann muß ich
mich ebenfalls an Ihren Satz halten, daß in einem Conflict des
Patriotismus und der Freundſchaft der Erſtre entſcheidet. Ich
kann Sie aber verſichern, daß mein Patriotismus von ſo ſtarker
und reiner Natur iſt, daß eine Freundſchaft, die neben ihm zu
kurz kommt, dennoch eine ſehr herzliche ſein kann“ 1).
II.
Die Abſtufungen, welche in der däniſchen Frage erreichbar
erſchienen und deren jede für die Herzogthümer einen Fortſchritt
zum Beſſern im Vergleich mit dem vorhandenen Zuſtande bedeutete,
gipfelten m. E. in der Erwerbung der Herzogthümer für Preußen,
wie ich ſofort nach dem Tode Friedrichs VII. in einem Conſeil aus¬
geſprochen habe. Ich erinnerte den König daran, daß jeder ſeiner
nächſten Vorfahren — ſelbſt ſeinen Bruder nicht ausgenommen —
für den Staat einen Zuwachs gewonnen habe, Friedrich Wil¬
helm IV. Hohenzollern und das Jahdegebiet, Friedrich Wilhelm III.
die Rheinprovinz, Friedrich Wilhelm II. Polen, Friedrich II.
Schleſien, Friedrich Wilhelm I. Altvorpommern, der Große Kur¬
fürſt Hinterpommern und Magdeburg, Minden u. ſ. w., und er¬
munterte ihn, ein Gleiches zu thun. In dem Protokolle fehlte dieſe
1) Vgl. Bismarck-Jahrbuch V 232 ff. Goltzens Antwort auf dieſen Brief
mit Bismarck's Randbemerkungen ſ. im Bismarck-Jahrbuch V 238 ff.
[9/0033]
Möglichkeiten der Löſung bei Herzogthümerfrage.
meine Aeußerung. Der Geh. Rath Coſtenoble, der die Protokolle
zu führen hatte, ſagte, von mir zur Rede geſtellt, der König hätte
gemeint, es würde nur lieber ſein, wenn meine Auslaſſungen nicht
protokollariſch feſtgelegt würden; Seine Majeſtät ſchien geglaubt
zu haben, daß ich unter bacchiſchen Eindrücken eines Frühſtücks ge¬
ſprochen hätte und froh ſein würde, nichts weiter davon zu hören.
Ich beſtand aber auf der Einſchaltung, die auch erfolgte. Der
Kronprinz hatte, während ich ſprach, die Hände zum Himmel er¬
hoben, als wenn er an meinen geſunden Sinnen zweifelte; meine
Collegen verhielten ſich ſchweigend.
Wäre das höchſte Ziel nicht zu erreichen geweſen, ſo konnten
wir trotz aller Auguſtenburgiſchen Verzichtleiſtungen auf die Ein¬
ſetzung dieſer Dynaſtie und die Herſtellung eines neuen Mittelſtaates
eingehn, wenn die preußiſchen und deutſch-nationalen Intereſſen
ſichergeſtellt wurden, die durch das Weſentliche der nachmaligen
Februarbedingungen, Militärconvention, Kiel als Bundeshafen und
den Nord-Oſtſee-Canal, gedeckt waren.
Wäre auch das nach der europäiſchen Situation und nach dem
Willen des Königs nicht zu erreichen geweſen ohne Iſolirung Preußens
von allen Großmächten einſchließlich Oeſtreichs, ſo ſtand zur Frage,
auf welchem Wege für die Herzogthümer, ſei es in Form der
Perſonalunion oder in einer andern, ein vorläufiger Abſchluß er¬
reichbar bliebe, der immerhin eine Verbeſſerung der Lage der
Herzogthümer hätte ſein müſſen. Ich habe von Anfang an die
Annexion unverrückt im Auge behalten, ohne die andern Abſtufungen
aus dem Geſichtsfelde zu verlieren. Als die Situation, welche ich
abſolut glaubte vermeiden zu müſſen, betrachtete ich diejenige, welche
in der öffentlichen Meinung von unſern Gegnern als Programm
aufgeſtellt war, d. h. den Kampf und Krieg Preußens für die Errich¬
tung eines neuen Großherzogthums, durchzufechten an der Spitze der
Zeitungen, der Vereine, der Freiſchaaren und der Bundesſtaaten
außer Oeſtreich, und ohne die Sicherheit, daß die Bundesregirungen
die Sache auf jede Gefahr hin durchführen würden. Dabei hatte die
[10/0034]
Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.
in dieſer Richtung entwickelte öffentliche Meinung, auch der Präſident
Ludwig von Gerlach, ein kindliches Vertrauen zu dem Beiſtande, den
England dem iſolirten Preußen leiſten würde. Viel leichter als
die engliſche wäre die franzöſiſche Genoſſenſchaft zu erlangen ge¬
weſen, wenn wir den Preis hätten zahlen wollen, den ſie uns
vorausſichtlich gekoſtet haben würde. Ich habe nie in der Ueber¬
zeugung geſchwankt, daß Preußen, geſtützt nur auf die Waffen und
Genoſſen von 1848, öffentliche Meinung, Landtage, Vereine, Frei¬
ſchaaren und die kleinen Contingente in ihrer damaligen Verfaſſung,
ſich auf ein hoffnungsloſes Beginnen eingelaſſen und unter den
großen Mächten nur Feinde gefunden hätte, auch in England. Ich
hätte den Miniſter als Schwindler und Landesverräther betrachtet,
der in die falſche Politik von 1848, 49, 50 zurückgefallen wäre,
die uns ein neues Olmütz bereiten mußte. Sobald aber Oeſtreich
mit uns war, ſchwand die Wahrſcheinlichkeit einer Coalition der
andern Mächte gegen uns.
Wenn auch durch Landtagsbeſchlüſſe, Zeitungen und Schützen¬
feſte die deutſche Einheit nicht hergeſtellt werden konnte, ſo übte
doch der Liberalismus einen Druck auf die Fürſten, der ſie zu
Conceſſionen für das Reich geneigter machte. Die Stimmung der
Höfe ſchwankte zwiſchen dem Wunſche, dem Andringen der Liberalen
gegenüber die fürſtliche Stellung in particulariſtiſcher und auto¬
kratiſcher Sonderpolitik zu befeſtigen, und der Sorge vor Friedens¬
ſtörungen durch äußere oder innere Gewalt. An ihrer deutſchen
Geſinnung ließ keine deutſche Regirung einen Zweifel, doch über
die Art, wie die deutſche Zukunft geſtaltet werden ſollte, ſtimmten
weder die Regirungen noch die Parteien überein. Es iſt nicht
wahrſcheinlich, daß Kaiſer Wilhelm als Regent und ſpäter als
König auf dem Wege, den er zuerſt unter dem Einfluſſe ſeiner
Gemalin mit der neuen Aera betreten hatte, je dahin gebracht
worden wäre, das zur Erreichung der Einheit Nothwendige zu thun,
indem er dem Bunde abſagte und die preußiſche Armee für die
deutſche Sache einſetzte. Auf der andern Seite aber iſt es auch
[11/0035]
Die öffentliche Meinung unter dem Einfluß des Liberalismus.
nicht wahrſcheinlich, daß er ohne ſeine vorhergehenden Verſuche und
Beſtrebungen in liberaler Richtung, ohne die Verbindlichkeiten, in
die er dadurch gerathen war, in die Wege zum däniſchen und damit
zum böhmiſchen Kriege hätte geleitet werden können. Vielleicht
wäre es nicht einmal gelungen, ihn von dem Frankfurter Fürſten¬
congreß 1863 fern zu halten, wenn die liberalen Antecedentien
nicht ein gewiſſes Popularitätsbedürfniß in liberaler Richtung auch
bei dem Herrn zurückgelaſſen hätten, das ihm vor Olmütz fremd
geweſen, ſeitdem aber die natürliche pſychologiſche Folge des Ver¬
langens geweſen war, für die ſeinem preußiſchen Ehrgefühl auf
dem Gebiete der deutſchen Politik geſchlagene Wunde auf demſelben
Gebiete Heilung und Genugthuung zu ſuchen. Die holſteiniſche
Frage, der däniſche Krieg, Düppel und Alſen, der Bruch mit Oeſt¬
reich und die Entſcheidung der deutſchen Frage auf dem Schlacht¬
felde, in dieſes ganze Wageſyſtem wäre er ohne die ſchwierige
Stellung, in die ihn die neue Aera gebracht hatte, vielleicht nicht
eingegangen.
Es koſtete freilich noch 1864 viel Mühe, die Fäden zu löſen,
durch welche der König unter Mitwirkung des liberaliſirenden Ein¬
fluſſes ſeiner Gemalin mit jenem Lager in Verbindung ſtand.
Ohne die verwickelten Rechtsfragen der Erbfolge unterſucht zu
haben, blieb er dabei: „Ich habe kein Recht auf Holſtein.“ Meine
Vorhaltung, daß die Auguſtenburger kein Recht hätten auf den
herzoglichen und den Schaumburgiſchen Antheil, nie ein ſolches
gehabt und auf den Königlichen Theil zweimal 1721 und 1852
entſagt hätten, daß Dänemark am Bundestage in der Regel mit
Preußen geſtimmt habe, der Herzog von Schleswig-Holſtein aus
Furcht vor preußiſchem Uebergewicht es mit Oeſtreich halten werde,
machte keinen Eindruck. Wenn auch die Erwerbung dieſer von
zwei Meeren umſpülten Provinzen und meine geſchichtliche Erinne¬
rung in der Conſeilſitzung vom December 1863 auf das dynaſtiſche
Gefühl des Herrn nicht ohne Wirkung war, ſo war auf der andern
Seite die Vergegenwärtigung der Mißbilligung wirkſam, die der
[12/0036]
Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.
König, wenn er den Auguſtenburger aufgab, bei ſeiner Gemalin,
bei dem kronprinzlichen Paare, bei verſchiedenen Dynaſtien und bei
denen zu erwarten hatte, welche damals in ſeiner Auffaſſung die
öffentliche Meinung Deutſchlands bildeten.
Die öffentliche Meinung war in den gebildeten Mittelſtänden
Deutſchlands ohne Zweifel auguſtenburgiſch, in derſelben Urtheils¬
loſigkeit, welche ſich früher den Polonismus und ſpäter die künſtliche
Begeiſterung für die battenbergiſche Bulgarei als deutſches National¬
intereſſe unterſchieben ließ. Die Mache der Preſſe war in dieſen
beiden etwas analogen Lagen betrübend erfolgreich und die öffent¬
liche Dummheit für ihre Wirkung ſo empfänglich wie immer. Die
Neigung zur Kritik der Regirung war 1864 auf der Höhe des
Satzes: Nein, er gefällt mir nicht, der neue Bürgermeiſter. Ich
weiß nicht, ob es heut noch Jemanden gibt, der es für vernünftig
hielte, wenn nach Befreiung der Herzogthümer aus ihnen ein neues
Großherzogthum hergeſtellt worden wäre, mit Stimmberechtigung
am Bundestage und dem ſich von ſelbſt ergebenden Berufe, ſich
vor Preußen zu fürchten und es mit ſeinen Gegnern zu halten;
damals aber wurde die Erwerbung der Herzogthümer für Preußen
als eine Ruchloſigkeit von allen denen betrachtet, welche ſeit 1848
ſich als die Vertreter der nationalen Gedanken aufgeſpielt hatten.
Mein Reſpect vor der ſogenannten öffentlichen Meinung, das
heißt, vor dem Lärm der Redner und der Zeitungen, war niemals
groß geweſen, wurde aber in Betreff der auswärtigen Politik in
den beiden oben verglichenen Fällen noch erheblich herabgedrückt.
Wie ſtark die Anſchauungsweiſe des Königs bis dahin von dem
landläufigen Liberalismus durch den Einfluß der Gemalin und
der Bethmann-Hollwegſchen Streberfraction imprägnirt war, beweiſt
die Zähigkeit, mit der er an dem Widerſpruch feſthielt, in welchem
das Oeſtreichiſch-Frankfurter-Auguſtenburger Programm mit dem
preußiſchen Streben nach nationaler Einheit ſtand. Logiſch be¬
gründet konnte dieſe Politik dem König gegenüber unmöglich werden;
er hatte ſie, ohne eine chemiſche Analyſe ihres Inhalts vorzunehmen,
[13/0037]
Auguſtenburgiſche Sympathien. Schreiben Bethmann-Hollwegs.
als Zubehör des Altliberalismus vom Standpunkt der frühern
Thronfolgerkritik und der Rathgeber der Königin im Sinne von
Goltz, Pourtalès u. ſ. w. überkommen. Ich greife in der Zeit
vor, indem ich hier das letzte Lebenszeichen der Wochenblattspartei
einſchalte, das Schreiben des Herrn von Bethmann-Hollweg an
den König vom 15. Juni 1866, deſſen Hauptſätze lauten 1):
„Was Eure Majeſtät ſtets gefürchtet und vermieden, was alle Ein¬
ſichtigen vorausſahen, daß ein ernſtliches Zerwürfniß mit Oeſterreich
von Frankreich benutzt werden würde, um ſich auf Koſten Deutſchlands
zu vergrößern (wo?) 2), liegt jetzt in L. Napoleons ausgeſprochenem
Programm aller Welt vor Augen. ... Die ganzen Rheinlande für die
Herzogthümer wäre für ihn kein ſchlechter Tauſch, denn mit den
früher beanſpruchten petites rectifications des frontières wird er
ſich gewiß nicht begnügen. Und Er iſt der allmächtige Gebieter in
Europa! ... Gegen den Urheber dieſer (unſrer) Politik hege ich
keine feindliche Geſinnung. Ich erinnere mich gerne, daß ich 1848
Hand in Hand mit ihm ging, um den König zu ſtärken. Im März
1862 rieth ich Eurer Majeſtät, einen Steuermann von conſervativen
Antecedentien zu wählen, der Ehrgeiz, Kühnheit und Geſchick genug
beſitze, um das Staatsſchiff aus den Klippen, in die es gerathen,
herauszuführen, und ich würde Herrn von Bismarck genannt haben,
hätte ich geglaubt, daß er mit jenen Eigenſchaften die Beſonnenheit
und Folgerichtigkeit des Denkens und Handelns verbände, deren
Mangel der Jugend kaum verziehen wird, bei einem Manne aber
für den Staat, den er führt, lebensgefährlich iſt. In der That
war des Grafen Bismarck Thun von Anfang an voller Wider¬
ſprüche. ... Von jeher ein entſchiedener Vertreter der ruſſiſch-franzöſi¬
ſchen Allianz, knüpfte er an die im preußiſchen Intereſſe Rußland zu
leiſtende Hilfe gegen den polniſchen Aufſtand politiſche Projecte 3),
1) Vollſtändig veröffentlicht in L. Schneider, Aus dem Leben Kaiſer
Wilhelms I. I 334 ff., auch in Kohl, Bismarck-Regeſten I 287 f.
2) Randbemerkung von Bismarck's Hand.
3) Vergl. Bd. I 309 ff.
[14/0038]
Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.
die ihm beide Staaten entfremden mußten. Als ihm 1863 mit
dem Tode des Königs von Dänemark eine Aufgabe in den Schooß
fiel, ſo glücklich, wie ſie nur je einem Staatsmanne zu Theil ge¬
worden, verſchmähte er es, Preußen an die Spitze der einmüthigen
Erhebung Deutſchlands (in Reſolutionen) *) zu ſtellen, deſſen Einigung
unter Preußens Führung ſein Ziel war, verband ſich vielmehr mit
Oeſterreich, dem principiellen Gegner dieſes Planes, um ſpäter ſich
mit ihm unverſöhnlich zu verfeinden. Den Prinzen von Auguſten¬
burg, dem Ew. M. wohlwollten, und von dem damals Alles zu
erhalten war, mißhandelte er **), um ihn bald darauf durch den
Grafen Bernſtorff auf der Londoner Conferenz für den Berechtigten
erklären zu laſſen. Dann verpflichtet er Preußen im Wiener Frieden,
nur im Einverſtändniß mit Oeſterreich definitiv über die befreiten
Herzogthümer zu disponiren 1), und läßt in denſelben Einrichtungen
treffen, welche die beabſichtigte ‚Annexion‘ deutlich verkündigen. ...
Viele betrachten dieſe und ähnliche Maßregeln, die ſtets, weil in
ſich widerſprechend, in das Gegentheil des Bezweckten umſchlugen,
als Fehler der Unbeſonnenheit. Andern erſcheinen ſie als Schritte
eines Mannes, der auf Abenteuer ausgeht, Alles durcheinander¬
wirft und es darauf ankommen läßt, was ihm zur Beute wird,
oder eines Spielers, der nach jedem Verluſt höher pointirt und
endlich va banque ſagt.
Dies Alles iſt ſchlimm, aber noch viel ſchlimmer in meinen
Augen, daß Graf Bismarck ſich in dieſer Handlungsweiſe mit der
Geſinnung und den Zielen ſeines Königs in Widerſpruch ſetzte
und ſein größtes Geſchick darin bewies, daß er ihn Schritt für
Schritt dem entgegengeſetzten Ziele näher führte, bis die Umkehr
unmöglich ſchien, während es nach meinem Dafürhalten die erſte
Pflicht eines Miniſters iſt, ſeinen Fürſten treu zu berathen, ihm die
*) Vergl. den Brief des Prinzen vom 11. December 1863, S. 26.
**) Warum nicht: Verpflichtete er Oeſtreich, nur im Einverſtändniß mit
Preußen u. ſ. w.?
1) Einſchaltung Bismarcks.
[15/0039]
Das Schreiben Bethmann-Hollwegs an den König.
Mittel zur Ausführung ſeiner Abſichten darzureichen und vor Allem
deſſen Bild vor der Welt rein zu erhalten. Eurer Majeſtät gerader,
gerechter und ritterlicher Sinn iſt weltbekannt und hat Allerhöchſt¬
demſelben das allgemeine Vertrauen, die allgemeine Verehrung zu¬
gewendet. Graf Bismarck aber hat es dahin gebracht, daß Eurer
Majeſtät edelſte Worte dem eigenen Lande gegenüber, weil nicht ge¬
glaubt, wirkungslos verhallen, und daß jede Verſtändigung mit andern
Mächten unmöglich geworden, weil die erſte Vorbedingung derſelben,
das Vertrauen, durch eine ränkevolle Politik zerſtört worden iſt. ...
Noch iſt kein Schuß gefallen, noch iſt Verſtändigung unter einer
Bedingung möglich. Nicht die Kriegsrüſtungen ſind einzuſtellen,
vielmehr, wenn es nöthig iſt, zu verdoppeln, um Gegnern, die
unſre Vernichtung wollen, ſiegreich entgegen zu treten oder mit
vollen Ehren aus dem verwickelten Handel herauszukommen. Aber
jede Verſtändigung iſt unmöglich, ſo lange der Mann an Eurer
Majeſtät Seite ſteht. Ihr entſchiedenes Vertrauen beſitzt, der dieſes
Eurer Majeſtät bei allen andern Mächten geraubt hat“ 1). ...
III.
Als der König dieſes Schreiben erhielt, war er ſchon aus der
Verſtrickung der darin wiederholten Argumente frei geworden durch
den Gaſteiner Vertrag vom 14./20. Auguſt 1865. Mit welchen
Schwierigkeiten ich bei den Verhandlungen über dieſen noch zu
kämpfen hatte, welche Vorſicht zu beachten war, zeigt mein nach¬
ſtehendes Schreiben an Se. Majeſtät:
„Gaſtein, 1. Auguſt 1865.
Eure Majeſtät wollen mir huldreich verzeihn, wenn eine viel¬
leicht zu weit getriebene Sorge für die Intereſſen des allerhöchſten
1) König Wilhelm eröffnete den Brief erſt Nikolsburg im Juli 1866;
ſeine Antwort begann: „In Nikolsburg eröffnete ich erſt Ihren Brief, und
Ort und Datum der Antwort wären Antwort genug! ꝛc.“; vgl. Schneider
a. a. O. I 341.
[16/0040]
Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.
Dienſtes mich veranlaßt, auf die Mittheilungen zurückzukommen, welche
Eure Majeſtät ſoeben die Gnade hatten mir zu machen. Der Gedanke
einer Theilung auch nur der Verwaltung der Herzogthümer würde,
wenn er im Auguſtenburgiſchen Lager ruchbar würde, einen heftigen
Sturm in Diplomatie und Preſſe erregen, weil man den Anfang
der definitiven Theilung darin erblicken und nicht zweifeln würde,
daß die Landestheile, welche der ausſchließlich preußiſchen Verwaltung
anheimfallen, für Auguſtenburg verloren ſind. Ich glaube mit Eurer
Majeſtät, daß I. M. die Königin die Mittheilungen geheim halten
werde; wenn aber von Coblenz im Vertrauen auf die verwand¬
ſchaftlichen Beziehungen eine Andeutung an die Königin Victoria,
an die kronprinzlichen Herrſchaften, nach Weimar oder nach Baden
gelangte, ſo könnte allein die Thatſache, daß von uns das Ge¬
heimniß, welches ich dem Grafen Blome auf ſein Verlangen zu¬
ſagte, nicht bewahrt worden iſt, das Mißtrauen des Kaiſers Franz
Joſeph wecken und die Unterhandlung zum Scheitern bringen.
Hinter dieſem Scheitern ſteht aber faſt unvermeidlich der Krieg mit
Oeſtreich; Eure Majeſtät wollen es nicht nur meinem Intereſſe für
den allerhöchſten Dienſt, ſondern meiner Anhänglichkeit an Allerhöchſt¬
dero Perſon zu Gute halten, wenn ich von dem Eindrucke beherrſcht
bin, daß Eure Majeſtät in einen Krieg mit einem andern Gefühle
und mit freierem Muthe hineingehn werden, wenn die Nothwendigkeit
dazu ſich aus der Natur der Dinge und aus den monarchiſchen
Pflichten ergiebt, als wenn der Hintergedanke Raum gewinnen kann,
daß eine vorzeitige Kundwerdung der beabſichtigten Löſung den
Kaiſer abgehalten habe, zu dem letzten für Eure Majeſtät annehm¬
baren Auskunftsmittel die Hand zu bieten. Vielleicht iſt meine Sorge
thöricht und ſelbſt wenn ſie begründet wäre und Eure Majeſtät darüber
hinweggehn wollten, ſo würde ich denken, daß Gott Eurer Majeſtät Herz
lenkt, und meinen Dienſt deshalb nicht minder freudig thun, aber
zur Wahrung des Gewiſſens doch ehrfurchtsvoll anheimgeben, ob
Eure Majeſtät mir nicht befehlen wollen, den Feldjäger telegraphiſch
von Salzburg zurückzurufen.†) Die äußere Veranlaſſung dazu könnte
[17/0041]
Gaſteiner Vertrag. Wandel in der Stimmung des Königs.
die miniſterielle Expedition bieten, und es könnte morgen ein andrer
an ſeiner Statt oder derſelbe rechtzeitig abgehn. Eine Abſchrift
deſſen, was ich an Werther über die Verhandlung mit Graf Blome
telegraphirt habe, lege ich allerunterthänigſt bei. Zu Eurer Majeſtät
bewährter Gnade habe ich das ehrfurchtsvolle Vertrauen, daß Aller¬
höchſtdieſelben, wenn Sie meine Bedenken nicht gutheißen, deren
Geltendmachung dem aufrichtigen Streben verzeihn wollen, Eurer
Majeſtät nicht nur pflichtmäßig, ſondern auch zu Allerhöchſtdero
perſönlicher Befriedigung zu dienen.“
An der mit †) bezeichneten Stelle dieſes Schreibens hat der
König an den Rand geſchrieben:
„Einverſtanden. — Ich that der Sache deshalb Erwähnung,
weil in den letzten 24 Stunden ihrer nicht mehr Erwähnung ge¬
ſchah, und ich ſie als ganz aus der Combination fallengelaſſen
anſah, nachdem die wirkliche Trennung und Beſitzergreifung an
die Stelle getreten war. Durch meine Mittheilung an die Königin
wollte ich den Uebergang dereinſt anbahnen zur Beſitzergreifung,
die ſich nach und nach aus der Administrations-Theilung entwickelt
hätte. Indeſſen dies kann ich auch ſpäter ſo darſtellen, wenn die
Eigenthumstheilung wirklich erfolgt, an die ich noch immer nicht
glaube, da Oeſterreich zu ſtark zurückſtecken muß, nachdem es ſich
für Auguſtenburg und gegen Beſitznahme, wenn freilich die ein¬
ſeitige, zu ſehr avancirte. W.“ 1)
Nach dem Gaſteiner Vertrage und der Beſitznahme von Lauen¬
burg, der erſten Mehrung des Reichs, unter König Wilhelm, fand
meiner Wahrnehmung nach ein pſychologiſcher Wandel in ſeiner
Stimmung, ein Geſchmackfinden an Eroberungen ſtatt, aber doch mit
vorwiegender Befriedigung darüber, daß dieſer Zuwachs, der Hafen
von Kiel, die militäriſche Stellung in Schleswig und das Recht,
1) Bismarck-Jahrbuch VI 202 f.
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 2
[18/0042]
Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.
einen Canal durch Holſtein zu bauen, in Friede und Freundſchaft
mit Oeſtreich gewonnen worden war.
Ich denke mir, daß das Verfügungsrecht über den Kieler Hafen
bei Sr. Majeſtät ſchwerer in das Gewicht gefallen iſt, als der
Eindruck der neuerworbenen freundlichen Landſchaft von Ratzeburg
mit ſeinem See. Die deutſche Flotte, und der Kieler Hafen als
Unterlage ihrer Errichtung, war ſeit 1848 einer der zündenden
Gedanken geweſen, an deren Feuer die deutſchen Einheitsbeſtrebungen
ſich zu erwärmen und zu verſammeln pflegten. Einſtweilen aber
war der Haß meiner parlamentariſchen Gegner ſtärker als das
Intereſſe für die deutſche Flotte, und es ſchien mir, daß die Fort¬
ſchrittspartei damals die neuerworbenen Rechte Preußens auf Kiel
und die damit begründete Ausſicht auf unſre maritime Zukunft
lieber in den Händen des Auctionators Hannibal Fiſcher, als in
denen des Miniſteriums Bismarck geſehn hätte 1). Das Recht zu
Klagen und Vorwürfen über die Vernichtung deutſcher Hoffnungen
durch dieſe Regirung hätte den Abgeordneten größere Befriedigung
gewährt als der gewonnene Fortſchritt auf dem Wege zu ihrer
Erfüllung. Ich ſchalte einige Stellen aus der Rede ein, welche
ich am 1. Juni 1865 für den außerordentlichen Geldbedarf der
Marine gehalten habe 2).
„Es hat wohl keine Frage die öffentliche Meinung in Deutſch¬
land in den letzten 20 Jahren ſo einſtimmig intereſſirt, wie
grade die Flottenfrage. Wir haben geſehn, daß die Vereine, die
Preſſe, die Landtage ihren Sympathien Ausdruck gaben, dieſe
Sympathien haben ſich in Sammlung von verhältnißmäßig recht
bedeutenden Beträgen bethätigt. Den Regirungen, der conſer¬
vativen Partei wurden Vorwürfe gemacht über die Langſamkeit
und über die Kargheit, mit der in dieſer Richtung vorgegangen
würde; es waren beſonders die liberalen Parteien, die dabei thätig
1) Vgl. die Rede vom 1. Juni 1865, Politiſche Reden II 356.
2) Politiſche Reden a. a. O. S. 355 ff.
[19/0043]
Ablehnende Haltung der Fortſchrittspartei.
waren. Wir glaubten deshalb, Ihnen eine rechte Freude mit dieſer
Vorlage zu machen. ...
Ich war nicht darauf gefaßt, in dem Bericht der Commiſſion
eine indirecte Apologie Hannibal Fiſchers zu finden, der die deutſche
Flotte unter den Hammer brachte. Auch dieſe deutſche Flotte
ſcheiterte daran, daß in den deutſchen Gebieten, ebenſo in den
höhern, regirenden Kreiſen, wie in den niedern die Parteileiden¬
ſchaft mächtiger war, als der Gemeinſinn. Ich hoffe, daß der
unſrigen daſſelbe nicht beſchieden ſein wird. Ich war einigermaßen
überraſcht ferner darüber, daß dem Gebiete der Technik ein ſo
großer Raum in dem Berichte angewieſen war. Ich zweifle nicht
daran, daß es viele unter Ihnen giebt, die vom Seeweſen mehr
verſtehn als ich, und mehr zur See geweſen ſind als ich, die Mehr¬
zahl unter Ihnen, meine Herrn, iſt es aber nicht, und doch muß
ich ſagen, ich würde mir nicht getrauen, über techniſche Details
der Marine ein Urtheil zu fällen, welches meine Abſtimmung
motiviren, welches mir Motive zur Verwerfung einer Marine¬
vorlage geben könnte. Ich kann mich deshalb auch mit der Wider¬
legung dieſes Theils Ihrer Einwendungen nicht beſchäftigen. ...
Ihre Zweifel, ob es mir gelingen wird, Kiel zu erwerben, berührt
mein Reſſort näher. Wir beſitzen in den Herzogthümern mehr als
Kiel, wir beſitzen die volle Souveränetät in den Herzogthümern in
Gemeinſchaft mit Oeſtreich, und ich wüßte nicht, wer uns dieſes
Pfand, das dem von uns erſtrebten Object an Werth ſo viel über¬
legen iſt, nehmen könnte anders, als durch einen für Preußen
unglücklichen Krieg. Faſſen wir aber dieſe Eventualität in's Auge,
ſo können wir jeden in unſerm Beſitz befindlichen Hafen ebenſo
gut verlieren. Unſer Beſitz iſt ein gemeinſamer, das iſt wahr, mit
Oeſtreich. Nichtsdeſtoweniger iſt er ein Beſitz, für deſſen Auf¬
gebung wir berechtigt ſein würden, unſre Bedingungen zu ſtellen.
Eine dieſer Bedingungen, und zwar eine der ganz unerläßlichen,
ohne deren Erfüllung wir dieſen Beſitz nicht aufgeben wollen, iſt
das künftige alleinige Eigenthum des Kieler Hafens für Preußen. ...
[20/0044]
Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.
Angeſichts der Rechte, die ſich in unſern Händen und in
denen Oeſtreichs befinden und die unantaſtbar ſind, ſo lange nicht
einem der Herrn Prätendenten es gelingt, zu unſrer Ueberzeugung
ein beſſeres Recht als das auf uns übergegangene des Königs
Chriſtian IX. von Dänemark nachzuweiſen, angeſichts der Rechte,
welche in voller Souveränetät von uns und Oeſtreich beſeſſen
werden, ſehe ich nicht ein, wie uns die ſchließliche Erfüllung unſrer
Bedingungen entgehn ſollte, ſobald wir nur nicht die Geduld ver¬
lieren, ſondern ruhig abwarten, ob ſich Jemand findet, der es
unternimmt, Düppel zu belagern, wenn die Preußen darin ſind. ...
Zweifeln Sie dennoch an der Möglichkeit, unſre Abſichten
zu verwirklichen, ſo habe ich ſchon in der Commiſſion ein Aus¬
kunftsmittel empfohlen: limitiren Sie die Anleihe dahin, daß die
erforderlichen Beträge nur dann zahlbar ſind, wenn wir wirklich
Kiel beſitzen, und ſagen Sie: ,Kein Kiel, kein Geld!‘ Ich glaube,
daß Sie andern Miniſtern als denen, die jetzt die Ehre haben,
ſich des Vertrauens Sr. Majeſtät des Königs zu erfreuen, eine
ſolche Bedingung nicht abſchlagen würden. ...
Das Vertrauen der Bevölkerung zur Weisheit des Königs
iſt groß genug, daß ſie ſich ſagt, ſollte das Land dabei (durch
Einführung der zweijährigen Dienſtzeit) zu Grunde gehn oder in
Schaden kommen, ſo wird es ja der König nicht leiden. Die Leute
unterſchätzen eben die Bedeutung der Verfaſſung in Folge der
frühern Traditionen. Ich bin überzeugt, daß ihr in die Weisheit
des Königs geſetztes Vertrauen ſie nicht täuſchen wird; aber ich kann
doch nicht leugnen, daß es mir einen peinlichen Eindruck macht,
wenn ich ſehe, daß angeſichts einer großen nationalen Frage, die
ſeit 20 Jahren die öffentliche Meinung beſchäftigt hat, diejenige Ver¬
ſammlung, die in Europa für die Concentration der Intelligenz
und des Patriotismus in Preußen gilt, zu keiner andern Haltung,
als zu der einer impotenten Negative ſich erheben kann. Es iſt
dies, meine Herrn, nicht die Waffe, mit der Sie dem Königthum
das Scepter aus der Hand winden werden, es iſt auch nicht das
[21/0045]
Aus der Rede vom 1. Juni 1865. Stärke des Parteihaſſes.
Mittel, durch das es Ihnen gelingen wird, unſern conſtitutionellen
Einrichtungen diejenige Feſtigkeit und weitre Ausbildung zu geben,
deren ſie bedürfen.“ —
Die Forderung für die Marine wurde abgelehnt.
Es liegt im Rückblick auf dieſe Situation ein bedauerlicher
Beweis, bis zu welchem Maße von Unehrlichkeit und Vaterlands¬
loſigkeit die politiſchen Parteien bei uns auf dem Wege des
Parteihaſſes gelangen. Es mag Aehnliches anderswo vorgekommen
ſein, doch weiß ich kein Land, wo das allgemeine Nationalgefühl
und die Liebe zum Geſammtvaterlande den Ausſchreitungen der
Parteileidenſchaft ſo geringe Hinderniſſe bereitet wie bei uns. Die
für apokryph gehaltene Aeußerung, welche Plutarch dem Cäſar in
den Mund legt, lieber in einem elenden Gebirgsdorfe der Erſte,
als in Rom der Zweite ſein zu wollen, hat mir immer den Ein¬
druck eines ächt deutſchen Gedankens gemacht. Nur zu viele unter
uns deuten im öffentlichen Leben ſo und ſuchen das Dörfchen, und
wenn ſie es geographiſch nicht finden können, die Fraction, reſp.
Unterfraction und Coterie, wo ſie die Erſten ſein können. Dieſe
Sinnesrichtung, die man nach Belieben Egoismus oder Unabhängig¬
keit nennen kann, hat in der ganzen deutſchen Geſchichte von den
rebelliſchen Herzogen der erſten Kaiſerzeiten bis auf die unzähligen
reichsunmittelbaren Landesherrn, Reichs-Städte, Reichs-Dörfer,
-Abteien und -Ritter und die damit verbundene Schwäche und
Wehrloſigkeit des Reiches ihre Bethätigung gefunden. Einſtweilen
findet ſie im Parteiweſen, welches die Nation zerklüftet, ſtärkern
Ausdruck als in der rechtlichen oder dynaſtiſchen Zerriſſenheit. Die
Parteien ſcheiden ſich weniger durch Programme und Prinzipien
als durch die Perſonen, welche als Condottieri an der Spitze einer
jeden ſtehn und für ſich eine möglichſt große Gefolgſchaft von
Abgeordneten und publiciſtiſchen Strebern anzuwerben ſuchen, die
hoffen, mit dem Führer oder den Führern zur Macht zu gelangen.
Prinzipielle programmatiſche Unterſchiede, durch welche die Fractionen
zu Kampf und Feindſchaft gegen einander genöthigt würden, liegen
[22/0046]
Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.
nicht in einer Stärke vor, die hinreichte, um die leidenſchaftlichen
Kämpfe zu motiviren, welche die Fractionen gegen einander glauben
ausfechten zu müſſen und Conſervative und Freiconſervative in
getrennte Lager verweiſen. Auch innerhalb der conſervativen Partei
haben wohl viele das Gefühl, daß ſie mit der Kreuzzeitung und
ihrem Zubehör nicht im Einverſtändniſſe ſind. Aber die prinzi¬
pielle Scheidelinie in einem Programme zu präciſiren und über¬
zeugend auszudrücken, würden auch die Führer und Unterführer
für eine ſchwere Aufgabe halten, grade ſo wie confeſſionelle Fana¬
tiker, und nicht blos Laien, in der Regel der Nothwendigkeit aus¬
weichen, oder die Auskunft ſchuldig bleiben, wenn man ſie nach
den unterſcheidenden Merkmalen der verſchiedenen Bekenntniſſe und
Glaubensrichtungen und nach dem Schaden fragt, welchen ſie für
ihr Seelenheil befürchten, wenn ſie eine der Abweichungen des
Andersgläubigen nicht angriffsweiſe bekämpfen. So weit die Par¬
teien ſich nicht lediglich nach wirthſchaftlichen Intereſſen gruppiren,
kämpfen ſie im Intereſſe der rivaliſirenden Führer der Fractionen
und nach deren perſönlichem Willen und Streberthum; nicht Ver¬
ſchiedenheit von Prinzipien, ſondern „Kephiſch oder Pauliniſch?“ iſt
die Frage.
Ein Andenken an den Gaſteiner Vertrag iſt das nachſtehende
Schreiben des Königs 1):
„Berlin, den 15. September 1865.
Mit dem heutigen Tage vollzieht ſich ein Act, die Beſitz¬
ergreifung des Herzogthums Lauenburg, als eine Folge meiner,
von Ihnen mit ſo großer und ausgezeichneter Umſicht und Einſicht
befolgten Regierung. Preußen hat in den vier Jahren, ſeit welchen
ich Sie an die Spitze der Staats-Regierung berief, eine Stellung
eingenommen, die ſeiner Geſchichte würdig iſt und demſelben auch
eine fernere glückliche und glorreiche Zukunft verheißt. Um Ihrem
1) Bismarck-Jahrbuch VI 203 f.
[23/0047]
Deutſcher Parteigeiſt. Erhebung in den Grafenſtand.
hohen Verdienſte, dem ich ſo oft Gelegenheit hatte, meinen Dank
auszuſprechen, auch einen öffentlichen Beweis deſſelben zu geben,
erhebe ich Sie hiermit mit Ihrer Deſcendenz in den Grafen Stand,
eine Auszeichnung, welche auch immerhin beweiſen wird, wie hoch
ich Ihre Leiſtungen um das Vaterland zu würdigen wußte.
Ihr
Wohlgeneigter König
Wilhelm.“
IV.
Die Verhandlungen zwiſchen Berlin und Wien, zwiſchen Preu¬
ßen und den übrigen deutſchen Staaten, welche die Zeit von dem
Gaſteiner Vertrage bis zum Ausbruch des Krieges ausfüllten, ſind
actenmäßig bekannt. In Süddeutſchland tritt Streit und Kampf
mit Preußen zum Theil hinter deutſch-patriotiſche Gefühle zurück;
in Schleswig-Holſtein beginnen diejenigen, deren Wünſche nicht in
Erfüllung gingen, ſich mit der neuen Ordnung der Dinge aus¬
zuſöhnen; nur die Welfen werden des Federkrieges über die Ereig¬
niſſe von 1866 nicht müde.
Die unvortheilhafte Geſtaltung, die Preußen auf dem
Wiener Congreß als Lohn ſeiner Anſtrengungen und Leiſtungen
davon getragen hatte, war nur haltbar, wenn wir mit den zwiſchen
beide Theile der Monarchie eingeſchobenen Staaten des alten Bünd¬
niſſes aus dem ſiebenjährigen Kriege ſicher waren. Ich bin lebhaft
bemüht geweſen, Hanover und den mir befreundeten Grafen Platen
dafür zu gewinnen, und es war alle Ausſicht vorhanden, daß wenig¬
ſtens ein Neutralitätsvertrag zu Stande kommen werde, als am
21. Januar 1866 Graf Platen in Berlin mit mir über die Ver¬
heirathung der hanöverſchen Prinzeſſin Friederike mit unſerm
jungen Prinzen Albrecht verhandelte, und wir das Einverſtändniß
beider Höfe ſo weit zu Stande brachten, daß nur noch eine per¬
ſönliche Begegnung der jungen Herrſchaften vorbehalten wurde, um
deren gegenſeitigen Eindruck feſtzuſtellen.
[24/0048]
Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.
Aber ſchon im März oder April fing man in Hanover unter
fadenſcheinigen Vorwänden an, Reſerven einzuberufen. Es hatten
Einflüſſe auf den König Georg ſtattgefunden, namentlich durch
ſeinen Halbbruder, den öſtreichiſchen General Prinzen Solms,
der nach Hanover gekommen war und den König umgeſtimmt
hatte durch übertriebene Schilderung der öſtreichiſchen Heereskräfte,
von denen 800 000 Mann bereit ſeien, und wie ich aus intimen
hanöverſchen Quellen vernommen habe, auch durch ein Erbieten
von territorialer Vergrößerung, mindeſtens durch den Regirungs-
Bezirk Minden. Meine amtlichen Anfragen bezüglich der Rüſtungen
Hanovers wurden mit der faſt höhniſch klingenden Auskunft beant¬
wortet, daß die Herbſtübungen aus wirthſchaftlichen Gründen ſchon
im Frühjahr abgehalten werden ſollten 1).
Mit dem Thronfolger in Kur-Heſſen, Prinzen Friedrich Wil¬
helm, hatte ich in Berlin noch am 14. Juni eine Beſprechung 2), in
der ich ihm empfahl, mit einem Extrazuge nach Kaſſel zu fahren
und die Neutralität Kurheſſens oder doch der dortigen Truppen
ſicher zu ſtellen, ſei es durch Beeinfluſſung des Kurfürſten, ſei es
unabhängig von dieſem. Der Prinz weigerte ſich früher als
mit dem fahrplanmäßigen Zuge zu reiſen. Ich ſtellte ihm vor, er
würde dann zu ſpät kommen, um den Krieg zwiſchen Preußen und
Heſſen zu hindern und den Fortbeſtand des Kurſtaats zu ſichern.
Wenn die Oeſtreicher ſiegten, ſo würde er immer vis major gel¬
tend machen können, ſeine neutrale Haltung ihm ſogar vielleicht
preußiſche Landestheile einbringen; wenn wir aber ſiegten, nachdem
er ſich geweigert, neutral zu bleiben, ſo würde der Kurſtaat nicht
fortbeſtehn; der heſſiſche Thron ſei immer einen Extrazug werth.
Der Prinz machte der Unterredung ein Ende mit den Worten:
„Wir ſehn uns wohl noch einmal in dieſem Leben wieder, und
800 000 gute öſtreichiſche Truppen haben auch noch ein Wort
1) Vgl. Politiſche Reden IV 137.
2) Vgl. Sybel IV 439 Anm. 1.
[25/0049]
Hanover und Kurheſſen 1866. Verhandlungen mit dem Erbprinzen.
mitzureden.“ Hatte doch auch die von dem Könige noch aus Horſitz
am 6. und aus Pardubitz am 8. Juli in dem freundſchaftlichſten
Tone an den Kurfürſten gerichtete Aufforderung, ein Bündniß mit
Preußen zu ſchließen und ſeine Truppen aus dem feindlichen Lager
zurückzurufen, keinen Erfolg.
Auch der Erbprinz von Auguſtenburg hatte durch Ablehnung
der ſogenannten Februarbedingungen den günſtigen Moment ver¬
ſäumt. Von welfiſcher Seite 1) iſt neuerdings folgende Verſion
verbreitet worden: Der Verfaſſer behauptet, von dem Prinzen er¬
fahren zu haben, daß derſelbe ſich in einer Audienz bei dem Könige
Wilhelm zu den geforderten Zugeſtändniſſen verpflichtet, der König
ihm die Einſetzung als Herzog zugeſichert und die formelle Er¬
ledigung durch den Miniſterpräſidenten auf den nächſten Tag zu¬
geſagt habe. Ich hätte mich am folgenden Tage bei dem Prinzen
eingeſtellt, ihm aber geſagt, mein Wagen hielte vor der Thüre, ich
müſſe in dieſem Augenblicke nach Biarritz zum Kaiſer Napoleon
reiſen, der Prinz ſei aufgefordert worden, einen Bevollmächtigten
in Berlin zurückzulaſſen, und nicht wenig erſtaunt geweſen, am
nächſten Tage in den Berliner Zeitungen zu leſen, daß er die
preußiſchen Vorſchläge abgelehnt habe.
Es iſt das eine plumpe Erfindung, in der Hauptſache und in
allen Einzelheiten. Die Verhandlungen mit dem Erbprinzen ſind
von Sybel 2) nach den Acten dargeſtellt; ich habe dazu aus meiner
Erinnerung und meinen Papieren Einiges nachzutragen. Der König
iſt niemals mit dem Erbprinzen einig geweſen; ich war nie in des
Letztern Wohnung und habe ihm gegenüber nie die Namen Biarritz
und Napoleon ausgeſprochen; ich bin 1864 am 1. October nach
Baden, von dort am 5. nach Biarritz, 1865 am 30. September
direct dorthin gereiſt und 1863 garnicht in Biarritz geweſen. Eine
1) Erinnerungen und Erlebniſſe des Generalmajor Dammers (Hannover
1890) S. 94 f.
2) Bd. III 337 f.
[26/0050]
Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.
Unterredung mit ihm habe ich zweimal gehabt; auf die erſte (am
18. November 1863) bezieht ſich ſein nachſtehender Brief 1):
„Ew. Excellenz wollen mir erlauben, daß ich mich in einigen
Zeilen an Sie wende, die veranlaßt ſind durch einen Artikel, den
No. 282 der Kreuzzeitung [vom 3. December] bringt, und von
welchem ich erſt nachträglich Kenntniß erhalten habe. In dieſem
Artikel wird u. A. von mir berichtet, ich habe einem Deputirten
gegenüber die Aeußerung gethan, ‚Herr von Bismarck ſei mein
Freund nicht‘. Den Wortlaut deſſen, was ich bei jener Gelegen¬
heit geſagt habe, vermag ich nicht anzugeben, da es ſich hier um
eine in der Converſation gefallene Aeußerung handelt. Es iſt recht
wohl möglich, daß ich mein Bedauern darüber ausgeſprochen habe,
daß Ew. Excellenz politiſche Anſchauungen über die gegenwärtige
Lage der ſchleswig-holſteinſchen Angelegenheit nicht mit den meinigen
übereinſtimmen, wie ich keinen Anſtand genommen habe, dies Ihnen
ſelbſt gegenüber bei meiner letzten Anweſenheit in Berlin offen
auszuſprechen. Ich bin mir jedoch vollkommen bewußt, daß ich die
in der Zeitung referirte Aeußerung nicht gethan habe, da ich mir
ſtets zur feſten Regel gemacht habe, das Politiſche von dem Per¬
ſönlichen zu trennen. Ich bedauere daher aufrichtig, daß eine
ſolche Nachricht ihren Weg in die Zeitungen gefunden hat.
Ich habe mich umſomehr verpflichtet gefühlt, mit dieſer Er¬
klärung nicht zurückzuhalten, je mehr ich die loyale Weiſe anerkennen
muß, in welcher Ew. Excellenz mir in Berlin offen ſagten, daß Sie
zwar perſönlich von meinem Rechte überzeugt ſeien und es billigten,
wenn ich ſuchte meinem Rechte Geltung zu verſchaffen, daß Sie je¬
doch in Berückſichtigung der von Preußen eingegangenen Verbind¬
lichkeiten, ſowie der allgemeinen Weltlage mir keine Verſprechungen
zu machen vermöchten.
Mit ꝛc. ꝛc.
Gotha, den 11. Dec. 63. Friedrich.“
1) Bismarck-Jahrbuch V 256.
[27/0051]
Verhandlungen mit dem Erbprinzen von Auguſtenburg.
Am 16. Januar 1864 ſchrieb mir Seine Majeſtät 1):
„Mein Sohn kam heute Abend noch zu mir, um mir die
Bitte des Erbprinzen von Auguſtenburg vorzutragen, aus den Händen
des Herrn Samwer ein Schreiben deſſelben entgegenzunehmen, und
ob ich nicht dieſerhalb ſeine Soirée beſuchen wolle, wo ich ganz
unbemerkt den pp. S. in einem abgelegenen Zimmer finden könne.
Ich lehnte dies ab, bis ich den Brief des Prinzen geleſen haben
würde, weshalb ich meinem Sohn aufgab, mir denſelben zuzu¬
ſenden. Dies iſt geſchehen und lege ich den Brief hier bei 2). Er
enthält nichts Verfängliches außer am Schluß, wo er mich fragt,
ob ich dem pp. S. nicht einige Hoffnung geben könne? Vielleicht
könnten Sie mir eine Antwort morgen noch fertigen laſſen, die ich
dem pp. S. mitgeben kann 3). Wenn ich ihn incognito bei meinem
Sohne doch noch ſehen wollte, ſo könnte ich ihm keine andere Hoff¬
nung geben, als die, welche in der Punctation 4) angedeutet ſind,
d. h., daß man nach dem Siege ſehen würde, welche neue Basen
für die Zukunft aufzuſtellen wären, und den Ausſpruch in F. a/M.
über die Succession abzuwarten. W.“
Und am 18. Januar 5):
„Ich berichte Ihnen, daß ich mich doch entſchloß, den Samwer
bei meinem Sohn zu ſehen ungefähr 6–10 Minuten in deſſen
Gegenwart 6). Ich ſprach ihm ganz im Sinne der projectirten Ant¬
wort 7), aber noch etwas kühler und ſehr ernſt. Vor Allem ſagte
1) Bismarck-Jahrbuch V 254 f.
2) Veröffentlicht in Janſen-Samwer, Schleswig-Holſteins Befreiung
S. 695 Beil. 11.
3) S. dieſes von Bismarck verfaßte Schreiben des Königs vom
18. Januar bei Janſen-Samwer S. 601 f. Beil. 13.
4) Am 16. Januar von Rechberg und Werther unterzeichnet.
5) Bismarck-Jahrbuch V 255.
6) Ueber den Verlauf der Unterredung berichtet die Aufzeichnung Samwer's
a. a. O. 696 ff. Beil. 12.
7) Des Schreibens vom 18., das im Entwurfe dem Könige am 17. vor¬
gelegt wurden iſt.
[28/0052]
Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.
ich beſtimmt, daß der Prinz keinen Falls nach Schleswig ein¬
fallen dürfe. W.“
In einer Denkſchrift vom 26. Februar 1864 bezeichnete der
Kronprinz folgende Forderungen Preußens als ſachlich begründet 1):
Rendsburg Bundesfeſtung, Kiel eine preußiſche Marineſtation, Bei¬
tritt zum Zollverein, Bau eines Canals zwiſchen beiden Meeren
und eine Militär- und Marine-Convention mit Preußen; er hegte
die Hoffnung, daß der Erbprinz bereitwillig darauf eingehn werde.
Nachdem die preußiſchen Bevollmächtigten am 28. Mai 1864 auf
der Londoner Conferenz die Erklärung abgegeben hatten, daß die
deutſchen Mächte die Conſtituirung Schleswig-Holſteins als eines
ſelbſtändigen Staates unter der Souveränetät des Erbprinzen von
Auguſtenburg begehrten, hatte ich mit dem Letztern am 1. Juni
1864, Abends von 9 bis 12 Uhr, in meiner Wohnung eine Be¬
ſprechung, um feſtzuſtellen, ob ich dem Könige zur Vertretung
ſeiner Candidatur rathen könne. Die Unterredung drehte ſich haupt¬
ſächlich um die von dem Kronprinzen in der Denkſchrift vom
26. Februar bezeichneten Punkte. Die Erwartung Seiner König¬
lichen Hoheit, daß der Erbprinz bereitwillig darauf eingehn würde,
fand ich nicht beſtätigt. Die Subſtanz der Erklärungen des Letztern
iſt von Sybel nach den Acten gegeben 2). Am lebhafteſten widerſprach
er den Landabtretungen behufs der Anlage von Befeſtigungen; ſie
könnten ſich ja auf eine Quadratmeile belaufen, meinte er. Ich
mußte unſre Forderung als abgelehnt, eine weitre Verhandlung
als ausſichtslos betrachten, auf die der Prinz hinzudeuten ſchien,
indem er beim Abſchiede ſagte: „Wir ſehn uns wohl noch“ —
1) Sie fußt auf dem Schreiben des Erbprinzen Friedrich vom 19. Febr.
1864, bei Janſen-Samwer S. 705 ff.
2) Sybel III 337 ff.; zu vergleichen ſind der Bericht Bismarck's über
dieſe Unterredung im Staatsanzeiger vom 2. Juli 1865, ſowie die Aeuße¬
rungen in den Reden vom 13. Juni 1865 und 20. December 1866, Politiſche
Reden III 387. 389, IV 102 ff.; das Referat des Herzogs in Janſen-Samwer
S. 731 (vgl. S. 336 ff.).
[29/0053]
Verhandlungen mit dem Erbprinzen von Auguſtenburg.
nicht in dem drohenden Sinne, in welchem Prinz Friedrich von
Heſſen zwei Jahre ſpäter mir dieſelben Worte ſagte, ſondern als
Ausdruck ſeiner Unentſchiedenheit. Wiedergeſehn habe ich den Erb¬
prinzen erſt am Tage nach der Schlacht von Sedan in bairiſcher
Generalsuniform. Nachdem am 30. October 1864 der Friede mit
Dänemark geſchloſſen war, wurden die Bedingungen formulirt,
unter denen wir die Bildung eines neuen Staates Schleswig-Hol¬
ſtein nicht als eine Gefahr für die Intereſſen Preußens und Deutſch¬
lands anſehn würden. Unter dem 22. Februar. 1865 wurden ſie
nach Wien mitgetheilt. Sie deckten ſich mit den vom Kronprinzen
empfohlnen.
V.
Eine der Anlagen, zu denen ich die Berechtigung gefordert
hatte, iſt nach langem Zögern jetzt 1) in der Ausführung begriffen:
der Nord-Oſtſee-Canal. Im Intereſſe der deutſchen Seemacht, die
damals nur unter preußiſchem Namen entwicklungsfähig war, hatte
ich, und nicht ich allein, einen hohen Werth auf die Herſtellung des
Canals und den Beſitz und die Befeſtigung ſeiner beiden Mün¬
dungen gelegt. Das Verlangen, die Concentrirung der Streit¬
kräfte zur See vermittelſt Durchbrechung der Landſtrecke, die
beide Meere trennt, möglich zu machen, war in Nachwirkung des
beinahe krankhaften Flottenenthuſiasmus von 1848 noch ſehr leb¬
haft, ſchlief aber zeitweiſe ein, als wir freie Verfügung über das
Territorium erworben hatten. In meinem Bemühn, das Intereſſe
wieder zu erwecken, ſtieß ich auf Widerſpruch bei der Landes¬
vertheidigungs-Commiſſion, deren Vorſitzender der Kronprinz, deren
eigentliche Spitze der Graf Moltke war. Letztrer erklärte als Mit¬
glied des Reichstags am 23. Juni 1873 2), der Canal werde nur im
1) D. h. zur Zeit der Niederſchrift dieſer Erinnerungen 1891/92.
2) Moltke's Reden. Werke VII 25 ff.
[30/0054]
Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.
Sommer benützbar und von zweifelhaftem militäriſchen Werthe ſein;
für 40 bis 50 Millionen Thaler, die er koſten werde, baue man
beſſer eine zweite Flotte. Die Gründe, die mir in der Bewerbung
um die königliche Entſcheidung entgegen geſetzt wurden, hatten ihr
Gewicht mehr in dem großen Anſehn, das die militäriſchen
Kreiſe bei Sr. Majeſtät genoſſen, als in ihrem materiellen In¬
halt; ſie gipfelten in dem Argument, daß ein ſo koſtſpieliges Werk
wie der Canal zu ſeinem Schutze im Kriege eine Truppenmaſſe
erfordern würde, die wir der Landarmee nicht ohne Schaden
entziehn könnten. Es wurde die Ziffer von 60000 Mann an¬
gegeben, die im Falle eines däniſchen Anſchluſſes an feindliche
Landungen zum Schutze des Canals verfügbar gehalten werden
müßten. Ich wandte dagegen ein, daß wir Kiel mit ſeinen An¬
lagen, Hamburg und den Weg von dort nach Berlin immer
würden decken müſſen, auch wenn kein Canal vorhanden ſei. Unter
der Laſt des Uebermaßes andrer Geſchäfte und den mannich¬
fachen Kämpfen der ſiebziger Jahre konnte ich nicht die Kraft und
Zeit aufwenden, um den Widerſtand der genannten Behörde vor
dem Kaiſer zu überwinden; die Sache blieb in den Acten liegen.
Ich ſchreibe den Widerſtand mehr der militäriſchen Eiferſucht zu,
mit der ich 1866, 1870 und ſpäter Kämpfe zu beſtehn hatte, die
meinem Gemüthe peinlicher geweſen ſind als die meiſten andern.
Bei meinem Bemühn, die Zuſtimmung des Kaiſers zu ge¬
winnen, hatte ich weniger die handelspolitiſchen Vortheile, als die
ihm mehr eingänglichen militäriſchen Erwägungen in den Vorder¬
grund geſtellt. Die holländiſche Kriegsmarine hat den Vortheil,
Canäle im Binnenlande benutzen zu können, die den größten
Schiffen den Durchgang geſtatten. Unſer analoges Bedürfniß einer
Canalverbindung wird durch das Vorhandenſein der däniſchen Halb¬
inſel und die Vertheilung unſrer Flotte auf zwei getrennten Meeren
weſentlich geſteigert. Wenn unſre geſammte Flotte aus dem Kieler
Hafen, der Elbemündung und eventuell, bei Verlängerung des Canals,
der Jahde ausfallen kann, ohne daß ein blockirender Feind es vor¬
[31/0055]
Bedeutung des Nordoſtſee-Canals. Helgoland.
her weiß, ſo iſt der letztre genöthigt, in jedem der beiden Meere
ein unſrer ganzen Flotte äquivalentes Geſchwader zu unterhalten.
Aus dieſen und andern Gründen war ich der Meinung, daß die
Herſtellung des Canals unſrer Küſtenvertheidigung nützlicher ſein
würde, als die Verwendung der Canalkoſten auf Feſtungsbau und
Mehranſchaffung von Schiffen, für deren Bemannung wir nicht
über unbegrenzte Kräfte verfügen. Mein Wunſch war, den Canal
von der Niederelbe in weſtlicher Richtung ſo weit fortzuſetzen, daß
die Weſermündung, die Jahde und eventuell auch die Emsmündung
zu Ausfallpforten, welche der blockirende Feind zu beobachten hätte,
hergerichtet würden. Die weſtliche Fortſetzung des Canals wäre
verhältnißmäßig weniger koſtſpielig, als die Durchſchneidung des
holſteiniſchen Landrückens, da ſich Linien von gleichmäßigem Niveau
darbieten, auch zur Umgehung der hohen Geeſt an der Landſpitze
zwiſchen der Weſer und der Elbemündung.
Im Hinblick auf eine, vorausſichtlich franzöſiſche, Blockade war
bisher die Deckung Helgolands durch die engliſche Neutralität für
uns nützlich; ein franzöſiſches Geſchwader konnte daſelbſt kein
Kohlendepot haben, ſondern war genöthigt, zur Beſchaffung des
Kohlenbedarfs in beſtimmten, nicht zu langen Zeiträumen nach
franzöſiſchen Häfen zurückzukehren oder eine große Anzahl von
Frachtſchiffen hin- und hergehn zu laſſen. Jetzt haben wir den
Felſen mit eigner Kraft zu vertheidigen, wenn wir verhindern
wollen, daß die Franzoſen im Falle des Krieges ſich daſelbſt feſt¬
ſetzen. Welche Gründe um das Jahr 1885 den Widerſtand der
Landesvertheidigungs-Commiſſion abgeſchwächt haben, weiß ich nicht;
vielleicht hatte Graf Moltke ſich inzwiſchen überzeugt, daß der
Gedanke eines deutſch-däniſchen Bündniſſes, mit dem er ſich früher
getragen hatte, unausführbar ſei.
[[32]/0056]
Zwanzigſtes Kapitel.
Nikolsburg.
I.
Am 30. Juni 1866 Abends traf Seine Majeſtät mit dem
Hauptquartier in Reichenberg ein. Die Stadt von 28,000 Ein¬
wohnern beherbergte 1800 öſtreichiſche Gefangne und war nur von
500 preußiſchen Trainſoldaten mit alten Carabinern beſetzt; nur
einige Meilen davon lag die ſächſiſche Reiterei. Dieſe konnte in
einer Nacht Reichenberg erreichen und das ganze Hauptquartier mit
Sr. Majeſtät aufheben. Daß wir in Reichenberg Quartier hatten,
war telegraphiſch publicirt geworden. Ich erlaubte mir den König
hierauf aufmerkſam zu machen, und infolge dieſer Anregung wurde
befohlen, daß die Trainſoldaten ſich einzeln und unauffällig nach
dem Schloſſe begeben ſollten, wo der König Quartier genommen
hatte. Die Militärs waren über dieſe meine Einmiſchung empfind¬
lich, und um ihnen zu beweiſen, daß ich um meine Sicherheit
nicht beſorgt ſei, verließ ich das Schloß, wohin Seine Majeſtät
mich befohlen hatte, und behielt mein Quartier in der Stadt. Es
war damit ſchon der Keim zu einer der Reſſort-Eiferſucht ent¬
ſpringenden Verſtimmung der Militärs gegen mich wegen meiner
perſönlichen Stellung zu Sr. Majeſtät gelegt, die ſich im Laufe
des Feldzugs und des franzöſiſchen Krieges weiter entwickelte.
[33/0057]
Verſtimmung der Militärs. Franzöſiſche Einmiſchung.
Nach der Schlacht von Königgrätz war die Situation der¬
artig, daß ein Eingehn auf die erſte Annäherung Oeſtreichs zu
Friedensunterhandlungen nicht nur möglich, ſondern durch die Ein¬
miſchung Frankreichs geboten erſchien. Letztre datirte von dem in
der Nacht vom 4. zum 5. Juli in Hořricz *) eingetroffenen, an
Seine Majeſtät gerichteten Telegramm, in welchem Louis Napoleon
dem Könige mittheilte, daß der Kaiſer Franz Joſeph ihm Venetien
abgetreten und ſeine Vermittlung angerufen habe. Der glänzende
Erfolg der Waffen des Königs nöthige Napoleon aus ſeiner bis¬
herigen Zurückhaltung herauszutreten 1). Die Einmiſchung war her¬
vorgerufen durch unſern Sieg, nachdem Napoleon bis dahin auf
unſre Niederlage und Hülfsbedürftigkeit gerechnet hatte. Wenn
unſrerſeits der Sieg von Königgrätz durch Eingreifen des Generals
v. Etzel und durch energiſche Verfolgung des geſchlagnen Feindes
vermittelſt unſrer intacten Cavallerie vollſtändig ausgenutzt worden
wäre, ſo würde wahrſcheinlich die Sendung des Generals von Gab¬
lenz in das preußiſche Hauptquartier ſchon zu dem Abſchluß nicht
nur eines Waffenſtillſtandes, ſondern auch der Baſen des künftigen
Friedens geführt haben, bei der Mäßigung, welche unſrerſeits und
damals auch noch bei dem Könige in Bezug auf die Bedingungen
des Friedens vorwaltete, eine Mäßigung, die damals von Oeſtreich
doch ſchon mehr als nützlich beanſpruchte, und uns als künftige
Genoſſen alle bisherigen Bundesglieder, aber alle verkleinert und
verletzt, gelaſſen hätte. Auf meinen Antrag antwortete Seine Majeſtät
dem Kaiſer Napoleon dilatoriſch, aber doch mit Ablehnung jedes
Waffenſtillſtandes ohne Friedensbürgſchaften.
Ich fragte ſpäter in Nikolsburg den General von Moltke,
was er thun würde, wenn Frankreich militäriſch eingriffe. Seine
Antwort war: Eine defenſive Haltung gegen Oeſtreich, mit Be¬
*) So ſchreibt der Generalſtab, geſprochen wird es Horſitz.
1) S. den Text bei L. Schneider a. a. O. I 253 f.
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 3
[34/0058]
Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.
ſchränkung auf die Elblinie, inzwiſchen Führung des Krieges gegen
Frankreich.
Dieſes Gutachten befeſtigte mich noch mehr in meinem Ent¬
ſchluſſe, Seiner Majeſtät den Frieden auf der Baſis der terri¬
torialen Integrität Oeſtreichs anzurathen. Ich war der Anſicht,
daß wir im Falle der franzöſiſchen Einmiſchung entweder ſofort
unter mäßigen Bedingungen mit Oeſtreich Frieden und wo möglich
ein Bündniß ſchließen müßten, um Frankreich anzugreifen, oder daß
wir Oeſtreich durch raſchen Anlauf und durch Förderung des Con¬
flicts in Ungarn, vielleicht auch in Böhmen, ſchnell vollends lahm
zu legen, und bis dahin gegen Frankreich, nicht, wie Moltke wollte,
gegen Oeſtreich, uns nur defenſiv zu verhalten hätten. Ich war
des Glaubens, daß der Krieg gegen Frankreich, den Moltke, wie
er ſagte, zuerſt und ſchnell führen wollte, nicht ſo leicht ſein, daß
Frankreich zwar für die Offenſive wenig Kräfte übrig haben, aber
in der Defenſive nach geſchichtlicher Erfahrung im Lande ſelbſt bald
ſtark genug werden würde, um den Krieg in die Länge zu ziehn,
ſo daß wir dann vielleicht unſre Defenſive gegen Oeſtreich an der
Elbe nicht ſiegreich würden halten können, wenn wir einen In¬
vaſionskrieg in Frankreich, mit Oeſtreich und Süddeutſchland feind¬
lich im Rücken, zu führen hätten. Ich wurde durch dieſe Perſpec¬
tive zur lebhafteren Anſtrengung im Sinne des Friedens beſtimmt.
Eine Betheiligung Frankreichs am Kriege hätte damals viel¬
leicht nur 60 000 Mann franzöſiſcher Truppen ſofort nach Deutſch¬
land in das Gefecht geführt, vielleicht noch weniger; dieſe Zuthat
zu dem Beſtande der ſüddeutſchen Bundesarmee wäre jedoch aus¬
reichend geweſen, um für die letztre die einheitliche und energiſche
Führung, wahrſcheinlich unter franzöſiſchem Obercommando, herzu¬
ſtellen. Allein die bairiſche Armee ſoll zur Zeit des Waffenſtill¬
ſtandes 100 000 Köpfe ſtark geweſen ſein, und mit den übrigen ver¬
fügbaren deutſchen Truppen, an ſich guten und tapfern Soldaten, und
60 000 Franzoſen wäre uns von Südweſten her eine Armee von
200 000 Mann unter einheitlicher, kräftiger franzöſiſcher Leitung
[35/0059]
Bedenklichkeit der Lage. Der Appell an Ungarn.
anſtatt der frühern, ſchüchternen und zwieſpältigen entgegengetreten,
der wir vorwärts Berlin keine gleichwerthigen Streitkräfte gegen¬
überzuſtellen hatten, ohne Wien gegenüber zu ſchwach zu werden.
Mainz war von Bundestruppen unter dem Befehl des bairiſchen
Generals Grafen Rechberg beſetzt; wären die Franzoſen einmal
darin geweſen, ſo würde es harte Arbeit gekoſtet haben, ſie daraus
zu entfernen.
Unter dem Druck der franzöſiſchen Intervention und zu einer
Zeit, als es ſich noch nicht überſehn ließ, ob es gelingen werde, ſie auf
dem diplomatiſchen Gebiete feſtzuhalten, entſchloß ich mich, dem Könige
den Appell an die ungariſche Nationalität anzurathen. Wenn Napoleon
in der angedeuteten Weiſe in den Krieg eingriff, Rußlands Haltung
zweifelhaft blieb, namentlich aber die Cholera in unſrer Armee
weitre Fortſchritte machte, ſo konnte unſre Lage eine ſo ſchwierige
werden, daß wir zu jeder Waffe, die uns die entfeſſelte nationale
Bewegung nicht nur in Deutſchland, ſondern auch in Ungarn und
Böhmen darbieten konnte, greifen mußten, um nicht zu unterliegen *).
II.
Am 12. Juli fand in dem Marſchquartier Czernahora Kriegs¬
rath, oder, wie die Militärs die Sache genannt haben wollen,
Generalsvortrag Statt — ich behalte der Kürze und des allgemeinen
Verſtändniſſes wegen den erſtern auch von Roon 1) gebrauchten
Ausdruck bei, obwohl der Feldmarſchall Moltke in einem dem
Profeſſor von Treitſchke am 9. Mai 1881 übergebenen Aufſatze
bemerkt hat, daß in beiden Kriegen niemals Kriegsrath gehalten
worden ſei 2). Zu dieſen unter dem Vorſitz des Königs gehaltenen
*) In dem Briefe an ſeine Gemalin vom 7. Februar 1871 (Denkwürdig¬
keiten III4 297).
1) Vgl. die Aeußerung in der Rede vom 16. Januar 1874, Politiſche
Reden VI 140.
2) Vgl. Moltke, Geſammelte Schriften III 415 ff.
[36/0060]
Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.
Berathungen, die anfangs regelmäßig, ſpäter in größern Abſtänden
Statt fanden, wurde ich 1866 zugezogen, wenn ich erreichbar war.
An jenem Tage handelte es ſich um die Richtung des weitern
Vorgehns gegen Wien; ich war verſpätet zur Beſprechung er¬
ſchienen, und der König orientirte mich, daß es ſich darum handle,
die Befeſtigungen der Floridsdorfer Linien zu überwältigen, um
nach Wien zu gelangen, daß dazu nach der Beſchaffenheit der
Werke ſchweres Geſchütz aus Magdeburg herbeigeführt werden müſſe *)
und daß dazu eine Transportzeit von 14 Tagen erforderlich ſei.
Nachdem Breſche gelegt, ſollten die Werke geſtürmt werden, wofür
ein muthmaßlicher Verluſt von 2000 Mann veranſchlagt wurde.
Der König verlangte meine Meinung über die Frage. Mein erſter
Eindruck war, daß wir 14 Tage nicht verlieren durften, ohne
die Gefahr mindeſtens der franzöſiſchen Einmiſchung ſehr viel
näher zu rücken, als ſie ohnehin lag **). Ich machte meine Beſorgniß
geltend und ſagte: „Vierzehn Tage abwartender Pauſe können wir nicht
verlieren, ohne das Schwergewicht des franzöſiſchen Arbitriums ge¬
fährlich zu verſtärken.“ Ich ſtellte die Frage, ob wir überhaupt die
Floridsdorfer Befeſtigungen ſtürmen müßten, ob wir ſie nicht um¬
gehn könnten. Mit einer Viertelſchwenkung links könnte die Richtung
auf Preßburg genommen und die Donau dort mit leichterer Mühe
überſchritten werden. Entweder würden die Oeſtreicher dann
den Kampf in ungünſtiger Lage mit Front nach Oſten ſüdlich der
Donau aufnehmen oder vorher auf Ungarn ausweichen; dann ſei
Wien ohne Schwertſtreich zu nehmen. Der König ließ ſich eine
*) In dem Werke des Generalſtabs heißt es S. 484 unter dem 14. Juli:
„Nach Dresden wurde an den Oberſten Mertens telegraphirt, 50 dorthin
dirigirte [alſo wohl noch nicht eingetroffene] ſchwere Geſchütze ſo bereit zu halten,
daß ſie, ſobald es befohlen würde, ohne Zeitverluſt auf der Eiſenbahn abge¬
ſandt werden könnten. Die Eiſenbahn jenſeits Lundenburg war zerſtört; der
General von Hinderſin wurde daher beauftragt, an dem genannten Orte einen
Park von Transportmitteln zuſammen zu bringen.“
**) Die Situation war ähnlich wie 1870 vor Paris.
[37/0061]
Die Digreſſion nach Preßburg. Diplomatiſche Erwägungen.
Karte reichen und ſprach ſich zu Gunſten dieſes Vorſchlags aus;
die Ausführung wurde, wie mir ſchien widerſtrebend, in Angriff
genommen, aber ſie geſchah.
Nach dem Generalſtabswerke, S. 522, erging erſt unter dem
19. Juli folgender Erlaß des Großen Hauptquartiers:
„Es iſt die Abſicht Sr. Majeſtät des Königs, die Armee in einer
Stellung hinter dem Rußbach zu concentriren. — In dieſer Stellung
ſoll die Armee zunächſt in der Lage ſein, einem Angriff entgegen
zu treten, welchen der Feind mit etwa 150 000 Mann von Florids¬
dorf aus zu unternehmen vermöchte; demnächſt ſoll ſie aus der¬
ſelben entweder die Floridsdorfer Verſchanzungen recognoſciren und
angreifen, oder aber, unter Zurücklaſſung eines Obſervationscorps
gegen Wien, möglichſt ſchnell nach Preßburg abmarſchiren können.
— Beide Armeen ſchieben ihre Vortruppen und Recognoſcirungen
an den Rußbach in der Richtung auf Wolkersdorf und Deutſch-
Wagram vor. Gleichzeitig mit dieſem Vorrücken ſoll der Verſuch
gemacht werden, Preßburg durch überraſchenden Angriff zu nehmen
und den eventuellen Donauübergang daſelbſt zu ſichern.“
Mir kam es für unſre ſpätern Beziehungen zu Oeſtreich
darauf an, kränkende Erinnerungen nach Möglichkeit zu verhüten,
wenn es ſich ohne Beeinträchtigung unſrer deutſchen Politik thun
ließ. Der ſiegreiche Einzug des preußiſchen Heeres in die feind¬
liche Hauptſtadt wäre für unſre Militärs natürlich eine be¬
friedigende Erinnerung geweſen, für unſre Politik war er kein
Bedürfniß; in dem öſtreichiſchen Selbſtgefühl hätte er gleich jeder
Abtretung alten Beſitzes an uns eine Verletzung hinterlaſſen,
die, ohne für uns ein zwingendes Bedürfniß zu ſein, die
Schwierigkeit unſrer künftigen gegenſeitigen Beziehungen unnöthig
geſteigert haben würde. Es war mir ſchon damals nicht zweifel¬
haft, daß wir die Errungenſchaften des Feldzugs in fernern Kriegen
zu vertheidigen haben würden, wie Friedrich der Große die Er¬
gebniſſe ſeiner beiden erſten ſchleſiſchen Kriege in dem ſchärfern
Feuer des ſiebenjährigen. Daß ein franzöſiſcher Krieg auf den
[38/0062]
Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.
öſtreichiſchen folgen werde, lag in der hiſtoriſchen Conſequenz,
ſelbſt dann, wenn wir dem Kaiſer Napoleon die kleinen Speſen,
die er für ſeine Neutralität von uns erwartete, hätten bewilligen
können. Auch nach ruſſiſcher Seite hin konnte man zweifeln, welche
Wirkung eintreten werde, wenn man ſich dort klar machte, welche
Erſtarkung für uns in der nationalen Entwicklung Deutſchlands
lag. Wie ſich die ſpätern Kriege um die Behauptung des Gewon¬
nenen geſtalten würden, war nicht vorauszuſehn; in allen Fällen
aber war es von hoher Wichtigkeit, ob die Stimmung, die wir bei
unſern Gegnern hinterließen, unverſöhnlich, die Wunden, die wir
ihnen und ihrem Selbſtgefühl geſchlagen, unheilbar ſein würden.
In dieſer Erwägung lag für mich ein politiſcher Grund, einen
triumphirenden Einzug in Wien, nach Napoleoniſcher Art, eher zu
verhüten als herbeizuführen. In Lagen, wie die unſrige damals
war, iſt es politiſch geboten, ſich nach einem Siege nicht zu fragen,
wie viel man dem Gegner abdrücken kann, ſondern nur zu er¬
ſtreben, was politiſches Bedürfniß iſt. Die Verſtimmung, die
mein Verhalten mir in militäriſchen Kreiſen eintrug, habe ich als
die Wirkung einer militäriſchen Reſſortpolitik betrachtet, der ich
den entſcheidenden Einfluß auf die Staatspolitik und deren Zukunft
nicht einräumen konnte.
III.
Als es darauf ankam, zu dem Telegramm Napoleons vom
4. Juli Stellung zu nehmen, hatte der König die Friedens¬
bedingungen ſo ſkizzirt: Bundesreform unter preußiſcher Leitung,
Erwerb Schleswig-Holſteins, Oeſtreichiſch-Schleſiens, eines böhmi¬
ſchen Grenzſtrichs, Oſtfrieslands, Erſetzung der feindlichen Sou¬
veräne von Hanover, Kurheſſen, Meiningen, Naſſau durch ihre
Thronfolger. Später traten andre Wünſche hervor, die theils in
dem Könige ſelbſt entſtanden, theils durch äußere Einflüſſe erzeugt
[39/0063]
Diplomatie und militäriſche Reſſortpolitik. Wünſche des Königs.
waren. Der König wollte Theile von Sachſen, Hanover, Heſſen
annectiren, beſonders aber Ansbach und Bayreuth wieder an ſein
Haus bringen. Seinem ſtarken und berechtigten Familiengefühl
lag der Rückerwerb der fränkiſchen Fürſtenthümer nahe.
Ich erinnere mich, auf einem der erſten Hoffeſte, denen ich
in den 30er Jahren beiwohnte, einem Coſtümballe bei dem da¬
maligen Prinzen Wilhelm, dieſen in der Tracht des Kurfürſten
Friedrich I. geſehn zu haben. Die Wahl des Coſtüms außerhalb
der Richtung der übrigen, war der Ausdruck des Familiengefühls,
der Abſtammung, und ſelten wird dieſes Coſtüm natürlicher und
kleidſamer getragen worden ſein, als von dem damals etwa 37 Jahre
alten Prinzen Wilhelm, deſſen Bild darin mir ſtets gegenwärtig
geblieben iſt. Der ſtarke dynaſtiſche Familienſinn war vielleicht in
Kaiſer Friedrich III. noch ſchärfer ausgeprägt, aber gewiß iſt, daß
1866 der König auf Ansbach und Bayreuth noch ſchwerer ver¬
zichtete als auf Oeſtreichiſch-Schleſien, Deutſch-Böhmen und Theile
von Sachſen. Ich legte an Erwerbungen von Oeſtreich und Baiern
den Maßſtab der Frage, ob die Einwohner in etwaigen Kriegen
bei einem Rückzuge der preußiſchen Behörden und Truppen dem
Könige von Preußen noch treu bleiben, Befehle von ihm annehmen
würden, und ich hatte nicht den Eindruck, daß die Bevölkerung
dieſer Gebiete, die in die bairiſchen und öſtreichiſchen Verhältniſſe
eingelebt iſt, in ihrer Geſinnung den Hohenzollernſchen Neigungen
entgegenkommen würde.
Das alte Stammland der Brandenburger Markgrafen im Süden
und Oſten von Nürnberg etwa zu einer preußiſchen Provinz mit
Nürnberg als Hauptſtadt gemacht, wäre kaum ein Landestheil geweſen,
den Preußen in Kriegsfällen von Streitkräften entblößen und unter
den Schutz ſeiner dynaſtiſchen Anhänglichkeit hätte ſtellen können. Die
letztre hat während der kurzen Zeit des preußiſchen Beſitzes keine tiefen
Wurzeln geſchlagen, trotz der geſchickten Verwaltung durch Harden¬
berg, und war ſeither in der bairiſchen Zeit vergeſſen, ſo weit ſie
nicht durch confeſſionelle Vorgänge in Erinnerung gebracht wurde,
[40/0064]
Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.
was ſelten und vorübergehend der Fall war. Wenn auch gelegentlich
das Gefühl der bairiſchen Proteſtanten verletzt wurde, ſo hat ſich
die Empfindlichkeit darüber niemals in Geſtalt einer Erinnerung
an Preußen geäußert. Uebrigens wäre auch nach einer ſolchen
Beſchneidung der bairiſche Stamm von den Alpen bis zur Ober¬
pfalz in der Verbitterung, in welche die Verſtümmelung des König¬
reichs ihn verſetzt haben würde, immer als ein ſchwer zu ver¬
ſöhnendes und nach der ihm innewohnenden Stärke gefährliches
Element für die zukünftige Einigkeit zu betrachten geweſen. Es
gelang mir jedoch in Nikolsburg nicht, dem Könige meine Anſichten
über den zu ſchließenden Frieden annehmbar zu machen. Ich mußte
daher Herrn von der Pfordten, der am 24. Juli dorthin gekommen
war, unverrichteter Sache abreiſen laſſen und mich mit einer Kritik
ſeines Verhaltens vor dem Kriege begnügen. Er war ängſtlich, die
öſtreichiſche Anlehnung vollſtändig aufzugeben, obgleich er ſich auch
dem Wiener Einfluß gern entzogen hätte, wenn es ohne Gefahr
möglich war; aber Rheinbunds-Velleitäten, Reminiſcenzen an die
Stellung, die die deutſchen Kleinſtaaten unter franzöſiſchem Schutze
von 1806 bis 1814 gehabt hatten, waren bei ihm nicht vorhanden
— ein ehrlicher und gelehrter, aber politiſch nicht geſchickter deutſcher
Profeſſor.
Dieſelbe Erwägung, wie in Betreff der fränkiſchen Fürſten¬
thümer, machte ich Sr. Majeſtät gegenüber geltend in Betreff
Oeſtreichiſch-Schleſiens, das eine der kaiſertreueſten Provinzen,
überdies vorwiegend ſlaviſch bevölkert iſt, und in Betreff der
böhmiſchen Gebiete, die der König auf Andringen des Prinzen
Friedrich Carl als Glacis vor den ſächſiſchen Bergen behalten
wollte, Reichenberg, das Egerthal, Karlsbad. Es kam ſpäter hinzu,
daß Karolyi jede Landabtretung kategoriſch ablehnte, ſelbſt die von
mir ihm gegenüber berührte des kleinen Gebiets von Braunau,
deſſen Beſitz für uns ein Eiſenbahnintereſſe hatte. Ich zog vor, auch
darauf zu verzichten, ſobald das Feſthalten den Abſchluß zu verſchlep¬
pen und die Gefahr franzöſiſcher Einmiſchung zu verſchärfen drohte.
[41/0065]
Umfang der Annexionen, König und Miniſter.
Der Wunſch des Königs, Weſtſachſen, Leipzig, Zwickau und
Chemnitz zur Herſtellung der Verbindung mit Bayreuth zu behalten,
ſtieß auf die Erklärung Karolyis, daß er die Integrität Sachſens
als conditio sine qua non der Friedensbedingungen feſthalten
müſſe. Dieſer Unterſchied in der Behandlung der Bundesgenoſſen
beruhte auf den perſönlichen Beziehungen zum Könige von Sachſen
und auf dem Verhalten der ſächſiſchen Truppen nach der Schlacht
bei Königgrätz, die bei dem Rückzuge den feſteſten und intacteſten
militäriſchen Körper gebildet hatten. Die andern deutſchen Truppen
hatten ſich tapfer geſchlagen, wo ſie in's Gefecht kamen, aber ſpät und
ohne praktiſche Erfolge, und es waltete in Wien der den Umſtänden
nach unberechtigte Eindruck vor, von den Bundesgenoſſen, namentlich
von Baiern und Würtemberg, unzulänglich unterſtützt zu ſein.
Das Generalſtabswerk ſagt unter dem 21. Juli:
„In Nikolsburg hatten ſeit mehreren Tagen Verhandlungen
Statt gefunden, deren nächſtes Ziel eine fünftägige Waffenruhe
war. Vor Allem galt es, für die Diplomatie Zeit zu gewinnen *).
Jetzt, wo das preußiſche Heer das Marchfeld betrat, ſtand eine
neue Kataſtrophe unmittelbar bevor.“
Ich fragte Moltke, ob er unſer Unternehmen bei Preßburg
für gefährlich oder für unbedenklich halte. Bis jetzt hätten wir
keinen Flecken auf der weißen Weſte. Sei mit Sicherheit auf einen
guten Ausgang zu rechnen, ſo müßten wir die Schlacht ſich voll¬
ziehn, die Waffenruhe einen halben Tag ſpäter beginnen laſſen;
der Sieg würde unſre Stellung in der Verhandlung natürlich
ſtärken. Im andern Fall wäre beſſer auf das Unternehmen zu
verzichten. Er gab mir die Antwort, daß er den Ausgang für
zweifelhaft und die Operation für eine gewagte halte; aber im
Kriege ſei alles gefährlich. Dies beſtimmte mich, die Verabredung
über die Waffenruhe Sr. Majeſtät in der Art zu empfehlen, daß
*) Die Diplomatie hatte aber Angeſichts der franzöſiſchen Einmiſchung
weniger Zeit zu verlieren als die Heeresleitung.
[42/0066]
Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.
Sonntag den 22. Mittags die Feindſeligkeiten eingeſtellt und nicht
vor Mittag des 27. wieder aufgenommen werden ſollten. Der
General von Franſecky erhielt am 22. Morgens 7½ Uhr die Nach¬
richt von der an demſelben Tage eintretenden Waffenruhe und die
Weiſung, damit ſein Verhalten in Einklang zu bringen. Der
Kampf, in welchem er bei Blumenau ſtand, mußte daher um 12 Uhr
abgebrochen werden.
IV.
Inzwiſchen hatte ich in den Conferenzen mit Karolyi und mit
Benedetti, dem es Dank dem Ungeſchick unſrer militäriſchen Polizei
im Rücken des Heeres gelungen war, in der Nacht vom 11. zum
12. Juli nach Zwittau zu gelangen und dort plötzlich vor meinem
Bette zu erſcheinen, die Bedingungen ermittelt, unter denen der
Friede erreichbar war. Benedetti erklärte für die Grundlinie der
Napoleoniſchen Politik, daß eine Vergrößerung Preußens um
höchſtens 4 Millionen Seelen in Norddeutſchland, unter Feſthaltung
der Mainlinie als Südgrenze, keine franzöſiſche Einmiſchung nach
ſich ziehn werde. Er hoffte wohl, einen ſüddeutſchen Bund als
franzöſiſche Filiale auszubilden. Oeſtreich trat aus dem Deutſchen
Bunde aus und war bereit, alle Einrichtungen, die der König in
Norddeutſchland treffen werde, vorbehaltlich der Integrität Sachſens,
anzuerkennen. Dieſe Bedingungen enthielten Alles, deſſen wir be¬
durften: freie Bewegung in Deutſchland.
Ich war nach allen vorſtehenden Erwägungen feſt entſchloſſen,
die Annahme des von Oeſtreich gebotenen Friedens zur Cabinets¬
frage zu machen. Die Lage war eine ſchwierige; allen Generalen
war die Abneigung gemeinſam, den bisherigen Siegeslauf ab¬
zubrechen, und der König war militäriſchen Einflüſſen im Laufe
jener Tage öfter und bereitwilliger zugänglich als den meinigen;
ich war der Einzige im Hauptquartier, dem eine politiſche Verant¬
wortlichkeit als Miniſter oblag und der ſich nothwendig der Situation
[43/0067]
Verhandlungen über den Präliminarfrieden.
gegenüber eine Meinung bilden und einen Entſchluß faſſen mußte,
ohne ſich für den Ausfall auf irgend eine andre Autorität in Geſtalt
collegialiſchen Beſchluſſes oder höherer Befehle berufen zu können.
Ich konnte die Geſtaltung der Zukunft und das von ihr abhängige
Urtheil der Welt ebenſo wenig vorausſehn wie irgend ein Andrer,
aber ich war der einzige Anweſende, der geſetzlich verpflichtet war,
eine Meinung zu haben, zu äußern und zu vertreten. Ich hatte
ſie mir in ſorgſamer Ueberlegung der Zukunft unſrer Stellung in
Deutſchland und unſrer Beziehungen zu Oeſtreich gebildet, war
bereit, ſie zu verantworten und bei dem Könige zu vertreten. Es
war mir bekannt, daß man mich im Generalſtabe den „Queſten¬
berg im Lager“ nannte, und die Identificirung mit dem Wallen¬
ſteinſchen Hofkriegsrath war mir nicht ſchmeichelhaft.
Am 23. Juli fand unter dem Vorſitze des Königs ein Kriegs¬
rath Statt, in dem beſchloſſen werden ſollte, ob unter den gebotenen
Bedingungen Friede zu machen oder der Krieg fortzuſetzen ſei.
Eine ſchmerzhafte Krankheit, an der ich litt, machte es nothwendig,
die Berathung in meinem Zimmer zu halten. Ich war dabei der
einzige Civiliſt in Uniform. Ich trug meine Ueberzeugung dahin
vor, daß auf die öſtreichiſchen Bedingungen der Friede geſchloſſen
werden müſſe, blieb aber damit allein; der König trat der mili¬
täriſchen Mehrheit bei. Meine Nerven widerſtanden den mich Tag
und Nacht ergreifenden Eindrücken nicht, ich ſtand ſchweigend auf,
ging in mein anſtoßendes Schlafzimmer und wurde dort von einem
heftigen Weinkrampf befallen. Während deſſelben hörte ich, wie
im Nebenzimmer der Kriegsrath aufbrach. Ich machte mich nun
an die Arbeit, die Gründe zu Papier zu bringen, die m. E. für
den Friedensſchluß ſprachen, und bat den König, wenn er dieſen
meinen verantwortlichen Rath nicht annehmen wolle, mich meiner
Aemter als Miniſter bei Weiterführung des Krieges zu entheben.
Mit dieſem Schriftſtücke *) begab ich mich am folgenden Tage zum
*) Zum Theil abgedruckt in Sybel V 294 ff.
[44/0068]
Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.
mündlichen Vortrag. Im Vorzimmer fand ich zwei Oberſten mit
Berichten über das Umſichgreifen der Cholera unter ihren Leuten,
von denen kaum die Hälfte dienſtfähig war *). Die erſchreckenden
Zahlen befeſtigten meinen Entſchluß, aus dem Eingehn auf die
öſtreichiſchen Bedingungen die Cabinetsfrage zu machen. Ich be¬
fürchtete neben politiſchen Sorgen, daß bei Verlegung der Opera¬
tionen nach Ungarn die mir bekannte Beſchaffenheit dieſes Landes
die Krankheit ſchnell übermächtig machen würde. Das Klima,
beſonders im Auguſt, iſt gefährlich, der Waſſermangel groß, die
ländlichen Ortſchaften mit Feldmarken von mehren Quadratmeilen
weit verſtreut, dazu Reichthum an Pflaumen und Melonen. Mir
ſchwebte als warnendes Beiſpiel unſer Feldzug von 1792 in der
Champagne vor, wo wir nicht durch die Franzoſen, ſondern durch
die Ruhr zum Rückzug gezwungen wurden.
Ich entwickelte dem Könige an der Hand meines Schriftſtücks
die politiſchen und militäriſchen Gründe, die gegen die Fort¬
ſetzung des Krieges ſprachen.
Oeſtreich ſchwer zu verwunden, dauernde Bitterkeit und
Revanchebedürfniß mehr als nöthig zu hinterlaſſen, mußten wir
vermeiden, vielmehr uns die Möglichkeit, uns mit dem heutigen
Gegner wieder zu befreunden, wahren und jedenfalls den öſt¬
reichiſchen Staat als einen Stein im europäiſchen Schachbrett und
die Erneuerung guter Beziehungen mit demſelben als einen für
uns offen zu haltenden Schachzug anſehn. Wenn Oeſtreich ſchwer
geſchädigt wäre, ſo würde es der Bundesgenoſſe Frankreichs und
jedes Gegners werden; es würde ſelbſt ſeine antiruſſiſchen Inter¬
eſſen der Revanche gegen Preußen opfern.
Auf der andern Seite könnte ich mir keine für uns annehm¬
bare Zukunft der Länder, welche die öſtreichiſche Monarchie bildeten,
denken, falls letztre durch ungariſche und ſlaviſche Aufſtände zer¬
ſtört oder in dauernde Abhängigkeit verſetzt werden ſollte. Was
*) Während des Feldzuges ſind 6427 Mann der Seuche erlegen.
[45/0069]
Schwierigkeit der Lage gegenüber den militäriſchen Einflüſſen.
ſollte an die Stelle Europas geſetzt werden, welche der öſtreichiſche
Staat von Tyrol bis zur Bukowina bisher ausfüllt? Neue
Bildungen auf dieſer Fläche könnten nur dauernd revolutionärer
Natur ſein. Deutſch-Oeſtreich könnten wir weder ganz, noch theil¬
weiſe brauchen, eine Stärkung des preußiſchen Staates durch Er¬
werbung von Provinzen wie Oeſtreichiſch-Schleſien und Stücken
von Böhmen nicht gewinnen, eine Verſchmelzung des deutſchen
Oeſtreichs mit Preußen würde nicht erfolgen, Wien als ein Zu¬
behör von Berlin aus nicht zu regiren ſein.
Wenn der Krieg fortgeſetzt würde, ſo wäre der wahrſcheinliche
Kampfplatz Ungarn. Die öſtreichiſche Armee, die, wenn wir bei
Preßburg über die Donau gegangen, Wien nicht würde halten
können, würde ſchwerlich nach Süden ausweichen, wo ſie zwiſchen
die preußiſche und die italieniſche Armee geriethe und durch ihre
Annäherung an Italien die geſunkene und durch Louis Napoleon
eingeſchränkte Kampfluſt der Italiener neu beleben würde; ſondern
ſie würde nach Oſten ausweichen und die Vertheidigung in Ungarn
fortſetzen, wenn auch nur in der Hoffnung auf die in Ausſicht
ſtehende Einmiſchung Frankreichs und die durch Frankreich vor¬
bereitete Desintereſſirung Italiens. Uebrigens hielte ich auch unter
dem rein militäriſchen Geſichtspunkte nach meiner Kenntniß des
ungariſchen Landes die Fortſetzung des Krieges dort für undankbar,
die dort zu erreichenden Erfolge für nicht im Verhältniß ſtehend
zu den bisher gewonnenen Siegen, alſo unſer Preſtige vermindernd
— ganz abgeſehn davon, daß die Verlängerung des Krieges der
franzöſiſchen Einmiſchung die Wege ebnen würde. Wir müßten
raſch abſchließen, ehe Frankreich Zeit zur Entwicklung weitrer diplo¬
matiſcher Action auf Oeſtreich gewönne.
Gegen alles dies erhob der König keine Einwendung; aber
die vorliegenden Bedingungen erklärte er für ungenügend, ohne
jedoch ſeine Forderungen beſtimmt zu formuliren. Nur ſo viel war
klar, daß ſeine Anſprüche ſeit dem 4. Juli gewachſen waren. Der
Hauptſchuldige könne doch nicht ungeſtraft ausgehn, die Verführten
[46/0070]
Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.
könnten wir dann leichter davonkommen laſſen, ſagte er, und beſtand
auf den ſchon erwähnten Gebietsabtretungen von Oeſtreich. Ich
erwiderte: Wir hätten nicht eines Richteramts zu walten, ſondern
deutſche Politik zu treiben; Oeſtreichs Rivalitätskampf gegen uns
ſei nicht ſtrafbarer als der unſrige gegen Oeſtreich; unſre Auf¬
gabe ſei Herſtellung oder Anbahnung deutſch-nationaler
Einheit unter Leitung des Königs von Preußen.
Auf die deutſchen Staaten übergehend, ſprach er von verſchie¬
denen Erwerbungen durch Beſchneidung der Länder aller Gegner.
Ich wiederholte, daß wir nicht vergeltende Gerechtigkeit zu üben,
ſondern Politik zu treiben hätten, daß ich vermeiden wolle, in dem
künftigen deutſchen Bundesverhältniß verſtümmelte Beſitze zu ſehn,
in denen bei Dynaſtie und Bevölkerung der Wunſch nach Wieder¬
erlangung des frühern Beſitzes mit fremder Hülfe nach menſch¬
licher Schwäche leicht lebendig werden könnte; es würden das un¬
zuverläſſige Bundesgenoſſen werden. Daſſelbe würde der Fall ſein,
wenn man zur Entſchädigung Sachſens etwa Würzburg oder Nürn¬
berg von Baiern verlangen wollte, ein Plan, der außerdem mit
der dynaſtiſchen Vorliebe Sr. Majeſtät für Ansbach in Concurrenz
treten würde. Ebenſo hatte ich Pläne zu bekämpfen, die auf eine
Vergrößerung des Großherzogthums Baden hinausliefen, Annexion
der bairiſchen Pfalz, und eine Ausdehnung in der untern Main¬
gegend. Das Aſchaffenburger Gebiet Baierns wurde dabei als ge¬
eignet angeſehn, um Heſſen-Darmſtadt für den durch die Maingrenze
gebotenen Verluſt von Oberheſſen zu entſchädigen. Später in Berlin
ſtand von dieſen Plänen nur noch zur Verhandlung die Abtretung
des auf dem rechten Mainufer gelegenen bairiſchen Gebiets ein¬
ſchließlich der Stadt Bayreuth an Preußen, wobei die Frage zur Er¬
örterung kam, ob die Grenze auf dem nördlichen rothen oder ſüd¬
lichen weißen Main gehn ſollte. Vorwiegend ſchien mir bei Sr.
Majeſtät die von militäriſcher Seite gepflegte Abneigung gegen die
Unterbrechung des Siegeslaufes der Armee. Der Widerſtand, den ich
den Abſichten Sr. Majeſtät in Betreff der Ausnutzung der militäri¬
[47/0071]
König Wilhelms Widerſpruch und ſein Nachgeben.
ſchen Erfolge und ſeiner Neigung, den Siegeslauf fortzuſetzen, meiner
Ueberzeugung gemäß leiſten mußte, führte eine ſo lebhafte Erregung
des Königs herbei, daß eine Verlängerung der Erörterung unmög¬
lich war und ich mit dem Eindruck, meine Auffaſſung ſei abgelehnt,
das Zimmer verließ mit dem Gedanken, den König zu bitten, daß
er mir erlauben möge, in meiner Eigenſchaft als Offizier in mein
Regiment einzutreten. In mein Zimmer zurückgekehrt, war ich in
der Stimmung, daß mir der Gedanke nahe trat, ob es nicht beſſer
ſei, aus dem offenſtehenden, vier Stock hohen Fenſter zu fallen,
und ich ſah mich nicht um, als ich die Thür öffnen hörte, obwohl ich
vermuthete, daß der Eintretende der Kronprinz ſei, an deſſen Zim¬
mer ich auf dem Corridor vorübergegangen war. Ich fühlte ſeine
Hand auf meiner Schulter, während er ſagte: „Sie wiſſen, daß
ich gegen den Krieg geweſen bin, Sie haben ihn für nothwendig
gehalten und tragen die Verantwortlichkeit dafür. Wenn Sie
nun überzeugt ſind, daß der Zweck erreicht iſt und jetzt Friede
geſchloſſen werden muß, ſo bin ich bereit, Ihnen beizuſtehn und
Ihre Meinung bei meinem Vater zu vertreten.“ Er begab ſich
dann zum Könige, kam nach einer kleinen halben Stunde zurück in
derſelben ruhigen und freundlichen Stimmung, aber mit den Worten:
„Es hat ſehr ſchwer gehalten, aber mein Vater hat zugeſtimmt.“
Dieſe Zuſtimmung hatte ihren Ausdruck gefunden in einem mit
Bleiſtift an den Rand einer meiner letzten Eingaben geſchriebenen
Marginale ungefähr des Inhalts: „Nachdem mein Miniſterpräſident
mich vor dem Feinde im Stiche läßt und ich hier außer Stande
bin, ihn zu erſetzen, habe ich die Frage mit meinem Sohne erörtert,
und da ſich derſelbe der Auffaſſung des Miniſterpräſidenten an¬
geſchloſſen hat, ſehe ich mich zu meinem Schmerze gezwungen, nach
ſo glänzenden Siegen der Armee in dieſen ſauren Apfel zu
beißen und einen ſo ſchmachvollen Frieden anzunehmen.“ — Ich
glaube mich nicht im Wortlaut zu irren, obſchon mir das Acten¬
ſtück gegenwärtig nicht zugänglich iſt; der Sinn war jedenfalls
der angegebene und mir damals trotz der Schärfe der Ausdrücke
[48/0072]
Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.
eine erfreuliche Löſung der für mich unerträglichen Spannung.
Ich nahm die Königliche Zuſtimmung zu dem von mir als
politiſch nothwendig Erkannten gern entgegen, ohne mich an
ihrer unverbindlichen Form zu ſtoßen. Im Geiſte des Königs
waren eben die militäriſchen Eindrücke damals die vorherrſchenden,
und das Bedürfniß, die bis dahin ſo glänzende Siegeslaufbahn
fortzuſetzen, war vielleicht ſtärker als die politiſchen und diplo¬
matiſchen Erwägungen.
Von dem erwähnten Marginale des Königs, das mir der
Kronprinz überbrachte, blieb mir als einziges Reſiduum die Erinne¬
rung an die heftige Gemüthsbewegung, in die ich meinen alten
Herrn hatte verſetzen müſſen, um zu erlangen, was ich im Intereſſe
des Vaterlandes für geboten hielt, wenn ich verantwortlich bleiben
ſollte. Noch heut haben dieſe und analoge Vorgänge bei mir keinen
andern Eindruck hinterlaſſen, als die ſchmerzliche Erinnerung, daß
ich einen Herrn, den ich perſönlich liebte wie dieſen, ſo habe ver¬
ſtimmen müſſen.
V.
Nachdem die Präliminarien mit Oeſtreich unterzeichnet waren,
fanden ſich Bevollmächtigte von Würtemberg, Baden und Darm¬
ſtadt ein. Den würtembergiſchen Miniſter von Varnbüler zu em¬
pfangen, lehnte ich zunächſt ab, weil die Verſtimmung gegen ihn
bei uns ſtärker war als gegen Pfordten. Er war politiſch ge¬
wandter als der Letztre, aber auch weniger durch deutſch-nationale
Skrupel behindert. Seine Stimmung beim Ausbruch des Krieges
hatte ſich in dem Vae victis! ausgedrückt und war zu erklären
aus den Stuttgarter Beziehungen zu Frankreich, die insbeſondre
durch die Vorliebe der Königin von Holland, einer würtembergiſchen
Prinzeſſin, getragen waren.
Dieſelbe hatte, ſo lange ich in Frankfurt war, viel für mich
übrig, ermuthigte mich in meinem Widerſtande gegen Oeſtreichs
[49/0073]
Marginal des Königs. Feindliche Haltung des Stuttgarter Hofes.
Politik und gab ihre antiöſtreichiſche Geſinnung dadurch zu er¬
kennen, daß ſie im Hauſe ihres Geſandten Herrn von Scherff mich,
nicht ohne Unhöflichkeit gegen den öſtreichiſchen Präſidial-Geſandten
Baron Prokeſch, tendenziös auszeichnete, zu einer Zeit, wo Louis
Napoleon noch Hoffnung auf ein preußiſches Bündniß gegen Oeſt¬
reich hegte und den italieniſchen Krieg bereits im Sinne hatte.
Ich laſſe unentſchieden, ob ſchon damals die Vorliebe für das
Napoleoniſche Frankreich allein die Politik der Königin von Holland
beſtimmte, oder ob nur das unruhige Bedürfniß, überhaupt Politik
zu treiben, ſie zu einer Parteinahme in dem preußiſch-öſtreichiſchen
Streit und zu einer auffällig ſchlechten Behandlung meines öſt¬
reichiſchen Collegen und Bevorzugung meiner bewog. Jedenfalls
habe ich nach 1866 die mir früher ſo gnädige Fürſtin unter den
ſchärfſten Gegnern meiner in Vorausſicht des Bruches von 1870
befolgten Politik gefunden. Im Jahre 1867 wurden wir zuerſt
durch amtliche franzöſiſche Kundgebungen verdächtigt, Abſichten auf
Holland zu haben, namentlich in der Aeußerung des Miniſters
Rouher in einer Rede gegen Thiers, 16. März 1867, daß Frank¬
reich unſer Vordringen an die „Zuider-See“ nicht dulden könne.
Es iſt nicht wahrſcheinlich, daß die Zuider-See von dem Franzoſen
ſelbſtändig entdeckt worden und ſogar die Orthographie des Namens
in der franzöſiſchen Preſſe ohne fremde Hülfe richtig gegeben worden
iſt: man darf vermuthen, daß der Gedanke an dieſes Gewäſſer von
Holland aus dem franzöſiſchen Mißtrauen ſuppeditirt worden war.
Auch die niederländiſche Abſtammung des Herrn Drouyn de Lhuys
berechtigt mich nicht, eine ſo genaue Localkenntniß in der Geo¬
graphie außerhalb der franzöſiſchen Grenzen bei ſeinem Collegen
vorauszuſetzen.
Die Einſchätzung der würtembergiſchen Politik in die Rhein¬
bundkategorie beſtimmte mich, den Empfang des Herrn von Varn¬
büler in Nikolsburg zunächſt abzulehnen. Auch eine Unterredung
zwiſchen uns, die der Prinz Friedrich von Würtemberg, der
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 4
[50/0074]
Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.
Bruder des Commandirenden unſers Gardecorps, und die uns ſehr
wohlwollende Großfürſtin Helene vermittelt hatten, verlief politiſch
fruchtlos. Erſt ſpäter in Berlin habe ich mit Herrn von Varn¬
büler verhandelt; und ſeine bewegliche Empfänglichkeit für die
politiſchen Eindrücke jeder Situation bethätigte ſich dort darin, daß
er der erſte unter den ſüddeutſchen Miniſtern war, mit dem ich
einen Bündniß-Vertrag der bekannten Art abſchließen konnte.
[[51]/0075]
Einundzwanzigſtes Kapitel.
Der Norddeutſche Bund.
I.
In Berlin war ich äußerlich mit dem Verhältniß Preußens
zu den neuerworbenen Provinzen und den übrigen norddeutſchen
Staaten, innerlich mit der Stimmung der auswärtigen Mächte und
Erwägung ihres wahrſcheinlichen Verhaltens beſchäftigt. Unſre
innere Lage hatte für mich und vielleicht für Jeden den Charakter
des Proviſoriums und der Unreife. Die Rückwirkung der Ver¬
größerung Preußens, der bevorſtehenden Verhandlungen über den
Norddeutſchen Bund und ſeine Verfaſſung ließen unſre innere Ent¬
wicklung ebenſo ſehr im Fluß begriffen erſcheinen wie unſre Be¬
ziehungen zum deutſchen und außerdeutſchen Auslande es waren
vermöge der europäiſchen Situation, in der der Krieg abgebrochen
wurde. Ich nahm als ſicher an, daß der Krieg mit Frankreich auf
dem Wege zu unſrer weitern nationalen Entwicklung, ſowohl der
intenſiven als der über den Main hinaus extenſiven, nothwendig
werde geführt werden müſſen, und daß wir dieſe Eventualität bei
allen unſern Verhältniſſen im Innern wie nach Außen im Auge
zu behalten hätten. Louis Napoleon ſah in einiger Vergrößerung
Preußens in Norddeutſchland nicht nur keine Gefahr für Frank¬
reich, ſondern ein Mittel gegen die Einigung und nationale Ent¬
wicklung Deutſchlands; er glaubte, daß deſſen außerpreußiſche
[52/0076]
Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.
Glieder ſich dann des franzöſiſchen Schutzes um ſo bedürftiger
fühlen würden. Er hatte Rheinbundreminiſcenzen und wollte die
Entwicklung in der Richtung eines Geſammt-Deutſchlands hindern.
Er glaubte es zu können, weil er die nationale Stimmung des
Tages nicht kannte und die Situation nach ſeinen ſüddeutſchen
Schulerinnerungen und nach diplomatiſchen Berichten beurtheilte,
die nur auf miniſterielle und ſporadiſch dynaſtiſche Stimmungen
gegründet waren. Ich war überzeugt, daß ihr Gewicht ſchwinden
würde; ich nahm an, daß ein Geſammt-Deutſchland nur eine Frage
der Zeit, und daß zu deren Löſung der Norddeutſche Bund die erſte
Etappe ſei, daß aber die Feindſchaft Frankreichs und vielleicht Ru߬
lands, das Revanchebedürfniß Oeſtreichs für 1866 und der preußiſch-
dynaſtiſche Particularismus des Königs nicht zu früh in die Schranken
gerufen werden dürfe. Ich war nicht zweifelhaft, daß ein deutſch-
franzöſiſcher Krieg werde geführt werden müſſen, bevor die Geſammt-
Einrichtung Deutſchlands ſich verwirklichte. Dieſen Krieg hinauszu¬
ſchieben, bis unſre Streitkräfte durch Anwendung der preußiſchen
Wehrgeſetzgebung nicht blos auf Hanover, Heſſen und Holſtein, ſon¬
dern, wie ich damals ſchon nach der Fühlung mit den Süddeutſchen
hoffen durfte, auch auf dieſe, geſtärkt wären, war ein Gedanke, der
mich damals beherrſchte. Ich hielt einen Krieg mit Frankreich im
Hinblick auf die Erfolge der Franzoſen im Krimkriege und in Italien
für eine Gefahr, die ich damals überſchätzte, indem mir die für Frank¬
reich erreichbare Truppenziffer, die Ordnung und die Organiſation
und das Geſchick in der Führung als höher und beſſer vorſchwebten,
als ſich 1870 beſtätigt hat. Die Tapferkeit des franzöſiſchen Troupiers
und die Höhe des nationalen Gefühls und der verletzten Eitelkeit
haben ſich vollkommen in dem Maße bewährt, wie ich ſie für die Even¬
tualität einer deutſchen Invaſion in Frankreich eingeſchätzt hatte, in
Erinnerung an die Erlebniſſe von 1814, 1792, und zu Anfang des
vorigen Jahrhunderts im ſpaniſchen Erbfolgekriege, wo das Ein¬
dringen fremder Heere ſtets ähnliche Erſcheinungen wie das Stö¬
kern in einem Ameiſenhaufen hervorgerufen hat. Für leicht habe
[53/0077]
Diplomatiſche Sorgen und Erwägungen.
ich den franzöſiſchen Krieg niemals gehalten, ganz abgeſehn von
den Bundesgenoſſen, die Frankreich in dem öſtreichiſchen Revanche¬
gefühl und in dem ruſſiſchen Gleichgewichtsbedürfniß finden konnte.
Mein Beſtreben, dieſen Krieg hinauszuſchieben, bis die Wirkung
unſrer Wehrgeſetzgebung und militäriſchen Erziehung auf alle nicht
altpreußiſchen Landestheile ſich vollſtändig hätte entwickeln können,
war alſo natürlich, und dieſes mein Ziel war 1867 bei der
Luxemburger Frage nicht annähernd erreicht. Jedes Jahr Auf¬
ſchub des Krieges ſtärkte unſer Heer um mehr als 100000 gelernte
Soldaten. Bei der Indemnitätsfrage dem Könige gegenüber und
bei der Verfaſſungsfrage im preußiſchen Landtage aber ſtand ich
unter dem Druck des Bedürfniſſes, dem Auslande keine Spur von
vorhandenen oder bevorſtehenden Hemmniſſen durch unſre innre
Lage, ſondern nur die einige nationale Stimmung zur Anſchauung
zu bringen, um ſo mehr, als ſich nicht ermeſſen ließ, welche Bundes¬
genoſſen Frankreich im Kriege gegen uns haben werde. Die Ver¬
handlungen und Annäherungsverſuche zwiſchen Frankreich und Oeſt¬
reich in Salzburg und anderswo bald nach 1866, konnten unter
Leitung des Herrn von Beuſt erfolgreich ſein, und ſchon die Be¬
rufung dieſes verſtimmten ſächſiſchen Miniſters zur Leitung der
Wiener Politik ließ darauf ſchließen, daß ſie die Richtung der Re¬
vanche einſchlagen würde.
Die Haltung Italiens war nach der Fügſamkeit gegen Na¬
poleon, die wir 1866 kennen gelernt hatten, unberechenbar, ſobald
franzöſiſcher Druck ſtattfand. Der General Govone war, als ich
in Berlin im Frühjahr 1866 mit ihm verhandelte, erſchrocken,
als ich den Wunſch äußerte, er möge zu Haus anfragen, ob wir
auch gegen Napoleoniſche Verſtimmungen auf Italiens Vertrags¬
treue rechnen dürften. Er ſagte, daß eine ſolche Rückfrage an
demſelben Tage nach Paris telegraphirt werden würde, mit der
Anfrage, „was man antworten ſolle?“ In der öffentlichen Meinung
Italiens konnte ich auf ſichern Anhalt nicht rechnen, nach der
Haltung der italieniſchen Politik während des Krieges, nicht blos
[54/0078]
Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.
auf Grund der perſönlichen Freundſchaft Victor Emanuels für
Louis Napoleon, ſondern auch nach Maßgabe der durch Garibaldi im
Namen der öffentlichen Meinung Italiens bekundeten Parteinahme.
Der Bund Italiens mit Frankreich und Oeſtreich lag nicht blos
nach meiner Befürchtung, ſondern nach der öffentlichen Meinung
in Europa nicht außerhalb der Wahrſcheinlichkeit.
Von Rußland war einer ſolchen Coalition gegenüber activer
Beiſtand ſchwerlich zu erwarten. Mir ſelbſt hatte der ruſſenfreund¬
liche Einfluß, den ich in der Zeit des Krimkrieges auf die Ent¬
ſchließungen Friedrich Wilhelms IV. auszuüben vermochte, das
Wohlwollen des Kaiſers Alexander erworben, und ſein Vertrauen
zu mir war in der Zeit meiner Geſandſchaft in Petersburg ge¬
wachſen. Inzwiſchen aber hatte in dem dortigen Cabinet unter
Gortſchakows Leitung der Zweifel an der Nützlichkeit einer ſo be¬
deutenden Kräftigung Preußens für Rußland die Wirkung der
kaiſerlichen Freundſchaft für den König Wilhelm und der Dank¬
barkeit für unſre Politik in der polniſchen Frage von 1863
aufzuwiegen angefangen. Wenn die Mittheilung richtig iſt, die
Drouyn de Lhuys dem Grafen Vitzthum von Eckſtädt *) gemacht
hat, ſo hat Gortſchakow im Juli 1866 den Kaiſer Napoleon zu
einem gemeinſamen Proteſte gegen die Beſeitigung des Deutſchen
Bundes aufgefordert und eine Ablehnung erfahren. Der Kaiſer
Alexander hatte in der erſten Ueberraſchung und nach der Sendung
Manteuffels nach Petersburg dem Ergebniß der Nikolsburger Prä¬
liminarien generell und obiter zugeſtimmt; der Haß gegen Oeſt¬
reich, der ſeit dem Krimkriege die öffentliche Meinung der ruſſi¬
ſchen „Geſellſchaft“ beherrſchte, hatte zunächſt ſeine Befriedigung
gefunden in den Niederlagen Oeſtreichs; dieſer Stimmung ſtanden
aber ruſſiſche Intereſſen gegenüber, die ſich an den zariſchen Ein¬
fluß in Deutſchland und an deſſen Bedrohung durch Frankreich
knüpften.
*) London, Gaſtein und Sadowa. Stuttgart 1890. S. 248.
[55/0079]
Haltung des Auslandes gegenüber dem Siege Preußens.
Ich nahm zwar an, daß wir gegen eine Coalition, die
Frankreich etwa gegen uns aufbringen würde, auf ruſſiſchen Bei¬
ſtand würden zählen können, aber doch erſt, wenn wir das Un¬
glück gehabt haben ſollten, Niederlagen zu erleiden, vermöge
deren die Frage näher gerückt wäre, ob Rußland die Nachbarſchaft
einer ſiegreichen franzöſiſch-öſtreichiſchen Coalition an ſeinen pol¬
niſchen Grenzen vertragen könne. Die Unbequemlichkeit einer ſolchen
Nachbarſchaft wäre vielleicht noch größer geworden, wenn ſtatt des
antipäpſtlichen Königreichs Italien das Papſtthum ſelbſt der Dritte
im Bunde der beiden katholiſchen Großmächte geworden wäre. Bis
zum Näherrücken ſolcher Gefährlichkeit infolge preußiſcher Nieder¬
lagen hielt ich aber für wahrſcheinlich, daß Rußland es nicht un¬
gern ſähe, wenigſtens es nicht hindern würde, wenn eine numeriſch
überlegne Coalition einiges Waſſer in unſern Wein von 1866 ge¬
goſſen hätte.
Von England durften wir einen activen Beiſtand gegen den
Kaiſer Napoleon nicht erwarten, obſchon die engliſche Politik einer
ſtarken befreundeten Continentalmacht mit vielen Bataillonen be¬
darf und dieſes Bedürfniß unter Pitt, Vater und Sohn, zu
Gunſten Preußens, ſpäter Oeſtreichs, und dann unter Palmerſton
bis zu den ſpaniſchen Heirathen, dann wieder unter Clarendon
zu Gunſten Frankreichs gepflegt hatte. Das Bedürfniß der eng¬
liſchen Politik war entweder entente cordiale mit Frankreich oder
Beſitz eines ſtarken Bundesgenoſſen gegen Frankreichs Feindſchaft.
England iſt wohl bereit, das ſtärkere Deutſch-Preußen als Erſatz
für Oeſtreich hinzunehmen, und in der Lage vom Herbſt 1866
konnten wir auf platoniſches Wohlwollen und belehrende Zeitungs¬
artikel dort allenfalls zählen; aber bis zum activen Beiſtande zu
Waſſer und zu Lande würde ſich die theoretiſche Sympathie ſchwer¬
lich verdichtet haben. Die Vorgänge von 1870 haben gezeigt, daß
ich in der Einſchätzung Englands Recht hatte. Mit einer für uns
jedenfalls verſtimmenden Bereitwilligkeit übernahm man in London
die Vertretung Frankreichs in Norddeutſchland, und während des
[56/0080]
Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.
Krieges hat man ſich niemals zu unſern Gunſten ſo weit com¬
promittirt, daß nicht die franzöſiſche Freundſchaft gewahrt worden
wäre; im Gegentheil.
II.
Es geſchah hauptſächlich unter dem Einfluß dieſer Erwägungen
auf dem Gebiete der auswärtigen Politik, daß ich mich entſchloß,
jeden Schachzug im Innern danach einzurichten, ob der Eindruck
der Solidität unſrer Staatskraft dadurch gefördert oder geſchädigt
werden könne. Ich ſagte mir, daß das nächſte Hauptziel die Selb¬
ſtändigkeit und Sicherheit nach Außen ſei, daß zu dieſem Zwecke
nicht nur die thatſächliche Beſeitigung innern Zwieſpaltes, ſondern
auch jeder Schein davon nach dem Auslande und in Deutſchland
vermieden werden müſſe; daß, wenn wir erſt Unabhängigkeit von
dem Auslande hätten, wir auch in unſrer innern Entwicklung uns
frei bewegen könnten, wir uns dann ſo liberal oder ſo reactionär
einrichten könnten, wie es gerecht und zweckmäßig erſchiene; daß
wir alle innern Fragen vertagen könnten bis zur Sicherſtellung
unſrer nationalen Ziele nach Außen. Ich zweifelte nicht an der
Möglichkeit, der königlichen Macht die nöthige Stärke zu geben,
um unſre innere Uhr richtig zu ſtellen, wenn wir erſt nach Außen
die Freiheit erworben haben würden, als große Nation ſelb¬
ſtändig zu leben. Bis dahin war ich bereit, der Oppoſition nach
Bedürfniß black-mail zu zahlen, um zunächſt unſre volle Kraft
und in der Diplomatie den Schein dieſer einigen Kraft und die
Möglichkeit in die Wagſchale werfen zu können, im Falle der Noth
auch revolutionäre Nationalbewegungen gegen unſre Feinde ent¬
feſſeln zu können.
In einer Commiſſionsſitzung des Landtags wurde ich von
der Fortſchrittspartei, wohl nicht ohne Kenntniß von den Be¬
ſtrebungen der äußerſten Rechten, darüber interpellirt, ob die Re¬
girung bereit ſei, die preußiſche Verfaſſung in den neuen Pro¬
[57/0081]
Ergebniß der Erwägungen für die innere Politik.
vinzen einzuführen. Eine ausweichende Antwort würde das Mi߬
trauen der Verfaſſungsparteien hervorgerufen oder belebt haben.
Nach meiner Ueberzeugung war es überhaupt nothwendig, die Ent¬
wicklung der deutſchen Frage durch keinen Zweifel an der Verfaſſungs¬
treue der Regirung zu hemmen; durch jeden neuen Zwieſpalt zwiſchen
Regirung und Oppoſition wäre der vom Auslande zu erwartende
äußere Widerſtand gegen nationale Neubildungen geſtärkt worden.
Aber meine Bemühungen, die Oppoſition und ihre Redner zu über¬
zeugen, daß ſie wohlthäten, innere Verfaſſungsfragen gegenwärtig
zurücktreten zu laſſen, daß die deutſche Nation, wenn erſt geeinigt,
in der Lage ſein werde, ihre innern Verhältniſſe nach ihrem Er¬
meſſen zu ordnen; daß unſre gegenwärtige Aufgabe ſei, die Nation
in dieſe Lage zu verſetzen, alle dieſe Erwägungen waren der bor¬
nirten und kleinſtädtiſchen Parteipolitik der Oppoſitionsredner gegen¬
über erfolglos, und die durch ſie hervorgerufenen Erörterungen
ſtellten das nationale Ziel zu ſehr in den Vordergrund nicht nur
dem Auslande, ſondern auch dem Könige gegenüber, der damals
noch mehr die Macht und Größe Preußens als die verfaſſungs¬
mäßige Einheit Deutſchlands im Auge hatte. Ihm lag ehrgeizige
Berechnung nach deutſcher Richtung hin fern; den Kaiſertitel be¬
zeichnete er noch 1870 geringſchätzig als den „Charaktermajor“, wor¬
auf ich erwiderte, daß Se. Majeſtät die Competenzen der Stellung
allerdings ſchon verfaſſungsmäßig beſäßen und der „Kaiſer“ nur die
äußerliche Sanction enthalte, gewiſſermaßen als ob ein mit Füh¬
rung eines Regiments beauftragter Offizier definitiv zum Comman¬
deur ernannt werde. Für das dynaſtiſche Gefühl war es ſchmeichel¬
hafter, grade als geborner König von Preußen und nicht als er¬
wählter und durch ein Verfaſſungsgeſetz hergeſtellter Kaiſer die
betreffende Macht auszuüben, analog wie ein prinzlicher Regiments-
Commandeur es vorzieht, nicht Herr Oberſt, ſondern Königliche
Hoheit genannt zu werden und der gräfliche Lieutenant nicht Herr
Lieutenant, ſondern Herr Graf. Ich hatte mit dieſen Eigenthüm¬
lichkeiten meines Herrn zu rechnen, wenn ich mir ſein Vertrauen
[58/0082]
Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.
erhalten wollte, und ohne ihn und ſein Vertrauen war mein Weg
in deutſcher Politik überhaupt nicht gangbar.
III.
Im Hinblick auf die Nothwendigkeit, im Kampfe gegen eine
Uebermacht des Auslandes im äußerſten Nothfall auch zu revo¬
lutionären Mitteln greifen zu können, hatte ich auch kein Bedenken
getragen, die damals ſtärkſte der freiheitlichen Künſte, das all¬
gemeine Wahlrecht, ſchon durch die Circulardepeſche vom 10. Juni
1866 mit in die Pfanne zu werfen, um das monarchiſche Ausland
abzuſchrecken von Verſuchen, die Finger in unſre nationale omelette
zu ſtecken. Ich habe nie gezweifelt, daß das deutſche Volk, ſobald
es einſieht, daß das beſtehende Wahlrecht eine ſchädliche Inſtitution
ſei, ſtark und klug genug ſein werde, ſich davon frei zu machen.
Kann es das nicht, ſo iſt meine Redensart, daß es reiten könne,
wenn es erſt im Sattel ſäße 1), ein Irrthum geweſen. Die Annahme
des allgemeinen Wahlrechts war eine Waffe im Kampfe gegen Oeſt¬
reich und weitres Ausland, im Kampfe für die deutſche Einheit, zugleich
eine Drohung mit letzten Mitteln im Kampfe gegen Coalitionen. In
einem Kampfe derart, wenn er auf Tod und Leben geht, ſieht man
die Waffen, zu denen man greift, und die Werthe, die man durch
ihre Benutzung zerſtört, nicht an: der einzige Rathgeber iſt zunächſt
der Erfolg des Kampfes, die Rettung der Unabhängigkeit nach
Außen; die Liquidation und Aufbeſſerung der dadurch angerichteten
Schäden hat nach dem Frieden ſtattzufinden. Außerdem halte ich
noch heut das allgemeine Wahlrecht nicht blos theoretiſch, ſondern
auch praktiſch für ein berechtigtes Prinzip, ſobald nur die Heimlich¬
keit beſeitigt wird, die außerdem einen Charakter hat, der mit den
beſten Eigenſchaften des germaniſchen Blutes in Widerſpruch ſteht.
1) Rede vom 11. März 1867, Politiſche Reden III 184.
[59/0083]
Das allgemeine Wahlrecht und ſein Gegengewicht.
Die Einflüſſe und Abhängigkeiten, die das praktiſche Leben der
Menſchen mit ſich bringt, ſind gottgegebene Realitäten, die man nicht
ignoriren kann und ſoll. Wenn man es ablehnt, ſie auf das
politiſche Leben zu übertragen, und im letztern den Glauben an
die geheime Einſicht Aller zum Grunde legt, ſo geräth man in
einen Widerſpruch des Staatsrechts mit den Realitäten des menſch¬
lichen Lebens, der praktiſch zu ſtehenden Frictionen und ſchließlich
zu Exploſionen führt und theoretiſch nur auf dem Wege ſocial¬
demokratiſcher Verrücktheiten lösbar iſt, deren Anklang auf der
Thatſache beruht, daß die Einſicht großer Maſſen hinreichend ſtumpf
und unentwickelt iſt, um ſich von der Rhetorik geſchickter und ehr¬
geiziger Führer unter Beihülfe eigner Begehrlichkeit ſtets einfangen
zu laſſen.
Das Gegengewicht dagegen liegt in dem Einfluſſe der Ge¬
bildeten, der ſich ſtärker geltend machen würde, wenn die Wahl
öffentlich wäre 1), wie für den preußiſchen Landtag. Die größere
Beſonnenheit der intelligenteren Claſſen mag immerhin den mate¬
riellen Untergrund der Erhaltung des Beſitzes haben; der andre
des Strebens nach Erwerb iſt nicht weniger berechtigt, aber für
die Sicherheit und Fortbildung des Staates iſt das Uebergewicht
derer, die den Beſitz vertreten, das nützlichere. Ein Staatsweſen,
deſſen Regiment in den Händen der Begehrlichen, der novarum
rerum cupidi, und der Redner liegt, welche die Fähigkeit, urtheils¬
loſe Maſſen zu belügen, in höherm Maße wie Andre beſitzen,
wird ſtets zu einer Unruhe der Entwicklung verurtheilt ſein, der
ſo gewichtige Maſſen, wie ſtaatliche Gemeinweſen ſind, nicht folgen
können, ohne in ihrem Organismus geſchädigt zu werden. Schwere
Maſſen, zu denen große Nationen in ihrem Leben und ihrer Ent¬
wicklung gehören, können ſich nur mit Vorſicht bewegen, da die
1) Die geheime Abſtimmung wurde bekanntlich erſt durch den Antrag
Fries in das Geſetz hineingebracht, während die Regirungsvorlage öffentliche
Abſtimmung forderte.
[60/0084]
Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.
Bahnen, in denen ſie einer unbekannten Zukunft entgegenlaufen,
nicht geglättete Eiſenſchienen haben. Jedes große ſtaatliche Ge¬
meinweſen, in welchem der vorſichtige und hemmende Einfluß
der Beſitzenden, materiellen oder intelligenten Urſprungs, verloren
geht, wird immer in eine der Entwicklung der erſten franzöſiſchen
Revolution ähnliche, den Staatswagen zerbrechende Geſchwindigkeit
gerathen. Das begehrliche Element hat das auf die Dauer
durchſchlagende Uebergewicht der größern Maſſe. Es iſt im
Intereſſe dieſer Maſſe ſelbſt zu wünſchen, daß dieſer Durch¬
ſchlag ohne gefährliche Beſchleunigung und ohne Zertrümmerung
des Staatswagens erfolge. Geſchieht die letztre dennoch, ſo wird
der geſchichtliche Kreislauf immer in verhältnißmäßig kurzer
Zeit zur Dictatur, zur Gewaltherrſchaft, zum Abſolutismus zurück¬
führen, weil auch die Maſſen ſchließlich dem Ordnungsbedürfniß
unterliegen, und wenn ſie es a priori nicht erkennen, ſo ſehn ſie
es infolge mannigfaltiger Argumente ad hominem ſchließlich
immer wieder ein und erkaufen die Ordnung von Dictatur und
Cäſarismus durch bereitwilliges Aufopfern auch des berechtigten
und feſtzuhaltenden Maßes von Freiheit, das europäiſche ſtaatliche
Geſellſchaften vertragen, ohne zu erkranken.
Ich würde es für ein erhebliches Unglück und für eine weſent¬
liche Verminderung der Sicherheit der Zukunft anſehn, wenn wir
auch in Deutſchland in den Wirbel dieſes franzöſiſchen Kreislaufes
geriethen. Der Abſolutismus wäre die ideale Verfaſſung für
europäiſche Staatsgebilde, wenn der König und ſeine Beamten
nicht Menſchen blieben wie jeder Andre, denen es nicht gegeben
iſt, mit übermenſchlicher Sachkunde, Einſicht und Gerechtigkeit zu
regiren. Die einſichtigſten und wohlwollendſten abſoluten Regenten
unterliegen den menſchlichen Schwächen und Unvollkommenheiten,
wie der Ueberſchätzung der eignen Einſicht, dem Einfluß und der
Beredſamkeit von Günſtlingen, ohne von weiblichen, legitimen
und illegitimen Einflüſſen zu reden. Die Monarchie und der
idealſte Monarch, wenn er nicht in ſeinem Idealismus gemein¬
[61/0085]
Preſſe und Parlament als Corrective der Monarchie.
ſchädlich werden ſoll, bedarf der Kritik, an deren Stacheln er ſich
zurechtfindet, wenn er den Weg zu verlieren Gefahr läuft. Joſeph II.
iſt ein warnendes Beiſpiel.
Die Kritik kann nur geübt werden durch eine freie Preſſe
und durch Parlamente im modernen Sinne. Beide Corrective
können ihre Wirkung durch Mißbrauch abſtumpfen und ſchließlich
verlieren. Dies zu verhüten, iſt eine der Aufgaben erhaltender
Politik, die ſich ohne Bekämpfung von Parlament und Preſſe nicht
löſen läßt. Das Abmeſſen der Schranken, die in dieſem Kampfe
innegehalten werden müſſen, um die dem Lande unentbehrliche
Controlle der Regirung weder zu hindern, noch zur Herrſchaft
werden zu laſſen, iſt eine Sache des politiſchen Tactes und
Augenmaßes.
Wenn ein Monarch dafür das hinreichende Augenmaß beſitzt,
ſo iſt das ein Glück für ſein Land, freilich ein vergängliches, wie
alles menſchliche Glück. Die Möglichkeit, Miniſter an's Ruder zu
bringen, welche die entſprechenden Eigenſchaften beſitzen, muß in
dem Verfaſſungsleben gegeben werden, aber auch die Möglichkeit,
Miniſter, die dieſem Bedürfniß genügen, ſowohl gegen gelegent¬
liche Majoritäts-Abſtimmungen als auch gegen Hof- und Camarilla-
Einflüſſe zu halten. Dieſes Ziel war bis zu dem nach menſchlicher
Unvollkommenheit überhaupt erreichbaren Grade annähernd erreicht
unter der Regirung Wilhelms I.
IV.
Die Eröffnung des Landtags ſtand unmittelbar nach unſrer
Ankunft in Berlin bevor, und die Thronrede kam in Prag zur
Berathung. Dort trafen Abgeordnete der conſervativen Fraction
ein, die während des Conflicts zeitweiſe bis auf elf Mitglieder
herabgegangen war und durch die Wahlen am 3. Juli unter dem
Eindruck der erſten Siege vor Königgrätz ſich auf mehr als
[62/0086]
Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.
hundert gehoben hatte. Das Ergebniß würde der Regirung noch
günſtiger geweſen ſein, wenn die Wahl einige Tage nach der
entſcheidenden Schlacht ſtattgefunden hätte; aber auch ſo war es
in Verbindung mit der ſchwunghaften Stimmung im Lande immer¬
hin geeignet, nicht blos conſervativen, ſondern auch reactionären
Beſtrebungen Hoffnung auf Gelingen zu geben. Für diejenigen,
welche nach der Rückbildung zum Abſolutismus oder doch nach
einer Reſtauration im ſtändiſchen Sinne ſtrebten, war durch die
Vergrößerung der Monarchie, durch die parlamentariſche Situation
beim Ausbruch des Krieges und den ungeſchickten und ehrgeizigen
Eigenſinn der Führer der Oppoſition ein Anknüpfungspunkt ge¬
geben, um die preußiſche Verfaſſung zu ſuſpendiren und zu revi¬
diren. Sie war auf das vergrößerte Preußen nicht zugeſchnitten,
noch weniger aber auf die Einſchichtung in die zukünftige Ver¬
faſſung Deutſchlands. Die Verfaſſungsurkunde ſelbſt enthielt einen
Artikel (118), welcher, entſtanden unter dem Eindruck der nationalen
Stimmung zur Zeit der Verfaſſungsbildung und aus dem Entwurf
von 1848 entnommen, zur Unterordnung der preußiſchen Verfaſſung
unter eine neu zu ſchaffende deutſche berechtigte. Es war alſo eine
Gelegenheit gegeben, mit dem formalen Anſtrich der Legalität die
Verfaſſung und die Beſtrebungen der Conflictsmajorität nach par¬
lamentariſcher Herrſchaft aus den Angeln zu heben, und dies lag
im Hintergrunde des Bemühns der äußerſten Rechten und ihrer
nach Prag abgeordneten Mitglieder.
Eine andre Gelegenheit, den innern Conflict zugleich mit der
deutſchen Frage zu erledigen, hatte ſich dem Könige dargeboten,
als der Kaiſer Alexander 1863 zur Zeit des polniſchen Aufſtandes
und des Ueberrumpelungsverſuchs für den Frankfurter Fürſten¬
congreß ein preußiſch-ruſſiſches Bündniß in eigenhändiger Cor¬
reſpondenz lebhaft befürwortet hatte. Auf mehren eng geſchriebenen
Bogen in der feinen Hand des Kaiſers, weit ausgeſponnen und
mit mehr Declamation, als in ſeiner Feder lag, konnte der Brief
an Hamlets Wort:
[63/0087]
Reactionäre Beſtrebungen. Ruſſiſche Anträge von 1863.
Whether 't is nobler in the mind, to suffer
The slings and arrows of outrageous fortune,
Or to take arms against a sea of troubles,
And by opposing end them? —
erinnern, wenn man es aus dem Zweifel in die Affirmative über¬
ſetzt: der Kaiſer iſt der weſtmächtlichen und öſtreichiſch-polniſchen
Chikanen müde und entſchloſſen den Degen zu ziehn, um ſich von
ihnen frei zu machen; an die Freundſchaft und die gleichen
Intereſſen des Königs appellirend, fordert er ihn zu gemeinſamem
Handeln auf, ſo zu ſagen in erweitertem Sinne der Alvensleben¬
ſchen Convention vom Februar deſſelben Jahres. Dem Könige
wurde es ſchwer, einerſeits dem nahen Verwandten und nächſten
Freunde eine ablehnende Antwort zu geben, andrerſeits ſich mit
dem Entſchluſſe vertraut zu machen, ſeinem Lande die Uebel
eines großen Krieges aufzuerlegen, dem Staate und der Dy¬
naſtie die Gefahren eines ſolchen zuzumuthen. Auch die Seite
ſeines Gemüthslebens, die ihn geneigt machte, die Frankfurter
Fürſtenverſammlung zu beſuchen, das Gefühl der Zuſammen¬
gehörigkeit mit allen alten Fürſtenhäuſern, trat in ihm der Ver¬
ſuchung entgegen, der Anrufung des befreundeten Neffen und den
preußiſch-ruſſiſchen Familientraditionen eine Folge zu geben, die
zu dem Bruch mit dem deutſchen Bundesverhältniß und der Ge¬
ſammtheit der deutſchen Fürſtenfamilien führen mußte. In meinem
mehre Tage dauernden Vortrage vermied ich es, die Seite der
Sache zu betonen, welche für unſre innere Politik von Gewicht
geweſen ſein würde, weil ich nicht der Meinung war, daß ein
Krieg grade im Bunde mit Rußland gegen Oeſtreich und alle
Gegner, mit denen wir es 1866 zu thun bekamen, uns der Er¬
füllung unſrer nationalen Aufgabe näher gebracht haben würde.
Es iſt ja ein namentlich in der franzöſiſchen Politik gebräuchliches
Mittel, innere Schwierigkeiten durch Kriege zu überwinden; in
Deutſchland aber würde dieſes Mittel nur dann wirkſam geweſen
ſein, wenn der betreffende Krieg in der Linie der nationalen Ent¬
[64/0088]
Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.
wicklung gelegen hätte. Dazu wäre vor Allem erforderlich geweſen,
daß er nicht mit der, unklugerweiſe noch immer von der öffent¬
lichen Meinung verurtheilten ruſſiſchen Aſſiſtenz geführt wurde.
Die deutſche Einheit mußte ohne fremde Einflüſſe zu Stande
kommen, aus eigner nationaler Kraft. Ueberdies hatte der innere
Conflict, von dem der König bei meinem Eintritt in das Mini¬
ſterium bis zu dem Entſchluſſe zur Abdication beeindruckt war,
an Herrſchaft über ſeine Entſchließungen erheblich eingebüßt, ſeit¬
dem er Miniſter gefunden hatte, die bereit waren, ſeine Politik offen,
ohne Winkelzüge zu vertreten. Er hatte ſeitdem die Ueberzeugung
gewonnen, daß die Krone, wenn es zum revolutionären Bruche ge¬
kommen wäre, ſtärker geweſen ſein würde; die Einſchüchterungen der
Königin und der Miniſter der neuen Aera hatten ihre Kraft ver¬
loren. Dagegen hielt ich in meinen Vorträgen mit meiner Anſicht
von der militäriſchen Stärke, die ein deutſch-ruſſiſches Bündniß,
namentlich im erſten Anlauf haben würde, nicht zurück.
Die geographiſche Lage der drei großen Oſtmächte iſt der Art,
daß eine jede von ihnen, ſobald ſie von den beiden andern ange¬
griffen wird, ſich ſtrategiſch im Nachtheil befindet, auch wenn ſie in
Weſteuropa England oder Frankreich zum Verbündeten hat. Am
meiſten würde Oeſtreich, iſolirt, gegen einen ruſſiſch-deutſchen Angriff
im Nachtheil ſein, am wenigſten Rußland gegen Oeſtreich und Deutſch¬
land; aber auch Rußland würde bei einem concentriſchen Vorſtoß
der beiden deutſchen Mächte gegen den Bug zu Anfang des Krieges
in einer ſchwierigen Lage ſein. Bei ſeiner geographiſchen Lage
und ethnographiſchen Geſtaltung iſt Oeſtreich im Kampfe gegen
die beiden benachbarten Kaiſerreiche deshalb ſehr im Nachtheil,
weil die franzöſiſche Hülfe kaum rechtzeitig eintreffen würde, um
das Gleichgewicht herzuſtellen. Wäre aber Oeſtreich einer deutſch-
ruſſiſchen Coalition von Hauſe aus unterlegen, wäre durch einen
klugen Friedensſchluß der drei Kaiſer unter ſich das gegneriſche
Bündniß geſprengt oder auch nur durch eine Niederlage Oeſtreichs
geſchwächt, ſo wäre das deutſch-ruſſiſche Uebergewicht entſcheidend.
[65/0089]
Beurtheilung des ruſſiſch-preußiſchen Bündnißvorſchlags.
Gleich gute Führung und gleiche Tapferkeit bei den großen Heeren
vorausgeſetzt, liegt in der territorialen Geſtaltung der einzelnen
Machtgebiete eine große Stärke der deutſch-ruſſiſchen Combination,
wenn ſie von Hauſe aus ſicher zuſammenhält. Die Berechnung
militäriſchen Erfolges und der Glaube an einen ſolchen ſind aber
an ſich unſicher und werden noch unſichrer, wenn die veranſchlagte
diesſeitige Macht keine einheitliche iſt, ſondern auf Bündniſſen beruht.
In meinem Entwurf der Antwort, der noch länger ausfallen
mußte als der Brief des Kaiſers Alexander, war hervorgehoben,
daß ein gemeinſamer Krieg gegen die Weſtmächte in ſeiner ſchlie߬
lichen Entwicklung ſich wegen der geographiſchen Verhältniſſe und
wegen der franzöſiſchen Begehrlichkeit nach den Rheinlanden noth¬
wendig zu einem preußiſch-franzöſiſchen condenſiren müſſe, daß die
preußiſch-ruſſiſche Initiative zu dem Kriege unſre Stellung in
Deutſchland verſchlechtern werde, daß Rußland, entfernt von dem
Kriegsſchauplatze, von den Leiden des Krieges weniger betroffen
ſein, Preußen dagegen nicht nur die eignen, ſondern auch die
ruſſiſchen Heere materiell zu erhalten haben und daß die ruſſiſche
Politik dann — wenn mein Gedächtniß mich nicht täuſcht, habe
ich den Ausdruck gebraucht — an dem längern Arme des Hebels
ſitzen würde, und uns auch, wenn wir ſiegreich wären, ähnlich wie in
dem Wiener Congreß und mit noch mehr Gewicht werde vorſchreiben
können, wie unſer Friede beſchaffen ſein ſolle, ebenſo wie Oeſtreich
es 1859 bezüglich unſrer Friedensbedingungen mit Frankreich hätte
machen können, wenn wir damals in den Kampf gegen Frankreich und
Italien eingetreten wären. Ich habe den Text meiner Argumentation
nicht in der Erinnerung, obſchon ich ihn vor wenigen Jahren behufs
unſrer Auseinanderſetzung mit der ruſſiſchen Politik wieder unter
Augen gehabt und mich gefreut habe, daß ich damals die Arbeits¬
kraft beſeſſen hatte, ein ſo langes Concept eigenhändig in einer
für den König lesbaren Schrift herzuſtellen, eine Handarbeit, die
für den Erfolg meiner Gaſteiner Cur nicht förderlich geweſen ſein
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 5
[66/0090]
Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.
wird. Obwohl der König die Frage nicht in demſelben Maße wie
ich unter den deutſch-nationalen Geſichtspunkt zog, ſo unterlag er
doch nicht der Verſuchung, der Ueberhebung der öſtreichiſchen Politik
und der Landtagsmajorität, der Geringſchätzung, die beide der
preußiſchen Krone bezeigten, im Bunde mit Rußland ein gewalt¬
thätiges Ende zu machen. Wenn er auf die ruſſiſche Zumuthung
einging, ſo würden wir bei der Schnelligkeit unſrer Mobiliſirung,
bei der Stärke der ruſſiſchen Armee in Polen und bei der damaligen
militäriſchen Schwäche Oeſtreichs wahrſcheinlich, mit oder ohne den
Beiſtand der damals noch unbefriedigten Begehrlichkeit Italiens,
Oeſtreich übergelaufen haben, bevor Frankreich ihm wirkſame Hülfe
leiſten konnte. Wenn man ſicher geweſen wäre, daß das Ergebniß
dieſes Ueberlaufens ein Dreikaiſerbündniß unter Schonung Oeſt¬
reichs geweſen wäre, ſo wäre meine Beurtheilung der Situation
vielleicht nicht zutreffend zu nennen geweſen. Aber dieſe Sicherheit
war Angeſichts der divergirenden Intereſſen Rußlands und Oeſt¬
reichs im Orient nicht vorhanden; es war kaum wahrſcheinlich und
auch der ruſſiſchen Politik nicht zuſagend, daß eine ſiegreiche preußiſch-
ruſſiſche Coalition Oeſtreich gegenüber auch nur mit dem Maße
von Schonung verführe, welches von preußiſcher Seite 1866 im
Intereſſe der Möglichkeit künftiger Wiederannäherung beobachtet
worden iſt. Ich fürchtete deshalb, daß wir im Falle unſres Sieges
über die Zukunft Oeſtreichs mit Rußland nicht einig ſein würden,
und daß Rußland ſelbſt bei weitern Erfolgen gegen Frankreich
nicht darauf werde verzichten wollen, Preußen in einer unter¬
ſtützungsbedürftigen Stellung an ſeiner Weſtgrenze zu erhalten; am
allerwenigſten wäre von Rußland eine Hülfe für eine nationale
Politik im Sinne der preußiſchen Hegemonie zu erwarten geweſen.
Tilſit, Erfurt, Olmütz und andre hiſtoriſche Erinnerungen ſagten:
vestigia terrent. Kurz, ich hatte nicht das Vertrauen zu der
Gortſchakowſchen Politik, daß wir auf dieſelbe Sicherheit rechnen
könnten, welche Alexander I. 1813 gewährte, bis die Zukunftsfragen,
was aus Polen und Sachſen werden und ob Deutſchland gegen
[67/0091]
Wahrſcheinliche Folgen eines preuß.-ruſſ. Siegs über Oeſtreich-Frankreich.
franzöſiſche Invaſionen eine von ruſſiſchen Entſchließungen unab¬
hängige Deckung haben, Straßburg Bundesfeſtung werden ſolle,
in Wien zur Verhandlung kamen. So mannigfache Erwägungen
hatte ich anzuſtellen, um zu einem Entſchluſſe über die Anträge,
welche ich dem Könige machen, und die Faſſung des Conceptes,
das ich ihm vorlegen wollte, zu gelangen. Ich zweifle nicht, daß
eine Zeit kommen wird, in der auch über dieſe Vorgänge unſre
Archive der Oeffentlichkeit zugänglich werden, es ſei denn, daß in¬
zwiſchen die angeregte Zerſtörung der Documente ſich vollzieht, die
von meiner politiſchen Thätigkeit Zeugniß geben.
Die Verſuchung war groß geweſen für einen Monarchen, deſſen
Stellung den maßloſen Angriffen der Fortſchrittspartei und dem
Druck der öſtreichiſchen Diplomatie nicht blos auf dem nationalen
Gebiete des Frankfurter Fürſtencongreſſes, ſondern auch auf dem
polniſchen von Seiten der drei großen verbündeten Mächte Eng¬
land, Frankreich und Oeſtreich ausgeſetzt war.
Daß der König 1863 ſeine ſchwer gekränkte Empfindung als
Monarch und als Preuße nicht über die politiſchen Erwägungen
Herr werden ließ, beweiſt, wie ſtark in ihm das nationale Ehr¬
gefühl und der geſunde Menſchenverſtand in der Politik waren.
V.
Im Jahre 1866 konnte der König über die Frage, ob er aus
eigner Kraft den parlamentariſchen Widerſtand brechen und einer
Wiederkehr deſſelben vorbeugen ſolle, nicht ſo ſchnell mit ſich in's
Reine kommen, ſo gewichtige Gründe auch dagegen ſprachen. Mit
der Suſpendirung und Reviſion der Verfaſſung, mit der Demüthi¬
gung der Landtagsoppoſition wäre allen mit den Erfolgen von 1866
Unzufriedenen in Deutſchland und Oeſtreich eine wirkſame Waffe
gegen Preußen für die vorauszuſehenden künftigen Kämpfe gegeben
worden. Man hätte ſich darauf gefaßt machen müſſen, einſtweilen
[68/0092]
Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.
in Preußen gegen Parlament und Preſſe ein Regirungsſyſtem
durchzuführen, das von dem ganzen übrigen Deutſchland bekämpft
wurde. Maßregeln, die bei uns gegen die Preſſe zu ergreifen geweſen
ſein würden, würden in Deſſau keine Gültigkeit gehabt haben, und
Oeſtreich und Süddeutſchland würden ihre Revanche einſtweilen da¬
durch genommen haben, daß ſie die von Preußen verlaſſene Führung
auf liberalem und nationalem Gebiete übernahmen. Die nationale
Partei in Preußen ſelbſt würde mit den Gegnern der Regirung
ſympathiſirt haben; wir konnten dann innerhalb der verbeſſerten
preußiſchen Grenzen ſtaatsrechtlich eine Stärkung des Königthums
gewinnen, aber doch in Gegenwart ſtark diſſentirender einheimiſcher
Elemente, denen ſich die Oppoſition in den neuen Provinzen ange¬
ſchloſſen haben würde. Wir hätten dann einen preußiſchen Erobe¬
rungskrieg geführt, aber der nationalen Politik Preußens würden
die Sehnen durchſchnitten worden ſein. In dem Beſtreben, der
deutſchen Nation die Möglichkeit einer ihrer geſchichtlichen Bedeu¬
tung entſprechenden Exiſtenz durch Einheit zu verſchaffen, lag das
gewichtigſte Argument zur Rechtfertigung des geführten deutſchen
„Bruderkrieges“; die Erneuerung eines ſolchen wurde unabwend¬
bar, wenn der Kampf zwiſchen den deutſchen Stämmen lediglich im
Intereſſe der Stärkung des preußiſchen Sonderſtaates fortgeſetzt
wurde.
Ich halte den Abſolutismus für keine Form einer in Deutſch¬
land auf die Dauer haltbaren oder erfolgreichen Regirung. Die
preußiſche Verfaſſung iſt, wenn man von einigen, aus der belgiſchen
überſetzten Phraſenartikeln abſieht, in ihrem Hauptprinzip ver¬
nünftig; ſie hat drei Factoren, den König und zwei Kammern,
deren jeder durch ſein Votum willkürliche Aenderungen des geſetz¬
lichen status quo hindern kann. Darin liegt eine gerechte Ver¬
theilung der geſetzgebenden Gewalt. Wenn man letztre von der
öffentlichen Kritik der Preſſe und der parlamentariſchen Behandlung
emancipirt, ſo wird die Gefahr erhöht, daß ſie auf Abwege geriethe.
Abſolutismus der Krone iſt ebenſo wenig haltbar wie Abſolutismus
[69/0093]
Beurtheilung der reactionären Vorſchläge. Indemnität.
der parlamentariſchen Majoritäten, das Erforderniß der Verſtändi¬
gung beider für jede Aenderung des geſetzlichen status quo iſt ein
gerechtes, und wir hatten nicht nöthig, an der preußiſchen Ver¬
faſſung Erhebliches zu beſſern. Es läßt ſich mit derſelben regiren,
und die Bahn deutſcher Politik wäre verſchüttet worden, wenn wir
1866 daran änderten. Vor dem Siege würde ich nie von „Indemnität“
geſprochen haben; jetzt, nach dem Siege, war der König in der
Lage, ſie großmüthig zu gewähren und Frieden zu ſchließen, nicht
mit ſeinem Volke — der war nie unterbrochen worden, wie der
Verlauf des Krieges gezeigt hat, — ſondern mit dem Theile der
Oppoſition, welcher irre geworden war an der Regirung, mehr
aus nationalen, als aus parteipolitiſchen Gründen.
Dies waren ungefähr die Gedanken und Argumente, mit denen
ich während der viele Stunden langen Fahrt von Prag nach Berlin
(4. Auguſt) die Schwierigkeiten zu bekämpfen ſuchte, die die eignen
Anſichten, noch mehr aber andre Einflüſſe, namentlich auch der Ein¬
fluß der conſervativen Deputation, in dem Könige hinterlaſſen hatten.
Es kam dazu eine ſtaatsrechtliche Auffaſſung Sr. Majeſtät, die ihm ein
Verlangen nach Indemnität als ein Eingeſtändniß begangenen Un¬
rechts erſcheinen ließ *). Ich ſuchte vergeblich dieſen ſprachlichen
und rechtlichen Irrthum zu entkräften, indem ich geltend machte,
daß in Gewährung der Indemnität nichts weiter liege als die An¬
erkennung der Thatſache, daß die Regirung und ihr königlicher
Chef rebus sic stantibus richtig gehandelt hätten; die Forderung
der Indemnität ſei ein Verlangen nach dieſer Anerkennung. In
jedem conſtitutionellen Leben, in dem Spielraum, den es den
Regirungen geſtatte, liege es, daß der Regirung nicht für jede
Situation eine Zwangsroute in der Verfaſſung angewieſen ſein
könne. Der König blieb bei ſeiner Abneigung gegen Indemnität,
*) Die Angabe in Roon's Denkwürdigkeiten („Deutſche Revue“ 1891 Bd. I
S. 133, Ausgabe in Buchform II 4 482): „Für Bismarck's Zuſtimmung war es
jedenfalls entſcheidend, daß er die verſöhnlichen Anſchauungen ſeines Monarchen
genau kannte“, iſt irrthümlich.
[70/0094]
Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.
während es mir nothwendig ſchien, den parlamentariſchen Gegnern,
von denen doch höchſtens diejenigen, die ſpäter die freiſinnige
Partei bildeten, böswillig, die Andern aber nur verrannt waren,
ſei es politiſch, ſei es ſprachlich, eine goldne Brücke zu bauen,
um den innern Frieden Preußens herzuſtellen und von dieſer feſten
preußiſchen Baſis aus die deutſche Politik des Königs fortzuſetzen.
Die viele Stunden lange und für mich ſehr angreifende Unter¬
redung, weil ſie meinerſeits ſtets in vorſichtigen Formen geführt
werden mußte, fand im Eiſenbahncoupé zu Dreien Statt, mit dem
Könige und dem Kronprinzen. Der Letztre aber unterſtützte mich
nicht, obſchon er in dem leichtbeweglichen Ausdruck ſeines Mienen¬
ſpiels mich wenigſtens durch Kundgebung ſeines vollen Einverſtänd¬
niſſes ſeinem Herrn Vater gegenüber ſtärkte.
Durch eine Correſpondenz, die ich von Nikolsburg aus mit
den übrigen Miniſtern geführt hatte, war der Entwurf der Thron¬
rede zu Stande gekommen und von Sr. Majeſtät genehmigt worden
mit Ausnahme des auf die Indemnität bezüglichen Satzes. Schlie߬
lich gab der König mit Widerſtreben auch dazu ſeine Einwilligung,
ſo daß der Landtag am 5. Auguſt mit einer Thronrede eröffnet
werden konnte, die ankündigte, daß die Landesvertretung in Be¬
zug auf die ohne Staatshaushaltsgeſetz geführte Verwaltung um
nachträgliche Verwilligung angegangen werden ſolle. In verbis
simus faciles!
VI.
Das nächſte Geſchäft war die Regelung unſres Verhältniſſes
zu den verſchiedenen deutſchen Staaten, mit denen wir im Kriege
geweſen waren. Wir hätten die Annexionen für Preußen ent¬
behren und Erſatz dafür in der Bundesverfaſſung ſuchen können.
Se. Majeſtät aber hatte an praktiſche Effecte von Verfaſſungs¬
paragraphen keinen beſſern Glauben wie an den alten Bundestag
und beſtand auf der territorialen Vergrößerung Preußens, um die
[71/0095]
Der König giebt nach. Die Annexionen: Hanover.
Kluft zwiſchen den Oſt- und den Weſtprovinzen auszufüllen und
Preußen ein haltbar abgerundetes Gebiet auch für den Fall des
frühern oder ſpätern Mißlingens der nationalen Neubildung zu
ſchaffen. Bei der Annexion von Hanover und Kurheſſen handelte
es ſich alſo um Herſtellung einer unter allen Eventualitäten
wirkſamen Verbindung zwiſchen den beiden Theilen der Monarchie.
Die Schwierigkeiten der Zollverbindung zwiſchen unſern beiden
Gebietstheilen und die Haltung Hanovers im letzten Kriege hatten
das Bedürfniß eines unbeſchränkt in einer Hand befindlichen terri¬
torialen Zuſammenhanges im Norden von Neuem anſchaulich ge¬
macht. Wir durften der Möglichkeit, bei künftigen öſtreichiſchen
oder andern Kriegen ein oder zwei feindliche Corps von guten
Truppen im Rücken zu haben, nicht von Neuem ausgeſetzt werden.
Die Beſorgniß, daß die Dinge ſich einmal ſo geſtalten könnten,
wurde verſchärft durch die überſchwängliche Auffaſſung, die der
König Georg V. von ſeiner und ſeiner Dynaſtie Miſſion hatte.
Man iſt nicht jeden Tag in der Lage, einer gefährlichen
Situation der Art abzuhelfen, und der Staatsmann, den die
Ereigniſſe in den Stand ſetzen, letztres zu thun, und der ſie
nicht benutzt, nimmt eine große Verantwortlichkeit auf ſich, da
die völkerrechtliche Politik und das Recht der deutſchen Nation,
ungetheilt als ſolche zu leben und zu athmen, nicht nach privat¬
rechtlichen Grundſätzen beurtheilt werden kann. Der König von
Hanover ſchickte durch einen Adjutanten nach Nikolsburg einen
Brief an den König, den ich Se. Majeſtät nicht anzunehmen bat,
weil wir nicht gemüthliche, ſondern politiſche Geſichtspunkte im
Auge zu halten hätten, und weil die Selbſtändigkeit Hanovers mit
der völkerrechtlichen Befugniß, ſeine Truppen nach dem jedesmaligen
Ermeſſen des Souveräns gegen oder für Preußen in's Feld führen
zu können, mit der Durchführung deutſcher Einheit unvereinbar war.
Die Haltbarkeit der Verträge allein ohne die Bürgſchaft einer hin¬
reichenden Hausmacht des leitenden Fürſten hat niemals hingereicht,
der deutſchen Nation Frieden und Einheit im Reiche zu ſichern.
[72/0096]
Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.
Es gelang mir, den König von dem Gedanken abzubringen,
mit Hanover und Heſſen auf der Baſis der Zerſtückelung dieſer
Länder und des Bündniſſes mit den frühern Herrſchern als Theil¬
fürſten eines Reſtes zu verhandeln. Wenn der Kurfürſt Fulda und
Hanau, und Georg V. Kalenberg mit Lüneburg und der Ausſicht
auf die Erbfolge in Braunſchweig behalten hätte, ſo würden weder
die Hanoveraner und Heſſen, noch die beiden Fürſten zufriedene
Theilnehmer des Norddeutſchen Bundes geworden ſein. Dieſer Plan
würde uns unzufriedene und behufs Wiedererwerb des Verlornen
zur Rheinbündelei geneigte Bundesgenoſſen gegeben haben.
Auch eine ſo unbedingte Hingebung für Oeſtreich, wie ſie
Naſſau bewieſen hatte, in der unmittelbaren Nähe von Coblenz,
war eine gefährliche Erſcheinung, beſonders in der Eventualität
franzöſiſch-öſtreichiſcher Bündniſſe, wie ſie ſich während des Krim¬
krieges und der polniſchen Wirren von 1863 in bedrohliche Aus¬
ſicht geſtellt hatten. Die Abneigung Sr. Majeſtät gegen Naſſau
war ein väterliches Erbtheil. Friedrich Wilhelm III. pflegte durch
das Herzogthum zu reiſen, ohne den Herzog zu ſehn. Das Con¬
tingent des Herzogs hatte ſich in der Rheinbundzeit in Preußen
beſonders unangenehm gemacht, und König Wilhelm I. wurde
gegen Conceſſionen an den Herzog durch den leidenſchaftlichen
Widerſpruch der Deputationen früherer naſſauiſcher Unterthanen
eingenommen; die ſtehende Rede derſelben war: „Schütze Se uns
vor dem Fürſte und ſei' Jagdknechte.“
Es blieben Friedensverträge zu ſchließen mit Sachſen und
den ſüddeutſchen Staaten. Herr von Varnbüler bewies dieſelbe
Lebhaftigkeit des Temperaments wie bei den Vorbereitungen zum
Kriege und war der erſte, mit dem der Abſchluß gelang 1). Es
handelte ſich unter Anderm darum, ob wir, da Würtemberg das
preußiſche Hohenzollern in Beſitz genommen hatte, jetzt, wie der
König wollte, den Spieß umkehren und eine Vergrößerung Hohen¬
1) S. o. S. 48. 50.
[73/0097]
Die Annexionen: Kurheſſen, Naſſau. Friedensſchlüſſe.
zollerns auf Koſten Würtembergs fordern wollten. Ich konnte darin
weder für Preußen noch für die nationale Zukunft einen Nutzen
ſehn und hielt überhaupt das Vergeltungsprinzip nicht für eine
vernünftige Baſis unſrer Politik 1), die auch da, wo unſer Gefühl
verletzt war, nicht von der eignen Verſtimmung, ſondern von der
objectiven Erwägung geleitet werden ſollte. Grade weil Varnbüler
uns gegenüber einige diplomatiſche Sünden auf dem Conto hatte,
war er für mich ein nützlicher Unterhändler, und indem ich mich
dazu verſtand, die Vergangenheit zu vergeſſen, gewann ich durch
den Vorgang Würtembergs im Abſchluß des Bündniſſes (13. Auguſt)
den Weg zu den andern.
Ich weiß nicht, ob Roggenbach bei den Friedensſchlüſſen im Auf¬
trage des Großherzogs von Baden handelte, indem er mir vorſtellte,
daß Baiern durch ſeine Größe ein Hinderniß der deutſchen Einigung
ſei, ſich leichter in eine künftige Neugeſtaltung Deutſchlands ein¬
fügen werde, wenn es kleiner gemacht wäre, und daß es ſich des¬
halb empfehle, ein beſſeres Gleichgewicht in Süddeutſchland da¬
durch herzuſtellen, daß Baden vergrößert und durch Angliederung
der Pfalz in unmittelbare Grenznachbarſchaft mit Preußen ge¬
bracht würde, wobei auch weitre Verſchiebungen in Anlehnung an
preußiſche Wünſche, die dynaſtiſchen Stammlande Ansbach-Bayreuth
wiederzugewinnen, und mit Einbeziehung Würtembergs in Ausſicht
genommen waren. Ich ließ mich auf dieſe Anregung nicht ein,
ſondern lehnte ſie a limine ab. Auch wenn ich ſie ausſchließlich
unter dem Geſichtspunkte der Nützlichkeit hätte auffaſſen wollen,
ſo verrieth ſie einen Mangel an Augenmaß für die Zukunft und
eine Verdunklung des politiſchen Blickes durch badiſche Hauspolitik.
Die Schwierigkeit, Baiern gegen ſeinen Willen in eine ihm nicht
zuſagende Reichsverfaſſung hinein zu zwingen, wäre dieſelbe ge¬
blieben, auch wenn man die Pfalz an Baden gegeben hätte; und
ob die Pfälzer ihre bairiſche Angehörigkeit bereitwillig gegen die
1) S. o. S. 46.
[74/0098]
Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.
badiſche vertauſcht haben würden, iſt fraglich. Als vorübergehend
davon die Rede war, Heſſen für ſein Gebiet nördlich des Mains
mit bairiſchem Lande in der Richtung von Aſchaffenburg zu ent¬
ſchädigen, gingen mir aus dem letztern Gebiete Proteſte zu, die,
obſchon aus ſtreng katholiſcher Bevölkerung kommend, darin gipfelten,
wenn die Unterzeichner nicht Baiern bleiben könnten, ſo wollten
ſie lieber Preußen werden, aber von Baiern zu Heſſen gemacht
zu werden, ſei ihnen unannehmbar. Sie ſchienen von der Er¬
wägung des Ranges der Landesherrn beherrſcht und von der
Stimmenordnung am Bundestage, wo Baiern vor Heſſen rangirte.
In derſelben Richtung iſt mir aus meiner Frankfurter Zeit die
Aeußerung eines preußiſchen Reſerviſten zu einem kleinſtaatlichen
erinnerlich: „Sei du ganz ſtille, du haſt ja nicht einmal einen
König.“ Ich hielt Aenderungen der Staatsgrenzen in Süddeutſch¬
land für keinen Fortſchritt zur Einigung des Ganzen.
Eine Verkleinerung Baierns im Norden wäre dem damaligen
Wunſche des Königs entgegengekommen, Ansbach und Bayreuth in
der alten Ausdehnung wiederzugewinnen. Mit meinen politiſchen
Auffaſſungen ſtimmte auch dieſer Plan, ſo ſehr er meinem ver¬
ehrten und geliebten Herrn am Herzen lag, ebenſo wenig wie der
badiſche überein, und ich habe ihm erfolgreich Widerſtand geleiſtet.
Im Herbſt 1866 war eine Vorausſicht über die zukünftige Haltung
Oeſtreichs noch nicht möglich. Die Eiferſucht Frankreichs uns gegen¬
über war gegeben, und niemandem war beſſer als mir die Ent¬
täuſchung Napoleons über unſre böhmiſchen Erfolge bekannt. Er
hatte mit Sicherheit darauf gerechnet, daß Oeſtreich uns ſchlagen
und wir in die Lage kommen würden, ſeine Vermittlung zu erkaufen.
Wenn nun Frankreichs Bemühungen, dieſen Irrthum und ſeine
Folgen wieder gut zu machen, bei der durch unſern Sieg noth¬
wendig hervorgerufenen Verſtimmung in Wien Erfolg hatten, ſo
wäre manchen deutſchen Höfen die Frage nahe getreten, ob ſie im
Anſchluß an Oeſtreich, gewiſſermaßen in einem zweiten ſchleſiſchen
Kriege, den Kampf gegen uns von Neuem aufnehmen wollten oder
[75/0099]
Ablehnung einer Verſtümmelung Baierns. Die Welfenlegion.
nicht. Daß Baiern und Sachſen dieſer Verſuchung unterliegen
würden, war möglich; daß ein im Roggenbachſchen Sinne ver¬
ſtümmeltes Baiern ſeine Revanche gegen uns im Anſchluſſe an
Oeſtreich geſucht haben würde, war aber wahrſcheinlich.
VII.
Ein ſolcher Anſchluß würde vielleicht einen größern Umfang
gewonnen haben als die Welfenlegion, welche demnächſt unter
franzöſiſchem Protectorate gegen uns Aufſtellung nahm. Daß
dieſe im Jahre 1870, abgeſehn von einzelnen verkommnen Per¬
ſönlichkeiten, nicht mehr auf der Bildfläche erſchienen iſt, iſt zum
großen Theile dem Umſtande zu verdanken, daß ſich Eingeweihte
der in Hanover vorbereiteten Verabredung fanden, die mich von den
getroffenen Vorbereitungen bis in's Einzelne benachrichtigten und ſich
erboten, die ganze Combination zu vereiteln, wenn ihnen die Bezüge
ihrer frühern hanöverſchen Stellung geſichert würden. Ich hatte
nach damals gerichtlich aufgefangenen Correſpondenzen die Beſorgnis,
daß wir in die Nothwendigkeit gerathen könnten, welfiſchen Unter¬
nehmungen gegenüber zu Repreſſalien zu ſchreiten, die Angeſichts
der Kriegsgefahr nicht anders als ſtreng ausfallen konnten. Man
darf nicht vergeſſen, daß wir damals des Sieges über Frankreich,
nach der großen Vergangenheit der franzöſiſchen Armee, nicht
ſo ſicher waren, um nicht jede Erſchwerung unſrer Lage ſorgſam
zu verhindern. Ich verabredete daher mit den Unterhändlern, die
mir näher traten, daß ihre Wünſche erfüllt werden ſollten, wenn
ſie ihre Zuſagen erfüllten, und bezeichnete als Kennzeichen dieſer
Bedingung die Frage, daß wir nicht genöthigt ſein würden, einen
hanöverſchen Landsmann wegen Kampfes gegen deutſches Militär
zu erſchießen. Es ſind denn auch im Lande keine Bewegungen
vorgekommen, und nach dem Ausbruch des Krieges beſchränkte ſich
die Abreiſe von Welfen nach Frankreich zu Waſſer und zu Lande
[76/0100]
Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.
auf einzelne bereits Compromittirte. Nach der Haltung der hanöver¬
ſchen Truppentheile im Kriege iſt es nicht wahrſcheinlich, daß
ein welfiſcher Aufſtand in der Heimath einen erheblichen Umfang
hätte annehmen können, wenigſtens nicht, ſo lange unſer Vorgehn
in Frankreich ſiegreich war. Was geſchehn wäre, wenn wir ge¬
ſchlagen und verfolgt durch Hanover heimgekehrt wären, laſſe ich
unberührt. Eine prophylaktiſche Politik hat aber auch ſolche Möglich¬
keiten zu erwägen; jedenfalls war ich entſchloſſen, in der Zwangs¬
lage des Krieges dem Könige zu jedem Acte energiſcher Abwehr
zu rathen, den der Trieb der ſtaatlichen Selbſterhaltung ein¬
geben kann. Und ſelbſt wenn nur einzelne ſchwere und wahr¬
ſcheinlich blutige Beſtrafungen hätten ſtattfinden müſſen, ſo würden
die Gewaltthaten gegen deutſche Landsleute, wie ſehr ſie auch durch
die Kriegsgefahr gerechtfertigt ſein mochten, auf Menſchenalter hin
ein Hinderniß der Verſöhnung und einen Vorwand für Verhetzungen
abgegeben haben. Es war mir deshalb wichtig, ſolchen Eventuali¬
täten rechtzeitig vorzubeugen.
VIII.
Die Kämpfe während des vergangenen Winters mit dem
Könige, der den Krieg nicht wollte, während des Feldzuges mit
den Militärs, die nur Oeſtreich, nicht die übrigen Mächte
Europas vor ſich ſahn, und mit dem Könige über den Friedens¬
ſchluß und dann wieder über die Indemnität, hatten mich ſo
angegriffen, daß ich der Ruhe und Erholung bedurfte. Ich
ging zunächſt am 26. September zu meinem Vetter, dem Grafen
Bismarck-Bohlen in Karlsburg, und dann am 6. October nach
Putbus, wo ich im Gaſthofe ſchwer erkrankte. Der Fürſt und
die Fürſtin Putbus gewährten mir eine liebenswürdige Gaſtfreiheit
in einem Pavillon, der neben dem abgebrannten Schloſſe ſtehn
geblieben war. Nachdem der erſte heftige Anlauf der Krankheit
überſtanden war, konnte ich die Geſchäfte wieder in die Hand
[77/0101]
Die Welfenlegion. In Putbus. Friede mit Sachſen.
nehmen durch Correſpondenz mit Savigny. Als der letzte preußiſche
Geſandte am Bundestage war er der natürliche Erbe des De¬
cernates über die im Vordergrunde ſtehende deutſche Politik. Er
führte die Verhandlungen mit Sachſen zu Ende, was vor meiner
Abreiſe nicht gelungen war. Ihr Ergebniß iſt publici juris, und
ich kann mich einer Kritik derſelben enthalten. Die militäriſche
Selbſtändigkeit Sachſens wurde demnächſt unter Vermittlung des
Generals von Stoſch durch perſönliche Entſchließungen Sr. Maje¬
ſtät weiter entwickelt, als ſie nach dem Vertrage bemeſſen war.
Die geſchickte und ehrliche Politik der beiden letzten ſäch¬
ſiſchen Könige hat dieſe Conceſſionen gerechtfertigt, namentlich ſo
lange es gelingt, die beſtehende preußiſch-öſtreichiſche Freundſchaft
zu erhalten. Es iſt in den geſchichtlichen und confeſſionellen Tra¬
ditionen, in der menſchlichen Natur und ſpeciell in den fürſtlichen
Ueberlieferungen begründet, daß der enge Bund zwiſchen Preußen
und Oeſtreich, der 1879 geſchloſſen wurde, auf Baiern und Sachſen
einen concentrirenden Druck ausübt, um ſo ſtärker, je mehr das
deutſche Element in Oeſtreich, Vornehm und Gering, ſeine Be¬
ziehungen zur habsburgiſchen Dynaſtie zu pflegen weiß. Die parla¬
mentariſchen Exceſſe des deutſchen Elements in Oeſtreich und deren
ſchließliche Wirkung auf die dynaſtiſche Politik drohten nach dieſer
Richtung hin das Gewicht des deutſch-nationalen Elementes nicht
nur in Oeſtreich abzuſchwächen. Die doctrinären Mißgriffe der
parlamentariſchen Fractionen ſind den Beſtrebungen politiſirender
Frauen und Prieſter in der Regel günſtig.
[[78]/0102]
Zweiundzwanzigſtes Kapitel.
Die Emſer Depeſche.
Am 2. Juli 1870 entſchied ſich das ſpaniſche Miniſterium für
die Thronbeſteigung des Erbprinzen Leopold von Hohenzollern.
Damit war die erſte völkerrechtliche Anregung zu der ſpätern
Kriegsfrage gegeben, aber doch nur in Geſtalt einer ſpecifiſch
ſpaniſchen Angelegenheit. Ein völkerrechtlicher Vorwand für Frank¬
reich, in die Freiheit der ſpaniſchen Königswahl einzugreifen, war
ſchwer zu finden; er wurde, ſeitdem man es in Paris auf den
Krieg mit Preußen abgeſehn hatte, künſtlich geſucht in dem Namen
Hohenzollern, welcher an ſich für Frankreich nichts Bedrohlicheres
hatte als jeder andre deutſche Name. Im Gegentheil konnte man
in Spanien ſowohl als in Deutſchland annehmen, daß der Prinz
Leopold wegen ſeiner perſönlichen und Familienbeziehungen in Paris
eher persona grata ſein werde als mancher andre deutſche Prinz.
Ich erinnere mich, daß ich in der Nacht nach der Schlacht von
Sedan in tiefer Finſterniß mit einer Anzahl unſrer Offiziere nach
der Rundfahrt des Königs um Sedan auf dem Wege nach Donchery
ritt und auf Befragen, ich weiß nicht welches Begleiters, die Vor¬
bereitung zu dieſem Kriege beſprach und dabei erwähnte, daß ich
geglaubt hätte, der Prinz Leopold werde dem Kaiſer Napoleon
kein unerwünſchter Nachbar in Spanien ſein und ſeinen Weg über
Paris nach Madrid nehmen, um dort die Fühlung mit der kaiſer¬
lich franzöſiſchen Politik zu gewinnen, die zu den Vorbedingungen
[79/0103]
Die hohenzollernſche Candidatur.
gehörte, unter denen er Spanien zu regiren gehabt haben würde.
Ich ſagte: wir wären viel mehr berechtigt geweſen zu der Beſorgniß
vor einem engern Verſtändniſſe zwiſchen der ſpaniſchen und der
franzöſiſchen Krone als zu der Hoffnung auf Herſtellung einer
ſpaniſch-deutſchen und antifranzöſiſchen Conſtellation nach Analogie
Karls V.; ein König von Spanien könne eben nur ſpaniſche Politik
treiben, und der Prinz wäre Spanier geworden durch Uebernahme
der Krone des Landes. Zu meiner Ueberraſchung erfolgte aus der
Finſterniß hinter mir eine lebhafte Erwiderung des Prinzen von
Hohenzollern, von deſſen Anweſenheit ich keine Ahnung gehabt
hatte; er proteſtirte lebhaft gegen die Möglichkeit, bei ihm fran¬
zöſiſche Sympathien vorauszuſetzen. Dieſer Proteſt inmitten des
Schlachtfeldes von Sedan war für einen deutſchen Offizier und
Hohenzollernſchen Prinzen natürlich, und ich konnte ihn nur
damit beantworten, daß der Prinz als König von Spanien ſich
nur von ſpaniſchen Intereſſen hätte leiten laſſen können, und daß
zu ſolchen namentlich behufs Befeſtigung des neuen Königthums
zunächſt eine ſchonende Behandlung des mächtigen Nachbarn an den
Pyrenäen gehört haben würde. Ich machte dem Prinzen meine
Entſchuldigung über die in ſeiner mir unbekannten Gegenwart ge¬
thane Aeußerung.
Dieſe anticipirte Epiſode legt Zeugniß ab über die Auf¬
faſſung, die ich von der ganzen Frage hatte. Ich betrachtete ſie
als eine ſpaniſche und nicht als eine deutſche, wenn es mir auch
erfreulich ſchien, den deutſchen Namen Hohenzollern in Vertretung
der Monarchie in Spanien thätig zu ſehn, und wenn ich auch nicht
verſäumte, alle möglichen Folgen unter dem Geſichtspunkte unſrer
Intereſſen zu erwägen, was bei jedem Vorgange von ähnlicher
Wichtigkeit in einem andern Staate zu thun die Pflicht eines aus¬
wärtigen Miniſters iſt. Ich dachte zunächſt mehr an wirthſchaft¬
liche wie an politiſche Beziehungen, denen ein König von Spanien
deutſcher Abſtammung förderlich ſein konnte. Für Spanien er¬
wartete ich von der Perſon des Prinzen und von ſeinen verwand¬
[80/0104]
Zweiundzwanzigſtes Kapitel: Die Emſer Depeſche.
ſchaftlichen Beziehungen beruhigende und conſolidirende Ergebniſſe,
die den Spaniern zu mißgönnen ich keinen Anlaß hatte. Spanien
gehört zu den wenigen Ländern, die nach ihrer geographiſchen Lage
und ihrem politiſchen Bedürfniß keinen Grund haben, antideutſche
Politik zu treiben; es iſt außerdem in wirthſchaftlicher Beziehung
nach Production und Bedarf für einen entwickelten Verkehr mit
Deutſchland wohl geeignet. Ein uns befreundetes Element in der
ſpaniſchen Regirung wäre ein Vortheil geweſen, den a limine ab¬
zuweiſen in den Aufgaben der deutſchen Politik kein Grund vor¬
handen war, es ſei denn, daß man die Beſorgniß, Frankreich
könne unzufrieden werden, als einen ſolchen gelten laſſen wollte.
Wenn Spanien ſich wieder kräftiger entwickelte, als ſeither geſchehn
iſt, konnte die Thatſache, daß die ſpaniſche Diplomatie uns be¬
freundet wäre, im Frieden für uns von Nutzen ſein; daß der
König von Spanien bei Eintritt des früher oder ſpäter voraus¬
zuſehenden deutſch-franzöſiſchen Krieges, auch wenn er den beſten
Willen gehabt hätte, ſeine deutſchen Sympathien durch einen
Angriff oder eine Aufſtellung gegen Frankreich zu bethätigen, im
Stande ſein werde, war mir nicht wahrſcheinlich, und das Ver¬
halten Spaniens nach Ausbruch des Krieges, den wir uns durch
die Gefälligkeit deutſcher Fürſten zugezogen hatten, bewies die
Richtigkeit meiner Zweifel. Der ritterliche Eid hätte Frankreich
wegen der Einmiſchung in die Freiheit der ſpaniſchen Königswahl
zur Rechenſchaft gezogen und die Wahrung der ſpaniſchen Unab¬
hängigkeit nicht Fremden überlaſſen. Die früher zu Waſſer und
Lande mächtige Nation kann heut nicht die ſtammverwandte Be¬
völkerung von Cuba im Zaume halten; wie ſollte man von ihr
erwarten, daß ſie eine Macht wie Frankreich aus Liebe zu uns
angriffe? Keine ſpaniſche Regirung und am wenigſten ein aus¬
ländiſcher König würde im Lande die Macht beſitzen, auch nur ein
Regiment aus Liebe zu Deutſchland an die Pyrenäen zu ſchicken.
Politiſch ſtand ich der ganzen Frage ziemlich gleichgültig gegen¬
über. Mehr als ich war Fürſt Anton geneigt, ſie friedlich zu dem
[81/0105]
Paſſivität Spaniens gegenüber der franzöſiſchen Einmiſchung.
erſtrebten Ziele zu führen. Die Memoiren Seiner Majeſtät des
Königs von Rumänien ſind über Einzelheiten der miniſteriellen Mit¬
wirkung in der Frage nicht genau unterrichtet. Das dort erwähnte
Miniſter-Conſeil im Schloſſe hat nicht ſtattgefunden. Fürſt Anton
wohnte als Gaſt des Königs im Schloſſe und hatte dort dieſen
Herrn und einige der Miniſter zum Diner eingeladen; ich glaube
kaum, daß im Tiſchgeſpräch die ſpaniſche Frage verhandelt wurde.
Wenn der Herzog von Gramont *) ſich bemüht, den Beweis zu
führen, daß ich der ſpaniſchen Anregung gegenüber mich nicht ab¬
lehnend verhalten hätte, ſo finde ich keinen Grund, dem zu wider¬
ſprechen. Des Wortlautes meines Briefes an den Marſchall Prim,
von dem der Herzog hat erzählen hören, erinnere ich mich nicht
mehr; wenn ich ſelbſt ihn redigirt habe, was ich auch nicht mehr
weiß, ſo werde ich die Hohenzollernſche Candidatur ſchwerlich „une
excellente chose“ genannt haben, der Ausdruck iſt mir nicht mund¬
recht. Daß ich ſie für „opportune“ hielt, nicht „à un moment
donné“, ſondern prinzipiell und im Frieden, iſt richtig. Ich hatte
dabei nicht den mindeſten Zweifel daran, daß der am franzöſiſchen
Hofe gern geſehne Enkel der Murats dem Lande Frankreichs Wohl¬
wollen ſichern werde.
Die Einmiſchung Frankreichs galt in ihren Anfängen ſpani¬
ſchen, nicht preußiſchen Angelegenheiten; die Fälſchung der Napoleo¬
niſchen Politik, vermöge deren die Frage zu einer preußiſchen werden
ſollte, war eine international unberechtigte und provocirende und
bewies mir, daß der Moment gekommen war, wo Frankreich Händel
mit uns ſuchte und bereit war, dafür jeden Vorwand zu ergreifen,
der brauchbar ſchien. Ich betrachtete die franzöſiſche Einmiſchung
zunächſt als eine Verletzung und deshalb als eine Beleidigung
Spaniens und erwartete, daß das ſpaniſche Ehrgefühl ſich dieſes
*) Gramont, La France et la Prusse avant la guerre. Paris 1872.
pag. 21.
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 6
[82/0106]
Zweiundzwanzigſtes Kapitel: Die Emſer Depeſche.
Eingriffs erwehren würde. Nachdem ſpäter die Sache die Wendung
genommen hatte, daß Frankreich im Sinne ſeines Eingriffs in die
ſpaniſche Unabhängigkeit uns mit Krieg bedrohte, habe ich einige
Tage lang erwartet, daß die ſpaniſche Kriegserklärung gegen Frank¬
reich der franzöſiſchen gegen uns folgen werde. Ich war nicht
darauf gefaßt, daß eine ſelbſtbewußte Nation wie die ſpaniſche Ge¬
wehr beim Fuß hinter den Pyrenäen ruhig zuſehn werde, wie die
Deutſchen ſich auf Tod und Leben für Spaniens Unabhängigkeit
und freie Königswahl gegen Frankreich ſchlugen. Das ſpaniſche
Ehrgefühl, das ſich in der Karolinen-Frage ſo empfindlich anſtellte,
ließ uns 1870 einfach im Stich. Wahrſcheinlich ſind in beiden
Fällen die Sympathien und internationalen Verbindungen der
republikaniſchen Parteien entſcheidend geweſen.
Von Seiten unſres Auswärtigen Amtes waren die erſten ſchon
unberechtigten Anfragen Frankreichs über die ſpaniſche Thron¬
candidatur am 4. Juli der Wahrheit entſprechend in der aus¬
weichenden Art beantwortet worden, daß das Miniſterium nichts
von der Sache wiſſe. Es traf das inſofern zu, als die Frage der
Annahme der Wahl durch den Prinzen Leopold von Sr. Majeſtät
lediglich als Familienſache behandelt worden war, die weder
Preußen noch den Norddeutſchen Bund etwas anging, bei der es
ſich nur um die perſönliche Beziehung des Kriegsherrn zu einem
deutſchen Offizier und des Hauptes nicht der Kgl. Preußiſchen
ſondern der Hohenzollernſchen Geſammtfamilie zu den Trägern
des Namens Hohenzollern handelte.
In Frankreich aber ſuchte man nach einem Kriegsfalle gegen
Preußen, der möglichſt frei von national-deutſcher Färbung wäre,
und glaubte einen ſolchen auf dynaſtiſchem Gebiete in dem Auftreten
eines ſpaniſchen Thronprätendenten des Namens Hohenzollern ge¬
funden zu haben. Dabei war die Ueberſchätzung der militäriſchen
Ueberlegenheit Frankreichs und die Unterſchätzung des nationalen
Sinnes in Deutſchland wohl die Haupturſache, daß man die Halt¬
barkeit dieſes Kriegsvorwandes nicht mit Ehrlichkeit und nicht mit
[83/0107]
Die Candidatur eine Familienſache. Franzöſiſche Kriegstreiberei.
Sachkunde geprüft hatte. Der deutſch-nationale Aufſchwung, welcher
der franzöſiſchen Kriegserklärung folgte, vergleichbar einem Strome,
der die Schleuſen bricht, war für die franzöſiſchen Politiker eine
Ueberraſchung; ſie lebten, rechneten und handelten in Rheinbunds¬
erinnerungen, genährt durch die Haltung einzelner weſtdeutſcher
Miniſter und durch ultramontane Einflüſſe, welche hofften, daß
Frankreichs Siege, gesta Dei per Francos, die Ziehung weitrer
Conſequenzen des Vaticanums in Deutſchland, geſtützt auf Allianz
mit dem katholiſchen Oeſtreich, erleichtern würden. Ihre ultra¬
montanen Tendenzen waren der franzöſiſchen Politik in Deutſch¬
land förderlich, in Italien nachtheilig, da das Bündniß mit
letzterm ſchließlich an der Weigerung Frankreichs, Rom zu räumen,
ſcheiterte. In dem Glauben an die Ueberlegenheit der franzö¬
ſiſchen Waffen wurde der Kriegsvorwand, man kann ſagen, an
den Haaren herbeigezogen, und anſtatt Spanien für ſeine, wie
man annahm, antifranzöſiſche Königswahl verantwortlich zu machen,
hielt man ſich an den deutſchen Fürſten, der es nicht abgelehnt
hatte, dem Bedürfniß der Spanier auf deren Wunſch durch
Geſtellung eines brauchbaren und vorausſichtlich in Paris als
persona grata betrachteten Königs abzuhelfen, und an den König
von Preußen, den nichts als der Familienname und die deutſche
Landsmannſchaft zu dieſer ſpaniſchen Angelegenheit in Beziehung
brachte. Schon in der Thatſache, daß das franzöſiſche Cabinet
ſich erlaubte, die preußiſche Politik über die Annahme der Wahl
zur Rede zu ſtellen, und zwar in einer Form, die durch die
Interpretation der franzöſiſchen Blätter zu einer öffentlichen Be¬
drohung wurde, ſchon in dieſer Thatſache lag eine internationale
Unverſchämtheit, die für uns nach meiner Anſicht die Unmög¬
lichkeit involvirte, auch nur um einen Zoll breit zurückzuweichen.
Der beleidigende Charakter der franzöſiſchen Zumuthung wurde
verſchärft nicht nur durch die drohenden Herausforderungen der
franzöſiſchen Preſſe, ſondern auch durch die Parlamentsverhand¬
lungen und die Stellungnahme des Miniſteriums Gramont-Ollivier
[84/0108]
Zweiundzwanzigſtes Kapitel: Die Emſer Depeſche.
zu dieſen Manifeſtationen. Die Aeußerung Gramonts in der Sitzung
des geſetzgebenden Körpers vom 6. Juli:
„Wir glauben nicht, daß die Achtung vor den Rechten
eines Nachbarvolkes uns verpflichtet zu dulden, daß eine fremde
Macht einen ihrer Prinzen auf den Thron Karls V. ſetze ...
Dieſer Fall wird nicht eintreten, deſſen ſind wir ganz gewiß. ...
Sollte es anders kommen, ſo würden wir ... unſre Pflicht
ohne Zaudern und ohne Schwäche zu erfüllen wiſſen“
ſchon dieſe Aeußerung war eine amtliche internationale Bedrohung
mit der Hand am Degengriff. Die Phraſe: „La Prusse cane“ bil¬
dete in der Preſſe eine Erläuterung zu der Tragweite der Parla¬
mentsverhandlungen vom 6. und 7. Juli, die für unſer nationales
Ehrgefühl nach meiner Empfindung jede Nachgiebigkeit unmöglich
machte.
Ich entſchloß mich, am 12. Juli von Varzin nach Ems auf¬
zubrechen, um bei Sr. Majeſtät die Berufung des Reichstags behufs
der Mobilmachung zu befürworten. Als ich durch Wuſſow fuhr,
ſtand mein Freund, der alte Prediger Mulert, vor der Thür des
Pfarrhofes und grüßte mich freundlich; meine Antwort im offnen
Wagen war ein Lufthieb in Quart und Terz, und er verſtand, daß
ich glaubte in den Krieg zu gehn. In den Hof meiner Berliner
Wohnung einfahrend und bevor ich den Wagen verlaſſen hatte,
empfing ich Telegramme, aus denen hervorging, daß der König
nach den franzöſiſchen Bedrohungen und Beleidigungen im Parla¬
ment und in der Preſſe mit Benedetti zu verhandeln fortfuhr,
ohne ihn in kühler Zurückhaltung an ſeine Miniſter zu verweiſen.
Während des Eſſens, an dem Moltke und Roon Theil nahmen,
traf von der Botſchaft in Paris die Meldung ein, daß der Prinz
von Hohenzollern der Candidatur entſagt habe, um den Krieg ab¬
zuwenden, mit dem uns Frankreich bedrohte. Mein erſter Gedanke
war, aus dem Dienſte zu ſcheiden, weil ich nach allen beleidigenden
Provocationen, die vorhergegangen waren, in dieſem erpreßten Nach¬
[85/0109]
Franzöſiſche Unverſchämtheit. Rückkehr nach Berlin.
geben eine Demüthigung Deutſchlands ſah, die ich nicht amtlich ver¬
antworten wollte. Dieſer Eindruck der Verletzung des nationalen
Ehrgefühls durch den aufgezwungenen Rückzug war in mir ſo
vorherrſchend, daß ich ſchon entſchloſſen war, meinen Rücktritt aus
dem Dienſte nach Ems zu melden. Ich hielt dieſe Demüthigung
vor Frankreich und ſeinen renommiſtiſchen Kundgebungen für ſchlim¬
mer als die von Olmütz, zu deren Entſchuldigung die gemeinſame
Vorgeſchichte und unſer damaliger Mangel an Kriegsbereitſchaft
immer dienen werden. Ich nahm an, Frankreich werde die Ent¬
ſagung des Prinzen als einen befriedigenden Erfolg escomptiren
in dem Gefühl, daß eine kriegeriſche Drohung, auch wenn ſie in
den Formen internationaler Beleidigung und Verhöhnung geſchehn
und der Kriegsvorwand gegen Preußen vom Zaune gebrochen wäre,
genüge, um Preußen zum Rückzuge auch in einer gerechten Sache
zu nöthigen, und daß auch der Norddeutſche Bund in ſich nicht das
hinreichende Machtgefühl trage, um die nationale Ehre und Unab¬
hängigkeit gegen franzöſiſche Anmaßung zu ſchützen. Ich war ſehr
niedergeſchlagen, denn ich ſah kein Mittel, den freſſenden Schaden,
den ich von einer ſchüchternen Politik für unſre nationale Stellung
befürchtete, wieder gut zu machen, ohne Händel ungeſchickt vom
Zaune zu brechen und künſtlich zu ſuchen. Den Krieg ſah ich ſchon
damals als eine Nothwendigkeit an, der wir mit Ehren nicht mehr
ausweichen konnten. Ich telegraphirte an die Meinigen nach Varzin,
man ſollte nicht packen, nicht abreiſen, ich würde in wenig Tagen
wieder dort ſein. Ich glaubte nunmehr an Frieden; da ich aber
die Haltung nicht vertreten wollte, durch welche dieſer Friede erkauft
geweſen wäre, ſo gab ich die Reiſe nach Ems auf und bat Graf
Eulenburg, dorthin zu reiſen und Sr. Majeſtät meine Auffaſſung
vorzutragen. In gleichem Sinne ſprach ich auch mit dem Kriegs¬
miniſter von Roon: wir hätten die franzöſiſche Ohrfeige weg, und
wären durch die Nachgiebigkeit in die Lage gebracht, als Händelſucher
zu erſcheinen, wenn wir zum Kriege ſchritten, durch den allein wir den
Flecken abwaſchen könnten. Meine Stellung ſei jetzt unhaltbar und
[86/0110]
Zweiundzwanzigſtes Kapitel: Die Emſer Depeſche.
das eigentlich ſchon dadurch geworden, daß der König den fran¬
zöſiſchen Botſchafter unter dem Drucke von Drohungen während
ſeiner Badecur vier Tage hintereinander in Audienz empfangen
und ſeine monarchiſche Perſon der unverſchämten Bearbeitung
durch dieſen fremden Agenten ohne geſchäftlichen Beiſtand exponirt
habe. Durch dieſe Neigung, die Staatsgeſchäfte perſönlich und
allein auf ſich zu nehmen, war der König in eine Lage gedrängt
worden, die ich nicht vertreten konnte; meines Erachtens hätte
Se. Majeſtät in Ems jede geſchäftliche Zumuthung des ihm
nicht gleichſtehenden franzöſiſchen Unterhändlers ablehnen und ihn
nach Berlin an die amtliche Stelle verweiſen müſſen, die dann
durch Vortrag in Ems oder, wenn man dilatoriſche Behandlung
nützlich gefunden, durch ſchriftlichen Bericht die Entſcheidung des
Königs einzuholen gehabt haben wurde. Aber bei dem hohen Herrn,
ſo correct er in der Regel die Reſſortverhältniſſe reſpectirte, war
die Neigung, wichtige Fragen perſönlich zwar nicht zu entſcheiden,
aber doch zu verhandeln, zu ſtark, um ihm eine richtige Benutzung
der Deckung zu ermöglichen, mit der die Majeſtät gegen Zu¬
dringlichkeiten, unbequeme Frageſtellung und Zumuthung zweck¬
mäßiger Weiſe umgeben iſt. Daß der König ſich nicht mit dem
ihm in ſo großem Maße eignen Gefühle ſeiner hoheitvollen Würde
der Benedettiſchen Aufdringlichkeit von Hauſe aus entzogen hatte,
davon lag die Schuld zum großen Theile in dem Einfluſſe, den
die Königin von dem benachbarten Coblenz her auf ihn ausübte.
Er war 73 Jahr alt, friedliebend und abgeneigt, die Lorbeeren
von 1866 in einem neuen Kampfe auf das Spiel zu ſetzen; aber
wenn er vom weiblichen Einfluſſe frei war, ſo blieb das Ehrgefühl
des Erben Friedrichs des Großen und des preußiſchen Offiziers in
ihm ſtets leitend. Gegen die Concurrenz, welche ſeine Gemalin
mit ihrer weiblich berechtigten Furchtſamkeit und ihrem Mangel an
Nationalgefühl machte, wurde die Widerſtandsfähigkeit des Königs
abgeſchwächt durch ſein ritterliches Gefühl der Frau und durch ſein
monarchiſches Gefühl einer Königin und beſonders der ſeinigen
[87/0111]
Unterredung mit Roon und Moltke. Die Emſer Depeſche.
gegenüber. Man hat mir erzählt, daß die Königin Auguſta ihren
Gemal vor ſeiner Abreiſe von Ems nach Berlin in Thränen be¬
ſchworen habe, den Krieg zu verhüten im Andenken an Jena und
Tilſit. Ich halte die Angabe für glaubwürdig bis auf die Thränen.
Zum Rücktritt entſchloſſen trotz der Vorwürfe, die mir Roon
darüber machte, lud ich ihn und Moltke zum 13. ein, mit mir zu
Drei zu ſpeiſen, und theilte ihnen bei Tiſche meine An- und Ab¬
ſichten mit. Beide waren ſehr niedergeſchlagen und machten mir
indirect Vorwürfe, daß ich die im Vergleiche mit ihnen größere
Leichtigkeit des Rückzuges aus dem Dienſte egoiſtiſch benutzte. Ich
vertrat die Meinung, daß ich mein Ehrgefühl nicht der Politik opfern
könne, daß ſie Beide als Berufsſoldaten wegen der Unfreiheit ihrer
Entſchließung nicht dieſelben Geſichtspunkte zu nehmen brauchten
wie ein verantwortlicher auswärtiger Miniſter. Während der Unter¬
haltung wurde mir gemeldet, daß ein Ziffertelegramm, wenn ich
mich recht erinnere, von ungefähr 200 Gruppen, aus Ems, von dem
Geheimrath Abeken unterzeichnet, in der Ueberſetzung begriffen
ſei. Nachdem mir die Entzifferung überbracht war, welche ergab,
daß Abeken das Telegramm auf Befehl Sr. Majeſtät redigirt
und unterzeichnet hatte, las ich daſſelbe meinen Gäſten vor 1), deren
1) Die am 13. Juli 1870 3h 50m Nachm. in Ems aufgegebene, 6h 9m
in Berlin eingetroffene Depeſche lautete in der Entzifferung:
„Se. Majeſtät ſchreibt mir: ,Graf Benedetti fing mich auf der Prome¬
nade ab, um auf zuletzt ſehr zudringliche Art von mir zu verlangen, ich ſollte
ihn autoriſiren, ſofort zu telegraphiren, daß ich für alle Zukunft mich ver¬
pflichtete, niemals wieder meine Zuſtimmung zu geben, wenn die Hohenzollern
auf ihre Candidatur zurückkämen. Ich wies ihn zuletzt etwas ernſt zurück, da
man à tout jamais dergleichen Engagements nicht nehmen dürfe noch könne.
Natürlich ſagte ich ihm, daß ich noch nichts erhalten hätte und, da er über
Paris und Madrid früher benachrichtigt ſei als ich, er wohl einſähe, daß mein
Gouvernement wiederum außer Spiel ſei.‘ Seine Majeſtät hat ſeitdem ein
Schreiben des Fürſten bekommen. Da Seine Majeſtät dem Grafen Benedetti
geſagt, daß er Nachricht vom Fürſten erwarte, hat Allerhöchſtderſelbe, mit Rück¬
ſicht auf die obige Zumuthung, auf des Grafen Eulenburg und meinen Vor¬
trag beſchloſſen, den Grafen Benedetti nicht mehr zu empfangen, ſondern ihm
[88/0112]
Zweiundzwanzigſtes Kapitel: Die Emſer Depeſche.
Niedergeſchlagenheit ſo tief wurde, daß ſie Speiſe und Trank ver¬
ſchmähten. Bei wiederholter Prüfung des Actenſtücks verweilte ich
bei der einen Auftrag involvirenden Ermächtigung Seiner Maje¬
ſtät, die neue Forderung Benedettis und ihre Zurückweiſung ſo¬
gleich ſowohl unſern Geſandten als in der Preſſe mitzutheilen.
Ich ſtellte an Moltke einige Fragen in Bezug auf das Maß ſeines
Vertrauens auf den Stand unſrer Rüſtungen, reſpective auf die
Zeit, deren dieſelben bei der überraſchend aufgetauchten Kriegsgefahr
noch bedürfen würden. Er antwortete, daß er, wenn Krieg werden
ſollte, von einem Aufſchub des Ausbruchs keinen Vortheil für uns
erwarte; ſelbſt wenn wir zunächſt nicht ſtark genug ſein ſollten,
ſofort alle linksrheiniſchen Landestheile gegen franzöſiſche Invaſion
zu decken, ſo würde unſre Kriegsbereitſchaft die franzöſiſche ſehr
bald überholen, während in einer ſpätern Periode dieſer Vortheil
ſich abſchwächen würde; er halte den ſchnellen Ausbruch im Ganzen
für uns vortheilhafter als eine Verſchleppung.
Der Haltung Frankreichs gegenüber zwang uns nach meiner
Anſicht das nationale Ehrgefühl zum Kriege, und wenn wir den
Forderungen dieſes Gefühls nicht gerecht wurden, ſo verloren wir
auf dem Wege zur Vollendung unſrer nationalen Entwicklung den
ganzen 1866 gewonnenen Vorſprung, und das 1866 durch unſre
militäriſchen Erfolge geſteigerte deutſche Nationalgefühl ſüdlich des
Mains, wie es ſich in der Bereitwilligkeit der Südſtaaten zu den
Bündniſſen ausgeſprochen hatte, mußte wieder erkalten. Das in den
ſüddeutſchen Staaten neben dem particulariſtiſchen und dynaſtiſchen
Staatsgefühle lebendige Deutſchthum hatte bis 1866 das politiſche Be¬
wußtſein gewiſſermaßen mit der geſammtdeutſchen Fiction unter Oeſt¬
1)
1) nur durch einen Adjutanten ſagen zu laſſen: daß Seine Majeſtät jetzt vom
Fürſten die Beſtätigung der Nachricht erhalten, die Benedetti aus Paris ſchon
gehabt, und dem Botſchafter nichts weiter zu ſagen habe. Seine Majeſtät
ſtellt Eurer Excellenz anheim, ob nicht die neue Forderung Benedetti's und ihre
Zurückweiſung ſogleich ſowohl unſern Geſandten als in der Preſſe mitgetheilt
werden ſollte.“
[89/0113]
Der Krieg eine nationale Nothwendigkeit.
reichs Leitung beſchwichtigt, theils aus ſüddeutſcher Vorliebe für
den alten Kaiſerſtaat, theils in dem Glauben an die militäriſche
Ueberlegenheit deſſelben über Preußen. Nachdem die Ereigniſſe
den Irrthum der Schätzung feſtgeſtellt hatten, war grade die
Hülfloſigkeit der ſüddeutſchen Staaten, in der Oeſtreich ſie bei dem
Friedensſchluſſe gelaſſen hatte, ein Motiv für das politiſche Da¬
mascus, das zwiſchen Varnbülers „Vae Victis“ zu dem bereit¬
willigen Abſchluſſe des Schutz- und Trutzbündniſſes mit Preußen
lag. Es war das Vertrauen auf die durch Preußen entwickelte
germaniſche Kraft und die Anziehung, welche einer entſchloſſenen und
tapfern Politik innewohnt, wenn ſie Erfolg hat und dann ſich in
vernünftigen und ehrlichen Grenzen bewegt. Dieſen Nimbus hatte
Preußen gewonnen; er ging unwiderruflich oder doch auf lange Zeit
verloren, wenn in einer nationalen Ehrenfrage die Meinung im
Volke Platz griff, daß die franzöſiſche Inſulte „La Prusse cane“
einen thatſächlichen Hintergrund habe.
In derſelben pſychologiſchen Auffaſſung, in welcher ich 1864
im däniſchen Kriege aus politiſchen Gründen gewünſcht hatte, daß
nicht den altpreußiſchen, ſondern den weſtfäliſchen Bataillonen, die
bis dahin keine Gelegenheit gehabt hatten, unter preußiſcher Füh¬
rung ihre Tapferkeit zu bewähren, der Vortritt gelaſſen werde,
und bedauerte, daß der Prinz Friedrich Carl meinem Wunſche
entgegen gehandelt hatte, in derſelben Auffaſſung war ich über¬
zeugt, daß die Kluft, die die Verſchiedenheit des dynaſtiſchen und
Stammesgefühls und der Lebensgewohnheiten zwiſchen dem Süden
und dem Norden des Vaterlandes im Laufe der Geſchichte geſchaffen
hatte, nicht wirkſamer überbrückt werden könne als durch einen
gemeinſamen nationalen Krieg gegen den ſeit Jahrhunderten
aggreſſiven Nachbar. Ich erinnerte mich, daß ſchon in dem kurzen
Zeitraume von 1813 bis 1815, von Leipzig und Hanau bis Belle
Alliance, der gemeinſame und ſiegreiche Kampf gegen Frankreich
die Beſeitigung des Gegenſatzes ermöglicht hatte zwiſchen einer
hingebenden Rheinbundspolitik und dem nationaldeutſchen Auf¬
[90/0114]
Zweiundzwanzigſtes Kapitel: Die Emſer Depeſche.
ſchwung der Zeit von dem Wiener Congreſſe bis zu der Mainzer
Unterſuchungscommiſſion, unter der Signatur Stein, Görres, Jahn,
Wartburg bis zu dem Exceß von Sand. Das gemeinſam ver¬
goſſene Blut von dem Uebergange der Sachſen bei Leipzig bis zu
der Betheiligung unter engliſchem Commando bei Belle Alliance
hatte ein Bewußtſein gekittet, vor dem die Rheinbundserinne¬
rungen erloſchen. Die Entwicklung der Geſchichte in dieſer Rich¬
tung wurde unterbrochen durch die Beſorgniß, welche die Ueber¬
eilung des nationalen Dranges für den Beſtand ſtaatlicher Ein¬
richtungen erweckte.
Dieſer Rückblick beſtärkte mich in meiner Ueberzeugung, und
die politiſchen Erwägungen in Betreff der ſüddeutſchen Staaten
fanden mutatis mutandis auch auf unſre Beziehungen zu der Be¬
völkerung von Hanover, Heſſen, Schleswig-Holſtein Anwendung.
Daß dieſe Auffaſſung richtig war, beweiſt die Genugthuung, mit
der heut, nach zwanzig Jahren, nicht nur die Holſteiner, ſondern
auch die Hanſeaten der 1870er Heldenthaten ihrer Söhne gedenken.
Alle dieſe Erwägungen, bewußt und unbewußt, verſtärkten in mir
die Empfindung, daß der Krieg nur auf Koſten unſrer preußiſchen
Ehre und des nationalen Vertrauens auf dieſelbe vermieden werden
könne.
In dieſer Ueberzeugung machte ich von der mir durch Abeken
übermittelten königlichen Ermächtigung Gebrauch, den Inhalt des
Telegramms zu veröffentlichen, und reducirte in Gegenwart meiner
beiden Tiſchgäſte das Telegramm durch Streichungen, ohne ein Wort
hinzuzuſetzen oder zu ändern, auf die nachſtehende Faſſung:
„Nachdem die Nachrichten von der Entſagung des Erbprinzen
von Hohenzollern der kaiſerlich franzöſiſchen Regirung von der
königlich ſpaniſchen amtlich mitgetheilt worden ſind, hat der
franzöſiſche Botſchafter in Ems an Seine Majeſtät den König
noch die Forderung geſtellt, ihn zu autoriſiren, daß er nach Paris
telegraphire, daß Seine Majeſtät der König ſich für alle Zukunft
verpflichte, niemals wieder ſeine Zuſtimmung zu geben, wenn die
[91/0115]
Redaction der Depeſche. Urſache ihrer Wirkung.
Hohenzollern auf ihre Candidatur wieder zurückkommen ſollten.
Seine Majeſtät der König hat es darauf abgelehnt, den franzöſi¬
ſchen Botſchafter nochmals zu empfangen, und demſelben durch den
Adjutanten vom Dienſt ſagen laſſen, daß Seine Majeſtät dem Bot¬
ſchafter nichts weiter mitzutheilen habe.“ Der Unterſchied in der
Wirkung des gekürzten Textes der Emſer Depeſche im Vergleich mit
der, welche das Original hervorgerufen hätte, war kein Ergebniß
ſtärkerer Worte, ſondern der Form, welche dieſe Kundgebung als
eine abſchließende erſcheinen ließ, während die Redaction Abekens
nur als ein Bruchſtück einer ſchwebenden und in Berlin fortzu¬
ſetzenden Verhandlung erſchienen ſein würde.
Nachdem ich meinen beiden Gäſten die concentrirte Redaction
vorgeleſen hatte, bemerkte Moltke: „So hat das einen andern
Klang, vorher klang es wie Chamade, jetzt wie eine Fanfare in
Antwort auf eine Herausforderung.“ Ich erläuterte: „Wenn ich
dieſen Text, welcher keine Aenderungen und keinen Zuſatz des Tele¬
gramms enthält, in Ausführung des Allerhöchſten Auftrags ſofort
nicht nur an die Zeitungen, ſondern auch telegraphiſch an alle
unſre Geſandſchaften mittheile, ſo wird er vor Mitternacht in
Paris bekannt ſein und dort nicht nur wegen des Inhaltes, ſondern
auch wegen der Art der Verbreitung den Eindruck des rothen Tuches
auf den galliſchen Stier machen. Schlagen müſſen wir, wenn wir
nicht die Rolle des Geſchlagenen ohne Kampf auf uns nehmen wollen.
Der Erfolg hängt aber doch weſentlich von den Eindrücken bei
uns und Andern ab, die der Urſprung des Krieges hervorruft; es
iſt wichtig, daß wir die Angegriffenen ſeien, und die galliſche Ueber¬
hebung und Reizbarkeit wird uns dazu machen, wenn wir mit
europäiſcher Oeffentlichkeit, ſo weit es uns ohne das Sprach¬
rohr des Reichstags möglich iſt, verkünden, daß wir den öffentlichen
Drohungen Frankreichs furchtlos entgegentreten.“
Dieſe meine Auseinanderſetzung erzeugte bei den beiden Gene¬
ralen einen Umſchlag zu freudiger Stimmung, deſſen Lebhaftigkeit
mich überraſchte. Sie hatten plötzlich die Luſt zu eſſen und zu
[92/0116]
Zweiundzwanzigſtes Kapitel: Die Emſer Depeſche.
trinken wiedergefunden und ſprachen in heiterer Laune. Roon
ſagte: „Der alte Gott lebt noch und wird uns nicht in Schande
verkommen laſſen.“ Moltke trat ſo weit aus ſeiner gleichmüthigen
Paſſivität heraus, daß er ſich, mit freudigem Blick gegen die Zimmer¬
decke und mit Verzicht auf ſeine ſonſtige Gemeſſenheit in Worten,
mit der Hand vor die Bruſt ſchlug und ſagte: „Wenn ich das noch
erlebe, in ſolchem Kriege unſre Heere zu führen, ſo mag gleich
nachher ‚die alte Carcaſſe‘ der Teufel holen.“ Er war damals
hinfälliger als ſpäter und hatte Zweifel, ob er die Strapazen des
Feldzugs überleben werde.
Wie lebhaft ſein Bedürfniß war, ſeine militäriſch-ſtrategiſche
Neigung und Befähigung praktiſch zu bethätigen, habe ich nicht nur
bei dieſer Gelegenheit, ſondern auch in den Tagen vor dem Aus¬
bruche des böhmiſchen Krieges beobachtet. In beiden Fällen fand
ich meinen militäriſchen Mitarbeiter im Dienſte des Königs ab¬
weichend von ſeiner ſonſtigen trocknen und ſchweigſamen Gewohn¬
heit heiter, belebt, ich kann ſagen, luſtig. In der Juninacht 1866,
in der ich ihn zu mir eingeladen hatte, um mich zu vergewiſſern,
ob der Aufbruch des Heeres nicht um 24 Stunden verfrüht werden
könnte, bejahte er die Frage und war durch die Beſchleunigung
des Kampfes angenehm erregt. Indem er elaſtiſchen Schrittes
den Salon meiner Frau verließ, wandte er ſich an der Thür noch
einmal um und richtete im ernſthaften Tone die Frage an mich:
„Wiſſen Sie, daß die Sachſen die Dresdner Brücke geſprengt
haben?“ Auf meinen Ausdruck des Erſtaunens und Bedauerns
erwiderte er: „Aber mit Waſſer, wegen Staub.“ Eine Neigung
zu harmloſen Scherzen kam bei ihm in dienſtlichen Beziehungen
wie den unſrigen ſehr ſelten zum Durchbruch. In beiden Fällen
war mir, gegenüber der erklärlichen und berechtigten Abneigung
an maßgebender Stelle, ſeine Kampfluſt, ſeine Schlachtenfreudigkeit
für die Durchführung der von mir für nothwendig erkannten Politik
ein ſtarker Beiſtand. Unbequem wurde ſie mir 1867 in der Luxem¬
burger Frage, 1875 und ſpäter Angeſichts der Erwägung, ob es
[93/0117]
Moltke als Humoriſt. Diplomat und Soldat.
ſich empfehle, einen Krieg, der uns früher oder ſpäter wahrſcheinlich
bevorſtand, anticipando herbeizuführen, bevor der Gegner zu beſſerer
Rüſtung gelange. Ich bin der bejahenden Theorie nicht blos zur
Luxemburger Zeit, ſondern auch ſpäter, zwanzig Jahre lang, ſtets
entgegengetreten in der Ueberzeugung, daß auch ſiegreiche Kriege
nur dann, wenn ſie aufgezwungen ſind, verantwortet werden können,
und daß man der Vorſehung nicht ſo in die Karten ſehn kann,
um der geſchichtlichen Entwicklung nach eigner Berechnung vor¬
zugreifen. Es iſt natürlich, daß in dem Generalſtabe der Armee
nicht nur jüngere ſtrebſame Offiziere, ſondern auch erfahrne Stra¬
tegen das Bedürfniß haben, die Tüchtigkeit der von ihnen geleiteten
Truppen und die eigne Befähigung zu dieſer Leitung zu verwerthen
und in der Geſchichte zur Anſchauung zu bringen. Es wäre zu
bedauern, wenn dieſe Wirkung kriegeriſchen Geiſtes in der Armee
nicht ſtattfände; die Aufgabe, das Ergebniß derſelben in den Schran¬
ken zu halten, auf welche das Friedensbedürfniß der Völker berech¬
tigten Anſpruch hat, liegt den politiſchen, nicht den militäriſchen
Spitzen des Staates ob. Daß ſich der Generalſtab und ſeine Chefs
zur Zeit der Luxemburger Frage, während der von Gortſchakow und
Frankreich fingirten Kriſis von 1875 und bis in die neuſte Zeit
hinein zur Gefährdung des Friedens haben verleiten laſſen, liegt
in dem nothwendigen Geiſte der Inſtitution, den ich nicht miſſen
möchte, und wird gefährlich nur unter einem Monarchen, deſſen
Politik das Augenmaß und die Widerſtandsfähigkeit gegen einſeitige
und verfaſſungsmäßig unberechtigte Einflüſſe fehlt.
[[94]/0118]
Dreiundzwanzigſtes Kapitel.
Versailles.
I.
Die Verſtimmung gegen mich, welche die höhern militäriſchen
Kreiſe aus dem öſtreichiſchen Kriege mitgebracht hatten, dauerte
während des franzöſiſchen fort, gepflegt nicht von Moltke und Roon,
aber von den „Halbgöttern“, wie man damals die höhern General¬
ſtabsoffiziere nannte. Sie machte ſich im Feldzuge für mich und
meine Beamten bis in das Gebiet der Naturalverpflegung und
Einquartirung fühlbar 1). Sie würde noch weiter gegangen ſein,
wenn ſie nicht in der ſich immer gleichbleibenden, weltmänniſchen
Höflichkeit des Grafen Moltke ein Correctiv gefunden hätte. Roon
war im Felde nicht in der Lage, mir als Freund und College
Beiſtand zu leiſten; er bedurfte im Gegentheil ſchließlich in Ver¬
ſailles meines Beiſtandes, um im Kreiſe des Königs ſeine mili¬
täriſchen Ueberzeugungen geltend zu machen.
Schon bei der Abreiſe nach Köln erfuhr ich durch einen Zufall,
daß beim Ausbruch des Krieges der Plan feſtgeſtellt war, mich von
den militäriſchen Berathungen auszuſchließen. Ich konnte das aus
einem Geſpräch des Generals von Podbielski mit Roon entnehmen,
1) Vgl. das amtliche Schreiben Bismarck's an Roon vom 10. Auguſt 1870
bei Poſchinger, Bismarck-Portefeuille II 189 f.
[95/0119]
Verſtimmung der „Halbgötter“. Reſſortrivalitäten.
deſſen unfreiwilliger Ohrenzeuge ich dadurch wurde, daß es in
einem Nebencoupé ſtattfand, deſſen Scheidewand von einer breiten
Oeffnung über mir durchbrochen war. Der Erſtre äußerte laut
ſeine Befriedigung, etwa in dem Sinne: „Diesmal iſt alſo dafür
geſorgt, daß uns dergleichen nicht wieder paſſirt.“ Bevor der
Zug ſich in Bewegung ſetzte, hörte ich genug, um zu verſtehn,
welches „damals“ im Gegenſatz gegen diesmal der General im
Sinne hatte, nämlich meine Betheiligung an militäriſchen Be¬
rathungen in dem böhmiſchen Feldzuge und beſonders die Aenderung
der Marſchrichtung auf Preßburg anſtatt auf Wien.
Die durch dieſe Reden gekennzeichnete Verabredung wurde
mir praktiſch wahrnehmbar; ich wurde nicht nur zu den militäri¬
ſchen Berathungen nicht zugezogen, wie 1866 geſchehn war, ſondern
es galt mir gegenüber ſtrenge Geheimhaltung aller militäriſchen
Maßregeln und Abſichten als Regel. Dieſes Ergebniß der unſern
amtlichen Kreiſen innewohnenden Rivalität der Reſſorts war ein
ſo augenfälliger Schaden für die Geſchäftsführung, daß der in An¬
gelegenheiten des Rothen Kreuzes im Hauptquartier anweſende Graf
Eberhard Stolberg bei der freundſchaftlichen Intimität, in der ich
mit dieſem, leider zu früh verſtorbenen Patrioten ſtand, den König
auf die Unzuträglichkeiten der Ausſchließung ſeines verantwortlichen
politiſchen Rathgebers aufmerkſam machte. Nach dem Zeugniſſe des
Grafen hatte Se. Majeſtät darauf erwidert: „Ich ſei in dem böhmi¬
ſchen Kriege in der Regel zu dem Kriegsrathe zugezogen worden,
und es ſei dabei vorgekommen, daß ich im Widerſpruche mit der
Majorität den Nagel auf den Kopf getroffen hätte; daß das den
andern Generalen ärgerlich ſei und ſie ihr Reſſort allein berathen
wollten, ſei nicht zu verwundern“ — ipsissima verba regis, nach
dem Zeugniſſe des Grafen Stolberg nicht nur mir, ſondern auch
Andern gegenüber. Das Maß von Einfluß, welches der König mir
1866 verſtattet hatte, ſtand allerdings im Widerſpruche mit mili¬
täriſchen Traditionen, ſobald der Miniſterpräſident allein nach den
Abzeichen der Uniform claſſificirt wurde, die er im Felde trug,
[96/0120]
Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
als Stabsoffizier eines Cavallerie-Regiments; und es blieb 1870
mir gegenüber bei dem militäriſchen Boycott, wie man heut ſagen
würde.
Wenn man die Theorie, welche der Generalſtab mir gegen¬
über zur Anwendung brachte und die auch kriegswiſſenſchaftlich ge¬
lehrt werden ſoll, ſo ausdrücken kann: der Miniſter der Aus¬
wärtigen Angelegenheiten kommt erſt wieder zum Wort, wenn die
Heeresleitung die Zeit gekommen findet, den Janustempel zu ſchließen,
ſo liegt ſchon in dem doppelten Geſicht des Janus die Mahnung,
daß die Regirung eines kriegführenden Staates auch nach andern
Richtungen zu ſehn hat, als nach dem Kriegsſchauplatze. Aufgabe
der Heeresleitung iſt die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte;
Zweck des Krieges die Erkämpfung des Friedens unter Bedingun¬
gen, die der von dem Staate verfolgten Politik entſprechen. Die
Feſtſtellung und Begrenzung der Ziele, die durch den Krieg er¬
reicht werden ſollen, die Berathung des Monarchen in Betreff
derſelben iſt und bleibt während des Krieges wie vor demſelben
eine politiſche Aufgabe, und die Art ihrer Löſung kann nicht ohne
Einfluß auf die Art der Kriegführung ſein. Die Wege und Mittel
der letztern werden immer davon abhängig ſein, ob man das
ſchließlich gewonnene Reſultat oder mehr oder weniger hat erreichen
wollen, ob man Landabtretungen fordern oder auf ſolche verzichten,
ob man Pfandbeſitz und auf wie lange gewinnen will.
Noch ſchwerer wirkt in gleicher Richtung die Frage, ob und
aus welchen Motiven andre Mächte geneigt ſein könnten, dem
Gegner zunächſt diplomatiſch, eventuell militäriſch beizuſtehn, welche
Ausſicht die Vertreter einer ſolchen Einmiſchung haben, an fremden
Höfen ihren Zweck zu erreichen, wie die Parteien ſich gruppiren
würden, wenn es zu Conferenzen oder zu einem Congreſſe käme,
ob Gefahr vorhanden, daß aus der Einmiſchung der Neutralen ſich
weitre Kriege entwickeln. Namentlich aber zu beurtheilen, wann
der richtige Moment eingetreten ſei, den Uebergang vom Kriege
zum Frieden einzuleiten, dazu ſind Kenntniſſe der europäiſchen Lage
[97/0121]
Wechſelbeziehung zwiſchen Heeresleitung und Diplomatie.
erforderlich, die dem Militär nicht geläufig zu ſein brauchen, In¬
formationen, die ihm nicht zugänglich ſein können. Die Verhand¬
lungen in Nikolsburg 1866 beweiſen, daß die Frage von Krieg
und Frieden auch im Kriege ſtets zur Competenz des verantwort¬
lichen politiſchen Miniſters gehört und nicht von der techniſchen
Armeeleitung entſchieden werden kann; der competente Miniſter
aber kann dem Könige nur dann ſachkundigen Rath ertheilen, wenn
er Kenntniß von der jeweiligen Lage und den Intentionen der
Kriegführung hat.
Im fünften Kapitel iſt der Plan zur Zerſtückelung Ru߬
lands erwähnt, den die Wochenblattspartei hegte und Bunſen in
einer dem Miniſter von Manteuffel eingereichten Denkſchrift in
aller kindlichen Nacktheit entwickelt hatte 1). Den damals unmög¬
lichen Fall angenommen, daß der König für dieſe Utopie ge¬
wonnen wurde, angenommen ferner, daß die preußiſchen Heere und
ihre etwaigen Verbündeten in ſiegreichem Vorſchreiten waren, ſo
würde ſich doch eine artige Reihe von Fragen aufgedrängt haben:
ob uns der weitre Erwerb polniſcher Landſtriche und Bevölke¬
rungen wünſchenswerth ſei, ob es nothwendig, die vorſpringende
Grenze Congreßpolens, den Ausgangspunkt ruſſiſcher Heere weiter
nach Oſten, weiter ab von Berlin zu rücken, analog dem Be¬
dürfniſſe, im Weſten den Druck zu beſeitigen, den Straßburg
und die Weißenburger Linien auf Süddeutſchland ausübten, ob
Warſchau in polniſchen Händen für uns unbequemer werden
könnte als in ruſſiſchen. Das alles ſind rein politiſche Fragen,
und wer wird leugnen wollen, daß ihre Entſcheidung einen voll¬
berechtigten Einfluß auf die Richtung, die Art, den Umfang der
Kriegführung hätte fordern, daß zwiſchen Diplomatie und Strategie
eine Wechſelwirkung in Berathung des Monarchen hätte beſtehn
müſſen?
1) S. Bd. I 110 ff.
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 7
[98/0122]
Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
Wenn ich mich auch in Verſailles beſchied, in militäriſchen
Dingen zu einem Votum nicht berufen zu ſein, ſo lag mir doch
als dem leitenden Miniſter die Verantwortlichkeit für die richtige
politiſche Ausnutzung der militäriſchen, wie der auswärtigen Situation
ob, und ich war verfaſſungsmäßig der verantwortliche Rathgeber des
Königs in der Frage, ob die militäriſche Situation irgend welche
politiſche Schritte oder die Ablehnung irgend welcher Zumuthung
andrer Mächte rathſam machte. Ich habe damals die Nachrichten
über die militäriſche Lage, deren ich für die Beurtheilung der poli¬
tiſchen bedurfte, ſo weit als möglich mir dadurch zu verſchaffen ge¬
ſucht, daß ich mich mit einigen der unbeſchäftigten hohen Herrn, welche
die „zweite Staffel“ des Hauptquartiers bildeten und im Hôtel
des Réservoirs zuſammenkamen, in vertraulichen Beziehungen hielt,
denn dieſe fürſtlichen Herrn erfuhren über die militäriſchen Vor¬
gänge und Abſichten erheblich mehr als der verantwortliche Miniſter
des Auswärtigen und machten mir manche für mich ſehr werthvolle
Mittheilung, von der ſie annahmen, daß ſie für mich natürlich
kein Geheimniß ſei. Auch der engliſche Correſpondent im Haupt¬
quartier, Ruſſell, war in der Regel über die Abſichten und Vor¬
gänge in demſelben beſſer wie ich unterrichtet und eine nützliche
Quelle für meine Informationen.
II.
Im Kriegsrathe war Roon der einzige Vertreter meiner Anſicht,
daß wir mit Abſchluß des Krieges Eile hätten, wenn wir die Einmiſchung
der Neutralen und ihres Congreſſes ſicher hintanhalten wollten; er
befürwortete die Nothwendigkeit, aggreſſiv mit ſchwerem Geſchütz
gegen Paris vorzugehn, gegenüber dem in den Kreiſen hoher Frauen
für humaner geltenden Syſteme der Aushungerung. Die Zeit,
die das letztre in Anſpruch nehmen würde, ließ ſich bei der
[99/0123]
Lage vor Paris. Sorge vor der Einmiſchung der Neutralen.
Unbekanntſchaft mit dem Pariſer Verpflegungs-Etat nicht über¬
ſehn *). Die Belagerung machte territorial keine Fortſchritte, mit¬
unter ſogar Rückſchritte und die Vorgänge in den Provinzen waren
nicht mit Sicherheit zu berechnen, namentlich ſo lange man ohne
Nachricht war über das Verbleiben der Südarmee und Bourbakis.
Man wußte eine Zeit lang nicht, ob dieſelbe gegen unſre Ver¬
bindungslinie mit Deutſchland operire oder auf dem Seewege an
der untern Seine erſcheinen werde. Wir verloren monatlich etwa
zweitauſend Mann vor Paris, gewannen den Belagerten kein Terrain
ab und verlängerten in unberechenbarer Weiſe die Periode, während
welcher unſre Truppen den Wandlungen des Geſchickes ausgeſetzt
blieben, die durch unvorhergeſehne Unfälle im Kampfe und
durch Krankheiten, wie die Cholera 1866 vor Wien, eintreten
konnten. Für mich lagen ſtärkere Beunruhigungen, die mir die
Verſchleppung der Entſcheidung verurſachten, auf dem politiſchen
Gebiete, in der Beſorgniß vor Einmiſchung der Neutralen. Je
länger der Kampf dauerte, deſto mehr mußte man mit der
Möglichkeit rechnen, daß die latente Mißgunſt und die ſchwanken¬
den Sympathien eine der übrigen Mächte, in der Beunruhigung
über unſre Erfolge, zu der Initiative für eine diplomatiſche
Einmiſchung bereit finden laſſen würden und dieſe dann den
Anſchluß andrer oder aller andern herbeiführte. Wenn auch
zur Zeit der Rundreiſe des Herrn Thiers im October „Europa
nicht zu finden war“, ſo konnte die Entdeckung dieſer Potenz
doch an jedem der neutralen Höfe, ſogar auf dem Wege repu¬
blikaniſcher Sympathien in Amerika, durch den geringſten Anſtoß
herbeigeführt werden, den ein Cabinet dem andern gegeben hätte,
indem es ſondirende Fragen über die Zukunft des europäiſchen
Gleichgewichts oder die menſchenfreundliche Heuchelei, durch welche
*) Am 22. September hatte Moltke an ſeinen Bruder Adolf geſchrieben,
er hege im Stillen die Hoffnung, Ende October in Creiſau Haſen zu ſchießen
(Moltke, Geſammelte Werke IV 198).
[100/0124]
Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
die Feſtung Paris gegen ernſte Belagerung gedeckt wurde, zur
Unterlage ſeiner Initiative nahm. Gelang im Laufe der Monate
und Angeſichts der ſchwankenden Ausſichten vor Paris in der Zeit,
welche die Signatur trug: „Vor Paris nichts Neues“, gelang es
damals den feindlichen Elementen und den mißgünſtigen, unehr¬
lichen Freunden, die uns an keinem Hofe fehlten, eine Verſtändi¬
gung zwiſchen den übrigen Mächten oder auch nur zwiſchen zweien
von ihnen herbeizuführen, um eine Warnung, eine ſcheinbar von
der Menſchenliebe eingegebene Frage an uns zu richten, ſo konnte
niemand wiſſen, wie ſchnell ſich ein ſolcher erſter Anſatz zu einer
gemeinſamen, zunächſt diplomatiſchen Haltung der Neutralen ent¬
wickeln würde. Nationalliberale Parlamentarier haben einander
im Auguſt 1870 geſchrieben, „daß jede fremde Friedensvermittlung
unbedingt abzuweiſen ſei“, haben mich aber nicht wiſſen laſſen,
wie dem vorzubeugen ſei, wenn nicht durch ſchnelle Einnahme von
Paris.
Graf Beuſt hat ſelbſt es ſich angelegen ſein laſſen, nach¬
zuweiſen, wie „redlich, wenn auch erfolglos“ er ſich bemüht habe,
eine „collective Mediation der Neutralen“ zu Stande zu bringen *).
Er erinnert daran, daß er ſchon unter dem 28. September nach
London und unter dem 12. October nach Petersburg an die öſt¬
reichiſchen Botſchafter die Weiſung gegeben hat, die Auffaſſung zu
vertreten, ein collectiver Schritt allein werde Ausſicht auf Erfolg
haben; daß er zwei Monate ſpäter dem Fürſten Gortſchakow ſagen
ließ: „Le moment d'intervenir est peut-être venu.“ Er repro¬
ducirt eine am 13. October, in der für uns kritiſchen Zeit 14 Tage
vor der Capitulation von Metz, von ihm an den Grafen Wimpffen
in Berlin gerichtete und von dieſem dort verleſene Depeſche **).
*) Aus drei Viertel-Jahrhunderten. Stuttgart 1887. Theil II S. 361,
395 ff.
**) Es iſt auffallend, daß Graf Wimpffen dieſe Inſtruction verleſen
hat; ſie weiſt ihn nur an, ſich in einem bezeichneten Falle im Sinne derſelben
auszuſprechen.
[101/0125]
Beuſtſche Machinationen zu Gunſten Frankreichs.
In derſelben knüpft er an ein Memorandum an, durch das ich
zu Anfang October 1) auf die Folgen aufmerkſam gemacht hatte, die
ſich an einen bis zu eintretendem Mangel an Lebensmitteln fort¬
geſetzten Widerſtand des von zwei Millionen Menſchen bewohnten
Paris knüpfen müßten, und bezeichnet es, ganz richtig, als meinen
Zweck, die Verantwortlichkeit dafür von der preußiſchen Regirung
abzulehnen.
„Dies vorausgeſchickt,“ fährt er fort, „kann ich den Ausdruck
meiner Beſorgniß nicht unterdrücken, daß dereinſt vor dem Urtheil
der Geſchichte ein Theil dieſer Verantwortlichkeit auf die Neutralen
fallen würde, wenn ſie ſich die Gefahr unerhörten Unheils in
ſtummer Gleichgültigkeit vor Augen ſtellen ließen. Ich muß daher
Eure Excellenz auffordern, wenn der Gegenſtand gegen Sie be¬
rührt wird, offen unſer Bedauern darüber auszuſprechen, daß in
einer Lage, in welcher die königlich preußiſche Regierung Kata¬
ſtrophen, wie die in jenem Memorandum angedeutete, vorherſieht,
dennoch das entſchiedenſte Beſtreben ſich kundgibt, jede perſönliche
Einwirkung dritter Mächte fernzuhalten. ... Rückſichten auf eigne
Intereſſen ſind es nicht, welche die Regierung Oeſterreich-Ungarns
beklagen laſſen, daß auf dem Punkte, zu welchem die Dinge ge¬
diehen ſind, jede friedliche Einflußnahme der neutralen Mächte
fehlt. Aber es iſt ihr unmöglich, in der Weiſe, wie es neuerlich
von Seiten des St. Petersburger Cabinets geſchieht, die abſolute
Enthaltung des unbetheiligten Europas zu billigen und zu empfehlen.
Sie hält es vielmehr für Pflicht, auszuſprechen, daß ſie noch an
allgemein europäiſche Intereſſen glaubt, und daß ſie einen durch
unparteiiſche Einwirkung der Neutralen herbeigeführten Frieden der
Vernichtung weiterer Hunderttauſende vorziehen würde.“
Darüber, welcher Art die „unparteiiſche Vermittlung“ geweſen
ſein würde, läßt der Graf Beuſt keinen Zweifel: mitiger les
exigences du vainqueur, adoucir l'amertume des sentiments qui
1) Am 4. October.
[102/0126]
Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
doivent accabler le vaincu 1). Daß die Gefühle der Franzoſen
über die erlittene Niederlage heut uns gegenüber weniger bitter
ſein würden, wenn die Neutralen uns genöthigt hätten, uns mit
weniger zu begnügen, das wird ein ſo guter Kenner der franzöſi¬
ſchen Geſchichte und des franzöſiſchen Nationalcharakters, wie der
Graf Beuſt, ſchwerlich geglaubt haben.
Eine Einmiſchung konnte nur die Tendenz haben, uns Deutſchen
den Siegespreis vermittelſt eines Congreſſes zu beſchneiden. Dieſe
mich Tag und Nacht beunruhigende Gefahr erzeugte in mir das
Bedürfniß, den Friedensſchluß zu beſchleunigen, um ihn ohne Ein¬
miſchung der Neutralen herſtellen zu können. Daß dies vor der
Eroberung von Paris nicht thunlich ſein würde, ließ ſich nach dem
herkömmlichen Vorgewicht der Hauptſtadt in Frankreich voraus¬
ſehn. So lange Paris ſich hielt, war auch von den leitenden
Kreiſen in Tours und Bordeaux und von den Provinzen nicht
anzunehmen, daß ſie die Hoffnung auf einen Umſchwung aufgeben
würden, mochte derſelbe von neuen levées en masse, wie ſie in
der Schlacht an der Liſaine zur Geltung kamen, oder von der
endlichen „Auffindung Europas“, oder von dem Glanznebel er¬
wartet werden, der die engliſchen reſp. weſtmächtlichen Schlag¬
worte: „Humanität, Civiliſation“ in deutſchen, namentlich weib¬
lichen Gemüthern an großen Höfen umgab — ſo lange bot ſich
an den auswärtigen Höfen, die über die Situation in Frank¬
reich doch mehr durch franzöſiſche als durch deutſche Berichte
orientirt waren, die Möglichkeit, den Franzoſen in ihrem Friedens¬
ſchluſſe beiſtändig zu ſein. Für mich ſpitzte ſich daher meine Auf¬
gabe dahin zu, mit Frankreich abzuſchließen, bevor eine Verſtändi¬
gung der neutralen Mächte über ihre Einflußnahme auf den Frieden
zu Stande gekommen wäre, grade ſo, wie es 1866 unſer Be¬
dürfniß war, mit Oeſtreich abzuſchließen, bevor franzöſiſche Ein¬
miſchung in Süddeutſchland wirkſam werden konnte.
1) Depeſche an Graf Chotek vom 12. October, Beuſt a. a. O. II 397.
[103/0127]
Aufgabe der deutſchen Diplomatie. Haltung Italiens.
Es ließ ſich nicht mit Beſtimmtheit ſagen, zu welchen Ent¬
ſchließungen man in Wien und Florenz gelangt ſein würde, wenn
bei Wörth, Spichern, Mars la Tour der Erfolg auf Seite der
Franzoſen oder für uns weniger eclatant geweſen wäre. Ich habe
zur Zeit der genannten Schlachten Beſuche von republikaniſchen
Italienern gehabt, die überzeugt waren, daß der König Victor
Emanuel mit der Abſicht umginge, dem Kaiſer Napoleon beizu¬
ſtehn, und dieſe Tendenz zu bekämpfen geneigt waren, weil ſie
von der Ausführung der dem Könige zugeſchriebenen Abſichten eine
Verſtärkung der ihrem Nationalgefühl empfindlichen Abhängigkeit
Italiens von Frankreich befürchteten. Schon in den Jahren 1868
und 1869 waren mir ähnliche antifranzöſiſche Anregungen von
italieniſcher und nicht blos republikaniſcher Seite vorgekommen, in
denen die Unzufriedenheit mit der franzöſiſchen Suprematie über
Italien ſcharf hervortrat. Ich habe damals wie ſpäter auf dem
Marſche nach Frankreich in Homburg (Pfalz) den italieniſchen Herrn
geantwortet: wir hätten bisher keine Beweiſe davon, daß der König
von Italien ſeine Freundſchaft für Napoleon bis zum Angriffe
auf Preußen bethätigen werde; es ſei gegen mein politiſches Ge¬
wiſſen, eine Initiative zum Bruch zu ergreifen, welche Italien
Vorwand und Rechtfertigung feindlicher Haltung gegeben hätte.
Wenn Victor Emanuel die Initiative zu dem Bruche ergriffe, ſo
würde die republikaniſche Tendenz derjenigen Italiener, welche eine
ſolche Politik mißbilligten, mich nicht abhalten, dem Könige, meinem
Herrn, zur Unterſtützung der Unzufriedenen in Italien durch Geld
und Waffen, welche ſie zu haben wünſchten, zu rathen.
Ich fand den Krieg, wie er lag, zu ernſt und zu gefährlich,
um in einem Kampfe, in dem nicht nur unſre nationale Zu¬
kunft, ſondern auch unſre ſtaatliche Exiſtenz auf dem Spiele ſtand,
mich zur Ablehnung irgend eines Beiſtandes bei bedenklichen Wen¬
dungen der Dinge für berechtigt zu halten. Ebenſo wie ich 1866
nach und infolge der Einmiſchung durch Napoleons Telegramm vom
4. Juli vor dem Beiſtande einer ungariſchen Inſurrection nicht
[104/0128]
Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
zurückgeſchreckt war, würde ich auch den der italieniſchen Republi¬
kaner für annehmbar gehalten haben, wenn es ſich um Verhütung
der Niederlage und um Vertheidigung unſrer nationalen Selb¬
ſtändigkeit gehandelt hätte. Die Velleitäten des Königs von Italien
und des Grafen Beuſt, die durch unſre erſten glänzenden Erfolge
zurückgedrängt waren, konnten bei der Stagnation vor Paris um
ſo leichter wieder aufleben, als wir in den maßgebenden Kreiſen
eines ſo gewichtigen Factors wie England über zuverläſſige Sym¬
pathien und namentlich über ſolche, welche bereit geweſen wären,
ſich auch nur diplomatiſch zu bethätigen, keineswegs verfügen
konnten.
In Rußland gewährten die perſönlichen Gefühle Alexanders II.,
nicht nur die freundſchaftlichen für ſeinen Oheim, ſondern auch
die antifranzöſiſchen, uns eine Bürgſchaft, die freilich durch die
franzöſirende Eitelkeit des Fürſten Gortſchakow und durch ſeine
Rivalität mir gegenüber abgeſchwächt werden konnte. Es war
deshalb eine Gunſt des Schickſals, daß die Situation eine Möglich¬
keit bot, Rußland eine Gefälligkeit in Betreff des Schwarzen
Meeres zu erweiſen. Aehnlich wie die Empfindlichkeiten des ruſſi¬
ſchen Hofes, die ſich vermöge der ruſſiſchen Verwandſchaft der
Königin Marie an den Verluſt der hanöverſchen Krone knüpften,
ihr Gegengewicht in den Conceſſionen fanden, die dem olden¬
burgiſchen Verwandten der ruſſiſchen Dynaſtie auf territorialem
und finanziellem Gebiete 1866 gemacht worden waren, bot ſich
1870 die Möglichkeit, nicht nur der Dynaſtie, ſondern auch dem
ruſſiſchen Reiche einen Dienſt zu erweiſen in Betreff der politiſch
unvernünftigen und deshalb auf die Dauer unmöglichen Stipu¬
lationen, die dem ruſſiſchen Reiche die Unabhängigkeit ſeiner
Küſten des Schwarzen Meeres beſchränkten. Es waren die un¬
geſchickteſten Beſtimmungen des Pariſer Friedens; einer Nation
von hundert Millionen kann man die Ausübung der natürlichen
Rechte der Sonveränetät an ihren Küſten nicht dauernd unterſagen.
Die Servitut der Art, welche fremden Mächten auf ruſſiſchem
[105/0129]
Haltung Rußlands. Uebelwollen Gortſchakows. Seine Eitelkeit.
Gebiete eingeräumt war, war für eine große Nation eine auf die
Dauer nicht erträgliche Demüthigung. Wir hatten hierin eine
Handhabe, um unſre Beziehungen zu Rußland zu pflegen.
Fürſt Gortſchakow iſt auf die Initiative, mit der ich ihn in
dieſer Richtung ſondirte, nur widerſtrebend eingegangen. Sein
perſönliches Uebelwollen war ſtärker als ſein ruſſiſches Pflicht¬
gefühl. Er wollte keine Gefälligkeit von uns, ſondern Entfrem¬
dung gegen Deutſchland und Dank bei Frankreich. Um unſer
Anerbieten in Petersburg wirkſam zu machen, habe ich der durch¬
aus ehrlichen und ſtets wohlwollenden Mitwirkung des damaligen
ruſſiſchen Militärbevollmächtigten Grafen Kutuſoff bedurft. Ich
werde dem Fürſten Gortſchakow kaum Unrecht thun, wenn ich nach
meinen mehre Jahrzehnte dauernden Beziehungen zu ihm annehme,
daß die perſönliche Rivalität mit mir bei ihm ſchwerer wog, als
die Intereſſen Rußlands: ſeine Eitelkeit, ſeine Eiferſucht gegen mich
waren größer als ſein Patriotismus.
Bezeichnend für die krankhafte Eitelkeit Gortſchakows waren
einige gelegentliche Aeußerungen mir gegenüber, gelegentlich ſeiner
Berliner Anweſenheit im Mai 1876. Er ſprach von ſeiner Er¬
müdung und ſeiner Neigung, abzuſcheiden, und ſagte dabei:
„Je ne puis cependant me présenter devant Saint-Pierre au
ciel sans avoir présidé la moindre chose en Europe.“ Ich bat
ihn in Folge deſſen, das Präſidium in der damaligen Diplomaten¬
conferenz, die aber nur eine officiöſe war, zu übernehmen, was
er that. In der Muße des Zuhörens bei ſeiner längeren Präſidial¬
rede ſchrieb ich mit Bleiſtift: pompons, pompo, pomp, pom, po.
Mein Nachbar, Lord Odo Ruſſell, entriß mir das Blatt und be¬
hielt es.
Eine andre Aeußerung bei dieſer Gelegenheit lautete dahin:
„Si je me retire, je ne veux pas m'éteindre comme une lampe
qui file, je veux me coucher comme un astre.“ Es iſt nach
dieſen Auffaſſungen nicht verwunderlich, daß ihm ſein letztes
Auftreten im Berliner Congreß 1878 nicht genügte, zu dem der
[106/0130]
Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
Kaiſer nicht ihn, ſondern den Grafen Schuwalow als Haupt¬
bevollmächtigten ernannt hatte, ſo daß nur dieſer und nicht Gor¬
tſchakow über die ruſſiſche Stimme verfügte. Gortſchakow hatte
ſeine Mitgliedſchaft des Congreſſes dem Kaiſer gegenüber gewiſſer¬
maßen erzwungen, was in Folge der rückſichtsvollen Behandlung,
die im ruſſiſchen höhern Dienſte verdienten Staatsmännern gegen¬
über Tradition iſt, gelingen konnte. Er ſuchte noch auf dem
Congreſſe ſeine ruſſiſche Popularität im Sinne der Moskauer
Zeitung nach Möglichkeit frei zu halten von den Rückwirkungen
ruſſiſcher Conceſſionen, und bei Congreßſitzungen, wo ſolche in
Ausſicht ſtanden, blieb er aus, unter dem Vorwande des Unwohl¬
ſeins, trug aber Sorge, ſich am Parterrefenſter ſeiner Wohnung,
unter den Linden, als geſund ſehn zu laſſen. Er wollte ſich die
Möglichkeit wahren, vor der ruſſiſchen „Geſellſchaft“ in Zukunft
zu behaupten, daß er an den ruſſiſchen Conceſſionen unſchuldig
wäre: ein unwürdiger Egoismus auf Koſten ſeines Landes.
Außerdem blieb der ruſſiſche Abſchluß auch nach dem Congreſſe
immer noch einer der günſtigſten, wo nicht der günſtigſte, den Ru߬
land jemals nach türkiſchen Kriegen gemacht hat. Directe Erobe¬
rungen für Rußland waren die in Kleinaſien, Batum, Kars u. ſ. w.
Aber wenn Rußland wirklich es in ſeinen Intereſſen gefunden hat,
die Balkanſtaaten griechiſcher Confeſſion von der türkiſchen Herr¬
ſchaft zu emancipiren, ſo war doch auch in dieſer Richtung ein
ganz gewaltiger Fortſchritt des griechiſch-chriſtlichen Elements, und
noch mehr ein erheblicher Rückzug der Türkenherrſchaft das Er¬
gebniß. Zwiſchen den urſprünglichen, Ignatieffſchen Friedens¬
bedingungen von San Stefano und dem Congreßergebniſſe war
der Unterſchied politiſch bedeutungslos, wie die Leichtigkeit des Ab¬
falls Südbulgariens und deſſen Anſchluß an das nördliche beweiſt.
Und ſelbſt wenn er nicht ſtattgefunden hätte, blieb die ruſſiſche
Geſammterrungenſchaft nach dem Kriege auch in Folge der Con¬
greßbeſchlüſſe eine glänzendere als die frühern.
Daß Rußland Bulgarien durch Verleihung an den Neffen der
[107/0131]
Gortſchakows Haltung auf dem Berliner Congreß.
damaligen ruſſiſchen Kaiſerin, den Prinzen von Battenberg, in un¬
ſichre Hände gab, war eine Entwicklung, die auf dem Berliner
Congreſſe nicht vorausgeſehn werden konnte. Der Prinz von Batten¬
berg war der ruſſiſche Candidat für Bulgarien, und bei ſeiner nahen
Verwandſchaft mit dem Kaiſerhauſe war auch anzunehmen, daß
dieſe Beziehungen dauerhaft und haltbar ſein würden. Der Kaiſer
Alexander III. erklärte ſich den Abfall ſeines Vetters einfach mit
deſſen polniſcher Abſtammung: „Polskaja mat“ war ſein erſter
Ausruf bei der Enttäuſchung über das Verhalten ſeines Vetters.
Die ruſſiſche Entrüſtung über das Ergebniß des Berliner
Congreſſes war eine der Erſcheinungen, die bei einer dem Volk ſo
wenig verſtändlichen Preſſe, wie es die ruſſiſche in auswärtigen
Beziehungen iſt, und bei dem Zwange, der auf ſie mit Leichtigkeit
geübt wird, ſich im Widerſpruche mit aller Wahrheit und Vernunft
ermöglichen ließ. Die ganzen Gortſchakowſchen Einflüſſe, die er,
angeſpornt durch Aerger und Neid über ſeinen frühern Mitarbeiter,
den deutſchen Reichskanzler, in Rußland übte, unterſtützt von fran¬
zöſiſchen Geſinnungsgenoſſen und ihren franzöſiſchen Verſchwäge¬
rungen (Wannowſki, Obrutſchew) waren ſtark genug, um in der
Preſſe, die Moskauer Wedomoſti an der Spitze, einen Schein von
Entrüſtung herzuſtellen über die Schädigung, welche Rußland auf
dem Berliner Congreſſe durch deutſche Untreue erlitten hätte. Nun
iſt auf dem Berliner Congreſſe kein ruſſiſcher Wunſch ausgeſprochen
worden, den Deutſchland nicht zur Annahme gebracht hätte, unter
Umſtänden durch energiſches Auftreten bei dem engliſchen Premier¬
miniſter, obſchon letztrer krank und bettlägerig war. Anſtatt hier¬
für dankbar zu ſein, fand man es der ruſſiſchen Politik entſprechend,
unter Führung des lebensmüden, aber immer noch krankhaft eitlen
Fürſten Gortſchakow und der Moskauer Blätter, an der weitern
Entfremdung zwiſchen Rußland und Deutſchland fortzuarbeiten, für
die weder im Intereſſe des einen noch des andern dieſer großen
Nachbarreiche das mindeſte Bedürfniß vorliegt. Wir beneiden uns
nichts und haben nichts von einander zu gewinnen, was wir brauchen
[108/0132]
Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
könnten. Unſre gegenſeitigen Beziehungen ſind nur gefährdet durch
perſönliche Stimmungen, wie die von Gortſchakow waren, und wie
es die von hochſtehenden ruſſiſchen Militärs bei ihren franzöſiſchen
Verſchwägerungen ſind, und durch monarchiſche Verſtimmungen,
wie ſie ſchon vor dem ſiebenjährigen Kriege durch ſarkaſtiſche Be¬
merkungen Friedrichs des Großen über die ruſſiſche Kaiſerin ent¬
ſtanden. Deshalb iſt die perſönliche Beziehung der Monarchen
beider Länder zu einander von hoher Bedeutung für den Frieden
der beiden Nachbarreiche, für deſſen Störung keine Intereſſen¬
divergenz, ſondern nur perſönliche Empfindlichkeiten maßgebender
Staatsmänner einen Anlaß bieten konnten.
Von Gortſchakow ſagten ſeine Untergebnen im Miniſterium:
„Il se mire dans son encrier,“ wie analog Bettina über ihren
Schwager, den berühmten Savigny, äußerte: „Er kann keine
Goſſen überſchreiten, ohne ſich darin zu ſpiegeln,“ Ein großer
Theil der Gortſchakowſchen Depeſchen und namentlich die ſach¬
lichſten ſind nicht von ihm, ſondern von Jomini, einem ſehr ge¬
ſchickten Redacteur und Sohn eines ſchweizer Generals, den Kaiſer
Alexander für ruſſiſchen Dienſt anwarb. Wenn Gortſchakow dic¬
tirte, ſo war mehr rhetoriſcher Schwung in den Depeſchen, aber
praktiſcher waren die von Jomini. Wenn er dictirte, ſo pflegte er
eine beſtimmte Poſe anzunehmen, die er einleitete mit dem Worte:
„écrivez!“, und wenn der Schreiber dann ſeine Stellung richtig
auffaßte, ſo mußte er bei beſonders wohlgerundeten Phraſen einen
bewundernden Aufblick auf den Chef richten, der dafür ſehr em¬
pfänglich war. Gortſchakow beherrſchte die ruſſiſche, die deutſche
und die franzöſiſche Sprache mit gleicher Vollkommenheit.
Graf Kutuſoff war ein ehrlicher Soldat ohne perſönliche
Eitelkeit. Er war urſprünglich nach der Bedeutung ſeines Namens
in hervorragender Stellung in Petersburg als Offizier der Garde-
Kavallerie, hatte aber nicht das Wohlwollen des Kaiſers Nico¬
laus; und als dieſer, wie mir in Petersburg erzählt worden iſt,
vor der Front ihm zurief: „Kutuſoff, du kannſt nicht reiten, ich
[109/0133]
Graf Kutuſoff. Stagnation der Belagerung von Paris.
werde dich zur Infanterie verſetzen,“ nahm er ſeinen Abſchied
und trat erſt im Krimkriege in geringer Stellung wieder ein,
blieb unter Alexander II. in der Armee und wurde endlich Militär¬
bevollmächtigter in Berlin, wo ſeine ehrliche Bonhomie ihm
viele Freunde erwarb. Er begleitete uns als ruſſiſcher Flügel¬
adjutant des preußiſchen Königs im franzöſiſchen Kriege, und es
war vielleicht ein Effect der ungerechten Beurtheilung ſeiner Reit¬
fähigkeit, die ihm vom Kaiſer Nicolaus zu Theil geworden war,
daß er alle Marſchetappen, auf denen der König und ſein Gefolge
gefahren wurden, nicht ſelten 50 bis 70 Werſt im Tage, zu Pferde
zurücklegte. Für ſeine Bonhomie und die Tonart auf den Jagden
in Wuſterhauſen iſt es bezeichnend, daß er gelegentlich vor dem
Könige erzählte, ſeine Familie ſtamme aus Preußiſch-Litthauen und
ſei unter dem Namen Kutu nach Rußland gekommen, worauf Graf
Fritz Eulenburg in ſeiner witzigen Art bemerkte: „Den ſchließlichen
,Soff‘ haben Sie alſo erſt in Rußland ſich angeeignet“ — all¬
gemeine Heiterkeit, in welche Kutuſoff herzlich einſtimmte.
Neben der Gewiſſenhaftigkeit der Meldungen dieſes alten Sol¬
daten bot die regelmäßige eigenhändige Correſpondenz des Gro߬
herzogs von Sachſen mit dem Kaiſer Alexander einen Weg,
unverfälſchte Mittheilungen direct an dieſen gelangen zu laſſen.
Der Großherzog, der ſtets wohlwollend für mich war und geblieben
iſt, war in Petersburg ein Anwalt der guten Beziehungen zwiſchen
beiden Cabineten.
Die Möglichkeit einer europäiſchen Intervention war für mich
eine Urſache der Beunruhigung und der Ungeduld angeſichts der
Stagnation der Belagerung. Kriegeriſche Wechſelfälle ſind in
Situationen, wie die unſrige vor Paris war, bei der beſten
Leitung und der größten Tapferkeit nicht ausgeſchloſſen; ſie können
durch Zufälligkeiten aller Art herbeigeführt werden, und für ſolche
bot unſre Stellung zwiſchen der numeriſch reichlich ſtarken be¬
lagerten Armee und den nach Zahl und Oertlichkeit ſchwer zu
controllirenden Streitkräften der Provinzen ein reiches Feld, auch
[110/0134]
Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
wenn unſre Truppen vor Paris, im Weſten, Norden und Oſten
Frankreichs vor Seuchen bewahrt blieben. Die Frage, wie der
Geſundheitszuſtand des deutſchen Heeres ſich in den Beſchwerden
eines ſo ungewöhnlich harten Winters bewähren werde, entzog ſich
jeder Berechnung. Es war unter dieſen Umſtänden keine über¬
triebene Aengſtlichkeit, wenn ich in ſchlafloſen Nächten von der Sorge
gequält wurde, daß unſre politiſchen Intereſſen nach ſo großen
Erfolgen durch das zögernde Hinhalten des weitern Vorgehns gegen
Paris ſchwer geſchädigt werden könnten. Eine weltgeſchichtliche Ent¬
ſcheidung in dem Jahrhunderte alten Kampfe zwiſchen den beiden
Nachbarvölkern ſtand auf dem Spiele und in Gefahr, durch per¬
ſönliche und vorwiegend weibliche Einflüſſe ohne hiſtoriſche Be¬
rechtigung gefälſcht zu werden, durch Einflüſſe, die ihre Wirkſam¬
keit nicht politiſchen Erwägungen verdankten, ſondern Gemüths¬
eindrücken, welche die Redensarten von Humanität und Civiliſation,
die aus England bei uns importirt werden, auf deutſche Gemüther
noch immer haben; war uns doch während des Krimkrieges von
England aus nicht ohne Wirkung auf die Stimmung gepredigt
worden, daß wir „zur Rettung der Civiliſation“ die Waffen für
die Türken ergreifen müßten. Die entſcheidenden Fragen konnten,
wenn man wollte, als ausſchließlich militäriſche behandelt werden,
und man konnte das als Vorwand nehmen, um mir das Recht
der Betheiligung an der Entſcheidung zu verſagen; ſie waren aber
doch ſolche, von deren Löſung die diplomatiſche Möglichkeit in
letzter Inſtanz abhing, und wenn der Abſchluß des franzöſiſchen
Krieges ein weniger günſtiger für Deutſchland geweſen wäre, ſo
blieb auch dieſer gewaltige Krieg mit ſeinen Siegen und ſeiner
Begeiſterung ohne die Wirkung, die er für unſre nationale Eini¬
gung haben konnte. Es war mir niemals zweifelhaft, daß der
Herſtellung des Deutſchen Reiches der Sieg über Frankreich vor¬
hergehn mußte, und wenn es uns nicht gelang, ihn diesmal zum
vollen Abſchluß zu bringen, ſo waren weitre Kriege ohne vor¬
gängige Sicherſtellung unſrer vollen Einigung in Sicht.
[111/0135]
Sorgen und Erwägungen. Bedrohte Stellung vor Paris.
III.
Es iſt nicht anzunehmen, daß die übrigen Generale von rein
militäriſchem Standpunkte andrer Meinung als Roon ſein
konnten; unſre Stellung zwiſchen der uns an Zahl überlegnen ein¬
geſchloſſenen Armee und den franzöſiſchen Streitkräften in den Pro¬
vinzen war ſtrategiſch eine bedrohte und ihr Feſthalten nicht er¬
folgverſprechend, wenn man ſie nicht als Baſis angriffsweiſen Fort¬
ſchreitens benutzte. Das Bedürfniß, ihr bald ein Ende zu machen,
war in militäriſchen Kreiſen in Verſailles ebenſo lebhaft wie die
Beunruhigung in der Heimath über die Stagnation. Man brauchte
noch garnicht mit der Möglichkeit von Krankheiten und unvor¬
hergeſehnen Rückſchlägen infolge von Unglück oder Ungeſchick zu
rechnen, um von ſelbſt auf den Gedankengang zu gerathen, der
mich beunruhigte, und ſich zu fragen, ob das Anſehn und der
politiſche Eindruck, die das Ergebniß unſrer erſten raſchen und
großen Siege an den neutralen Höfen geweſen waren, nicht vor
der ſcheinbaren Thatloſigkeit und Schwäche unſrer Haltung vor
Paris verblaſſen würden und ob die Begeiſterung anhalten würde,
in deren Feuer ſich eine haltbare Einheit ſchmieden ließ.
Die Kämpfe in den Provinzen bei Orleans und Dijon blieben
Dank der heldenmüthigen Tapferkeit der Truppen, wie ſie in dem
Maße nicht immer als Unterlage ſtrategiſcher Berechnung voraus¬
geſetzt werden kann, für uns ſiegreich. In dem Gedanken, daß
der geiſtige Schwung, mit dem unſre Minderheiten dort trotz
Froſt, Schnee und Mangel an Lebensmitteln und Kriegsmaterial
die numeriſch ſtärkern franzöſiſchen Maſſen überwunden hatten,
durch irgend welche Zufälligkeiten gelähmt werden könnte, mußte
jeder Heerführer, der nicht ausſchließlich mit optimiſtiſchen Con¬
jecturen rechnete, zu der Ueberzeugung kommen, daß wir beſtrebt
ſein müßten, durch Förderung unſres Angriffs auf Paris unſrer
ungewiſſen Situation ſo bald als möglich ein Ende zu machen.
[112/0136]
Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
Es fehlte uns aber, um den Angriff zu activiren, an dem
Befehl und an ſchwerem Belagerungsgeſchütz, wie im Juli 1866
vor den Floridsdorfer Linien. Die Beförderung deſſelben hatte
mit den Fortſchritten unſres Heeres nicht Schritt gehalten: um
ſie zu bewirken, verſagten unſre Eiſenbahnmittel an den Stellen,
wo die Bahnen unterbrochen waren oder wie bei Lagny ganz auf¬
hörten.
Die ſchleunige Anfuhr von ſchwerem Geſchütz und von der
Maſſe ſchwerer Munition, ohne welche die Beſchießung nicht begonnen
werden durfte, hätte durch den vorhandenen Eiſenbahnpark jedenfalls
ſchneller, als der Fall war, bewirkt werden können. Es waren aber,
wie Beamte mir meldeten, circa 1500 Axen mit Lebensmitteln für
die Pariſer beladen, um ihnen ſchnell zu helfen, wenn ſie ſich er¬
geben würden, und dieſe 1500 Axen waren deshalb für Munitions¬
transport nicht verfügbar. Der auf ihnen lagernde Speck wurde
ſpäter von den Pariſern abgelehnt und nach meinem Abgange aus
Frankreich, infolge der durch General v. Stoſch in Ferrières bei
Sr. Majeſtät veranlaßten Aenderung unſres Staatsvertrages über
die Verpflegung deutſcher Truppen, dieſen überwieſen und mit
Widerſtreben verbraucht wegen zu langer Lagerung.
Da die Beſchießung nicht begonnen werden konnte, bevor das
für wirkſame Durchführung ohne Unterbrechung erforderliche Quan¬
tum Munition zur Hand war, ſo wurde in Ermangelung von Bahn-
Material nun eine erhebliche Anſpannung von Pferden und für dieſe
ein Aufwand von Millionen erforderlich. Mir ſind die Zweifel
nicht verſtändlich, die darüber obwalten konnten, ob dieſe Millionen
verfügbar wären, ſobald das Bedürfniß für kriegeriſche Zwecke vor¬
lag. Es erſchien mir als ein erheblicher Fortſchritt, als Roon, ſchon
nervös aufgerieben und erſchöpft, mir eines Tages mittheilte, daß
man jetzt ihm perſönlich die Verantwortlichkeit mit der Frage zu¬
geſchoben habe, ob er bereit ſei, die Geſchütze in abſehbarer Zeit
heranzuſchaffen; er ſei in Zweifel in Betreff der Möglichkeit. Ich
bat ihn, die ihm geſtellte Aufgabe ſofort zu übernehmen, und
[113/0137]
Mangel an ſchwerem Geſchütz. Conſtitutionelle u. humanitäre Bedenken.
erklärte mich bereit, jede dazu erforderliche Summe auf die Bundes¬
kaſſe anzuweiſen, wenn er die vielleicht 4000 Pferde, die er als
ungefähren Bedarf angab, ankaufen und zur Beförderung der Ge¬
ſchütze verwenden wolle. Er gab die entſprechenden Aufträge, und
die in unſerm Lager lange mit ſchmerzlicher Ungeduld erwartete und
mit Jubel begrüßte Beſchießung des Mont Avron war das Ergebniß
dieſer weſentlich Roon zu dankenden Wendung. Eine bereitwillige
Unterſtützung fand er für das Heranſchaffen und die Verwendung
der Geſchütze bei dem Prinzen Krafft Hohenlohe.
Wenn man ſich fragt, was andre Generale beſtimmt
haben kann, die Anſicht Roons zu bekämpfen, ſo wird es ſchwer,
ſachliche Gründe für die Verzögerung der gegen die Jahreswende
ergriffenen Maßregeln aufzufinden. Von dem militäriſchen wie
von dem politiſchen Standpunkte erſcheint das zögernde Vorgehn
widerſinnig und gefährlich, und daß die Gründe nicht in der Un¬
entſchloſſenheit unſrer Heeresleitung zu ſuchen waren, darf man
aus der raſchen und entſchloſſenen Führung des Krieges bis vor
Paris ſchließen. Die Vorſtellung, daß Paris, obwohl es befeſtigt
und das ſtärkſte Bollwerk der Gegner war, nicht wie jede andre
Feſtung angegriffen werden dürfe, war aus England auf dem Um¬
wege über Berlin in unſer Lager gekommen, mit der Redensart
von dem „Mekka der Civiliſation“ und andern in dem cant der
öffentlichen Meinung in England üblichen und wirkſamen Wen¬
dungen der Humanitätsgefühle, deren Bethätigung England von
allen andern Mächten erwartet, aber ſeinen eignen Gegnern nicht
immer zu Gute kommen läßt. Von London wurde bei unſern ma߬
gebenden Kreiſen der Gedanke vertreten, daß die Uebergabe von Paris
nicht durch Geſchütze, ſondern nur durch Hunger herbeigeführt werden
dürfe. Ob der letztre Weg der menſchlichere war, darüber kann
man ſtreiten, auch darüber, ob die Greuel der Commune zum Aus¬
bruch gekommen ſein würden, wenn nicht die Hungerzeit das Frei¬
werden der anarchiſchen Wildheit vorbereitet hätte. Es mag dahin¬
geſtellt bleiben, ob bei der engliſchen Einwirkung zu Gunſten der
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II 8
[114/0138]
Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
Humanität des Aushungerns nur Empfindſamkeit und nicht auch
politiſche Berechnung im Spiele war. England hatte kein
praktiſches Bedürfniß, weder uns noch Frankreich vor Schädigung
und Schwächung durch den Krieg zu behüten, weder wirth¬
ſchaftlich noch politiſch. Jedenfalls vermehrte die Verſchleppung
der Ueberwältigung von Paris und des Abſchluſſes der kriegeriſchen
Vorgänge für uns die Gefahr, daß die Früchte unſrer Siege uns
verkümmert werden könnten. Vertrauliche Nachrichten aus Berlin
ließen erkennen, daß in den ſachkundigen Kreiſen der Stillſtand
unſrer Thätigkeit Beſorgniß und Unzufriedenheit erregte, und
daß man der Königin Auguſta einen brieflichen Einfluß auf
ihren hohen Gemal im Sinne der Humanität zuſchrieb. Eine An¬
deutung, die ich dem Könige über Nachrichten derart machte, hatte
einen lebhaften Zornesausbruch zur Folge, nicht in dem Sinne,
daß die Gerüchte unbegründet ſeien, ſondern in einer ſcharfen
Bedrohung jeder Aeußerung einer derartigen Verſtimmung gegen
die Königin.
Die Initiative zu irgend einer Wendung in der Kriegführung
ging in der Regel nicht von dem Könige aus, ſondern von
dem Generalſtabe der Armee oder des Höchſtcommandirenden am
Orte, des Kronprinzen. Daß dieſe Kreiſe engliſchen Auffaſſungen,
wenn ſie ſich in befreundeter Form geltend machten, zugänglich
waren, war menſchlich natürlich: die Kronprinzeſſin, die verſtorbene
Frau Moltkes, die Frau des Generalſtabschefs, ſpätern Feldmar¬
ſchalls, Grafen Blumenthal, und die Frau des demnächſt ma߬
gebenden Generalſtabsoffiziers von Gottberg waren ſämmtlich Eng¬
länderinnen.
Die Gründe der Verzögerung des Angriffs auf Paris, über
die die Wiſſenden Schweigen beobachtet hatten, ſind durch die
in der „Deutſchen Revue“ von 1891 erfolgten Veröffentlichungen
aus den Papieren des Grafen Roon 1) Gegenſtand publiciſtiſcher Er¬
1) Ausgabe in Buchform III 4 243 ff.
[115/0139]
Weibliche Einwirkungen. Werth des Kaiſertitels.
örterung geworden. Alle gegen die Darſtellung Roons gerichteten
Ausführungen umgehn die Berliner Einflüſſe und die engliſchen,
auch die Thatſache, daß 800, nach Andern 1500 Axen mit
Lebensmitteln für die Pariſer wochenlang feſtlagen; und alle,
mit Ausnahme eines anonymen Zeitungsartikels, umgehn ebenſo
die Frage, ob die Heeresleitung rechtzeitig für die Herbeiſchaffung
von Belagerungsgeſchütz Sorge getragen habe. Ich habe keinen
Anlaß gefunden, an meinen vorſtehenden, vor dem Erſcheinen der
betreffenden Nummern der „Deutſchen Revue“ gemachten Aufzeich¬
nungen irgend etwas zu ändern.
IV.
Die Annahme des Kaiſertitels durch den König bei Erweiterung
des Norddeutſchen Bundes war ein politiſches Bedürfniß, weil er
in den Erinnerungen aus Zeiten, da er rechtlich mehr, factiſch
weniger als heut zu bedeuten hatte, ein werbendes Element für
Einheit und Centraliſation bildete; und ich war überzeugt, daß der
feſtigende Druck auf unſre Reichsinſtitutionen um ſo nachhaltiger
ſein müßte, je mehr der preußiſche Träger deſſelben das gefähr¬
liche, aber der deutſchen Vorgeſchichte innelebende Beſtreben ver¬
miede, den andern Dynaſtien die Ueberlegenheit der eignen
unter die Augen zu rücken. König Wilhelm I. war nicht frei
von der Neigung dazu, und ſein Widerſtreben gegen den Titel
war nicht ohne Zuſammenhang mit dem Bedürfniſſe, grade
das überlegne Anſehn der angeſtammten preußiſchen Krone mehr
als das des Kaiſertitels zur Anerkennung zu bringen. Die
Kaiſerkrone erſchien ihm im Lichte eines übertragenen modernen
Amtes, deſſen Autorität von Friedrich dem Großen bekämpft
war, den Großen Kurfürſten bedrückt hatte. Bei den erſten
Erörterungen ſagte er: „Was ſoll mir der Charakter-Major?“
worauf ich u. A. erwiderte: „Ew. Majeſtät wollen doch nicht ewig
[116/0140]
Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
ein Neutrum bleiben, ‚das Präſidium‘? In dem Ausdrucke ‚Präſi¬
dium‘ liegt eine Abſtraction, in dem Worte ‚Kaiſer‘ eine große
Schwungkraft“ 1).
Auch bei dem Kronprinzen habe ich für mein Streben, den
Kaiſertitel herzuſtellen, welches nicht einer preußiſch-dynaſtiſchen
Eitelkeit, ſondern allein dem Glauben an ſeine Nützlichkeit für
Förderung der nationalen Einheit entſprang, im Anfange der gün¬
ſtigen Wendung des Krieges nicht immer Anklang gefunden. Seine
Königliche Hoheit hatte von irgend einem der politiſchen Phantaſten,
denen er ſein Ohr lieh, den Gedanken aufgenommen, die Erbſchaft
des von Karl dem Großen wiedererweckten „römiſchen“ Kaiſer¬
thums ſei das Unglück Deutſchlands geweſen, ein ausländiſcher, für
die Nation ungeſunder Gedanke. So nachweisbar letztres auch
geſchichtlich ſein mag, ſo unpraktiſch war die Bürgſchaft gegen
analoge Gefahren, welche des Prinzen Rathgeber in dem Titel
„König“ der Deutſchen ſahen. Es lag heut zu Tage keine Gefahr
vor, daß der Titel, welcher allein in der Erinnerung des Volkes
lebt, dazu beitragen würde, die Kräfte Deutſchlands den eignen
Intereſſen zu entfremden und dem transalpinen Ehrgeize bis nach
Apulien hin dienſtbar zu machen. Das aus einer irrigen Vor¬
ſtellung entſpringende Verlangen, das der Prinz gegen mich aus¬
ſprach, war nach meinem Eindrucke ein völlig ernſtes und ge¬
ſchäftliches, deſſen Inangriffnahme durch mich gewünſcht wurde.
Mein Einwand, anknüpfend an die Coexiſtenz der Könige von
Bayern, Sachſen, Würtemberg mit dem intendirten Könige in
Germanien oder Könige der Deutſchen führte zu meiner Ueber¬
raſchung auf die weitre Conſequenz, daß die genannten Dynaſtien
aufhören müßten, den Königstitel zu führen, um wieder den
herzoglichen anzunehmen. Ich ſprach die Ueberzeugung aus, daß
ſie ſich dazu gutwillig nicht verſtehn würden. Wollte man da¬
gegen Gewalt anwenden, ſo würde dergleichen Jahrhunderte hin¬
1) S. o. S. 57.
[117/0141]
Bedenken des Kronprinzen. Graf Holnſtein.
durch nicht vergeſſen und eine Saat von Mißtrauen und Haß
ausſtreuen.
In dem Geffckenſchen Tagebuche findet ſich die Andeutung,
daß wir unſre Stärke nicht gekannt hätten; die Anwendung dieſer
Stärke in damaliger Gegenwart wäre die Schwäche der Zukunft
Deutſchlands geworden. Das Tagebuch iſt wohl nicht damals auf
den Tag geſchrieben, ſondern ſpäter mit Wendungen vervollſtändigt
worden, durch die höfiſche Streber den Inhalt glaublich zu machen
ſuchten. Ich habe meiner Ueberzeugung, daß es gefälſcht ſei, und
meiner Entrüſtung über die Intriganten und Ohrenbläſer, die
ſich einer argloſen und edlen Natur wie Kaiſer Friedrich auf¬
drängten, in dem veröffentlichten Immediatberichte 1) Ausdruck ge¬
geben. Als ich dieſen ſchrieb, hatte ich keine Ahnung davon, daß
der Fälſcher in der Richtung von Geffcken, dem hanſeatiſchen Welfen,
zu ſuchen ſei, den ſeine Preußenfeindſchaft ſeit Jahren nicht ge¬
hindert hatte, ſich um die Gunſt des preußiſchen Kronprinzen zu
bewerben, um dieſen, ſein Haus und ſeinen Staat mit mehr Erfolg
ſchädigen, ſelbſt aber eine Rolle ſpielen zu können. Geffcken gehörte
zu den Strebern, die ſeit 1866 verbittert waren, weil ſie ſich und
ihre Bedeutung verkannt fanden.
Außer den bairiſchen Unterhändlern befand ſich in Verſailles
als beſondrer Vertrauensmann des Königs Ludwig der ihm als
Oberſtſtallmeiſter perſönlich naheſtehende Graf Holnſtein. Derſelbe
übernahm auf meine Bitte in dem Augenblick, wo die Kaiſerfrage
kritiſch war und an dem Schweigen Baierns und der Abneigung
König Wilhelms zu ſcheitern drohte, die Ueberbringung eines
Schreibens von mir an ſeinen Herrn, das ich, um die Beförde¬
rung nicht zu verzögern, ſofort an einem abgedeckten Eßtiſche auf
durchſchlagendem Papiere und mit widerſtrebender Tinte ſchrieb 2).
Ich entwickelte darin den Gedanken, daß die bairiſche Krone die
1) Vom 23. Sept. 1888.
2) S. Bd. I 353.
[118/0142]
Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
Präſidialrechte, für die die bairiſche Zuſtimmung geſchäftlich be¬
reits vorlag, dem Könige von Preußen ohne Verſtimmung des
bairiſchen Selbſtgefühls nicht werde einräumen können; der König
von Preußen ſei ein Nachbar des Königs von Baiern, und bei
der Verſchiedenheit der Stammesbeziehungen werde die Kritik über
die Conceſſionen, welche Baiern mache und gemacht habe, ſchärfer
und für die Rivalitäten der deutſchen Stämme empfindlicher werden.
Preußiſche Autorität innerhalb der Grenzen Baierns ausgeübt,
ſei neu und werde die bairiſche Empfindung verletzen, ein deut¬
ſcher Kaiſer aber ſei nicht der im Stamme verſchiedene Nachbar
Baierns, ſondern der Landsmann; meines Erachtens könne der
König Ludwig die von ihm der Autorität des Präſidiums bereits
gemachten Conceſſionen ſchicklicher Weiſe nur einem deutſchen Kaiſer,
nicht einem Könige von Preußen machen. Dieſer Hauptlinie meiner
Argumentation hatte ich noch perſönliche Argumente hinzugefügt,
in Erinnerung an das beſondre Wohlwollen, welches die bairiſche
Dynaſtie zu der Zeit, wo ſie in der Mark Brandenburg regirte
(Kaiſer Ludwig), während mehr als einer Generation meinen Vor¬
fahren bethätigt habe. Ich hielt dieſes argumentum ad hominem
einem Monarchen von der Richtung des Königs gegenüber für nütz¬
lich, glaube aber, daß die politiſche und dynaſtiſche Würdigung des
Unterſchieds zwiſchen kaiſerlich deutſchen und königlich preußiſchen
Präſidialrechten entſcheidend in's Gewicht gefallen iſt. Der Graf
trat ſeine Reiſe nach Hohenſchwangau binnen zwei Stunden, am
27. November, an und legte ſie unter großen Schwierigkeiten und
mit häufiger Unterbrechung in vier Tagen zurück. Der König war
wegen eines Zahnleidens bettlägrig, lehnte zuerſt ab, ihn zu em¬
pfangen, nahm ihn aber an, nachdem er vernommen hatte, daß
der Graf in meinem Auftrage und mit einem Briefe von mir
komme. Er hat darauf im Bette mein Schreiben in Gegenwart
des Grafen zweimal ſorgfältig durchgeleſen, Schreibzeug gefordert
und das von mir erbetene und im Concept entworfene Schreiben
an den König Wilhelm zu Papier gebracht. Darin war das
[119/0143]
Ludwigs II. Brief. Formulirung des Kaiſertitels.
Hauptargument für den Kaiſertitel mit der coercitiven Andeutung
wiedergegeben, daß Baiern die zugeſagten, aber noch nicht rati¬
ficirten Conceſſionen nur dem deutſchen Kaiſer, aber nicht dem
Könige von Preußen machen könne. Ich hatte dieſe Wendung aus¬
drücklich gewählt, um einen Druck auf die Abneigung meines
hohen Herrn gegen den Kaiſertitel auszuüben. Am ſiebenten Tage
nach ſeiner Abreiſe, am 3. December, war Graf Holnſtein mit
dieſem Schreiben des Königs wieder in Verſailles; es wurde noch
an demſelben Tage durch den Prinzen Luitpold, jetzigen Regenten,
unſerm Könige officiell überreicht und bildete ein gewichtiges Mo¬
ment für das Gelingen der ſchwierigen und vielfach in ihren
Ausſichten ſchwankenden Arbeiten, die durch das Widerſtreben des
Königs Wilhelm und durch die bis dahin mangelnde Feſtſtellung
der bairiſchen Erwägungen veranlaßt waren. Der Graf Holn¬
ſtein hat ſich durch dieſe in einer ſchlafloſen Woche zurückgelegte
doppelte Reiſe und durch die geſchickte Durchführung ſeines Auf¬
trags in Hohenſchwangau ein erhebliches Verdienſt um den Ab¬
ſchluß unſrer nationalen Einigung durch Beſeitigung der äußern
Hinderniſſe der Kaiſerfrage erworben.
Eine neue Schwierigkeit erhob Se. Majeſtät bei der Formu¬
lirung des Kaiſertitels, indem er, wenn ſchon Kaiſer, Kaiſer von
Deutſchland heißen wollte. In dieſer Phaſe haben der Kronprinz,
der ſeinen Gedanken an einen König der Deutſchen längſt fallen
gelaſſen hatte, und der Großherzog von Baden mich, jeder in ſeiner
Weiſe, unterſtützt, wenn auch keiner von Beiden der zornigen Ab¬
neigung des alten Herrn gegen den „Charakter-Major“ 1) offen
widerſprach. Der Kronprinz unterſtützte mich durch paſſive Aſſiſtenz
in Gegenwart ſeines Herrn Vaters und durch gelegentliche kurze
Aeußerungen ſeiner Anſicht, die aber meine Gefechtſpoſition dem
Könige gegenüber nicht ſtärkten, ſondern eher eine verſchärfte Reiz¬
barkeit des hohen Herrn zur Folge hatten. Denn der König war noch
1) S. o. S. 57. 115 f.
[120/0144]
Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
leichter geneigt, dem Miniſter, als ſeinem Herrn Sohne Conceſſionen
zu machen, in gewiſſenhafter Erinnerung an Verfaſſungseid und
Miniſterverantwortlichkeit. Meinungsverſchiedenheiten mit dem Kron¬
prinzen faßte er von dem Standpunkte des pater familias auf.
In der Schlußberathung am 17. Januar 1871 lehnte er die
Bezeichnung Deutſcher Kaiſer ab und erklärte, er wolle Kaiſer von
Deutſchland oder garnicht Kaiſer ſein. Ich hob hervor, wie die
adjectiviſche Form Deutſcher Kaiſer und die genitiviſche Kaiſer von
Deutſchland ſprachlich und zeitlich verſchieden ſeien. Man hätte
Römiſcher Kaiſer, nicht Kaiſer von Rom geſagt; der Zar nenne
ſich nicht Kaiſer von Rußland, ſondern Ruſſiſcher, auch „geſammt¬
ruſſiſcher“ (wserossiski) Kaiſer. Das Letztre beſtritt der König mit
Schärfe, ſich darauf berufend, daß die Rapporte ſeines ruſſiſchen
Regiments Kaluga ſtets „pruskomu“ adreſſirt ſeien, was er irr¬
thümlich überſetzte. Meiner Verſicherung, daß die Form der Dativ
des Adjectivums ſei, ſchenkte er keinen Glauben und hat ſich erſt
nachher von ſeiner gewohnten Autorität für ruſſiſche Sprache, dem
Hofrath Schneider, überzeugen laſſen. Ich machte ferner geltend,
daß unter Friedrich dem Großen und Friedrich Wilhelm II. auf
den Thalern Borussorum, nicht Borussiae rex erſcheine, daß der
Titel Kaiſer von Deutſchland einen landesherrlichen Anſpruch auf
die nichtpreußiſchen Gebiete involvire, den die Fürſten zu bewilligen
nicht gemeint wären; daß in dem Schreiben des Königs von Baiern
in Anregung gebracht ſei, daß „die Ausübung der Präſidialrechte
mit Führung des Titels eines Deutſchen Kaiſers verbunden werde“;
endlich daß derſelbe Titel auf Vorſchlag des Bundesrathes in die
neue Faſſung des Artikel 11 der Verfaſſung aufgenommen ſei.
Die Erörterung ging über auf den Rang zwiſchen Kaiſern
und Königen, zwiſchen Erzherzogen, Großfürſten und preußiſchen
Prinzen. Meine Darlegung, daß den Kaiſern im Prinzip ein
Vorrang vor Königen nicht eingeräumt werde, fand keinen Glauben,
obwohl ich mich darauf berufen konnte, daß Friedrich Wilhelm I.
bei einer Zuſammenkunft mit Karl VI., der doch dem Kurfürſten
[121/0145]
Kaiſer von Deutſchland oder Deutſcher Kaiſer?
von Brandenburg gegenüber die Stellung des Lehnsherrn hatte,
als König von Preußen die Gleichheit beanſpruchte und durchſetzte,
indem man einen Pavillon erbauen ließ, in den die beiden Mon¬
archen von den entgegengeſetzten Seiten gleichzeitig eintraten, um
einander in der Mitte zu begegnen.
Die Zuſtimmung, die der Kronprinz zu meiner Ausführung
zu erkennen gab, reizte den alten Herrn noch mehr, ſo daß er auf
den Tiſch ſchlagend ſagte: „Und wenn es ſo geweſen wäre, ſo
befehle ich jetzt, wie es ſein ſoll. Die Erzherzoge und Großfürſten
haben ſtets den Vorrang vor den preußiſchen Prinzen gehabt, und
ſo ſoll es ferner ſein.“ Damit ſtand er auf, trat an das Fenſter, den
um den Tiſch Sitzenden den Rücken zuwendend. Die Erörterung der
Titelfrage kam zu keinem klaren Abſchluß; indeſſen konnte man ſich
doch für berechtigt halten, die Ceremonie der Kaiſerproclamation anzu¬
beraumen, aber der König hatte befohlen, daß nicht von dem Deutſchen
Kaiſer, ſondern von dem Kaiſer von Deutſchland dabei die Rede ſei.
Dieſe Sachlage veranlaßte mich, am folgenden Morgen, vor
der Feierlichkeit im Spiegelſaale, den Großherzog von Baden auf¬
zuſuchen, als den erſten der anweſenden Fürſten, der vorausſichtlich
nach Verleſung der Proclamation das Wort nehmen würde, und
ihn zu fragen, wie er den neuen Kaiſer zu bezeichnen denke. Der
Großherzog antwortete: „Als Kaiſer von Deutſchland, nach Befehl
Sr. Majeſtät.“ Unter den Argumenten, die ich dem Großherzoge
dafür geltend machte, daß das abſchließende Hoch auf den Kaiſer
nicht in dieſer Form ausgebracht werden könne, war das durch¬
ſchlagendſte meine Berufung auf die Thatſache, daß der künftige
Text der Reichsverfaſſung bereits durch einen Beſchluß des Reichs¬
tags in Berlin präjudicirt ſei. Die in ſeinen conſtitutionellen Ge¬
dankenkreis fallende Hinweiſung auf den Reichstagsbeſchluß bewog
ihn, den König noch einmal aufzuſuchen. Die Unterredung der
beiden Herrn blieb mir unbekannt, und ich war bei Verleſung der
Proclamation in Spannung. Der Großherzog wich dadurch aus,
daß er ein Hoch weder auf den Deutſchen Kaiſer, noch auf den
[122/0146]
Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
Kaiſer von Deutſchland, ſondern auf den Kaiſer Wilhelm aus¬
brachte. Se. Majeſtät hatte mir dieſen Verlauf ſo übel genommen,
daß er beim Herabtreten von dem erhöhten Stande der Fürſten mich,
der ich allein auf dem freien Platze davor ſtand, ignorirte, an mir
vorüberging, um den hinter mir ſtehenden Generalen die Hand zu
bieten, und in dieſer Haltung mehre Tage verharrte, bis allmälig
die gegenſeitigen Beziehungen wieder in das alte Geleiſe kamen.
[[123]/0147]
Vierundzwanzigſtes Kapitel.
Culturkampf.
I.
In Verſailles hatte ich vom 5. bis 9. November mit dem
Grafen Ledochowſki, Erzbiſchofe von Poſen und Gneſen, Verhand¬
lungen gehabt, die ſich vorwiegend auf die territorialen Intereſſen
des Papſtes bezogen. Gemäß dem Sprichwort „Eine Hand wäſcht
die andre“ machte ich ihm den Vorſchlag, die Gegenſeitigkeit der
Beziehungen zwiſchen dem Papſte und uns zu bethätigen durch päpſt¬
liche Einwirkung auf die franzöſiſche Geiſtlichkeit im Sinne des
Friedensſchluſſes, immer in Sorge, wie ich war, daß eine Einmiſchung
der neutralen Mächte uns die Früchte der Siege verkümmern könne.
Ledochowſki und in engern Grenzen Bonnechoſe, Cardinal-Erz¬
biſchof von Rouen, machten bei verſchiedenen Mitgliedern des
hohen Clerus den Verſuch, ſie zu einer Einwirkung in dem be¬
zeichneten Sinne zu beſtimmen, hatten mir aber nur von einer
kühlen, ablehnenden Aufnahme ihrer Schritte zu berichten, woraus
ich entnahm, daß es der päpſtlichen Macht entweder an Stärke oder
an gutem Willen fehlen müſſe, uns im Sinne des Friedens eine
Hülfe zu gewähren, werthvoll genug, um die Verſtimmung der
deutſchen Proteſtanten und der italieniſchen Nationalpartei und der
letztern Rückwirkung auf die zukünftigen Beziehungen beider Völker
[124/0148]
Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf.
in den Kauf zu nehmen, die das Ergebniß eines öffentlichen Ein¬
tretens für die päpſtlichen Intereſſen bezüglich Roms ſein mußte.
In den Wechſelfällen des Krieges iſt unter den ſtreitenden
italieniſchen Elementen Anfangs der König als der für uns mög¬
licherweiſe gefährliche Gegner erſchienen. Später iſt uns die republi¬
kaniſche Partei unter Garibaldi, die uns bei Ausbruch des Krieges
ihre Unterſtützung gegen Napoleoniſche Velleitäten des Königs in
Ausſicht geſtellt hatte, auf dem Schlachtfelde in einer mehr thea¬
traliſchen als praktiſchen Erregtheit und in militäriſchen Leiſtungen
entgegengetreten, deren Formen unſre ſoldatiſchen Auffaſſungen
verletzten. Zwiſchen dieſen beiden Elementen lag die Sympathie,
welche die öffentliche Meinung der Gebildeten in Italien für das in
der Geſchichte und in der Gegenwart parallele Streben des deutſchen
Volkes hegen und dauernd bewahren konnte, lag der nationale
Inſtinct, der denn auch ſchließlich ſtark und praktiſch genug ge¬
weſen iſt, mit dem frühern Gegner Oeſtreich in den Dreibund
zu treten. Mit dieſer nationalen Richtung Italiens würden wir
durch oſtenſible Parteinahme für den Papſt und ſeine territorialen
Anſprüche gebrochen haben. Ob und in wie weit wir dafür den
Beiſtand des Papſtes in unſern innern Angelegenheiten gewonnen
haben würden, iſt zweifelhaft. Der Gallicanismus erſchien mir
ſtärker, als ich ihn 1870 der Infallibilität gegenüber einſchätzen
konnte, und der Papſt ſchwächer, als ich ihn wegen ſeiner über¬
raſchenden Erfolge über alle deutſchen, franzöſiſchen, ungariſchen
Biſchöfe gehalten hatte. Bei uns im Lande war das jeſuitiſche
Centrum demnächſt ſtärker als der Papſt, wenigſtens unabhängig
von ihm; der germaniſche Fractions- und Parteigeiſt unſrer katho¬
liſchen Landsleute iſt ein Element, dem gegenüber auch der päpſt¬
liche Wille nicht durchſchlägt.
Desgleichen laſſe ich dahingeſtellt, ob die am 16. deſſelben
Monats vor ſich gegangenen Wahlen zum preußiſchen Landtage
durch das Fehlſchlagen der Ledochowſkiſchen Verhandlungen beein¬
flußt worden ſind. Die letztern wurden in etwas andrer Rich¬
[125/0149]
Streitende Richtungen in Italien. Verhandlung mit Ketteler.
tung aufgenommen von dem Biſchof von Mainz, Freiherrn von
Ketteler, zu welchem Zweck er mich bei Beginn des Reichstags,
1871, mehrmals aufſuchte. Ich war 1865 mit ihm in Ver¬
bindung getreten, indem ich ihn befragte, ob er das Erzbisthum
Poſen annehmen würde, wobei mich die Abſicht leitete, zu zeigen,
daß wir nicht antikatholiſch, ſondern nur antipolniſch wären.
Ketteler hatte, vielleicht auf Anfrage in Rom, abgelehnt wegen
Unkenntniß der polniſchen Sprache. 1871 ſtellte er mir im Großen
und Ganzen das Verlangen, in die Reichsverfaſſung die Artikel
der preußiſchen aufzunehmen, welche das Verhältniß der katholi¬
ſchen Kirche im Staate regelten und von denen drei (15, 16, 18)
durch das Geſetz vom 18. Juni 1875 aufgehoben worden ſind.
Für mich war die Richtung unſrer Politik nicht durch ein con¬
feſſionelles Ziel beſtimmt, ſondern lediglich durch das Beſtreben,
die auf dem Schlachtfelde gewonnene Einheit möglichſt dauerhaft
zu feſtigen. Ich bin in confeſſioneller Beziehung jeder Zeit tolerant
geweſen bis zu den Grenzen, die die Nothwendigkeit des Zu¬
ſammenlebens verſchiedener Bekenntniſſe in demſelben ſtaatlichen
Organismus den Anſprüchen eines jeden Sonderglaubens zieht.
Die therapeutiſche Behandlung der katholiſchen Kirche in einem
weltlichen Staate iſt aber dadurch erſchwert, daß die katholiſche
Geiſtlichkeit, wenn ſie ihren theoretiſchen Beruf voll erfüllen will,
über das kirchliche Gebiet hinaus den Anſpruch auf Betheiligung
an weltlicher Herrſchaft zu erheben hat, unter kirchlichen Formen
eine politiſche Inſtitution iſt und auf ihre Mitarbeiter die eigne
Ueberzeugung überträgt, daß ihre Freiheit in ihrer Herrſchaft
beſteht, und daß die Kirche überall, wo ſie nicht herrſcht, berechtigt
iſt, über Diocletianiſche Verfolgung zu klagen.
In dieſem Sinne hatte ich einige Auseinanderſetzungen mit
Herrn von Ketteler bezüglich ſeines genauer accentuirten Anſpruchs
auf ein verfaſſungsmäßiges Recht ſeiner Kirche, das heißt der Geiſt¬
lichkeit, auf Verfügung über den weltlichen Arm. Er verwandte
in ſeinen politiſchen Argumenten auch das mehr ad hominem
[126/0150]
Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf.
gehende, daß bezüglich unſres Schickſals nach dem irdiſchen Tode
die Bürgſchaften für die Katholiken ſtärker ſeien, als für andre,
weil, angenommen, daß die katholiſchen Dogmen irrthümlich ſeien,
das Schickſal der katholiſchen Seele nicht ſchlimmer ausfalle, wenn
der evangeliſche Glaube ſich als der richtige erweiſen ſollte, im
umgekehrten Falle aber die Zukunft der ketzeriſchen Seele eine ent¬
ſetzliche ſei. Er knüpfte daran die Frage: „Glauben Sie etwa,
daß ein Katholik nicht ſelig werden könne?“ Ich antwortete: „Ein
katholiſcher Laie unbedenklich; ob ein Geiſtlicher, iſt mir zweifel¬
haft; in ihm ſteckt ,die Sünde wider den heiligen Geiſt', und der
Wortlaut der Schrift ſteht ihm entgegen.“ Der Biſchof beantwortete
dieſe in ſcherzhaftem Tone gegebene Erwiderung lächelnd durch eine
höflich ironiſche Verbeugung.
Nachdem unſre Verhandlungen reſultatlos abgelaufen waren,
wurde die Neubildung der 1860 gegründeten, jetzt Centrum ge¬
nannten katholiſchen Fraction mit ſteigendem Eifer beſonders von
Savigny und Mallinckrodt betrieben. An dieſer Fraction habe ich
die Beobachtung zu machen gehabt, daß, wie in Frankreich ſo auch
in Deutſchland, der Papſt ſchwächer iſt, als er erſcheint, jedenfalls
nicht ſo ſtark iſt, daß wir ſeinen Beiſtand in unſern Angelegen¬
heiten durch den Bruch mit den Sympathien andrer mächtiger Ele¬
mente erkaufen durften. Von dem désaveu des Cardinals Antonelli
in dem Briefe an den Biſchof Ketteler vom 5. Juni 1871, von der
Centrumsmiſſion des Fürſten Löwenſtein-Wertheim, von der Unbot¬
mäßigkeit des Centrums bei Gelegenheit des Septennats habe ich
den Eindruck erhalten, daß der Partei- und Fractionsgeiſt, den
die Vorſehung dem Centrum an Stelle des Nationalſinnes andrer
Völker verliehn hat, ſtärker iſt als der Papſt, nicht auf einem
Concil, ohne Laien, aber auf dem Schlachtfelde parlamentariſcher
und publiciſtiſcher Kämpfe innerhalb Deutſchlands. Ob das auch
der Fall ſein würde, wenn der päpſtliche Einfluß ſich ohne Rückſicht
auf concurrirende Kräfte, namentlich den Jeſuitenorden, geltend
zu machen vermöchte, laſſe ich, ohne an den plötzlichen Tod des
[127/0151]
Bildung des Centrums. Polniſche Seite des Culturkampfs.
Cardinal-Staatsſekretärs Franchi zu denken, dahingeſtellt ſein. Von
Rußland hat man geſagt: gouvernement absolu tempéré par le
régicide. Iſt ein Papſt, der in der Nichtachtung der in der Kirchen¬
politik concurrirenden Organe zu weit ginge, vor kirchlichen „Nihi¬
liſten“ ſichrer als der Zar? Gegenüber Biſchöfen, die im Vatican
verſammelt ſind, iſt der Papſt ſtark; und wenn er mit dem
Jeſuitenorden geht, ſtärker, als wenn er außerhalb ſeiner Reſidenz
verſucht, den Widerſtand der weltlichen Jeſuiten zu brechen, die
die Träger des parlamentariſchen Katholicismus zu ſein pflegen.
II.
Der Beginn des Culturkampfes war für mich überwiegend
beſtimmt durch ſeine polniſche Seite. Seit dem Verzicht auf die
Politik der Flottwell und Grolman, ſeit der Conſolidirung des
Radziwill'ſchen Einfluſſes auf den König und der Einrichtung der
„katholiſchen Abtheilung“ im geiſtlichen Miniſterium, ſtellten die
ſtatiſtiſchen Data einen ſchnellen Fortſchritt der polniſchen Natio¬
nalität auf Koſten der Deutſchen in Poſen und Weſtpreußen
außer Zweifel, und in Oberſchleſien wurde das bis dahin ſtramm
preußiſche Element der „Waſſerpolacken“ poloniſirt; Schaffranek
wurde dort in den Landtag gewählt, der uns das Sprichwort von
der Unmöglichkeit der Verbrüderung der Deutſchen und der Polen
in polniſcher Sprache als Parlamentsredner entgegenhielt. Der¬
gleichen war in Schleſien nur möglich auf Grund der amtlichen
Autorität der katholiſchen Abtheilung. Auf Klage bei dem Fürſt¬
biſchof wurde dem Schaffranek unterſagt, bei Wiederwahl auf der
Linken zu „ſitzen“; in Folge deſſen ſtand dieſer kräftig gebaute
Prieſter 5 und 6 Stunden und bei Doppelſitzungen 10 Stunden
am Tage vor den Bänken der Linken, ſtramm wie eine Schild¬
wache, und brauchte nicht erſt aufzuſtehn, wenn er zu antideutſcher
[128/0152]
Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf.
Rede das Wort ergriff 1). In Poſen und Weſtpreußen waren
nach Ausweis amtlicher Berichte Tauſende von Deutſchen und
ganze Ortſchaften, die in der vorigen Generation amtlich deutſch
waren, durch die Einwirkung der katholiſchen Abtheilung polniſch
erzogen und amtlich „Polen“ genannt worden. Nach der Com¬
petenz, welche der Abtheilung verliehn worden war, ließ ſich ohne
Aushebung derſelben hierin nicht abhelfen. Dieſe Aufhebung war
alſo nach meiner Ueberzeugung als nächſtes Ziel zu erſtreben. Da¬
gegen war natürlich der Radziwill'ſche Einfluß am Hof, nicht
natürlich mein Cultus-College, deſſen Frau und Ihre Majeſtät
die Königin. Der Chef der katholiſchen Abtheilung war damals
Krätzig, der früher Radziwill'ſcher Privatbeamter geweſen und dies
im Staatsdienſt auch wohl geblieben war. Der Träger des Radzi¬
will'ſchen Einfluſſes war der jüngere beider Brüder Fürſt Boguslav,
auch Stadtverordneter von Einfluß in Berlin. Der ältere, Wil¬
helm, und ſein Sohn Anton, waren zu ehrliche Soldaten, um ſich
auf polniſche Intrigen gegen den König und deſſen Staat ein¬
zulaſſen. Die katholiſche Abtheilung des Cultusminiſteriums, ur¬
ſprünglich gedacht als eine Einrichtung, vermöge deren katholiſche
Preußen die Rechte ihres Staates in den Beziehungen zu Rom
vertreten ſollten, war durch den Wechſel der Mitglieder nach
und nach zu einer Behörde geworden, die inmitten der preußi¬
ſchen Bürokratie die römiſchen und polniſchen Intereſſen gegen
Preußen vertrat. Ich habe mehr als einmal dem Könige ausein¬
ander geſetzt, daß dieſe Abtheilung ſchlimmer ſei als ein Nuntius in
Berlin. Sie handle nach Anweiſungen, die ſie aus Rom empfinge,
vielleicht nicht immer vom Papſte, und ſei neuerdings hauptſächlich
polniſchen Einflüſſen zugänglich geworden. In dem Radziwill'ſchen
Hauſe ſeien die Damen deutſchfreundlich, der ältere Bruder Wil¬
helm durch das Ehrgefühl des preußiſchen Offiziers in derſelben
1) Vgl. die Aeußerung in der Rede vom 28. Januar 1886, Politiſche
Reden XI 438.
[129/0153]
Die katholiſche Abtheilung und ihre Aufhebung.
Richtung gehalten, ebenſo deſſen Sohn Anton, bei dem die perſön¬
liche Anhänglichkeit an Se. Majeſtät hinzukomme. Aber in dem
treibenden Elemente des Hauſes, den Geiſtlichen und dem Fürſten
Boguslaw und deſſen Sohn, ſei das polniſche Nationalgefühl ſtärker
als jedes andre und werde gepflegt auf der Baſis des Zuſammen¬
gehns der polniſchen mit den römiſch-clericalen Intereſſen, auf der
einzigen im Frieden gangbaren, aber auch ſehr geläufig gangbaren
Baſis. Nun ſei der Chef der katholiſchen Abtheilung, Krätzig, ſo gut
wie ein Radziwillſcher Leibeigner. Ein Nuntius würde die Intereſſen
der katholiſchen Kirche, aber nicht die der Polen zu vertreten als
ſeine Hauptaufgabe anſehn, werde nicht die intimen Verbindungen
mit der Bürokratie beſitzen wie die Mitglieder der katholiſchen Ab¬
theilung, die in der Garniſon der miniſteriellen Citadelle unſres
Vertheidigungsſyſtems gegen revolutionäre Anläufe als ſtaatsfeind¬
liche Parteigänger ſäßen; ein Nuntius endlich werde als Mitglied
des diplomatiſchen Corps an der Erhaltung guter Beziehungen zu
ſeinem Souverain und an der Pflege des Verhältniſſes zu dem
Hofe, an dem er beglaubigt, perſönlich intereſſirt ſein.
Wenn es mir auch nicht gelang, die übrigens mehr äußer¬
liche und formelle Abneigung des Kaiſers gegen einen Nuntius in
Berlin zu überwinden, ſo überzeugte er ſich doch von der Ge¬
fährlichkeit der katholiſchen Abtheilung und gab ſeine Genehmi¬
gung zu ihrer Abſchaffung trotz des Widerſtandes ſeiner Gemalin.
Unter ehelichem Einfluß wehrte ſich Mühler gegen die Abſchaffung,
über die alle übrigen Miniſter einverſtanden waren. Zur decora¬
tiven Platirung ſeines Abganges wurde eine Differenz über eine
die Verwaltung der Muſeen betreffende Perſonalfrage benutzt; in
der That fiel er über Krätzig und den Polonismus, trotz des
Rückhaltes, den er und ſeine Frau durch Damenverbindungen am
Hofe hatten.
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 9
[130/0154]
Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf.
III.
Auf die juriſtiſche Detailarbeit der Maigeſetze würde ich nie
verfallen ſein; ſie lag mir reſſortmäßig fern, und weder in meiner
Abſicht, noch in meiner Befähigung lag es, Falk als Juriſten zu con¬
trolliren oder zu corrigiren. Ich konnte als Miniſterpräſident über¬
haupt nicht gleichzeitig den Dienſt des Cultusminiſters thun, auch
wenn ich vollkommen geſund geweſen wäre. Erſt durch die Praxis
überzeugte ich mich, daß die juriſtiſchen Einzelheiten pſychologiſch
nicht richtig gegriffen waren. Der Mißgriff wurde mir klar an
dem Bilde ehrlicher, aber ungeſchickter preußiſcher Gendarmen, die
mit Sporen und Schleppſäbel hinter gewandten und leichtfüßigen
Prieſtern durch Hinterthüren und Schlafzimmer nachſetzten. Wer
annimmt, daß ſolche in mir auftauchende kritiſche Erwägungen
ſofort in Geſtalt einer Cabinetskriſis zwiſchen Falk und mir ſich
hätten verkörpern laſſen, dem fehlt das richtige, nur durch Erfah¬
rung zu gewinnende Urtheil über die Lenkbarkeit der Staatsmaſchine
in ſich und in ihrem Zuſammenhange mit dem Monarchen und
den Parlamentswahlen. Dieſe Maſchine iſt zu plötzlichen Evolu¬
tionen nicht im Stande, und Miniſter von der Begabung Falks
wachſen bei uns nicht wild. Es war richtiger, einen Kampfgenoſſen
von dieſer Befähigung und Tapferkeit in dem Miniſterium zu haben,
als durch Eingriffe in die verfaſſungsmäßige Unabhängigkeit ſeines
Reſſorts die Verantwortlichkeit für die Verwaltung oder Neubeſetzung
des Cultusminiſteriums auf mich zu nehmen. Ich bin in dieſer Auf¬
faſſung verharrt, ſo lange ich Falk zum Bleiben zu bewegen vermochte.
Erſt nachdem er gegen meinen Wunſch durch weibliche Hofeinflüſſe
und ungnädige königliche Handſchreiben derartig verſtimmt worden
war, daß er ſich nicht halten ließ, bin ich an eine Reviſion ſeiner
Hinterlaſſenſchaft gegangen, der ich nicht näher treten wollte, ſo
lange das nur durch Bruch mit ihm möglich war.
[131/0155]
Die Maigeſetze. Urſachen von Falks Rücktritt.
Falk unterlag derſelben Tactik, die am Hofe gegen mich nicht
mit demſelben Erfolge, aber mit gleichen Mitteln in Anwendung
gebracht worden war; er unterlag ihr, theils weil er für Hof¬
eindrücke empfindlicher war als ich, theils weil ihm die Sympathie
des Kaiſers nicht in gleichem Maße zur Seite ſtand wie mir. Die
antiminiſterielle Thätigkeit der Kaiſerin fand ihre urſprüngliche
Quelle in der Unabhängigkeit des Charakters, welche es ihr er¬
ſchwerte, mit einer Regirung zu gehn, die nicht in ihren eignen
Händen lag, und welche ihr ein Menſchenalter hindurch den Weg
der Oppoſition gegen die jedesmalige Regirung anziehend machte.
Sie war nicht leicht der Meinung eines Andern. Zur Zeit des
Culturkampfes wurde dieſe Neigung gefördert durch die katholiſche
Umgebung Ihrer Majeſtät, welche aus dem ultramontanen Lager
Information und Anweiſung erhielt. Dieſe Einflüſſe nutzten mit Ge¬
ſchick und Menſchenkenntniß die alte Neigung der Kaiſerin aus, auf
die jedesmalige Staatsregirung verbeſſernd einzuwirken. Ich habe
Falk wiederholt ſeine beabſichtigten Abſchiedsgeſuche ausgeredet, die
ſich an Kaiſerliche Handſchreiben ungnädigen Inhalts, welche wohl
nicht der eignen Initiative des hohen Herrn entſprungen waren,
und an verletzendes Benehmen gegen ſeine Frau am Hofe knüpften.
Ich empfahl ihm, ſich den ungnädigen, aber auch uncontraſignirten
Allerhöchſten Erlaſſen gegenüber, die weniger an den Culturkampf
als an die Beziehungen des Cultusminiſters zum Oberkirchenrath
und zur evangeliſchen Kirche anknüpften, paſſiv zu verhalten, allen¬
falls ſeine Beſchwerden an das Staatsminiſterium zu bringen, deſſen
Anträge, wenn ſie einhellig waren, der König zu berückſichtigen pflegte.
Endlich aber wurde er dadurch, daß er Kränkungen ausgeſetzt war,
die ſeinem Ehrgefühl empfindlich waren, doch beſtimmt, ſeinen
Abſchied zu nehmen. Alle Erzählungen, nach denen ich ihn aus
dem Miniſterium verdrängt haben ſoll, beruhn auf Erfindung, und
ich habe mich gewundert, daß er ſelbſt ihnen niemals in der Oeffent¬
lichkeit widerſprochen hat, obſchon er mit mir ſtets in befreundeten
Beziehungen geblieben iſt. Aus den Vorgängen, die für ſeinen
[132/0156]
Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf.
Rücktritt entſcheidend wurden, iſt mir erinnerlich, daß es die
Streitigkeiten mit dem Oberkirchenrath und den ihm nahe ſtehenden
Geiſtlichen waren, welche den Bruch mit Sr. Majeſtät herbeiführten,
nicht ohne daß aus der Zuſpitzung der Entwicklung des vorhandenen
Streitmaterials gegen Falk ſich die Mitwirkung geſchickterer Hände
und feinerer Arbeit erkennen ließ, als den formellen Rathgebern
des Kaiſers in ſeiner Eigenſchaft als ſummus episcopus eigen war.
IV.
Nach ſeinem Abgange war ich vor die Frage geſtellt, ob und
wie weit ich bei der Wahl eines neuen Cultuscollegen die mehr
juriſtiſche als politiſche Linie Falks im Auge behalten, oder meinen
mehr gegen Polonismus als gegen Katholicismus gerichteten
Auffaſſungen ausſchließlich folgen ſollte. In dem Culturkampfe
war die parlamentariſche Regirungspolitik durch den Abfall der
Fortſchrittspartei und ihren Uebergang zum Centrum gelähmt,
indem ſie im Reichstage einer durch gemeinſame Feindſchaft zu¬
ſammengehaltnen Majorität von Demokraten aller Schattirungen,
im Bunde mit Polen, Welfen, Franzoſenfreunden und Ultramon¬
tanen, ohne Unterſtützung durch die Conſervativen gegenüberſtand.
Die Conſolidirung unſrer neuen Reichseinheit wurde durch dieſe
Zuſtände gehemmt und, wenn ſie dauerten oder ſich verſchärften,
gefährdet. Der nationale Schaden konnte auf dieſem Wege größer
werden, als auf dem eines Verzichtes auf den meiner Anſicht nach
entbehrlichen Theil der Falkſchen Geſetzgebung. Für nicht
entbehrlich hielt ich die Beſeitigung der Verfaſſungsartikel,
die Kampfmittel gegen den Polonismus und vor allen die Herr¬
ſchaft des Staates über die Schule. Wahrten wir die, ſo be¬
hielten wir aus dem Culturkampfe beim Frieden immer einen
werthvollen Siegespreis im Vergleich mit den Zuſtänden vor Aus¬
bruch des Kampfes. Ueber die Grenze, bis zu der wir der Curie
[133/0157]
Entbehrliches und Unentbehrliches der Maigeſetze. Puttkamer.
entgegenkommen konnten, hatte ich mich alſo mit meinen Collegen
zu verſtändigen. Der Widerſtand der Geſammtheit der im Kampfe
betheiligt geweſenen Miniſterialräthe war dabei nachhaltiger als
der meiner unmittelbaren Collegen, zunächſt des Nachfolgers Falks,
als welchen ich dem Könige Herrn v. Puttkamer vorſchlug. Aber auch
nach dieſem Perſonenwechſel konnte es mir nicht ſobald gelingen, die
Kirchenpolitik zu ändern, wenn ich nicht neue, dem Könige unwill¬
kommne und mir unerwünſchte Cabinetskriſen herbeiführen wollte.
Die Erinnerungen an die Zeiten der Anwerbung neuer Collegen
gehören zu den unerquicklichſten meiner amtlichen Laufbahn. Um
mich mit Herrn v. Puttkamer zu einigen, hätte ich die Unterſtützung
der culturkampfgewöhnten Räthe ſeines Miniſteriums gewinnen
müſſen, und das überſtieg meine Kräfte. Die Erklärung der Falk¬
ſchen Kirchenpolitik iſt nicht ausſchließlich auf dem Gebiete des
katholiſchen Kirchenſtreits zu ſuchen; ſie wurde gelegentlich auch
durch die evangeliſche Kirchenfrage gekreuzt und beeinflußt. In
dieſer ſtand Herr von Puttkamer den am Hofe wirkſamen Auf¬
faſſungen näher als Falk, und mein Wunſch, den Kampf mit Rom
auf ein engeres Gebiet einzuſchränken, hätte bei meinem neuen
Collegen perſönlich wohl keinen Widerſtand gefunden. Die Hemm¬
niſſe lagen aber theils in dem Schwergewicht der vom Zorne des
Culturkampfs erregten Räthe, denen Herr von Puttkamer auch
die natürliche und herkömmliche Entwicklung unſrer Orthographie
zum Opfer zu bringen ſich genöthigt glaubte, theils in dem Wider¬
ſtreben meiner übrigen Collegen gegen jeden Anſchein von Nach¬
giebigkeit dem Papſte gegenüber.
Meine erſten Verſuche zur Anbahnung des kirchlichen Friedens
fanden auch bei Sr. Majeſtät keinen Anklang. Der Einfluß der
höchſten evangeliſchen Geiſtlichkeit war damals ſtärker als der
katholiſirende der Kaiſerin und letztre vom Centrum her ohne
Anregung, weil dort die Anfänge des Einlenkens ungenügend
befunden wurden, und es auch dort wie am Hofe immer noch
wichtiger ſchien, mich zu bekämpfen, als verſöhnliche Beſtrebungen,
[134/0158]
Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf.
die von mir ausgingen, zu unterſtützen. Die aus der Situ¬
ation hervorgehenden Kämpfe wiederholten ſich, allmälig ſchwerer
werdend.
Es bedurfte noch jahrelanger Arbeit, um ohne neue Cabinets¬
kriſen an die Reviſion der Maigeſetze gehn zu können, für deren
Vertretung in parlamentariſchen Kämpfen nach der Deſertion der
freiſinnigen Partei in das ultramontane Oppoſitionslager die Majo¬
rität fehlte. Ich war zufrieden, wenn es gelang, dem Polonismus
gegenüber die im Culturkampf gewonnenen Beziehungen der Schule
zum Staate und die eingetretene Aenderung der einſchlagenden Ver¬
faſſungsartikel als definitive Errungenſchaften feſtzuhalten. Beide ſind
in meinen Augen werthvoller als die maigeſetzlichen Verbote geiſt¬
licher Thätigkeit und der juriſtiſche Fangapparat für widerſtrebende
Prieſter, und als einen wichtigen Gewinn durfte ich ſchon die Be¬
ſeitigung der katholiſchen Abtheilung und ihrer ſtaatsgefährlichen
Thätigkeit in Schleſien, Poſen und Preußen betrachten. Nachdem
die Freiſinnigen den von ihnen mehr wie von mir betriebenen
„Culturkampf“, deſſen Vorkämpfer Virchow und Genoſſen geweſen
waren, nicht nur aufgegeben hatten, ſondern im Parlament wie in
den Wahlen das Centrum unterſtützten, war letzterm gegenüber
die Regirung in der Minorität. Der aus Centrum, Fortſchritt,
Socialdemokraten, Polen, Elſäſſern, Welfen beſtehenden compacten
Mehrheit gegenüber war die Politik Falks im Reichstage ohne
Ausſicht. Ich hielt um ſo mehr für angezeigt, den Frieden an¬
zubahnen, wenn die Schule gedeckt, die Verfaſſung von den auf¬
gehobenen Artikeln und der Staat von der katholiſchen Abtheilung
befreit blieb.
Nachdem ich den Kaiſer ſchließlich gewonnen hatte, war bei Ab¬
ſchätzung des Feſtzuhaltenden und des Aufzugebenden die neue
Stellung der Fortſchrittspartei und der Seceſſioniſten ein entſchei¬
dendes Moment; anſtatt die Regirung zu unterſtützen, ſchloſſen ſie
bei Wahlen und Abſtimmungen Bündniſſe mit dem Centrum und
hatten Hoffnungen gefaßt, die in dem ſog. Miniſterium Gladſtone
[135/0159]
Deſertion der Fortſchrittspartei. Definitives Ergebniß.
(Stoſch, Rickert u. ſ. w.), das heißt in liberal-katholiſcher Coalition,
ihren Ausdruck fanden.
Im Jahre 1886 gelang es, die von mir theils erſtrebte, theils
als zuläſſig erkannte Gegenreformation zum Abſchluß zu bringen,
den modus vivendi zu erreichen, der immer noch, verglichen mit
dem status quo vor 1871 ein für den Staat günſtiges Ergebniß
des ganzen Culturkampfes aufweiſt.
Inwieweit derſelbe von Dauer ſein wird und die confeſſionellen
Kämpfe nun ruhn werden, kann nur die Zeit lehren. Es hängt
das von kirchlichen Stimmungen ab und von dem Grade der
Streitbarkeit nicht blos des jedesmaligen Papſtes und ſeiner leiten¬
den Rathgeber, ſondern auch der deutſchen Biſchöfe und der mehr
oder weniger hochkirchlichen Richtung, welche im Wechſel der Zeit
in der katholiſchen Bevölkerung herrſcht. Eine feſte Grenze der
römiſchen Anſprüche an die paritätiſchen Staaten mit evangeliſcher
Dynaſtie läßt ſich nicht herſtellen. Nicht einmal in rein katholiſchen
Staaten. Der uralte Kampf zwiſchen Prieſtern und Königen wird
nicht heut zum Abſchluß gelangen, namentlich nicht in Deutſchland.
Wir haben vor 1870 Zuſtände gehabt, auf Grund deren die Lage
der katholiſchen Kirche grade in Preußen als muſtergültig und
günſtiger als in den meiſten rein katholiſchen Ländern auch von
der Curie anerkannt wurde. In unſrer innern Politik, nament¬
lich der parlamentariſchen, haben wir aber keine Wirkung dieſer
confeſſionellen Befriedigung geſpürt. Die Fraction der beiden
Reichenſperger gehörte ſchon lange vor 1871, ohne daß deshalb die
Führer perſönlich in den Ruf des Händelmachens verfielen, dauernd
der Oppoſition gegen die Regirung des evangeliſchen Königshauſes
an. Bei jedem modus vivendi wird Rom eine evangeliſche Dynaſtie
und Kirche als eine Unregelmäßigkeit und Krankheit betrachten,
deren Heilung die Aufgabe ſeiner Kirche ſei. Die Ueberzeugung,
daß dem ſo iſt, nöthigt den Staat noch nicht, ſeinerſeits den Kampf
zu ſuchen und die Defenſive der römiſchen Kirche gegenüber auf¬
zugeben, denn alle Friedensſchlüſſe in dieſer Welt ſind Proviſorien,
[136/0160]
Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf.
gelten nur bis auf Weitres; die politiſchen Beziehungen zwiſchen
unabhängigen Mächten bilden ſich in ununterbrochnem Fluſſe, ent¬
weder durch Kampf oder durch die Abneigung der einen oder der
andern Seite vor Erneuerung des Kampfes. Eine Verſuchung zur
Erneuerung des Streites in Deutſchland wird für die Curie ſtets
in der Entzündlichkeit der Polen, in der Herrſchſucht des dortigen
Adels und in dem durch die Prieſter genährten Aberglauben der
untern Volksſchichten liegen. Ich habe im Kiſſinger Lande deutſche
und ſchulgebildete Bauern gefunden, die feſt daran glaubten, daß
der am Sterbebette im ſündigen Fleiſche ſtehende Prieſter den
Sterbenden durch Verweigerung oder Gewährung der Abſolution
direct in die Hölle oder den Himmel ſchicken könne, man ihn alſo
auch politiſch zum Freunde haben müſſe. In Polen wird es
mindeſtens ebenſo ſein oder ſchlimmer, weil dem ungebildeten
Manne eingeredet iſt, daß deutſch und lutheriſch ebenſo wie pol¬
niſch und katholiſch identiſche Begriffe ſeien. Ein ewiger Friede
mit der römiſchen Curie liegt nach den gegebenen Lebensbedingungen
ebenſo außerhalb der Möglichkeit, wie ein ſolcher zwiſchen Frank¬
reich und deſſen Nachbarn. Wenn das menſchliche Leben überhaupt
aus einer Reihe von Kämpfen beſteht, ſo trifft das vor Allem bei
den gegenſeitigen Beziehungen unabhängiger politiſcher Mächte zu,
für deren Regelung ein berufenes und vollzugsfähiges Gericht nicht
vorhanden iſt. Die römiſche Curie aber iſt eine unabhängige poli¬
tiſche Macht, zu deren unabänderlichen Eigenſchaften derſelbe Trieb
zum Umſichgreifen gehört, der unſern franzöſiſchen Nachbarn inne¬
wohnt. Für den Proteſtantismus bleibt ihr das durch kein Con¬
cordat zu beruhigende aggreſſive Streben des Proſelytismus und
der Herrſchſucht; ſie duldet keine Götter neben ihr.
[137/0161]
Der Friede ein Proviſorium. Die Doſe mit Brillanten.
V.
In die Hitze des Culturkampfes fiel ein Beſuch des Königs
Victor Emanuel in Berlin, (22.–26.) September 1873. Ich hatte
durch Herrn von Keudell erfahren, daß der König eine Doſe mit
Brillanten, deren Werth auf 50–60000 Franken, ungefähr auf das
ſechs- bis achtfache des bei ſolchen Gelegenheiten üblichen, angegeben
wurde, hatte anfertigen und dem Grafen Launay zur Ueberreichung
an mich zuſtellen laſſen. Gleichzeitig kam es zu meiner Kenntniß, daß
Launay die Doſe mit Angabe des Werthes ſeinem Hausnachbarn,
dem bairiſchen Geſandten Baron Pergler von Perglas, gezeigt hatte,
der unſern Gegnern in dem Culturkampfe perſönlich nahe ſtand.
Der hohe Werth des mir zugedachten Geſchenkes konnte alſo An¬
laß geben, es in Verbindung zu bringen mit der Anlehnung, die
der König von Italien bei dem Deutſchen Reiche damals erſtrebte
und erlangte. Als ich dem Kaiſer meine Bedenken gegen die
Annahme des Geſchenkes vortrug, hatte er zunächſt den Ein¬
druck, als ob ich es überhaupt unter meiner Würde fände, eine
Portraitdoſe anzunehmen, und ſah darin eine Verſchiebung der Tra¬
ditionen, an die er gewöhnt war. Ich ſagte: „Gegenüber einem
ſolchen Geſchenke von durchſchnittlichem Werthe würde ich auf den
Gedanken der Ablehnung nicht gekommen ſein. In dieſem Falle
aber hätte nicht das fürſtliche Bildniß, ſondern hätten die verkäuf¬
lichen Diamanten das für die Beurtheilung des Vorgangs ent¬
ſcheidende Gewicht; mit Rückſicht auf die Lage des Culturkampfes
müßte ich Anknüpfungspunkte für Verdächtigungen vermeiden, nach¬
dem der den Umſtänden nach übertriebene Werth der Doſe durch
die nachbarlichen Beziehungen von Perglas conſtatirt und in der
Geſellſchaft hervorgehoben worden ſei.“ Der Kaiſer wurde ſchlie߬
lich meiner Auseinanderſetzung zugänglich und ſchloß den Vortrag
mit den Worten: „Sie haben Recht, nehmen Sie die Doſe nicht
[138/0162]
Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf.
an“ *). Nachdem ich meine Auffaſſung durch Herrn von Keudell zur
Kenntniß des Grafen Launay gebracht hatte, wurde der Doſe ein
ſehr hübſches und ähnliches Portrait des Königs ſubſtituirt mit
folgender an meinen Annunziatenorden erinnernden eigenhändigen
Unterſchrift:
Al Principe Bismarck. Berlino 26. Settembre 1873.
Affezionatissimo cugino
Vittorio Emanuele.
Der König behielt jedoch das Bedürfniß, mir einen verſtärkten
Ausdruck ſeines Wohlwollens zu geben durch ein dem urſprünglich
beabſichtigten im Werthe analoges, aber nicht verkäufliches Geſchenk,
und ich erhielt als Zugabe zu der ſchmeichelhaften Unterſchrift des
Portraits eine Alabaſtervaſe von ungewöhnlicher Größe und Schön¬
heit, deren ſichre Verpackung und Beförderung bei der überſtürzten
Räumung meiner Amtswohnung, zu der mein Nachfolger mich
nöthigte, nicht ohne Schwierigkeit war.
VI.
Die „Germania“ vom 6. December 1891 deducirt aus dem
Briefwechſel zwiſchen dem Grafen von Roon und Moritz von
*) Andrer Anſicht über die Annahme einer mit Brillanten gefüllten
Doſe war Fürſt Gortſchakow. Bei unſerm Beſuch in Petersburg (1872) fragte
mich Seine Majeſtät: „Was kann ich nur dem Fürſten Gortſchakow geben?
er hat ſchon alles, auch Portrait; vielleicht eine Büſte oder eine Doſe mit
Brillanten?“ Ich erhob gegen eine theure Doſe Einwendungen, die ich aus
der Stellung und dem Reichthum des Fürſten Gortſchakow herleitete, und der
Kaiſer gab mir Recht. Ich ſondirte darauf den Fürſten vertraulich und erhielt
ſofort die Antwort: „Laß Er mir (Ruſſicismus) eine tüchtige Doſe geben mit
guten Steinen (avec de grosses bonnes pierres).“ Ich meldete dies Sr. Maje¬
ſtät etwas beſchämt über meine Menſchenkenntniß; wir lachten beide, und
Gortſchakow bekam ſeine Doſe.
[139/0163]
Das Geſchenk Victor Emanuels. M. v. Blanckenburg.
Blanckenburg, veröffentlicht in der „Deutſchen Revue“, daß ich den
Widerſtand des Kaiſers gegen die Civilehe gebrochen hätte.
Blanckenburg war ein Kampfgenoſſe, deſſen Hauptwerth für
mich in unſrer aus den Kinderjahren datirenden und bis zu ſeinem
Tode fortdauernden Freundſchaft beſtand. Dieſelbe war aber auf
ſeiner Seite nicht identiſch mit Vertrauen oder Hingebung auf
dem politiſchen Gebiete; auf dieſem hatte ich die Concurrenz
ſeiner politiſchen und confeſſionellen Beichtväter zu beſtehn, und
bei dieſen war nicht die Abſicht, bei Blanckenburg nicht die Befähi¬
gung vorhanden, das hiſtoriſche Fortſchreiten deutſcher und euro¬
päiſcher Politik in breitem Ueberblick zu beurtheilen. Er ſelbſt war
ohne Ehrgeiz und frei von der Krankheit vieler altpreußiſcher
Standesgenoſſen, dem Neide gegen mich; aber ſein politiſches Urtheil
konnte ſich ſchwer losreißen von dem preußiſch-particulariſtiſchen, ja
pommeriſch-lutheriſchen Standpunkte. Sein hausbackner geſunder
Menſchenverſtand und ſeine Ehrlichkeit machten ihn unabhängig von
conſervativen Partei-Strömungen, denen beides fehlte; von dieſer
Unabhängigkeit war jedoch die vorſichtige Beſcheidenheit in Ab¬
rechnung zu bringen, mit der ihn die Fremdartigkeit erfüllte,
die das politiſche Gebiet für ihn behielt. Er war weich und gegen
Beredſamkeit nicht gepanzert, keine unerſchütterliche Säule, auf
die ich mich hätte ſtützen können. Der Kampf zwiſchen ſeinem
Wohlwollen für mich und ſeinem Mangel an Energie andern Ein¬
flüſſen gegenüber bewog ihn ſchließlich, ſich von der Politik über¬
haupt zurückzuziehn. Als ich ihn das erſte Mal zum landwirth¬
ſchaftlichen Miniſter vorgeſchlagen hatte, ſcheiterte die Ausführung
an dem Widerſtande derſelben Collegen, die vorher meine an
Blanckenburg gerichtete Anfrage gebilligt hatten. Ich laſſe dahin¬
geſtellt ſein, ob die Abneigung meines Freundes, unter übelwollen¬
der Aufſicht dauernd auf dem Präſentirteller der Oeffentlichkeit zu
ſtehn, bei dem Mißlingen meiner Abſicht, dieſe conſervative Kraft
in das Miniſterium zu ziehn, mitgewirkt hat; bei ſeiner zweiten
und definitiven Ablehnung unter dem 10. November 1873 war
[140/0164]
Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf.
dies zweifellos der Fall 1). Mangel an Klarheit zeigt ſich in ſeinem
Briefe an Roon vom April 1874 2), in welchem er gleichzeitig von
ſeiner Ablehnung und von meinem Fallenlaſſen Falk gegenüber ſpricht.
Wenn die conſervative Partei in der Perſon ihrer damaligen Haupt¬
redner und Führer Blanckenburg und Kleiſt-Retzow bereitwillig mit
mir gegangen wäre, ſo würde die Miſchung des Miniſteriums eine
andre und das, was in dem Briefe die Falkſche Sackgaſſe genannt
iſt, vielleicht nicht nothwendig geworden ſein. Die Ablehnung der
Miniſterſtellung iſt aber, wie der Brief documentirt, von Blancken¬
burg ſelbſt ausgegangen, vielleicht nicht unbeeinflußt durch die Re¬
ſiduen der Kämpfe der „armen Lutheraner“, der „Alt-Lutheraner“,
zu denen Blanckenburg ſich hielt, in den dreißiger Jahren. Als
er ſich von der Politik zurückzog, hatte ich die Empfindung, daß
er mich im Stiche ließ.
Daß ich den Widerſtand des Kaiſers Wilhelm gegen die
Civilehe gebrochen hätte, iſt eine der Erfindungen des demokrati¬
ſchen Jeſuitismus, den die „Germania“ 3) vertritt. Die Abneigung
des Kaiſers wurde überwunden durch den Druck, den die Majo¬
rität der ohne mich und unter Roons formalem Präſidium in
Berlin anweſenden Miniſter auf Se. Majeſtät ausübte, und der ſo
weit ging, daß der Kaiſer zwiſchen Annahme des Geſetzentwurfs
und Neubildung des Miniſteriums zu wählen hatte. In meinem
damaligen Geſundheitszuſtande wäre ich der Aufgabe nicht ge¬
wachſen geweſen, aus den mir und ſich unter einander feindlichen
Fractionen ein neues Cabinet behufs Fortſetzung der Kämpfe nach
allen Seiten hin zu recrutiren. Wenn der Kaiſer in dem Briefe
vom 8. Mai 1874 retroſpectiv ſagt, daß er trotz ſeiner Hinfällig¬
keit noch zwei Mal dagegen geſchrieben habe, ſo waren dieſe
1) Deutſche Revue October 1891 S. 140, Roon's Denkwürdigkeiten
III 4 370 ff.
2) Deutſche Revue December 1891 S. 270, Roon's Denkwürdigkeiten
III 4 406.
3) 1891. Nro. 281.
[141/0165]
Die Civilehe.
Schreiben nicht an mich, ſondern an das Miniſterium in Berlin
gerichtet, und ich habe ihm nur gerathen, zwiſchen der obligatori¬
ſchen Civilehe und einem Miniſterwechſel für erſtre zu optiren.
Unzweifelhaft war ſeine Abneigung gegen die Civilehe noch größer
als die meinige; ich hielt mit Luther die Eheſchließung für eine
bürgerliche Angelegenheit, und mein Widerſtand gegen Anerkennung
dieſes Grundſatzes beruhte mehr auf Achtung vor der beſtehenden
Sitte und der Ueberzeugung der Maſſen als auf eignen chriſtlichen
Bedenken.
[[142]/0166]
Fünfundzwanzigſtes Kapitel.
Bruch mit den Conſervativen.
I.
Der Bruch der Conſervativen mit mir, der 1872 mit Geräuſch
vollzogen wurde, hatte zuerſt 1868 vorgeſpukt in den Debatten
über den hanöverſchen Provinzialfonds. Nachdem der Geſetzent¬
wurf, den die Regirung in Erfüllung einer den Hanoveranern im
Jahr zuvor gemachten Zuſage dem Landtage vorgelegt hatte, ſchon
in der Commiſſion von den conſervativen Mitgliedern lebhaft be¬
kämpft worden war, brachten die Abgeordneten von Brauchitſch und
von Dieſt im Plenum einen Antrag ein, der die Vorlage weſent¬
lich einſchränkte. Der erſtre entwickelte als Wortführer die Gründe,
aus denen die conſervative Partei nicht für das Geſetz ſtimmen
könne. Meine eingehende Widerlegung habe ich damals mit den
Worten geſchloſſen: „Es iſt eine conſtitutionelle Regirung nicht
möglich, wenn die Regirung nicht auf eine der größern Parteien
mit voller Sicherheit zählen kann, auch in ſolchen Einzelheiten, die
der Partei vielleicht nicht durchweg gefallen, — wenn nicht dieſe
Partei das Facit ihrer Rechnung dahin zieht: wir gehn im
Großen und Ganzen mit der Regirung; wir finden zwar, daß ſie
ab und zu eine Thorheit begeht, aber doch bisher noch weniger
Thorheiten brachte, als annehmbare Maßregeln; um deswillen
wollen wir ihr die Einzelheiten zu Gute halten. Hat eine Regi¬
rung nicht wenigſtens Eine Partei im Lande, die auf ihre Auf¬
faſſungen und Richtungen in dieſer Art eingeht, dann iſt ihr das
[143/0167]
Der hanöverſche Provinzialfonds. Conſervative Oppoſition.
conſtitutionelle Regiment unmöglich, dann muß ſie gegen die Con¬
ſtitution manövriren und pactiſiren; ſie muß ſich eine Majorität
künſtlich ſchaffen oder vorübergehend zu erwerben ſuchen. Sie ver¬
fällt dann in die Schwäche der Coalitions-Miniſterien, und ihre
Politik geräth in Fluctuationen, die für das Staatsweſen und
namentlich für das conſervative Prinzip von höchſt nachtheiliger
Wirkung ſind“ 1).
Ungeachtet dieſer Warnung gelangte das Geſetz mit einer von
der Regirung zugeſtandenen Abſchwächung am 7. Februar nur mit
einer Mehrheit von 32 Stimmen zur Annahme, weil die meiſten
Conſervativen dagegen ſtimmten. Auch in der Commiſſion des
Herrenhauſes wiederholte ſich der Angriff von conſervativer Seite.
Mit welchen Mitteln damals operirt wurde, zeigt folgender Vor¬
gang. Karl von Bodelſchwingh, während des Conflicts Finanz¬
miniſter, der 1866 die Beſchaffung der für den Krieg erforder¬
lichen Geldmittel abgelehnt hatte und deshalb durch den Freiherrn
von der Heydt erſetzt worden war, hatte in der conſervativen Fraction
verbreitet, daß mir die Ablehnung der Vorlage eigentlich recht ſein
würde, und erbot ſich, dafür einen Beweis zu erbringen. Er trat
in dem Sitzungsſaale beim Beginn der Verhandlungen an mich
heran, leitete ein gleichgültiges Geſpräch mit der Frage nach dem
Befinden meiner Frau ein und kehrte in die Mitte ſeiner Fractions¬
genoſſen zurück mit der Erklärung, er ſei nach Rückſprache mit mir
ſeiner Sache ſicher.
Wenn man die ſehr ſachkundigen Berichte lieſt, welche Roon,
damals in Bordighera, im Februar 1868 von Mitgliedern der con¬
ſervativen Partei empfing, abgedruckt in der „Deutſchen Revue“ vom
April 1891 2), ſo ſieht man, daß die Conſervativen von mir ver¬
langten, in ihre Fraction einzutreten. Ich hatte wenig Zeit übrig,
war präoccupirt durch das, was wir von Frankreich zu erwarten
1) Politiſche Reden III 456.
2) Vgl. Denkwürdigkeiten III 4 62 ff.
[144/0168]
Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.
hatten, durch die Möglichkeit, ja Wahrſcheinlichkeit, daß Oeſtreich
unter Beuſt auf franzöſiſche Kriegspläne eingehn werde, um 1866
ungeſchehn zu machen, durch die Frage, welche Stellung Rußland,
Baiern, Sachſen zu ſolchen Conjuncturen nehmen würden, endlich
durch das Beſtehn einer hanöverſchen Legion. Dieſe Sorgen und
die Arbeit, zu denen ſie nöthigten, erſchöpften mich vollſtändig, und
dabei verlangten die Herrn, ich ſollte jeden einzelnen Privatpolitiker
ihrer Fraction aufſuchen, bekehren. Ich that das ſogar, ſo weit ich
konnte, aber meine Verſuche wurden durch die Intrigen von Bodel¬
ſchwingh und die Leidenſchaftlichkeit von Vincke, Dieſt, Kleiſt-Retzow
und andern verſtimmten und eiferſüchtigen Standes- und frühern
Fractions-Genoſſen vereitelt.
Wie Roon ſelbſt über die ihm berichteten Zuſtände dachte, er¬
gibt ſich aus ſeinem Briefe an mich vom 19. Februar 1868, aus
Bordighera, deſſen einſchlagende Stellen lauten *):
„Wie es nach den Zeitungen ſcheint, ſo haben Sie ſich und
Andre wieder weidlich geärgert. Mich wundert das nicht, aber es
wurmt mich, daß Diſſonanzen ſo ernſter Art nicht vermieden werden
konnten, Diſſonanzen, welche die Liberalen von Profeſſion in einen
lauten Freudenrauſch verſetzen und die Conſervativen von Metier
noch confuſer zu machen ſcheinen, als ſie es leider ohnehin ſchon
ſind. Was ſollen Sie nach Galignani 1) nicht alles geſagt haben!
Man hat mir die bezüglichen ſtenographiſchen Berichte verheißen;
leider ſind ſie noch nicht in meinen Händen. Ohnehin bin ich in
der Hauptſache — in der Ihres gedrohten Rücktritts — vollkommen
ruhig, denn ich halte einen ſolchen, den Fall der phyſiſchen Un¬
möglichkeit ausgenommen, für abſolut unmöglich. Beunruhigt aber
bin ich dennoch über die immer drohendere Zerſetzung der conſer¬
vativen Partei, welche, falls ſie ſich in der von den Liberalen ge¬
hofften Weiſe vollziehen ſollte, von mir für eine ſehr ernſte und
*) Galignani's Messenger, ein in Paris erſcheinendes engliſches Blatt.
1) Bismarck-Jahrbuch VI 198 f.
[145/0169]
Zerſetzung der conſervativen Partei.
bedeutungsſchwere Sache gehalten werden würde, für einen Vor¬
gang, der Sie und die Regierung zu einem gehorſamen Werkzeug
der liberalen Partei herabwürdigen müßte. Zwar verſtehe ich, daß
es für unſre Politik nützlich, wenn die Liberalen die Hoffnung be¬
halten, die Hand mit an's Ruder legen zu können. Aber ebenſo
begreife ich, daß es ſchädlich ſein würde, wenn die Situation ſich
ſo geſtaltete, daß ihre Theilnahme am Regiment eine unvermeid¬
liche Nothwendigkeit wäre. Sie werden dagegen vielleicht bemerken,
daß die Verworrenheit, Rath- und Kopfloſigkeit der Conſervativen
— ganz abgeſehen von der neidiſchen und boshaften Ueberhebung
Einzelner — von ſelbſt dahin führen werde, und daß Sie dagegen
nichts thun können. Aber iſt denn das ganz richtig? Hätten Sie
Ihre bedeutenden Reſſourcen ernſtlich dazu verwandt, die conſervative
Partei, die leider noch immer nicht klar erkennt, daß ihre heutige
Aufgabe eine andre ſein muß, als 1862 und in den folgenden
Jahren, zu endoctriniren und zu organiſiren, und wollen Sie das
heute noch verſuchen, ſo wird nicht nur die Mesalliance mit den
Liberalen vermieden werden können, ſondern auch aus der refor¬
mirten conſervativen Partei der dauerhafteſte und ſicherſte Stab
für die Wanderung auf dem ſchwierigen aber unvermeidlichen Wege
conſervativen Fortſchritts in innerer reformatoriſcher Erneuerung
gemacht werden können. — Wohl kann Ein Menſch, wie bedeutend
er auch von Gott ausgeſtattet worden, nicht Alles ſelbſt thun, was
gethan werden muß. Indem ich dies ausſpreche, ſchließe ich jeden
Vorwurf aus, der für Sie in Vorſtehendem gefunden werden könnte.
Ich erkenne vielmehr gern und wiederholt an, daß Ihre amtlichen
Helfer Ihnen und Ihren Zielen nicht die entſprechende Unterſtützung
gewähren. Und wenn ich von der Reform der conſervativen Partei
ſprach, ſo erkenne ich an, daß dieſe Aufgabe zunächſt die des
Miniſters des Innern ſein ſollte. Aber beſitzt Graf E. das zu der
Löſung derſelben unentbehrliche Vertrauen? (und Pflichtgefühl!) 1)
1) Zuſatz Bismarcks.
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 10
[146/0170]
Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.
Wo ſollen Sie andre Collegen hernehmen, namentlich einen andern
Miniſter des Innern? Aus der Reihe der Nationalliberalen? Der
Gedanke iſt mir unerträglich. Aus den Conſervativen? Wen aber?
Die organiſatoriſch ſchöpferiſchen Geiſter unter ihnen ſind unbe¬
kannte Größen, und ſo ſehr ich unſrem bureaukratiſchen Unweſen
abhold bin, das ſehe ich ein, der Betreffende müßte es kennen, um
es reformiren zu können.“
Einige Tage ſpäter, am 25. Februar, ſchrieb Roon an ſeinen
älteſten Sohn 1):
„... Ueber Politik und Conflict möchte ich am liebſten gar
nichts ſchreiben, nachdem ich auf Grund des am 9. mir geſandten
vertraulichen Berichtes am 19. an Graf Bismarck geſchrieben, um
ihm mein Bedauern auszuſprechen, daß die Dinge ſo verlaufen
ſind u. ſ. w. Die ſtenographiſchen Berichte, welche mir verheißen
ſind, können wahrſcheinlich an meiner Auffaſſung der Dinge nichts
ändern: Bismarck kann unmöglich Alles ſelbſt thun. Die noth¬
wendig gewordene Organiſation oder Reorganiſation der conſer¬
vativen Partei iſt rite Sache des Miniſters des Innern, und weder
Bismarck, noch ich, noch Blanckenburg oder ſonſt Jemand hat dazu
den amtlichen Beruf. Iſt der dazu allein Berufene dazu nicht ge¬
neigt oder geeignet, ſo fehlt ihm etwas Unentbehrliches für ſein
Amt, und die daraus ſich ergebende Folgerung mag man ziehen und
darnach verfahren. Was durch Bismarcks Verhalten gegen die
Conſervativen, durch meine oder Blanckenburgs Abweſenheit an
heilſamer Einwirkung etwa unterblieben iſt: daraus kann man auch
für Bismarck kaum einen wohlbegründeten Vorwurf ableiten. Wenn
man, wie ich, ganz ſicher weiß, wie Ungeheures B. zu leiſten hat
und auch leiſtet, ſo kann man ihn billigerweiſe nicht ſchelten, daß
er nicht auch noch mehr leiſtet und für ſeines Collegen Verſäum¬
niß oder Unfähigkeit eintritt. Der allein gegen ihn zu begründende
Vorwurf würde vielmehr nur darin beſtehen, wenn man mit Grund
1) Denkwürdigkeiten III 4 70 ff.
[147/0171]
Zerſetzung der conſervativen Partei. Motive der Gegnerſchaft.
behaupten könnte, daß er nicht Alles was möglich gethan, um ſich
wirkſamere Gehülfen zu verſchaffen, und vielleicht kann man dies;
aber ich, der ich die betreffenden perſönlichen Beziehungen, trotz
meiner Entfernung, vielleicht beſſer und richtiger beurtheilen kann,
als ſonſt Jemand, vermag doch kaum eine ſolche Behauptung mit
voller Beſtimmtheit auszuſprechen. Uebrigens wird der Bruch heilen,
denn er muß heilen; wir können uns auf keine andre Partei in
der Hauptſache ſtützen, aber die Partei muß endlich begreifen,
daß ihre heutigen Auffaſſungen und Aufgaben weſentlich andre
ſein müſſen, als zur Zeit des Conflicts; ſie muß eine Partei
des conſervativen Fortſchritts ſein und werden und die
Rolle des Hemmſchuhs aufgeben, ſo weſentlich und nothwendig
ſolche zur Zeit der Uebermacht des demokratiſchen Fortſchritts und
der damit angedrohten demagogiſchen Ueberſtürzung auch ſein mochte
und in der That geweſen iſt. Dies ſind in nuce meine Gedanken
über die neueſte Situation; natürlich ſind ſie nur für die aller¬
vertrauteſten Kreiſe zur Mittheilung geeignet. ...“
II.
Roons Erwartung erfüllte ſich nicht; die conſervative Partei
blieb, was ſie war; der Conflict, in den ſie ſich mit mir ver¬
ſetzt hatte, dauerte mehr oder weniger latent fort. Ich begreife,
daß meiner Politik die mit dem vulgären Namen Kreuzzeitung
bezeichnete conſervative Richtung feindlich war, in manchen Mit¬
gliedern aus achtbaren prinzipiellen Gründen, die in dem Ein¬
zelnen eine ſtärkere Triebkraft ausübten, als ihr mehr preußiſches
wie deutſches Nationalgefühl. In andern, ich möchte ſagen in
meinen Gegnern zweiter Claſſe, lag das Motiv der Oppoſition im
Streberthum — ôte-toi, que je m'y mette — deren Prototyp
Harry Arnim, Robert Goltz und Andre waren. Als dritte Claſſe
möchte ich meine Standesgenoſſen im Landadel bezeichnen, die ſich
[148/0172]
Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.
ärgerten, weil ich in meinem exceptionellen Lebenslauf aus dem
mehr polniſchen als deutſchen Begriff der traditionellen Landadels¬
gleichheit herausgewachſen war. Daß ich vom Landjunker zum
Miniſter wurde, hätte man mir verziehn, aber die Dotationen
und vielleicht auch den mir ſehr gegen meinen Willen verliehenen
Fürſtentitel verzieh man mir nicht. Die „Excellenz“ lag innerhalb
des gewohnheitsmäßig Erreichbaren und Geſchätzten; die „Durch¬
laucht“ reizte die Kritik. Ich kann das nachempfinden, denn dieſer
Kritik entſprach meine eigne. Als mir am Morgen des 21. März
1871 ein eigenhändiges Handſchreiben des Kaiſers die Erhebung in
den Fürſtenſtand anzeigte, war ich entſchloſſen, Se. Majeſtät um
Verzicht auf ſeine Abſicht zu bitten, weil dieſe Standeserhöhung in
die Baſis meines Vermögens und in meine ganzen Lebensverhält¬
niſſe eine mir unſympathiſche Aenderung bringe. So gern ich mir
meine Söhne als bequem ſituirte Landedelleute dachte, ſo unwill¬
kommen war mir der Gedanke an Fürſten mit unzulänglichem Ein¬
kommen nach dem Beiſpiel von Hardenberg und Blücher, deren Söhne
die Erbſchaft des Titels nicht antraten — der Blücherſche wurde
Jahrzehnte ſpäter (1861) erſt infolge einer reichen und katholiſchen
Heirath erneuert. In Erwägung aller Gründe gegen eine Standes¬
erhöhung, die ganz außerhalb des Bereichs meines Ehrgeizes lag,
langte ich auf den obern Stufen der Schloßtreppe an und fand
dort zu meiner Ueberraſchung den Kaiſer an der Spitze der könig¬
lichen Familie, der mich herzlich und mit Thränen in ſeine Arme
ſchloß, indem er mich als Fürſten begrüßte, und ſeine Freude, mir
dieſe Auszeichnung gewähren zu können, laut äußerte. Dem gegen¬
über und unter den lebhaften Glückwünſchen der königlichen Familie
blieb mir keine Möglichkeit, meine Bedenken anzubringen. Das
Gefühl, daß man als Graf wohlhabend ſein kann, ohne unan¬
genehm aufzufallen, als Fürſt aber, wenn man letztres vermeiden
will, reich ſein muß, hat mich ſeitdem nie wieder verlaſſen. Ich
würde die Mißgunſt meiner frühern Freunde und Standesgenoſſen
noch bequemer ertragen haben, wenn ſie in meiner Geſinnung
[149/0173]
Der Neid der Standesgenoſſen. Schulaufſichtsgeſetz.
begründet geweſen wäre. Sie fand ihren Ausdruck und ihre Vorwände
in der verurtheilenden Kritik, welcher meine Politik von Seiten der
preußiſchen Conſervativen unter der Führung des mir verwandten
Herrn von Kleiſt-Retzow bei Gelegenheit des Schulaufſichtsgeſetzes
1872 und bei einigen andern Anläſſen unterzogen wurde.
Die Oppoſition der Conſervativen gegen das noch von Mühler
vorgelegte Schulaufſichtsgeſetz begann ſchon im Abgeordnetenhauſe
und ging darauf aus, die Localinſpection über die Volksſchule ge¬
ſetzlich dem Ortsgeiſtlichen zu vindiciren, auch in Polen, während
die Vorlage den Behörden freie Hand in der Wahl des Schul¬
inſpectors ließ. In der erregten Debatte, an die manche alte
Mitglieder des Landtags ſich 1892 erinnert haben werden, ſagte
ich am 13. Februar 1872:
„Der Vorredner (Lasker) hat geſagt, es ſei ihm und den
Seinigen undenkbar geweſen, daß in einer prinzipiellen und von
uns für die Sicherheit des Staates für wichtig erklärten Frage, in
einer Frage von der Bedeutung die bisherige conſervative Partei
der Regirung offen den Krieg erklärte. Ich will mir dieſen letztern
Ausdruck nicht aneignen, aber ich darf das wohl beſtätigen, daß es
auch mir undenkbar geweſen iſt, daß dieſe Partei die Regirung in
einer Frage im Stiche laſſen werde, in welcher die Regirung ihrer¬
ſeits entſchloſſen iſt, jedes conſtitutionelle Mittel zur Anwendung zu
bringen, um ſie durchzuführen“ 1).
Nachdem das Geſetz in der von der Regirung genehmigten
Faſſung mit 207 Stimmen gegen 155 Stimmen von Clericalen,
Conſervativen und Polen angenommen war, gelangte es am
6. März in dem Herrenhauſe zur Berathung. Aus meiner Rede
will ich eine Stelle anführen:
„Die Frage iſt nach der evangeliſchen Seite hin zu einer
Wichtigkeit aufgebläht worden, als wollten wir jetzt ſämmtliche Geiſt¬
liche abſetzen, eine tabula rasa ſchaffen und mit dieſen 20000 Tha¬
1) Politiſche Reden V 283.
[150/0174]
Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.
lern, die wir fordern, den evangeliſchen Staat auf den Kopf ſtellen.
Wären dieſe Uebertreibungen nicht geſchehn, ſo wären die bedauer¬
lichen Streitigkeiten und Reibungen bei dieſem Geſetz vollſtändig über¬
flüſſig geweſen; das Geſetz hat ſeine übertriebene Wichtigkeit erſt durch
den uns ganz unerwarteten Widerſtand der conſervativen Partei evan¬
geliſcher Confeſſion erhalten, einen Widerſtand, in deſſen Geneſis ich
hier nicht näher eingehn will — ich könnte es nicht, ohne perſönlich
zu werden — der aber für die Staatsregirung eine tief ſchmerzliche
und für die Zukunft entmuthigende Erfahrung bildet. Nachdem
ich Ihnen mit einer Offenheit, zu der conſervative Leute die Staats¬
regirung niemals zwingen ſollten, die Geneſis und Tendenz dieſes
Geſetzes dargelegt habe, ſollten Sie die Nothwendigkeit, daß unſre
bisher nicht deutſch ſprechenden Landsleute Deutſch lernen, aner¬
kennen. Das iſt für mich der Hauptpunkt dieſes Geſetzes“ 1).
In einem Hauſe von 202 ſtimmten 76 gegen das Geſetz.
Ich hatte noch am Abend vorher mit großer Anſtrengung verſucht,
Herrn von Kleiſt die muthmaßlichen Folgen der Politik darzuſtellen,
zu der er ſeine Freunde verleitete, fand mich aber einem parti
pris gegenüber, bezüglich deſſen Unterlage ich keine Conjectur
machen will. Der Bruch mit mir wurde von jener Seite mit
einer Schärfe äußerlich vollzogen, aus der ebenſo viel perſönliche
als politiſche Leidenſchaft hervorleuchtete. Die Ueberzeugung, daß
dieſer mir perſönlich naheſtehende Parteimann das Land und die
conſervative Sache ſchwer geſchädigt hat, währt bis auf den heutigen
Tag. Wenn die conſervative Partei, anſtatt mit mir zu brechen
und mich mit einer Bitterkeit und einem Fanatismus zu bekämpfen,
worin ſie keiner ſtaatsfeindlichen Partei etwas nachgab, der Re¬
girung des Kaiſers geholfen hätte, in ehrlicher gemeinſamer Arbeit
die Reichsgeſetzgebung auszubauen, ſo würde der Ausbau nicht ohne
tiefe Spuren ſolcher conſervativen Mitarbeit geblieben ſein. Aus¬
gebaut mußte werden, wenn die politiſchen und militäriſchen Er¬
1) Politiſche Reden V 304 f.
[151/0175]
Schroffe Ablehnung der Conſervativen.
rungenſchaften vor Zerbröckelung und centrifugaler Rückbildung
geſchützt werden ſollten.
Ich weiß nicht, wie weit ich conſervativer Mitwirkung hätte
entgegenkommen können, jedenfalls weiter, als es in den durch den
Bruch entſtandenen Verhältniſſen geſchehn iſt. Ich hielt für die
damalige Zeit bei den Gefahren, die unſre Kriege geſchaffen
hatten, die Unterſchiede der Parteidoctrinen für untergeordnet im
Vergleiche mit der Nothwendigkeit der politiſchen Deckung nach Außen
durch möglichſt geſchloſſene Einheit der Nation in ſich. Als erſte
Bedingung galt mir die Unabhängigkeit Deutſchlands auf Grund
einer zum Selbſtſchutz hinreichend ſtarken Einheit, und ich hatte
und habe zu der Einſicht und Beſonnenheit der Nation das Ver¬
trauen, daß ſie Auswüchſe und Fehler der nationalen Einrichtungen
heilen und ausmerzen wird, wenn ſie daran nicht durch die Ab¬
hängigkeit von dem übrigen Europa und von innern Fractions-
und Sonderintereſſen verhindert wird, wie es bis 1866 der Fall
war. In dieſer Auffaſſung kam es mir auf die Frage, ob liberal,
ob conſervativ, in der damaligen Kriegs- und Coalitionsgefahr ſo
wenig wie heut in erſter Linie an, ſondern auf die freie Selbſt¬
beſtimmung der Nation und ihrer Fürſten. Ich gebe auch heut
dieſe Hoffnung nicht auf, wenn auch ohne die Gewißheit, daß unſre
politiſche Zukunft nicht noch durch Mißgriffe und Unfälle im wei¬
tern Ausbau geſchädigt werden wird.
III.
Die excluſivere Fühlung mit den Nationalliberalen, zu welcher
der Abfall der Conſervativen mich nothwendig führte, wurde in
Kreiſen der letztern Grund oder Vorwand zu geſteigerter Animoſität
gegen mich. In der Zeit, während deren ich, durch Krankheit ge¬
nöthigt, dem Grafen Roon den Vorſitz im Staatsminiſterium ab¬
[152/0176]
Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.
getreten hatte, von Neujahr bis November 1873, fanden bei ihm
in kleinen und größern Kreiſen abendliche Begegnungen mir feind¬
licher Politiker der rechten Seite ſtatt. An dieſen nahm Graf
Harry Arnim, der Herrngeſellſchaften ohne politiſchen Zweck nicht
zu beſuchen pflegte, wenn er ſich auf Urlaub in Berlin befand, in
der Rolle Theil, daß er auf die Anweſenden den Eindruck machte,
den mir Roon ſelbſt mit den Worten wiedergab: „In dem ſteckt
doch ein tüchtiger Junker!“ Die geſprächliche Verbindung, in welcher
dieſes Urtheil ausgeſprochen wurde, und die öftere ſcharf accen¬
tuirte Wiederholung deſſelben im Munde meines Freundes und
Collegen hatte die Tragweite eines Vorwurfs für mich wegen
Mangels gleicher Eigenſchaften, und einer Andeutung, als ob Arnim
die innere Politik ſchneidiger und conſervativer behandeln würde,
wenn er an meiner Stelle wäre. In den Unterredungen, in
denen dieſes Thema des Arnimſchen Junkerthums breit entwickelt
wurde, gewann ich den Eindruck, daß auch mein alter Freund
Roon unter der Einwirkung der bei ihm ſtattfindenden Conventikel
in dem Vertrauen zu meiner Politik einigermaßen erſchüttert war.
Zu den betreffenden Kreiſen gehörte auch Oberſt von Caprivi,
damals Abtheilungschef im Kriegsminiſterium. Ich will nicht ent¬
ſcheiden, zu welchen der S. 147 aufgeführten Kategorien meiner
Gegner er damals gehörte; bekannt iſt mir nur ſeine perſönliche
Beziehung zu Mitarbeitern an der „Reichsglocke“, wie dem Geheim¬
rath von Lebbin, Perſonalrath im Miniſterium des Innern, der auch
in ſeinem Reſſort einen mir feindlichen Einfluß ausübte. Der Feld¬
marſchall von Manteuffel hat mir geſagt, daß Caprivi ſeinen, Man¬
teuffels, Einfluß bei dem Kaiſer gegen mich anzuſpannen verſucht und
meine „Feindſchaft gegen die Armee“ *) als Grund zur Klage und
als eine Gefahr bezeichnet habe. Es iſt erſtaunlich, daß Caprivi
ſich dabei nicht erinnert hat, wie die Armee vor und zur Zeit meines
*) Vergl. zu dieſem Vorwurf den Brief des Kaiſers Friedrich vom
25. März 1888 in Kapitel 33, S. 311
[153/0177]
Conventikel bei Roon. Kreuzzeitungs-Verleumdungen.
Eintritts ins Amt, 1862, civiliſtiſch bekämpft, kritiſirt und ſtief¬
mütterlich verkürzt wurde, und wie ſie unter meiner Amtsführung
aus der Alltäglichkeit des Garniſonlebens über Düppel, Sadowa und
Sedan von 1864–1871 dreimal zum Einzuge in Berlin gelangte.
Ich darf ohne Ueberhebung annehmen, daß König Wilhelm 1862 ab¬
dicirt hätte, daß die Politik, die den Ruhm der Armee gründete,
vielleicht nicht oder nicht ſo, wie geſchah, in's Leben getreten wäre,
wenn ich ihre Leitung nicht übernommen hätte. Würde die Armee
zu ihren Heldenthaten und Graf Moltke auch nur den Degen zu
ziehn Gelegenheit erhalten haben, wenn König Wilhelm I. anders
und durch Andre berathen worden wäre? Wohl ſicher nicht, wenn
er 1862 abdicirt hätte, weil er niemand fand, der die Gefahren
ſeiner Stellung zu theilen und zu beſtehn bereit war.
IV.
Als die Kreuzzeitung, weil ich Parlamentsherrſchaft und
Atheismus proclamirt hätte, ſchon am 11. Februar 1872 Fehde
angeſagt und unter Nathuſius Ludom 1875 mit den ſogenannten
Aeraartikeln Perrots *) den Verleumdungsfeldzug gegen mich eröffnet
hatte, wandte ich mich brieflich an Amsberg, eine unſrer höchſten
juriſtiſchen Autoritäten, und an den Juſtizminiſter mit der Frage,
ob, wenn ich einen Strafantrag ſtellte, eine Verurtheilung des
Verfaſſers mit Sicherheit zu erwarten ſei; andernfalls würde ich
von einem ſolchen abſtehn, weil ein freiſprechendes Erkenntniß
meinen Gegnern neue Vorwände zu Verdächtigungen geben könnte.
Die Antwort Beider und meines gleichfalls befragten Rechtsanwalts
fiel dahin aus, daß die Verurtheilung wahrſcheinlich, aber bei
der vorſichtigen Faſſung der Artikel nicht ſicher ſei. Ich hatte mir
*) Dr. Perrot, Hauptmann a. D., geb. in Trier, geſt. 1891, Verfaſſer
national-ökonomiſcher Brochüren, zuletzt Kaufmann.
[154/0178]
Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.
damals über die Stellung von Strafanträgen noch keine beſtimmten
Grundſätze gebildet, und die Erfahrungen, welche ich in der Con¬
flictszeit gemacht hatte, waren nicht grade ermuthigend; ich erinnere
mich, daß ein Ortsgericht, ich glaube in Stendal, in den Gründen
ſeines Erkenntniſſes die Schwere der öffentlich gegen mich gerich¬
teten Beleidigungen zwar reichlich zugab, aber die Feſtſetzung einer
Minimalſtrafe von 10 Thalern damit motivirte, daß ich wirklich
ein übler Miniſter ſei.
Als die Perrotſchen Artikel erſchienen, ſah ich auch noch nicht
voraus, welchen Umfang der Verleumdungsfeldzug gegen mich von
Seiten meiner frühern Parteigenoſſen und namentlich in den
Kreiſen meiner Standesgenoſſen annehmen ſollte.
V.
Jeder, der heutiger Zeit in politiſchen Kämpfen geſtanden hat,
wird die Wahrnehmung gemacht haben, daß Parteimänner, über
deren Wohlerzogenheit und Rechtlichkeit im Privatleben nie Zweifel
aufgekommen ſind, ſobald ſie in Kämpfe der Art gerathen, ſich
von den Regeln des Ehrgefühls und der Schicklichkeit, deren
Autorität ſie ſonſt anerkennen, für entbunden halten und aus einer
karikirenden Uebertreibung des Satzes salus publica suprema lex
die Rechtfertigung für Gemeinheiten und Rohheiten in Sprache
und Handlungen ableiten, durch die ſie ſich außerhalb der poli¬
tiſchen und religiöſen Streitigkeiten ſelbſt angewidert fühlen würden.
Dieſe Losſagung von Allem, was ſchicklich und ehrlich iſt, hängt
undeutlich mit dem Gefühle zuſammen, daß man im Intereſſe der
Partei, das man dem des Vaterlandes unterſchiebt, mit anderm
Maße zu meſſen habe als im Privatleben, und daß die Gebote
der Ehre und Erziehung in Parteikämpfen anders und loſer aus¬
zulegen ſeien, als ſelbſt im Kriegsgebrauch gegen ausländiſche Feinde.
Die Reizbarkeit, die zur Ueberſchreitung der ſonſt üblichen Formen
[155/0179]
Die Aera-Artikel. Rohheit des Parteikampfes.
und Grenzen führt, wird unbewußt dadurch verſchärft, daß in der
Politik und in der Religion Keiner dem Andersgläubigen die Richtig¬
keit der eignen Ueberzeugung, des eignen Glaubens concludent
nachweiſen kann, und daß kein Gerichtshof vorhanden iſt, der die
Meinungsverſchiedenheiten durch Erkenntniß zur Ruhe verweiſen
könnte.
In der Politik wie auf dem Gebiete des religiöſen Glaubens
kann der Conſervative dem Liberalen, der Royaliſt dem Republi¬
kaner, der Gläubige dem Ungläubigen niemals ein andres Argu¬
ment entgegenhalten, als das in tauſend Variationen der Beredſam¬
keit breitgetretene Thema: meine politiſchen Ueberzeugungen ſind
richtig und die deinigen falſch; mein Glaube iſt Gott wohlgefällig,
dein Unglaube führt zur Verdammniß. Es iſt daher erklärlich,
daß aus kirchlichen Meinungsverſchiedenheiten Religionskriege ent¬
ſtehn und durch politiſche Parteikämpfe, ſo lange nicht ihre Erledi¬
gung durch Bürgerkrieg ſtattfindet, doch ein Umſturz der Schran¬
ken herbeigeführt wird, die durch Anſtand und Ehrgefühl wohl¬
erzogner Leute im außerpolitiſchen Lebensverkehr aufrecht erhalten
werden. Welcher gebildete und wohlerzogne Deutſche würde ver¬
ſuchen, im gewöhnlichen Verkehr auch nur einen geringen Theil
der Grobheiten und Bosheiten zur Verwendung zu bringen, die
er nicht anſteht, von der Rednertribüne vor hundert Zeugen ſeinem
bürgerlich gleich achtbaren Gegner in einer ſchreienden, in keiner
anſtändigen Geſellſchaft üblichen Tonart in's Geſicht zu werfen?
Wer würde es außerhalb des politiſchen Parteitreibens mit der
von ihm ſelbſt beanſpruchten Stellung eines Edelmannes von gutem
Hauſe verträglich halten, ſich in den Geſellſchaften, wo er verkehrt,
gewerbsmäßig zum Colporteur von Lügen und Verleumdungen
gegen andre Genoſſen ſeiner Geſellſchaft und ſeines Standes zu
machen? Wer würde ſich nicht ſchämen, auf dieſe Weiſe un¬
beſcholtene Leute unehrlicher Handlungen zu beſchuldigen, ohne ſie
beweiſen zu können? Kurz, wer würde anderswo als auf dem
Gebiete politiſcher Parteikämpfe die Rolle eines gewiſſenloſen Ver¬
[156/0180]
Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.
leumders bereitwillig übernehmen? Sobald man aber vor dem
eignen Gewiſſen und vor der Fraction ſich damit decken kann, daß
man im Parteiintereſſe auftritt, ſo gilt jede Gemeinheit für erlaubt
oder doch für entſchuldbar.
Gegen mich begannen die Verleumdungen in dem Blatte,
das unter dem chriſtlichen Symbol des Kreuzes und mit dem
Motto „Mit Gott für König und Vaterland“ ſeit Jahren nicht
mehr die conſervative Fraction und noch weniger das Chriſtenthum,
ſondern nur den Ehrgeiz und die gehäſſige Verbiſſenheit einzelner
Redacteure vertritt. Als ich über die Giftmiſchereien des Blattes
am 9. Februar 1876 in öffentlicher Rede Klage geführt hatte 1), ant¬
wortete mir die Kundgebung der ſogenannten Declaranten, deren
wiſſenſchaftliches Contingent aus einigen Hundert evangeliſchen Geiſt¬
lichen beſtand, die in ihrem amtlichen Charakter mir in dieſer Form
als Eideshelfer der Kreuzzeitungslügen entgegentraten und ihre
Miſſion als Diener der chriſtlichen Kirche und ihres Friedens da¬
durch bethätigten, daß ſie die Verleumdungen des Blattes öffentlich
contraſignirten. Ich habe gegen Politiker in langen Kleidern,
weiblichen und prieſterlichen, immer Mißtrauen gehegt, und dieſes
Pronunciamiento einiger Hundert evangeliſcher Pfarrer zu Gunſten
einer der frivolſten, gegen den erſten Beamten des Landes gerich¬
teten Verleumdung war nicht geeignet, mein Vertrauen grade zu
Politikern, die im Prieſterrock, auch in einem evangeliſchen, ſtecken,
zu ſtärken. Zwiſchen mir und allen Declaranten, von denen viele
bis dahin zu meinen Bekannten, ſogar zu meinen Freunden gehört
hatten, war, nachdem ſie ſich die ehrenrührigen Beſchimpfungen
aus der Feder Perrots angeeignet hatten, die Möglichkeit eines
perſönlichen Verkehrs vollſtändig abgeſchnitten.
Für die Nerven eines Mannes in reifen Jahren iſt es eine
harte Probe, plötzlich mit allen oder faſt allen Freunden und Be¬
kannten den bisherigen Umgang abzubrechen. Meine Geſundheit
1) Politiſche Reden VI 351.
[157/0181]
Die Declaranten als Eideshelfer. Bruch mit Freunden.
war damals längſt geſchwächt, nicht durch die Arbeiten, welche mir
oblagen, aber durch das ununterbrochene Bewußtſein der Verant¬
wortlichkeit für große Ereigniſſe, bei denen die Zukunft des Vater¬
landes auf dem Spiele ſtand. Ich habe natürlich während der
bewegten und gelegentlich ſtürmiſchen Entwicklung unſrer Politik
nicht immer mit Sicherheit vorausſehn können, ob der Weg,
den ich einſchlug, der richtige war, und doch war ich gezwungen,
ſo zu handeln, als ob ich die kommenden Ereigniſſe und die Wir¬
kung der eignen Entſchließungen auf dieſelben mit voller Klarheit
vorausſehe. Die Frage, ob das eigne Augenmaß, der politiſche
Inſtinct, ihn richtig leitet, iſt ziemlich gleichgültig für einen Miniſter,
dem alle Zweifel gelöſt ſind, ſobald er durch die königliche Unter¬
ſchrift oder durch eine parlamentariſche Mehrheit ſich gedeckt fühlt,
man könnte ſagen, einen Miniſter katholiſcher Politik, der im Beſitz
der Abſolution iſt, und den die mehr proteſtantiſche Frage, ob er
ſeine eigne Abſolution hat, nicht kümmert. Für einen Miniſter
aber, der ſeine Ehre mit der des Landes vollſtändig identificirt, iſt
die Ungewißheit des Erfolges einer jeden politiſchen Entſchließung
von aufreibender Wirkung. Man kann die politiſche Geſtaltung
in der Zeit, welche die Durchführung einer Maßregel bedarf, ſo
wenig mit Sicherheit vorherſehn, wie das Wetter der nächſten
Tage in unſerm Klima, und muß doch ſeine Entſchließung faſſen,
als ob man es könnte, nicht ſelten im Kampfe gegen alle Einflüſſe,
denen Gewicht beizulegen man gewöhnt iſt, wie z. B. in Nikols¬
burg zur Zeit der Friedensverhandlungen, wo ich die einzige Perſon
war und blieb, die ſchließlich für das, was geſchah, und für den
Erfolg verantwortlich gemacht wurde und nach unſern Inſtitutionen
und Gewöhnungen auch verantwortlich war, und wo ich meine
Entſchließung im Widerſpruch nicht nur mit allen Militärs, alſo
mit allen Anweſenden, ſondern auch mit dem Könige faſſen und
in ſchwerem Kampfe aufrecht halten mußte. Die Erwägung der
Frage, ob eine Entſchließung richtig ſei, und ob das Feſthalten und
Durchführen des auf Grund ſchwacher Prämiſſen für richtig Er¬
[158/0182]
Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.
kannten richtig ſei, hat für jeden gewiſſenhaften und ehrliebenden
Menſchen etwas Aufreibendes; es wird verſtärkt durch die Thatſache,
daß lange Zeit vergeht, oft viele Jahre, bevor man in der Politik
ſich ſelbſt überzeugt, ob das Gewollte und Geſchehene das Richtige
war oder nicht. Nicht die Arbeit iſt das Aufreibende, die Zweifel
und Sorgen ſind es und das Ehrgefühl, die Verantwortlichkeit, ohne
daß man zur Unterſtützung der letztern etwas andres als die
eigne Ueberzeugung und den eignen Willen anführen kann, wie
das grade in den wichtigſten Kriſen am ſchärfſten Platz greift.
Der Verkehr mit Andern, die man für gleichgeſtellt hält, er¬
leichtert die Ueberwindung ſolcher Kriſen, und wenn er plötzlich
aufhört und aus Motiven, die mehr perſönlich als ſachlich, mehr
mißgünſtig als ehrlich, und ſo weit ſie ehrlich, ganz banau¬
ſiſcher Natur ſind, der betheiligte verantwortliche Miniſter plötzlich
von allen bisherigen Freunden boycottirt, als Feind behandelt, alſo
mit ſich und ſeinen Erwägungen vereinſamt wird, ſo muß das den
Eingriff ſeiner amtlichen Sorgen in ſeine Nerven und ſeine Ge¬
ſundheit verſchärfen.
VI.
Man hätte glauben ſollen, daß die nationalliberale Partei,
durch deren Begünſtigung ich mir das Uebelwollen meiner frühern
conſervativen Parteigenoſſen zugezogen hatte, durch die rohen und
unwürdigen Angriffe auf meine perſönliche Ehrenhaftigkeit bewogen
worden wäre, mir in der Abwehr irgendwie beizuſtehn, oder doch
zu erkennen zu geben, daß ſie die Angriffe nicht billigte und die
Anſicht meiner Verleumder über mich nicht theilte; ich erinnere
mich aber nicht, in jener Zeit irgend einen nationalliberalen
Verſuch, mir zur Hülfe zu kommen, in der Preſſe oder ſonſt
im öffentlichen Leben, wahrgenommen zu haben. Es ſchien im
Gegentheil, als ob im nationalliberalen Lager eine gewiſſe Genug¬
thuung darüber herrſchte, daß die conſervative Partei mich angriff
[159/0183]
Haltung der Nationalliberalen. Fractionsbeſchränktheit.
und mit mir brach, und als ob man bemüht wäre, den Bruch zu
erweitern und bei mir den Stachel tiefer einzudrücken. Liberale
und Conſervative waren darüber einig, je nach dem Fractions¬
intereſſe mich zu verbrauchen, fallen zu laſſen und anzugreifen. Die
Frage, ob es dem Lande, dem allgemeinen Intereſſe nützlich ſei,
wird theoretiſch natürlich von jeder Fraction als die dominirende
bezeichnet, und jede behauptet, daß ſie eben auf dem Fractions¬
wege das Wohl der Geſammtheit ſuche und finde. In der That
aber iſt mir der Eindruck verblieben, daß jede unſrer Fractionen
ihre Politik betreibt, als ob ſie allein da ſei, ohne Rückſicht auf
das Ganze und auf das Ausland ſich auf ihrer Fractionsinſel
iſolirt. Dabei kann man nicht einmal ſagen, daß die verſchiedenen
Wege der Fractionen auf dem politiſchen Kampfplatz durch Ver¬
ſchiedenheit der politiſchen Grundſätze und Ueberzeugungen in jedem
Einzelnen zu einer Gewiſſensfrage und Nothwendigkeit würden; es
geht den meiſten Fractionsmitgliedern wie den meiſten Bekennern
verſchiedener Confeſſionen; ſie gerathen in Verlegenheit, wenn man
ſie bittet, die unterſcheidenden Merkmale der eignen Ueberzeugung
den andern concurrirenden gegenüber anzuführen. In unſern
Fractionen iſt der eigentliche Kryſtalliſationspunkt nicht ein Pro¬
gramm, ſondern eine Perſon, ein parlamentariſcher Condottiere.
Auch die Beſchlüſſe entſpringen nicht aus den Anſichten der
Mitglieder, ſondern aus dem Willen des Führers oder eines her¬
vorragenden Redners, was in der Regel zuſammenfällt. Der
Verſuch einzelner Mitglieder, gegen die Fractionsleitung, gegen den
ſchlagfertigern Redner aufzukommen, iſt mit ſo viel Unannehm¬
lichkeiten, mit Niederlage in der Abſtimmung, mit Störungen in
dem täglichen, gewohnten Privatverkehr verbunden, daß ſchon ein
recht ſelbſtändiger Charakter dazu gehört, eine von der Fractions¬
leitung abweichende Meinung zu vertreten; und Charakter genügt
nicht, wenn nicht ein ausreichendes Maß von Wiſſen und Arbeits¬
kraft hinzukommt. Die letztre aber nimmt zu in der Richtung
nach links. Die erhaltenden Parteien ſetzen ſich im Ganzen zu¬
[160/0184]
Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.
ſammen aus den zufriedenen Staatsbürgern, die den ſtatus quo
angreifenden recrutiren ſich naturgemäß mehr aus den mit den
beſtehenden Einrichtungen unzufriedenen; und unter den Elementen,
auf denen die Zufriedenheit beruht, nimmt die Wohlhabenheit nicht
die letzte Stelle ein. Nun iſt es eine Eigenthümlichkeit, wenn nicht
der Menſchen im Allgemeinen, ſo doch der Deutſchen, daß der Un¬
zufriedene arbeitſamer und rühriger iſt als der Zufriedene, der Be¬
gehrliche ſtrebſamer als der Satte. Die geiſtig und körperlich
ſatten Deutſchen ſind gewiß zuweilen aus Pflichtgefühl arbeitſam,
aber in der Mehrheit nicht, und unter den gegen das Beſtehende
Ankämpfenden findet ſich der Wohlhabende bei uns ſeltener aus
Ueberzeugung, öfter von einem Ehrgeiz getrieben, der auf dieſem Wege
ſchnellere Befriedigung hofft oder durch Verſtimmung über politiſche
oder confeſſionelle Widerwärtigkeiten auf ihn gedrängt worden iſt.
Das Ergebniß im Ganzen iſt immer eine größere Arbeitſamkeit unter
den Kräften, die das Beſtehende angreifen, als unter denen, die
es vertheidigen, alſo den Conſervativen. Dieſer Mangel an Arbeit¬
ſamkeit der Mehrheit erleichtert wiederum die Leitung einer conſer¬
vativen Fraction in höherm Maße, als dieſelbe durch individuelle
Selbſtändigkeit und ſtärkern Eigenſinn der Einzelnen erſchwert
werden könnte. Nach meinen Erfahrungen iſt die Abhängigkeit der
conſervativen Fractionen von dem Gebote ihrer Leitung mindeſtens
ebenſo ſtark, vielleicht ſtärker als auf der äußerſten Linken. Die
Scheu vor dem Bruch iſt auf der rechten Seite vielleicht größer
als auf der linken, und der damals auf jeden Einzelnen ſtark
wirkende Vorwurf, „miniſteriell zu ſein“, war der objectiven Be¬
urtheilung auf der rechten Seite oft hinderlicher als auf der linken.
Dieſer Vorwurf hörte ſofort auf, den Conſervativen und andern
Fractionen empfindlich zu ſein, als durch meine Entlaſſung die
regirende Stelle vacant geworden war, und jeder Parteiführer in
der Hoffnung, bei ihrer Wiederbeſetzung betheiligt zu werden, bis
zur unehrlichen Verleugnung und Boycottirung des frühern Kanzlers
und ſeiner Politik ſervil und miniſteriell wurde.
[161/0185]
Herrſchaft der Fractionsführer. Die „Reichsglocke“ am Hofe.
In der Zeit der Declaranten wurde die antiminiſterielle Strö¬
mung, das heißt die Mißgunſt, mit der ich von vielen meiner
Standesgenoſſen betrachtet und behandelt wurde, lebhaft gefördert
durch ſtarke Einflüſſe am Hofe. Der Kaiſer hat mir ſeine Gnade
und ſeine Unterſtützung in Geſchäften niemals verſagt; das hinderte
den Herrn aber nicht, die „Reichsglocke“ täglich zu leſen. Dieſes
nur von der Verleumdung gegen mich lebende Blatt wurde im
Königlichen Hausminiſterium für unſern und andre Höfe in 13 Exem¬
plaren colportirt und hatte ſeine Mitarbeiter nicht nur im katholiſchen,
ſondern auch im evangeliſchen Hof- und Landesadel. Die Kaiſerin
Auguſta ließ mich ihre Ungnade andauernd fühlen, und ihre un¬
mittelbaren Untergebenen, die höchſten Beamten des Hofes, gingen
in ihrem Mangel an Formen ſo weit, daß ich zu ſchriftlichen Be¬
ſchwerden bei Sr. Majeſtät ſelbſt veranlaßt wurde. Dieſe hatten
den Erfolg, daß wenigſtens die äußern Formen mir gegenüber
nicht mehr vernachläſſigt wurden. — Miniſter Falk wurde dem¬
nächſt durch dergleichen höfiſche Unfreundlichkeiten gegen ihn und
ſeine Frau mehr als durch ſachliche Schwierigkeiten ſeiner Stellung
überdrüſſig 1).
1) S. o. S. 131 f.
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 11
[[162]/0186]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel.
Intrigen.
I.
Graf Harry Arnim vertrug wenig Wein und ſagte mir ein¬
mal nach einem Frühſtücksglaſe: „In jedem Vordermanne in der
Carrière ſehe ich einen perſönlichen Feind und behandle ihn dem¬
entſprechend. Nur darf er es nicht merken, ſo lange er mein Vor¬
geſetzter iſt.“ Es war dies in der Zeit, als er nach dem Tode
ſeiner erſten Frau aus Rom zurückgekommen, durch eine italieniſche
Amme ſeines Sohnes in roth und gold Aufſehn auf den Pro¬
menaden erregte und in politiſchen Geſprächen gern Macchiavell
und die Werke italieniſcher Jeſuiten und Biographen citirte. Er
poſirte damals in der Rolle eines Ehrgeizigen, der keine Scrupel
kannte, ſpielte hinreißend Klavier und war vermöge ſeiner Schön¬
heit und Gewandheit gefährlich für die Damen, denen er den
Hof machte. Dieſe Gewandheit auszubilden, hatte er frühzeitig
begonnen, indem er als Schüler des Neuſtettiner Gymnaſiums
von den Damen einer wandernden Schauſpielertruppe ſich in die
Lehre nehmen ließ und das mangelnde Orcheſter am Clavier
erſetzte.
Unter den Perſönlichkeiten, die neben ausländiſchen Ein¬
flüſſen, neben der „Reichsglocke“ und ihren Mitarbeitern in ariſto¬
[163/0187]
Graf Harry Arnim.
kratiſchen und Hofkreiſen und in den Miniſterien meiner Collegen,
neben dem verſtimmten Junkerthume und deſſen Aera-Artikeln
in der Kreuzzeitung, daran arbeiteten, mir das Vertrauen des
Kaiſers zu entziehn, ſpielte Graf Harry Arnim eine hervorragende
Rolle.
Am 23. Auguſt 1871 wurde er auf meinen Antrag zum Ge¬
ſandten, demnächſt zum Botſchafter in Paris ernannt, wo ich ſeine
hohe Begabung trotz ſeiner Fehler im Intereſſe des Dienſtes nütz¬
lich zu verwerthen hoffte; er ſah in ſeiner Stellung dort aber nur
eine Stufe, von der aus er mit mehr Erfolg daran arbeiten konnte,
mich zu beſeitigen und mein Nachfolger zu werden. Er machte in
Privatbriefen an den Kaiſer geltend, daß das preußiſche Königs¬
haus gegenwärtig das älteſte in Europa ſei, das ſich in ununter¬
brochner Regirung erhalten habe, und daß dem Kaiſer, als dem
doyen der Monarchen, durch dieſe Gnade Gottes eine Verpflichtung
erwachſe, die Legitimität und Continuität andrer alter Dynaſtien zu
überwachen und zu ſchützen. Die Berührung dieſer Saite im Ge¬
müthe des Kaiſers war pſychologiſch richtig berechnet, und wenn
Arnim allein ihn zu berathen gehabt hätte, ſo wäre es ihm viel¬
leicht gelungen, das klare und nüchterne Urtheil dieſes Herrn durch
ein künſtlich geſteigertes Gefühl von angeſtammter Fürſtenpflicht zu
trüben. Aber er wußte nicht, daß Se. Majeſtät mir in ſeiner
graden und ehrlichen Weiſe die Briefe mittheilte und dadurch Ge¬
legenheit gab, der politiſchen Einſicht, man könnte ſagen, dem ge¬
ſunden Verſtande des Herrn die Schäden und Gefahren der Rath¬
ſchläge darzulegen, denen wir auf dem von Arnim empfohlenen
Wege der Herſtellung der Legitimität in Frankreich entgegengehn
würden.
Meine ſchriftlichen Auslaſſungen in dieſem Sinne erlaubte der
Kaiſer ſpäter Arnimſchen Schmähſchriften gegenüber zu veröffent¬
lichen. In einer derſelben iſt Bezug darauf genommen, daß dem
Könige bekannt ſei, daß Arnims Aufrichtigkeit in maßgebenden
Kreiſen angezweifelt werde, und daß man ihn am engliſchen Hofe
[164/0188]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
als Botſchafter nicht gewünſcht habe, „weil man ihm kein Wort
glauben würde“ 1). Graf Arnim hat wiederholt Verſuche gemacht,
ein Zeugniß des engliſchen Cabinets gegen dieſe meine Andeutung
zu erlangen, und von den ihm mehr als mir wohlwollenden eng¬
liſchen Staatsmännern die Verſicherung erhalten, daß ihnen nichts
derart bekannt ſei. Doch war die von mir angedeutete präventive
Zurückweiſung Arnims in einer Geſtalt an den Kaiſer gelangt,
daß ich mich öffentlich auf Sr. Majeſtät Zeugniß über die That¬
ſache berufen konnte.
Nachdem Arnim ſich 1873 in Berlin überzeugt hatte, daß ſeine
Ausſichten, an meine Stelle zu treten, noch nicht ſo reif waren,
wie er angenommen hatte, verſuchte er einſtweilen das frühere gute
Verhältniß herzuſtellen, ſuchte mich auf, bedauerte, daß wir durch Mi߬
verſtändniſſe und Intrigen Andrer auseinander gekommen wären,
und erinnerte an Beziehungen, die er einſt mit mir gehabt und
geſucht hatte. Zu gut von ſeinem Treiben und von dem Ernſt
ſeines Angriffes auf mich unterrichtet, um mich täuſchen zu laſſen,
ſprach ich ganz offen mit ihm, hielt ihm vor, daß er mit allen mir
feindlichen Elementen in Verbindung getreten ſei, um meine poli¬
tiſche Stellung zu erſchüttern, in der irrigen Annahme, er werde
mein Nachfolger werden, und daß ich an ſeine verſöhnliche Ge¬
ſinnung nicht glaube. Er verließ mich, indem er mit der ihm
eignen Leichtigkeit des Weinens eine Thräne im Auge zerdrückte.
Ich kannte ihn von ſeiner Kindheit an.
Mein amtliches Verfahren gegen Arnim war von ihm pro¬
vocirt durch ſeine Weigerung, amtlichen Inſtructionen Folge zu
leiſten. Ich habe die Thatſache, daß er Gelder, die er zur Ver¬
tretung unſrer Politik in der franzöſiſchen Preſſe erhielt, 6000 bis
7000 Thaler, dazu verwandte, in der deutſchen Preſſe unſre Politik
und meine Stellung anzugreifen, in den Gerichtsverhandlungen nie¬
mals berühren laſſen. Sein Hauptorgan, in welchem er mich und
1) Schreiben an den Kaiſer vom 14. April 1873.
[165/0189]
Graf Harry Arnim.
mit ſteigender Siegeszuverſicht angriff, war damals die „Spener'ſche
Zeitung“, die, im Abſterben begriffen, ihm käuflich war. In der¬
ſelben ließ er Andeutungen machen, als ob er allein ein Mittel
wiſſe, den Kampf mit Rom ſiegreich zu Ende zu führen, und daß
nur mein unberechtigter Ehrgeiz einen überlegnen Staatsmann
wie er ſei, nicht an's Ruder kommen laſſe. Gegen mich hat er ſich
über dieſes Arcanum nicht ausgeſprochen. Daſſelbe beſtand in dem
von einzelnen Canoniſten vertretenen Gedanken, daß die römiſch-
katholiſche Kirche durch die Beſchlüſſe des Vaticanums ihre Natur
verändert habe, ein andres Rechtsſubject geworden ſei und die in
ihrem frühern Daſein erworbenen Eigenthums- und Vertragsrechte
verloren habe. Ich habe dieſes Mittel früher als er erwogen, glaube
aber nicht, daß es eine ſtärkere Wirkung auf den Austrag des
Streites geübt haben würde, als die Gründung der altkatholiſchen
Kirche es vermochte, deren Berechtigung logiſch und juriſtiſch noch
einleuchtender und gerechtfertigter war, als es die angerathne Los¬
ſagung der Preußiſchen Regirung von ihren Beziehungen zur
römiſchen Kirche geweſen ſein würde. Die Zahl der Altkatholiken
giebt das Maß für die Wirkung, welche dieſer Schachzug auf den
Beſtand der Anhänger des Papſtes und des Neokatholicismus
geübt haben würde. Noch weniger verſprach ich mir von dem
Vorſchlage, den Graf Arnim in einem der veröffentlichten Berichte
gemacht hat, die preußiſche Regirung möge „Oratores“ zur Erörte¬
rung der dogmatiſchen Fragen in das Concil ſchicken. Ich ver¬
muthe, daß er darauf durch den Titelkopf der von Paolo Sarpi
verfaßten Geſchichte des Tridentiner Concils gekommen iſt, auf dem
die Verſammlung abgebildet iſt und zwei, an einem beſondern
Tiſche ſitzende Perſonen als Oratores Caesareae Majestatis be¬
zeichnet ſind. Iſt meine Vermuthung richtig, ſo hat Graf Arnim
wiſſen müſſen, daß „orator“ in der clericalen Latinität jener Zeit
der Ausdruck für Geſandter iſt.
In dem Gerichtsverfahren gegen ihn verfolgte ich nur den
Zweck, die von mir dienſtlich geſtellte, von Arnim definitiv
[166/0190]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
abgelehnte Forderung der Herausgabe beſtimmter, zweifellos
amtlicher Beſtandtheile der Botſchaftsacten durchzuſetzen. Mir kam
es nur darauf an, als Vorgeſetzter die amtliche Autorität zu
wahren; ein Straferkenntniß gegen Arnim habe ich weder er¬
ſtrebt noch erwartet, im Gegentheile würde ich, nachdem ein
ſolches erfolgt war, ſeine Begnadigung wirkſam befürwortet
haben, wenn dieſelbe in der durch das Contumacial-Erkennt¬
niß geſchaffenen Lage juriſtiſch zuläſſig geweſen wäre. Mich trieb
keine perſönliche Rachſucht, ſondern, wenn man eine tadelnde
Bezeichnung finden will, eher bürokratiſche Rechthaberei eines in
ſeiner Autorität mißachteten Vorgeſetzten. War ſchon das Erkennt¬
niß in dem erſten Proceß auf neun Monat Gefängniß ein meiner
Anſicht nach übertrieben ſtrenges, ſo war die Verurtheilung in dem
zweiten Proceſſe zu fünf Jahren Zuchthaus doch nur, wie der Ver¬
urtheilte ſelbſt richtig bemerkt hat, dadurch möglich geworden, daß
der regelmäßige Strafrichter nicht in der Lage iſt, die Sünden der
Diplomatie in internationalen Verhandlungen mit vollem Verſtänd¬
niſſe zu beurtheilen. Dieſes Erkenntniß würde ich nur dann für
adäquat gehalten haben, wenn der Verdacht erwieſen geweſen wäre,
daß der Verurtheilte ſeine Verbindungen mit dem Baron Hirſch
benutzt hätte, um die Verzögerung der Ausführung ſeiner Inſtruc¬
tionen Börſenſpeculationen dienſtbar zu machen. Ein Beweis
dafür iſt in dem Gerichtsverfahren weder geführt, noch verſucht
worden. Die Annahme, daß er lediglich aus geſchäftlichen Gründen
die Ausführung einer präciſen Weiſung unterlaſſen habe, blieb
immerhin zu ſeinen Gunſten möglich, obſchon ich mir den Ge¬
dankengang, dem er dabei gefolgt ſein müßte, nicht klar machen
kann. Der erwähnte Verdacht iſt aber meinerſeits nicht aus¬
geſprochen worden, obſchon er dem Auswärtigen Amte und der
Hofgeſellſchaft durch Pariſer Correſpondenzen und Reiſende mit¬
getheilt worden war und in dieſen Kreiſen colportirt wurde.
Es war ein Verluſt für den diplomatiſchen Dienſt bei uns,
daß die ungewöhnliche Begabung Arnims für dieſen Dienſt nicht
[167/0191]
Graf Harry Arnim.
mit einem gleichen Maße von Zuverläſſigkeit und Glaubwürdigkeit
gepaart war.
Welche Eindrücke die diplomatiſchen Kreiſe empfingen, zeigt
u. A. der nachſtehende Brief des Staatsſekretärs von Bülow vom
23. October 1874:
„Die Kreuzzeitung enthält heut eine perfide Einſendung, offen¬
bar von Graf Arnim ſelbſt auf die Melodie: Was habe ich denn
Böſes gethan? Nichts, als ganz perſönliche Actenſtücke vor der
Indiscretion von Botſchaftern und Kanzliſten gerettet; ich würde
ſie längſt herausgegeben haben, wenn das Auswärtige Amt nicht
ſo rückſichtslos und grob geweſen wäre. Es iſt ſchwer, während
der Unterſuchung auf ſolche Lügen und Verdrehungen zu antworten:
Einſtweilen bringt die Weſerzeitung geſtern die ſehr nützliche Notiz
über den Inhalt mehrerer der vermißten Actenſtücke. Geſtern war
Feldmarſchall von Manteuffel bei mir, zumeiſt um ſich nach der causa
Arnim zu erkundigen. Er ſprach in ſehr paſſender Weiſe ſeine Ueber¬
zeugung aus, daß man nicht anders habe handeln können, und daß
er den Reichskanzler und die Diplomatie bedaure, mit ſolchen Er¬
fahrungen die Geſchäfte leiten zu müſſen. Da er übrigens Arnim
von Jugend auf kenne, und unter oder neben ihm in Nancy genug
habe leiden müſſen, ſo überraſche die Kataſtrophe ihn nicht; Arnim
ſei ein Mann, der bei jeder Sache nur gefragt habe: Was nützt oder
ſchadet ſie mir perſönlich? Wörtlich daſſelbe ſagten mir Lord Odo
Ruſſell als Ergebniß ſeiner römiſchen Erfahrungen und Nothomb
als Erinnerung aus Brüſſel. Am merkwürdigſten war mir, daß der
Feldmarſchall wiederholt darauf zurückkam, daß Arnim im Sommer 72
angefangen habe, gegen E. D. zu conſpiriren, ihn, Manteuffel, in
dieſer Beziehung im Sommer 73 habe ſondiren wollen und durch ſeine
Haltung gegen Thiers deſſen Sturz mit allen üblen politiſchen Folgen
hauptſächlich mit verſchuldet habe. Ueber letzteres Kapitel ſprach er mit
großer Sach- und Perſonalkenntniß und nicht ohne Hindeutung auf
den Einfluß, den damals Arnim ſich allerhöchſten Orts zu verſchaffen ge¬
wußt, durch Schüren gegen Republik und für legitime Ueberlieferung.
[168/0192]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
Am Tage von Thiers' Sturz habe er mit mehreren hervorragenden
Orleaniſten dinirt; die Bulletins aus Verſailles ſeien ihm während
des Diners zugegangen und mit Jubel begrüßt worden — ein
Rückhalt für die Partei, ohne den ſie vielleicht nicht den moraliſchen
Muth zu dem coup d'état vom 24. Mai gehabt. Im gleichen
Sinne ſagte nur Nothomb, Thiers habe ihm im vorigen Winter
von Arnim geſagt: cet homme m'a fait beaucoup de mal, beau¬
coup plus même que ne sait ni pense Monsieur de Bismarck.“
In dem Verleumdungsproceß gegen den Redacteur der „Reichs¬
glocke“, Januar 1877, ſagte der Staatsanwalt:
„Ich mache für dieſe verbrecheriſche Tendenz alle Mitarbeiter
des Blattes, auch alle diejenigen, die das Blatt durch Rath und
durch That unterſtützen, moraliſch verantwortlich, zunächſt ins¬
beſondre den Herrn von Loë, ſodann aber auch den Grafen Harry
von Arnim. Es iſt garnicht zu bezweifeln, daß alle die Artikel
‚Arnim contra Bismarck‘ die es ſich zur Aufgabe gemacht haben,
ſeit Jahr und Tag die Perſon des Fürſten Bismarck anzugreifen,
herabzuſetzen, im Intereſſe des Grafen Arnim geſchrieben werden.“
II.
Meiner Ueberzeugung nach hat die römiſche Curie den Krieg
zwiſchen Frankreich und Deutſchland ebenſo wie die meiſten Politiker
ſeit 1866 als wahrſcheinlich betrachtet, als ebenſo wahrſcheinlich
auch, daß Preußen unterliegen würde. Den Krieg vorausgeſetzt,
mußte der damalige Papſt darauf rechnen, daß der Sieg Frank¬
reichs über das evangeliſche Preußen die Möglichkeit bieten werde,
den Vorſtoß, den er ſelbſt mit dem Concil und der Unfehlbarkeit
gegen die akatholiſche Welt und gegen nervenſchwache Katholiken
gemacht hatte, zu weitern Conſequenzen zu treiben. Wie das
kaiſerliche Frankreich und beſonders die Kaiſerin Eugenie damals
zu dem Papſte ſtanden, ließ ſich ohne zu gewagte Berechnung an¬
nehmen, daß Frankreich, wenn ſeine Heere ſiegreich in Berlin ſtänden,
[169/0193]
Graf Harry Arnim. Römiſche Hoffnungen.
bei dem Friedensſchluſſe die Intereſſen der katholiſchen Kirche in
Preußen nicht unberückſichtigt laſſen würde, wie der Kaiſer von
Rußland Friedensſchlüſſe zu benutzen pflegte, um ſich ſeiner Glaubens¬
genoſſen im Oriente anzunehmen. Es würden ſich die gesta Dei
per Francos vielleicht um einige neue Fortſchritte der päpſtlichen
Macht bereichert haben, und die Entſcheidung der confeſſionellen
Kämpfe, die nach der Meinung katholiſcher Schriftſteller (Donoſo
Cortes de Valdegamas) ſchließlich „auf dem Sande der Mark
Brandenburg“ auszufechten ſind, würde durch eine übermächtige
Stellung Frankreichs in Deutſchland nach verſchiedenen Richtungen
hin gefördert worden ſein. Die Parteinahme der Kaiſerin Eugenie
für die kriegeriſche Richtung der franzöſiſchen Politik wird ſchwer¬
lich ohne Zuſammenhang mit ihrer Hingebung für die katholiſche
Kirche und den Papſt geweſen ſein; und wenn die franzöſiſche
Politik und die perſönlichen Beziehungen Louis Napoleons zur
italieniſchen Bewegung es unmöglich machten, daß Kaiſer und
Kaiſerin dem Papſte in Italien in befriedigender Weiſe gefällig
waren, ſo würde die Kaiſerin ihre Ergebenheit für den Papſt im
Falle des Sieges in Deutſchland bethätigt und auf dieſem Gebiete
eine allerdings unzulängliche fiche de consolation für die Schäden
gewährt haben, die der päpſtliche Stuhl in Italien unter und
durch Napoleons Mitwirkung erlitten hatte.
Wenn nach dem Frankfurter Frieden eine katholiſirende Partei,
ſei es royaliſtiſcher, ſei es republikaniſcher Form, in Frankreich am
Ruder geblieben wäre, ſo würde es ſchwerlich gelungen ſein, die
Erneuerung des Krieges ſo lange, wie geſchehn, hinauszuſchieben.
Es war alsdann zu befürchten, daß die beiden von uns bekämpften
Nachbarmächte, Oeſtreich und Frankreich, auf dem Boden der
gemeinſamen Katholicität ſich einander nähern und uns entgegen¬
treten würden, und die Thatſache, daß es in Deutſchland ſo wenig
wie in Italien an Elementen fehlte, deren confeſſionelles Gefühl
ſtärker war als das nationale, hätte zur Verſtärkung und Er¬
muthigung einer ſolchen katholiſchen Allianz gedient. Ob wir ihr
[170/0194]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
gegenüber Bundesgenoſſen finden würden, ließ ſich nicht ſicher vor¬
ausſehn; jedenfalls hätte es in der Willkür Rußlands geſtanden,
die öſtreichiſch-franzöſiſche Freundſchaft durch ſeinen Zutritt zu
einer übermächtigen Coalition auszubilden, wie im ſiebenjährigen
Kriege, oder uns doch unter dem diplomatiſchen Drucke dieſer Mög¬
lichkeit in Abhängigkeit zu erhalten.
Mit der Herſtellung einer katholiſirenden Monarchie in Frank¬
reich wäre die Verſuchung, gemeinſchaftlich mit Oeſtreich Revanche
zu nehmen, erheblich näher getreten. Ich hielt es deshalb dem
Intereſſe Deutſchlands und des Friedens widerſprechend, die Reſtau¬
ration des Königthums in Frankreich zu fördern, und gerieth in
Gegnerſchaft zu den Vertretern dieſer Idee. Dieſer Gegenſatz ſpitzte
ſich perſönlich zu gegenüber dem damaligen franzöſiſchen Botſchafter
Gontaut-Biron und unſerm damaligen Botſchafter in Paris, Grafen
Harry Arnim. Der Erſtre war im Sinne der Partei thätig, der
er von Natur angehörte, der legitimiſtiſch-katholiſchen; der Letztre
aber ſpeculirte auf die legitimiſtiſchen Sympathien des Kaiſers, um
meine Politik zu discreditiren und mein Nachfolger zu werden.
Gontaut, ein geſchickter und liebenswürdiger Diplomat aus alter
Familie, fand bei der Kaiſerin Auguſta Anknüpfungspunkte einer¬
ſeits in deren Vorliebe für katholiſche Elemente in und neben dem
Centrum, mit denen die Regirung im Kampfe ſtand, andrerſeits
in ſeiner Eigenſchaft als Franzoſe, die in den Jugenderinnerungen
der Kaiſerin aus der Zeit ohne Eiſenbahnen an deutſchen Höfen
faſt in gleichem Maße wie die Eigenſchaft des Engländers zur Em¬
pfehlung diente 1). Ihre Majeſtät hatte franzöſiſch ſprechende Diener,
ihr franzöſiſcher Vorleſer Gérard *) fand Eingang in die Kaiſerliche
1) S. Bd. I 121 f.
*) Derſelbe, wahrſcheinlich von Gontaut an Ihre Majeſtät empfohlen,
unterhielt einen lebhaften Briefwechſel mit Gambetta, der nach des Letztern
Tode in die Hände von Madame Adám gerieth und als hauptſächliches Material
für die Schrift La Société de Berlin gedient hat. Nach Paris zurückgekehrt,
wurde Gérard eine Zeit lang Leiter der officiöſen Preſſe, dann Legationsſekretär
in Madrid, Geſchäftsträger in Rom und 1890 Geſandter in Montenegro.
[171/0195]
Arnim und Gontaut-Biron. Katholiſche Hofſtrömungen.
Familie und Correſpondenz. Alles Ausländiſche mit Ausnahme des
Ruſſiſchen hatte für die Kaiſerin dieſelbe Anziehungskraft, wie
für ſo viele deutſchen Kleinſtädter. Bei den alten langſamen Ver¬
kehrsmitteln war früher an den deutſchen Höfen ein Ausländer, be¬
ſonders ein Engländer oder Franzoſe faſt immer ein intereſſanter
Beſuch, nach deſſen Stellung in der Heimath nicht ängſtlich gefragt
wurde; um ihn hoffähig zu machen, genügte es, daß er „weit her“
und eben kein Landsmann war.
Auf demſelben Boden erwuchs in ausſchließlich evangeliſchen
Kreiſen das Intereſſe, welches die fremdartige Erſcheinung eines
Katholiken und, am Hofe, eines Würdenträgers der katholiſchen
Kirche, damals einflößte. Es war zur Zeit Friedrich Wilhelms III.
eine intereſſante Unterbrechung der Einförmigkeit, wenn Jemand
katholiſch war. Ein katholiſcher Mitſchüler wurde ohne jedes con¬
feſſionelle Uebelwollen mit einer Art von Verwunderung wie eine
exotiſche Erſcheinung und nicht ohne Befriedigung darüber betrachtet,
daß ihm von der Bartholomäusnacht, von Scheiterhaufen und dem
dreißigjährigen Kriege nichts anzumerken war. Im Hauſe des
Profeſſors von Savigny, deſſen Frau katholiſch war, wurde den
Kindern, wenn ſie 14 Jahre alt waren, die Wahl der Confeſſion
freigeſtellt; ſie folgten der evangeliſchen Confeſſion des Vaters
mit Ausnahme meines Altersgenoſſen, des nachmaligen Bundestags¬
geſandten und Mitbegründers des Centrums. In der Zeit, als
wir Beide Primaner oder Studenten waren, ſprach er ohne pole¬
miſche Färbung über die Motive der getroffenen Wahl und führte
dabei die imponirende Würde des katholiſchen Gottesdienſtes, dann
aber auch den Grund an, katholiſch ſei doch im Ganzen vor¬
nehmer, „proteſtantiſch iſt ja jeder dumme Junge“.
Dieſe Verhältniſſe und Stimmungen haben ſich geändert in
dem halben Jahrhundert, in dem die politiſche und wirthſchaft¬
liche Entwicklung alle Varietäten der Bevölkerung nicht blos Europas
mit einander in nähere Berührung gebracht hat. Heut zu Tage
kann man durch die Kundgebung, katholiſch zu ſein, in keinem Ver¬
[172/0196]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
liner Kreiſe mehr Aufſehn erregen oder auch nur einen Eindruck
machen. Nur die Kaiſerin Auguſta iſt von ihren Jugendeindrücken
nicht frei geworden. Ein katholiſcher Geiſtlicher erſchien ihr vor¬
nehmer als ein evangeliſcher von gleichem Range und von gleicher
Bedeutung. Die Aufgabe, einen Franzoſen oder Engländer zu ge¬
winnen, hatte für ſie mehr Anziehung als dieſelbe Aufgabe einem
Landsmanne gegenüber, und der Beifall der Katholiken wirkte be¬
friedigender als der der Glaubensgenoſſen. Gontaut-Biron, dazu
aus vornehmer Familie, hatte keine Schwierigkeit, ſich in den Hof¬
kreiſen eine Stellung zu ſchaffen, deren Verbindungen auf mehr als
einem Wege an die Perſon des Kaiſers heranreichten.
Daß die Kaiſerin in der Perſon Gérards einen franzöſiſchen
geheimen Agenten zu ihrem Vorleſer nahm, iſt eine Abnormität,
deren Möglichkeit ohne das Vertrauen, welches Gontaut durch
ſeine Geſchicklichkeit und durch die Mitwirkung eines Theils der
katholiſchen Umgebung Ihrer Majeſtät genoß, nicht verſtändlich
iſt. Für die franzöſiſche Politik und die Stellung des franzöſiſchen
Botſchafters in Berlin war es natürlich ein erheblicher Vortheil, einen
Mann wie Gérard in dem kaiſerlichen Haushalte zu ſehn. Der¬
ſelbe war gewandt bis auf die Unfähigkeit, ſeine Eitelkeit im Aeußern
zu unterdrücken. Er liebte es, als Muſter der neuſten Pariſer
Mode zu erſcheinen, in einer für Berlin auffälligen Uebertreibung,
ein Mißgriff, durch welchen er ſich indeſſen in dem Palais nicht
ſchadete. Das Intereſſe für exotiſche und beſonders Pariſer Typen
war mächtiger als der Sinn für einfachen Geſchmack.
Gontauts Thätigkeit im Dienſte Frankreichs beſchränkte ſich
nicht auf das Berliner Terrain. Er reiſte 1875 nach Petersburg,
um dort mit dem Fürſten Gortſchakow den Theatercoup einzuleiten,
welcher bei dem bevorſtehenden Beſuche des Kaiſers Alexander in
Berlin die Welt glauben machen ſollte, daß er allein das wehrloſe
Frankreich vor einem deutſchen Ueberfall bewahrt habe, indem er
uns mit einem Quos ego! in den Arm gegriffen und zu dem
Zweck den Kaiſer nach Berlin begleitet habe.
[173/0197]
Franzöſiſche Sympathien der Kaiſerin. Die Komödie von 1875.
Von wem der Gedanke ausgegangen iſt, weiß ich nicht; wenn
von Gontaut, ſo wird er bei Gortſchakow einen empfänglichen Boden
gefunden haben bei deſſen eitler Natur, ſeiner Eiferſucht auf mich
und dem Widerſtande, den ich ſeinen Anſprüchen auf Präpotenz zu
leiſten gehabt hatte. Ich hatte ihm in vertraulichem Geſpräch ſagen
müſſen: „Sie behandeln uns nicht wie eine befreundete Macht,
ſondern comme un domestique, qui ne monte pas assez vite,
quand on a sonné.“ Gortſchakow beutete es aus, daß er dem
Geſandten Grafen Redern und den auf ihn folgenden Geſchäfts¬
trägern an Autorität überlegen war, und benutzte mit Vorliebe zu
Verhandlungen den Weg der Mittheilung ſeinerſeits an unſre Ver¬
tretung in Petersburg unter Vermeidung der Inſtruirung des ruſſi¬
ſchen Botſchafters in Berlin behufs Beſprechung mit mir. Ich
halte es für Verleumdung, was Ruſſen mir geſagt haben, das
Motiv dieſes Verfahrens ſei geweſen, daß in dem Etat des aus¬
wärtigen Miniſters ein Pauſchquantum für Telegramme ausgeworfen
ſei und Gortſchakow deshalb ſeine Mittheilungen lieber auf deutſche
Koſten durch unſern Geſchäftsträger als auf ruſſiſche beſorgt habe.
Ich ſuche, obſchon er ſicher geizig war, das Motiv auf politiſchem
Gebiete. Gortſchakow war ein geiſtreicher und glänzender Redner
und liebte es, ſich als ſolchen namentlich den fremden, in Peters¬
burg beglaubigten Diplomaten gegenüber zu zeigen. Er ſprach
franzöſiſch und deutſch mit gleicher Beredſamkeit, und ich habe ſeinen
docirenden Vorträgen oft ſtundenlang gern zugehört als Geſandter
und ſpäter als College. Mit Vorliebe hatte er als Zuhörer fremde
Diplomaten und namentlich jüngere Geſchäftsträger von Intelli¬
genz, denen gegenüber die vornehme Stellung des auswärtigen
Miniſters, bei dem ſie beglaubigt waren, dem oratoriſchen Eindrucke
zu Hülfe kam. Auf dieſem Wege gingen mir die Gortſchakowſchen
Willensmeinungen in Formen zu, die an das Roma locuta est
erinnerten. Ich beſchwerte mich in Privatbriefen bei ihm direct
über dieſe Form des Geſchäftsbetriebes und über die Tonart ſeiner
Eröffnungen und bat ihn, in mir nicht mehr den diplomatiſchen
[174/0198]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
Schüler zu ſehn, der ich in Petersburg ihm gegenüber bereitwillig
geweſen wäre, ſondern jetzt mit der Thatſache zu rechnen, daß ich
ein für die Politik meines Kaiſers und eines großen Reiches ver¬
antwortlicher College ſei.
Als 1875 während der Vacanz des Botſchafterpoſtens ein
Legationsſekretär als Geſchäftsträger fungirte, wurde Herr von Rado¬
witz, damals Geſandter in Athen, en mission extraordinaire nach
Petersburg geſchickt, um die Geſchäftsführung auch äußerlich auf
den Fuß der Gleichheit zu bringen. Er hatte dadurch Gelegenheit,
ſich durch entſchloſſene Emancipation von Gortſchakows präpotenter
Beeinfluſſung deſſen Abneigung in einem ſo hohen Grade zuzuziehn,
daß die Abneigung des ruſſiſchen Cabinets gegen ihn ungeachtet
ſeiner ruſſiſchen Heirath vielleicht noch heut nicht erloſchen iſt.
Die Rolle des Friedensengels, ſehr geeignet, Gortſchakows
Selbſtgefühl durch den ihm über alles theuern Eindruck in Paris
zu befriedigen, war von Gontaut in Berlin vorbereitet worden; es
läßt ſich annehmen, daß ſeine Geſpräche mit dem Grafen Moltke
und mit Radowitz, die ſpäter als Beweismittel für unſre krie¬
geriſchen Abſichten angeführt wurden, von ihm mit Geſchick herbei¬
geführt waren, um vor Europa das Bild eines von uns bedrohten,
von Rußland beſchützten Frankreich zur Anſchauung zu bringen.
In Berlin am 10. Mai 1875 angekommen, erließ Gortſchakow
unter dem Datum dieſes Ortes ein zur Mittheilung beſtimmtes
telegraphiſches Circular, welches mit den Worten anfing: „Main¬
tenant, alſo unter ruſſiſchem Druck, la paix est assurée,“ als ob
das vorher nicht der Fall geweſen wäre. Einer der dadurch avi¬
ſirten außerdeutſchen Monarchen hat mir gelegentlich den Text gezeigt.
Ich machte dem Fürſten Gortſchakow lebhafte Vorwürfe und
ſagte, es ſei kein freundſchaftliches Verhalten, wenn man einem ver¬
trauenden und nichts ahnenden Freunde plötzlich und hinterrücks auf
die Schulter ſpringe, um dort eine Circus-Vorſtellung auf ſeine
Koſten in Scene zu ſetzen, und daß dergleichen Vorgänge zwiſchen
uns leitenden Miniſtern den beiden Monarchien und Staaten zum
[175/0199]
„Maintenant la paix est assurée.“ Gortſchakow als Friedensengel.
Schaden gereichten. Wenn ihm daran liege, in Paris gerühmt zu
werden, ſo brauchte er deshalb unſre ruſſiſchen Beziehungen noch
nicht zu verderben, ich ſei gern bereit, ihm beizuſtehn und in
Berlin Fünffrankenſtücke ſchlagen zu laſſen mit der Umſchrift:
Gortchakoff protège la France; wir könnten auch in der deutſchen
Botſchaft ein Theater herſtellen, wo er der franzöſiſchen Geſellſchaft
mit derſelben Umſchrift als Schutzengel im weißen Kleide und mit
Flügeln in bengaliſchem Feuer vorgeführt würde.
Er wurde unter meinen bittern Invectiven ziemlich kleinlaut,
beſtritt die für mich beweiskräftig feſtſtehenden Thatſachen und
zeigte nicht die ihm ſonſt eigne Sicherheit und Beredſamkeit,
woraus ich ſchließen durfte, daß er Zweifel hatte, ob ſein kaiſer¬
licher Herr ſein Verhalten billigen werde. Der Beweis wurde
vervollſtändigt, als ich mich bei dem Kaiſer Alexander mit derſelben
Offenheit über Gortſchakows unehrliches Verfahren beſchwerte; der
Kaiſer gab den ganzen Thatbeſtand zu und beſchränkte ſich rauchend
und lachend darauf, zu ſagen, ich möge dieſe vanité ſénile nicht
zu ernſthaft nehmen. Die dadurch allerdings ausgeſprochene Mi߬
billigung hat aber niemals einen hinreichend authentiſchen Ausdruck
gefunden, um die Legende von unſrer Abſicht, 1875 Frankreich zu
überfallen, aus der Welt zu ſchaffen.
Mir lag eine ſolche damals und ſpäter ſo fern, daß ich eher
zurückgetreten ſein würde, als zu einem vom Zaune zu brechen¬
den Kriege die Hand zu bieten, der kein andres Motiv gehabt
haben würde, als Frankreich nicht wieder zu Athem und zu Kräften
kommen zu laſſen. Ein ſolcher Krieg hätte meiner Anſicht nach
nicht zu haltbaren Zuſtänden in Europa auf die Dauer geführt,
wohl aber eine Uebereinſtimmung von Rußland, Oeſtreich und
England in Mißtrauen und eventuell in activem Vorgehn einleiten
können gegen das neue und noch nicht conſolidirte Reich, das
damit die Wege betreten haben würde, auf denen das erſte und
das zweite franzöſiſche Kaiſerreich in einer fortgeſetzten Kriegs- und
Preſtige-Politik ihrem Untergange entgegengingen. Europa würde
[176/0200]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
in unſerm Verfahren einen Mißbrauch der gewonnenen Stärke er¬
blickt haben, und Jedermanns Hand, einſchließlich der centrifugalen
Kräfte im Reiche ſelbſt, würde dauernd gegen Deutſchland erhoben
oder am Degen geweſen ſein. Grade der friedliche Charakter der
deutſchen Politik nach den überraſchenden Beweiſen der militäriſchen
Kraft der Nation hat weſentlich dazu beigetragen, die fremden
Mächte und die innern Gegner früher, als wir erwarteten, wenig¬
ſtens bis zu einem tolerari posse mit der neudeutſchen Kraftent¬
wicklung zu verſöhnen und das Reich zum Theil mit Wohlwollen,
zum Theil als einſtweilen annehmbaren Friedenswächter ſich ent¬
wickeln und feſtigen zu ſehn.
Es war für unſre Begriffe merkwürdig, daß der Kaiſer von
Rußland bei der Geringſchätzung, mit der er ſich über ſeinen
leitenden Miniſter äußerte, ihm doch die ganze Maſchine des Aus¬
wärtigen Amtes in der Hand ließ und ihm dadurch den Einfluß
auf die Miſſionen geſtattete, den er thatſächlich ausübte. Trotz
der Klarheit, mit der der Kaiſer die Abwege erkannte, die ein¬
zuſchlagen ſein Miniſter ſich durch perſönliche Gründe verleiten
ließ, unterwarf er die Concepte, die ihm Gortſchakow zu eigen¬
händigen Briefen an den Kaiſer Wilhelm vorlegte, nicht der ſcharfen
Sichtung, deren ſie bedurft hätten, wenn der Eindruck verhütet
werden ſollte, daß die wohlwollende Geſinnung des Kaiſers in der
Hauptſache den anſpruchsvollen und bedrohlichen Stimmungen Gor¬
tſchakows Platz gemacht habe. Der Kaiſer Alexander hatte eine elegante
und deutliche feine Handſchrift, und die Arbeit des Schreibens hatte
nichts Unbequemes für ihn, aber wenn auch die in der Regel ſehr
langen und in die Details eingehenden Schreiben von Souverän
zu Souverän ganz von der eignen Hand des Kaiſers herrührten,
ſo habe ich doch nach Stil und Inhalt in der Regel auf die Unter¬
lage eines von Gortſchakow redigirten Concepts ſchließen zu können
geglaubt; wie denn auch die eigenhändigen Antworten unſres Herrn
von mir zu entwerfen waren. Auf dieſe Weiſe hatte die eigen¬
händige Correſpondenz, in der beide Monarchen die wichtigſten
[177/0201]
Friedlicher Charakter der deutſchen Politik.
politiſchen Fragen mit entſcheidender Autorität behandelten, zwar
nicht die conſtitutionelle Garantie einer miniſteriellen Gegenzeich¬
nung, aber doch das Correctiv miniſterieller Mitwirkung, voraus¬
geſetzt, daß ſich der Allerhöchſte Briefſteller genau an das Concept
hielt. Darüber erhielt der Verfaſſer des letztern allerdings keine
Sicherheit, da die Reinſchrift garnicht oder doch nur verſiegelt in
ſeine Hände kam.
Wie weit verzweigt die Gontaut-Gortſchakow'ſche Intrige ge¬
weſen war, ergiebt folgendes Schreiben, das ich am 13. Auguſt 1875
aus Varzin an den Kaiſer richtete 1):
„Eurer Majeſtät huldreiches Schreiben vom 8. d. M. aus Gaſtein
habe ich mit ehrfurchtsvollem Danke erhalten und mich vor Allem
gefreut, daß Eurer Majeſtät die Kur gut bekommen iſt, trotz alles
ſchlechten Wetters in den Alpen. Den Brief der Königin Victoria
beehre ich mich wieder beizufügen; es wäre ſehr intereſſant geweſen,
wenn Ihre Majeſtät ſich genauer über den Urſprung der damaligen
Kriegsgerüchte ausgelaſſen hätte. Die Quellen müſſen der hohen Frau
doch für ſehr ſicher gegolten haben, ſonſt würde Ihre Majeſtät ſich
nicht von Neuem darauf berufen, und würde die engliſche Regirung
auch nicht ſo gewichtige und für uns ſo unfreundliche Schritte daran
geknüpft haben. Ich weiß nicht, ob Eure Majeſtät es für thunlich
halten, die Königin Victoria beim Worte zu nehmen, wenn Ihre
Majeſtät verſichert, es ſei Ihr ‚ein Leichtes nachzuweiſen, daß Ihre
Befürchtungen nicht übertrieben waren‘. Es wäre ſonſt wohl von
Wichtigkeit zu ermitteln, von welcher Seite her ſo ‚kräftige Irrthümer‘
nach Windſor haben befördert werden können. Die Andeutung über
Perſonen, welche als ‚Vertreter‘ der Regirung Eurer Majeſtät gelten
müſſen, ſcheint auf den Grafen Münſter zu zielen. Derſelbe kann
ja ſehr wohl gleich dem Grafen Moltke akademiſch von der Nütz¬
lichkeit eines rechtzeitigen Angriffs auf Frankreich geſprochen haben,
obſchon ich es nicht weiß und er niemals dazu beauftragt worden
1) Bismarck-Jahrbuch IV 35 ff.
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 12
[178/0202]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
iſt. Man kann ja ſagen, daß es für den Frieden nicht förderlich
iſt, wenn Frankreich die Sicherheit hat, daß es unter keinen Um¬
ſtänden angegriffen wird, es möge thun, was es wolle. Ich würde
noch heut wie 1867 in der Luxemburger Frage Eurer Majeſtät
niemals zureden, einen Krieg um deswillen ſofort zu führen, weil
wahrſcheinlich iſt, daß der Gegner ihn ſpäter beſſer gerüſtet beginnen
werde; man kann die Wege der göttlichen Vorſehung dazu niemals
ſicher genug im Voraus erkennen. Aber es iſt auch nicht nützlich,
dem Gegner die Sicherheit zu geben, daß man ſeinen Angriff jeden¬
falls abwarten werde. Deshalb würde ich Münſter noch nicht
tadeln, wenn er in ſolchem Sinne gelegentlich geredet hätte, und
die engliſche Regirung hätte deshalb noch kein Recht gehabt, auf
außeramtliche Reden eines Botſchafters amtliche Schritte zu gründen,
und sans nous dire gare die andern Mächte zu einer Preſſion
auf uns aufzufordern. Ein ſo ernſtes und unfreundliches Ver¬
fahren läßt doch vermuthen, daß die Königin Victoria noch andre
Gründe gehabt habe, an kriegeriſche Abſichten zu glauben als ge¬
legentliche Geſprächswendungen des Grafen Münſter, an die ich
nicht einmal glaube. Lord Ruſſell hat verſichert, daß er jederzeit
ſeinen feſten Glauben an unſre friedlichen Abſichten berichtet habe.
Dagegen haben alle Ultramontane und ihre Freunde uns heimlich
und öffentlich in der Preſſe angeklagt, den Krieg in kurzer Friſt
zu wollen, und der franzöſiſche Botſchafter, der in dieſen Kreiſen
lebt, hat die Lügen derſelben als ſichre Nachrichten nach Paris
gegeben. Aber auch das würde im Grunde noch nicht hinreichen,
der Königin Victoria die Zuverſicht und das Vertrauen zu den von
Eurer Majeſtät ſelbſt dementirten Unwahrheiten zu geben, das Höchſt¬
dieſelbe noch in dem Briefe vom 20. Juni ausſpricht. Ich bin
mit den Eigenthümlichkeiten der Königin zu wenig bekannt, um
eine Meinung darüber zu haben, ob es möglich iſt, daß die Wen¬
dung, es ſei ,ein Leichtes nachzuweiſen‘, etwa nur den Zweck haben
könnte, eine Uebereilung, die einmal geſchehn iſt, zu maskiren, an¬
ſtatt ſie offen einzugeſtehn.
[179/0203]
Schreiben an den Kaiſer. Verwaltungsreform.
Verzeihn E. M., wenn das Intereſſe des Fachmannes mich
über dieſen abgemachten Punkt nach dreimonatlicher Enthaltung
hat weitläuftig werden laſſen.“
III.
Graf Friedrich Eulenburg erklärte ſich Sommer 1877 körper¬
lich bankrott, und in der That war ſeine Leiſtungsfähigkeit ſehr ver¬
ringert, nicht durch Uebermaß von Arbeit, ſondern durch die Scho¬
nungsloſigkeit, mit der er ſich von Jugend auf jeder Art von
Genuß hingegeben hatte. Er beſaß Geiſt und Muth, aber nicht
immer Luſt zu ausdauernder Arbeit. Sein Nervenſyſtem war ge¬
ſchädigt und ſchwankte ſchließlich zwiſchen weinerlicher Mattigkeit
und künſtlicher Aufregung. Dabei hatte ihn in der Mitte der 70er
Jahre, wie ich vermuthe, ein gewiſſes Popularitätsbedürfniß über¬
fallen, das ihm früher fremd geblieben war, ſo lange er geſund
genug war, um ſich zu amüſiren. Dieſe Anwandlung war nicht
frei von einem Anflug von Eiferſucht auf mich, wenn wir auch
alte Freunde waren. Er ſuchte ſie dadurch zu befriedigen, daß er
ſich der Verwaltungsreform annahm. Sie mußte gelingen, wenn
ſie ihm Ruhm erwerben ſollte. Um den Erfolg zu ſichern, machte
er bei den parlamentariſchen Verhandlungen darüber unpraktiſche
Conceſſionen und bürokratiſirte den weſentlichen Träger unſrer
ländlichen Zuſtände, den Landrathspoſten, gleichzeitig mit der neuen
Local-Verwaltung. Der Landrathspoſten war in frühern Zeiten
eine preußiſche Eigenthümlichkeit, der letzte Ausläufer der Verwal¬
tungshierarchie, durch den ſie mit dem Volke unmittelbar in Be¬
rührung ſtand. In dem ſocialen Anſehn aber ſtand der Landrath
höher als andre Beamte gleichen Ranges. Man wurde früher
nicht Landrath mit der Abſicht, dadurch Carrière zu machen, ſon¬
dern mit der Ausſicht, ſein Leben als Landrath des Kreiſes zu
beſchließen. Die Autorität eines ſolchen wuchs mit den Jahren
[180/0204]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
ſeiner Amtsdauer; er hatte keine andern Intereſſen als die des
Kreiſes zu vertreten und für keine andern Wünſche als die ſeiner
Eingeſeſſenen zu ſtreben. Es liegt auf der Hand, wie nützlich eine
ſolche Inſtitution nach oben und nach unten wirkte, und mit wie
geringen Mitteln an Menſchen und Geld die Kreisgeſchäfte be¬
trieben werden konnten. Seitdem iſt der Landrath ein reiner
Regirungsbeamter geworden, ſeine Stellung ein Durchgangspoſten
für weitre Beförderung im Staatsdienſte, eine Erleichterung der
Wahl zum Abgeordneten; und in der Eigenſchaft des letztern wird
er, wenn er ſtrebſam iſt, ſeine Beziehungen nach oben als Beamter
wichtiger finden als die zu den Einſaſſen ſeines Kreiſes. Zugleich
ſind die neugeſchaffnen örtlichen Amtsvorſtände nicht Organe der
Selbſtverwaltung, nach Analogie der ſtädtiſchen Behörden, ſondern
eine unterſte ſchreiberartig wirkende Klaſſe der Bürokratie ge¬
worden, durch welche jede unpraktiſche oder müßige Anregung der
unzulänglich beſchäftigten und den Realitäten des Lebens fremden
Centralbürokratie über das platte Land verbreitet wird und die
die unglücklichen Selbſt-Verwalter nöthigt, Berichte und Liſten zu¬
ſammenzuſtellen, um die Wißbegierde von Beamten zu befriedigen,
die mehr Zeit als Staatsgeſchäfte haben. Es iſt für Landwirthe
oder Induſtrielle nicht möglich, ſolchen Anforderungen im „Neben¬
amte“ zu genügen. An ihre Stelle treten nothwendig mehr und
mehr remunerirte Schreiber, deren Koſten durch die Eingeſeſſenen
aufzubringen ſind und die von der höhern Bürokratie ad nutum
abhängig ſind.
Als Nachfolger des Grafen Eulenburg hatte ich Rudolf von
Bennigſen in's Auge gefaßt und habe im Laufe des Jahres 1877
in Varzin zweimal, im Juli und im December, Beſprechungen mit
ihm gehabt. Es fand ſich dabei, daß er dem Boden unſrer Ver¬
handlung eine weitre Ausdehnung zu geben ſuchte, als mit den
Anſichten Sr. Majeſtät und mit meinen eignen Auffaſſungen
vereinbar war. Ich wußte, daß es ſchon eine ſchwierige Aufgabe
ſein würde, ihn für ſeine Perſon dem Könige annehmbar zu
[181/0205]
Der Landrath ſonſt und jetzt. Verhandlungen mit Bennigſen.
machen; er aber faßte die Sache ſo auf, als ob es ſich um einen
durch die politiſche Situation gegebenen Syſtemwechſel handelte,
um die Uebernahme der Leitung durch die nationalliberale Partei.
Das Streben nach dem Mitbeſitz des Regiments hatte ſich ſchon
erkennbar gemacht in dem Eifer, mit dem die Partei das Stell¬
vertretungsgeſetz betrieben hatte in der Meinung, auf dieſem Wege
ein collegialiſches Reichsminiſterium anzubahnen, in dem anſtatt
des allein verantwortlichen Reichskanzlers ſelbſtändige Reſſorts
mit collegialiſcher Abſtimmung wie in Preußen die Entſcheidung
hätten. Bennigſen wollte daher nicht einfach Eulenburgs Nach¬
folger werden, ſondern verlangte, daß mit ihm wenigſtens Forcken¬
beck und Stauffenberg einträten. Der Erſtre ſei der geeignete
Mann für das Innere und werde dort dieſelbe Geſchicklichkeit und
Thatkraft wie in der Verwaltung der Stadt Berlin bewähren; er
ſelbſt würde das Finanzminiſterium wählen; Stauffenberg müſſe
an die Spitze des Reichsſchatzamts treten, um mit ihm zuſammen
zu wirken.
Ich ſagte ihm, es ſei nichts vacant als die Stelle Eulenburgs;
ich ſei bereit, ihn für dieſe dem Könige vorzuſchlagen, und würde
mich freuen, wenn ich den Vorſchlag durchſetzte. Wenn ich aber
Sr. Majeſtät rathen wollte, noch zwei Miniſterpoſten proprio
motu frei zu machen, um ſie mit Nationalliberalen zu beſetzen,
ſo werde der hohe Herr das Gefühl haben, daß es ſich nicht
um eine zweckmäßige Stellenbeſetzung, ſondern um einen Syſtem¬
wechſel handle, und einen ſolchen werde er prinzipiell ablehnen.
Bennigſen dürfe überhaupt nicht darauf rechnen, daß es dem Könige
und unſrer ganzen politiſchen Lage gegenüber möglich ſein werde,
ſeine Fraction gewiſſermaßen mit in das Miniſterium zu nehmen
und als ihr Führer den ihrer Bedeutung entſprechenden Ein¬
fluß im Schoße der Regirung auszuüben, gewiſſermaßen ein con¬
ſtitutionelles Majoritätsminiſterium zu ſchaffen. Bei uns ſei der
König thatſächlich und ohne Widerſpruch mit dem Verfaſſungstexte
Miniſterpräſident, und Bennigſen würde, wenn er als Miniſter
[182/0206]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
etwa die bezeichnete Richtung einhalten wollte, bald zwiſchen dem
Könige und ſeiner Fraction zu wählen haben. Er möge ſich klar
machen, daß wenn es mir gelänge, ſeine Ernennung durchzuſetzen,
damit ihm und ſeiner Partei eine mächtige Handhabe zur Ver¬
ſtärkung und Erweiterung ihres Einfluſſes geboten ſei; er möge
ſich das Beiſpiel Roons vergegenwärtigen, der als der einzige
Conſervative in das liberale Auerswaldſche Miniſterium trat und
der Kryſtalliſationspunkt wurde, um den es ſich in ein con¬
ſervatives verwandelte. Er möge nichts Unmögliches von mir ver¬
langen, ich kennte den König und die Grenzen meines Einfluſſes
genau genug; mir wären die Parteien ziemlich gleichgültig, ſogar
ganz gleichgültig, wenn ich von den eingeſtandenen und nicht ein¬
geſtandenen Republikanern abſähe, die nach rechts mit der Fort¬
ſchrittspartei abſchlöſſen. Mein Ziel ſei die Befeſtigung unſrer
nationalen Sicherheit; zu ihrer innern Ausgeſtaltung werde die
Nation Zeit haben, wenn erſt ihre Einheit und damit ihre Sicher¬
heit nach Außen conſolidirt ſein werde. Für die Erreichung des
letztern Zwecks ſei gegenwärtig auf dem parlamentariſchen Gebiete
die nationalliberale Partei das ſtärkſte Element. Die conſervative
Partei, der ich im Parlament angehört, habe die geographiſche
Ausdehnung, deren ſie in der heutigen Bevölkerung fähig ſei, er¬
reicht und trage nicht das Wachsthum in ſich, um zu einer natio¬
nalen Majorität zu werden; ihr naturgeſchichtliches Vorkommen,
ihr Standort ſei beſchränkt in unſern neuen Provinzen; im Weſten
und Süden von Deutſchland habe ſie nicht dieſelben Unterlagen
wie in Alt-Preußen; in Bennigſens Heimath, Hanover, namentlich
habe man nur zwiſchen Welfen und Nationalliberalen zu wählen,
und die letztern böten einſtweilen die beſte Unterlage von allen
denen, auf welchen das Reich Wurzel ſchlagen könne. Dieſe poli¬
tiſche Erwägung veranlaſſe mich, ihnen, als der gegenwärtig ſtärkſten
Partei, entgegen zu kommen, indem ich ihren Führer zum Collegen
zu werben ſuchte, ob für die Finanzen oder das Innere, ſei mir
gleichgültig. Ich ſähe die Sache von dem rein politiſchen Stand¬
[183/0207]
Verhandlungen über Bennigſens Eintritt ins Miniſterium.
punkte an, bedingt durch die Auffaſſung, daß es für jetzt und bis
nach den nächſten großen Kriegen nur darauf ankomme, Deutſch¬
land feſt zuſammenwachſen zu laſſen, es durch ſeine Wehrhaftigkeit
gegen äußere Gefahren und durch ſeine Verfaſſung gegen innere
dynaſtiſche Brüche ſicher zu ſtellen. Ob wir uns nachher im Innern
etwas conſervativer oder etwas liberaler einrichteten, das werde
eine Zweckmäßigkeitsfrage ſein, die man erſt ruhig erwägen könne,
wenn das Haus wetterfeſt ſei. Ich hätte den aufrichtigen Wunſch,
ihn zu überreden, daß er, wie ich mich ausdrückte, zu mir in das
Schiff ſpringe und mir bei dem Steuern helfe; ich läge am Lan¬
dungsplatze und wartete auf ſein Einſteigen.
Bennigſen blieb aber dabei, nicht ohne Forckenbeck und Stauffen¬
berg eintreten zu wollen, und ließ mich unter dem Eindrucke, daß
mein Verſuch mißlungen ſei, einem Eindrucke, der ſchnell verſtärkt
wurde durch das Einlaufen eines ungewöhnlich ungnädigen Schrei¬
bens des Kaiſers, aus dem ich erſah, daß Graf Eulenburg zu
ihm mit der Frage in das Zimmer getreten ſei: „Haben Eure
Majeſtät ſchon von dem neuen Miniſterium gehört? Bennigſen.“
Dieſer Mittheilung folgte der lebhafte ſchriftliche Ausbruch kaiſer¬
licher Entrüſtung über meine Eigenmächtigkeit und über die Zu¬
muthung, daß Er aufhören ſolle, „conſervativ“ zu regiren. Ich
war unwohl und abgeſpannt, und der Text des kaiſerlichen Schrei¬
bens und der Eulenburgiſche Angriff fielen mir dermaßen auf die
Nerven, daß ich von Neuem ziemlich ſchwer erkrankte, nachdem ich
dem Kaiſer durch Roon geantwortet hatte, ich könne ihm einen
Nachfolger Eulenburgs doch nicht vorſchlagen, ohne mich vorher
vergewiſſert zu haben, daß der Betreffende die Ernennung an¬
nehmen werde; ich hätte Bennigſen für geeignet gehalten und ſeine
Stimmungen ſondirt, bei ihm aber nicht die Auffaſſung gefunden,
die ich erwartet hätte, und die Ueberzeugung gewonnen, daß ich
ihn nicht zum Miniſter vorſchlagen könne; die ungnädige Ver¬
urtheilung, die ich durch das Schreiben erfahren hätte, nöthige
mich, mein Abſchiedsgeſuch vom Frühjahr zu erneuern. Dieſe
[184/0208]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
Correſpondenz fand in den letzten Tagen des Jahres 1877 ſtatt,
und meine neue Erkrankung fiel grade in die Neujahrsnacht.
Der Kaiſer antwortete mir auf das Schreiben Roons, er ſei
über das Sachverhältniß getäuſcht worden und wünſche, daß ich
ſeinen vorhergehenden Brief als nicht geſchrieben betrachte. Jede
weitre Verhandlung mit Bennigſen verbot ſich durch dieſen Vor¬
gang von ſelbſt, ich hielt es aber in unſerm politiſchen Intereſſe
nicht für zweckmäßig, Letztern von der Beurtheilung in Kenntniß
zu ſetzen, die ſeine Perſon und Candidatur bei dem Kaiſer ge¬
funden hatte. Ich ließ die für mich definitiv abgeſchloſſene Unter¬
handlung äußerlich in suspenso; als ich dann wieder in Berlin war,
ergriff Bennigſen die Initiative, um die ſeiner Meinung nach noch
ſchwebende Angelegenheit in freundſchaftlicher Form zum negativen
Abſchluß zu bringen. Er fragte mich im Reichstagsgebäude, ob es
wahr ſei, daß ich das Tabakmonopol einzuführen ſtrebe, und er¬
klärte auf meine bejahende Antwort, daß er dann die Mitwirkung
als Miniſter ablehnen müſſe. Ich verſchwieg ihm auch dann noch,
daß mir jede Möglichkeit, mit ihm zu verhandeln, durch den Kaiſer
ſchon ſeit Neujahr abgeſchnitten war. Vielleicht hatte er ſich auf
anderm Wege überzeugt, daß ſein Plan einer grundſätzlichen Modi¬
fication der Regirungspolitik im Sinne der nationalliberalen An¬
ſchauungen bei dem Kaiſer auf unüberwindliche Hinderniſſe ſtoßen
würde, namentlich ſeit einer von Stauffenberg gehaltenen Rede
über die Nothwendigkeit der Abſchaffung des Art. 109 der preußi¬
ſchen Verfaſſung (Forterhebung der Steuern).
Wenn die nationalliberalen Führer ihre Politik geſchickt be¬
trieben hätten, ſo hätten ſie längſt wiſſen müſſen, daß bei dem
Kaiſer, deſſen Unterſchrift ſie zu ihrer Ernennung bedurften und
begehrten, es keinen empfindlicheren politiſchen Punkt gab als dieſen
Artikel, und daß ſie ſich den hohen Herrn nicht ſichrer entfremden
konnten als durch den Verſuch, ihm dieſes Palladium zu entreißen.
Als ich Sr. Majeſtät vertraulich den Verlauf meiner Verhandlungen
mit Bennigſen erzählte und deſſen Wunſch in Betreff Stauffenbergs
[185/0209]
Abbruch der Verhandlungen. „Regiment Stauffenberg“.
erwähnte, war der Kaiſer noch unter dem Eindrucke der Rede des
Letztern und ſagte, indem er mit dem Finger auf ſeine Schulter
deutete, wo auf der Uniform die Regimentsnummer ſitzt: „Nro. 109
Regiment Stauffenberg“. Wenn der Kaiſer damals den von mir
zur Herſtellung der Uebereinſtimmung mit der Reichstagsmajorität
gewünſchten Eintritt Bennigſens genehmigt und ſelbſt wenn der
Letztre bald die Unmöglichkeit eingeſehn hätte, das Cabinet und
den König in ſeine Fractionsrichtung zu bringen, ſo würden ſich
doch, wie ich heut überzeugt bin, die einigermaßen doctrinäre Schärfe
des Fractionsprogramms und die Empfindlichkeit der monarchiſchen
Auffaſſung des Kaiſers nicht lange mit einander vertragen haben.
Damals war ich deſſen nicht ſo ſicher geweſen, um nicht den Verſuch
zu machen, ob ich Se. Majeſtät bewegen könnte, ſich der national¬
liberalen Auffaſſung zu nähern. Die Schärfe des Widerſtandes,
die allerdings durch Eulenburgs feindliche Einwirkung geſteigert
worden war, übertraf meine Erwartung, obſchon mir bekannt war,
daß der Kaiſer gegen Bennigſen und ſeine frühere Thätigkeit in
Hanover eine inſtinctive monarchiſche Abneigung hegte. Obwohl
die nationalliberale Partei in Hanover und die Wirkſamkeit ihres
Führers vor und nach 1866 die „Verſtaatlichung“ Hanovers weſent¬
lich erleichtert hatte, und der Kaiſer ebenſo wenig wie ſein Vater
1805 eine Neigung hatte, dieſen Erwerb rückgängig zu machen, ſo
war der fürſtliche Inſtinct in ihm doch herrſchend genug, um ſolches
Verhalten eines hanöverſchen Unterthanen gegen die welfiſche
Dynaſtie mit innerlichem Unbehagen zu beurtheilen.
Es iſt eine der vielen unwahren Legenden, daß ich die National¬
liberalen hätte „an die Wand drücken“ wollen. Im Gegentheil,
die Herrn verſuchten es ſo mit mir zu machen. Durch den Bruch
mit den Conſervativen infolge der ganzen Verleumdungsära durch
die „Reichsglocke“ und die „Kreuzzeitung“ und der Kriegserklärung,
die unter Führung meines mißvergnügten frühern Freundes Kleiſt-
Retzow erfolgte, durch das neidiſche Uebelwollen meiner Standes¬
genoſſen, der Landjunker, durch alle dieſe Verluſte von Anlehnungen,
[186/0210]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
durch die Feindſchaften am Hofe, die katholiſchen und weiblichen
Einflüſſe daſelbſt waren meine Stützpunkte außerhalb der national¬
liberalen Fraction ſchwächer geworden und beſtanden allein in dem
perſönlichen Verhältniß des Kaiſers zu mir. Die Nationalliberalen
nahmen davon nicht etwa einen Anlaß, unſre gegenſeitigen Be¬
ziehungen dadurch zu ſtärken, daß ſie mich unterſtützten, ſondern
machten im Gegentheil den Verſuch, mich gegen meinen Willen in
das Schlepptau zu nehmen. Zu dieſem Zwecke wurden Beziehungen
zu mehren meiner Collegen angeknüpft; durch die Miniſter Frieden¬
thal und Botho Eulenburg, welcher Letztre das Ohr meines Ver¬
treters im Präſidium, des Grafen Stolberg hatte, wurden ohne
mein Wiſſen amtliche Verſtändigungen mit den Präſidien beider
Parlamente nicht nur bezüglich der Sitzungs- und Vertagungs¬
fragen, ſondern auch in Betreff materieller Vorlagen gegen meinen,
den Collegen bekannten Willen eingeleitet. Der Geſammtandrang
auf meine Stellung, das Streben nach Mitregentſchaft oder Allein¬
herrſchaft an meiner Stelle, das ſich in dem Plane ſelbſtändiger
Reichsminiſter und in den erwähnten Heimlichkeiten verrathen hatte,
trat handgreiflich zu Tage in der Conſeilſitzung, die der Kronprinz
als Vertreter ſeines verwundeten Vaters am 5. Juni 1878 ab¬
hielt, um über die Auflöſung des Reichstags nach dem Nobiling¬
ſchen Attentate zu beſchließen. Die Hälfte meiner Collegen oder
mehr, jedenfalls die Majorität des Miniſteriums und des Conſeils,
ſtimmte abweichend von meinem Votum gegen die Auflöſung und
machte dafür geltend, daß der vorhandene Reichstag, nachdem das
Nobilingſche Attentat auf das Hödelſche gefolgt ſei, bereit ſein
werde, ſeine jüngſte Abſtimmung zu ändern und der Regirung ent¬
gegen zu kommen. Die Zuverſicht, die meine Collegen bei dieſer
Gelegenheit kundgaben, beruhte offenbar auf vertraulicher Verſtändi¬
gung zwiſchen ihnen und einflußreichen Parlamentariern, während
mir gegenüber kein Einziger von den letztern auch nur eine Aus¬
ſprache verſucht hatte. Es ſchien, daß man ſich über die Theilung
meiner Erbſchaft bereits verſtändigt hatte.
[187/0211]
Verbündete der Nationalliberalen im Miniſterium.
Ich war ſicher, daß der Kronprinz, auch wenn alle meine
Collegen andrer Anſicht geweſen wären, die meinige annehmen
werde, abgeſehn von der Zuſtimmung, die ich unter den 20 oder
mehr zugezogenen Generalen und Beamten, wenigſtens bei den
erſtern fand. Wenn ich überhaupt Miniſter bleiben wollte, was
ja eine Opportunitätsfrage geſchäftlicher ſowohl wie perſönlicher
Natur war, die ich bei eigner Prüfung mir bejahte, ſo befand ich
mich im Stande der Nothwehr und mußte ſuchen, eine Aenderung
der Situation im Parlament und in dem Perſonalbeſtande meiner
Collegen herbeizuführen. Miniſter bleiben wollte ich, weil ich, wenn
der ſchwer verwundete Kaiſer am Leben bliebe, was bei dem ſtarken
Blutverluſt in ſeinem hohen Alter noch unſicher, feſt entſchloſſen
war, ihn nicht gegen ſeinen Willen zu verlaſſen, und es als Gewiſſens¬
pflicht anſah, wenn er ſtürbe, ſeinem Nachfolger die Dienſte, die
ich ihm vermöge des Vertrauens und der Erfahrung, die ich mir
erworben hatte, leiſten konnte, nicht gegen ſeinen Willen zu ver¬
ſagen. Nicht ich habe Händel mit den Nationalliberalen geſucht,
ſondern ſie haben im Complot mit meinen Collegen mich an die
Wand zu drängen verſucht. Die geſchmackloſe und widerliche Redens¬
art von dem „an die Wand drücken, bis ſie quietſchten“, hat niemals
in meinem Denken, geſchweige denn auf meiner Lippe Platz ge¬
funden — eine der lügenhaften Erfindungen, mit denen man poli¬
tiſchen Gegnern Schaden zu thun ſucht. Obenein war dieſe Redens¬
art nicht einmal eignes Product derer, welche ſie verbreiteten, ſon¬
dern ein ungeſchicktes Plagiat. Graf Beuſt erzählt in ſeinen Me¬
moiren („Aus drei Viertel-Jahrhunderten“ Thl. I S. 5):
„Die Slaven in Oeſterreich haben mir das beiläufig nie von
mir geſprochene Wort aufgebracht, ‚man müſſe ſie an die Wand
drücken‘. Der Urſprung dieſes Wortes war folgender: Der frühere
Miniſter, ſpätere Statthalter von Galizien, Graf Goluchowſki, pflegte
ſich mit mir in franzöſiſcher Sprache zu unterhalten. Seinen Be¬
mühungen war es vorzugsweiſe zu danken, daß nach meiner Ueber¬
nahme des Miniſterpräſidiums 1867 der galiziſche Landtag vor¬
[188/0212]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
behaltlos für den Reichsrath wählte. Damals hatte ich zu Graf
Goluchowſki geſagt: ,Si cela se fait, les Slaves sont mis au pied
du mur‘ — eine von der obigen ſehr verſchiedene Aeußerung.“
Ich habe unter meinen Argumenten für Auflöſung beſonders
geltend gemacht, daß dem Reichstage ohne Verletzung ſeines An¬
ſehns die Zurücknahme ſeines Beſchluſſes nur durch vorgängige Auf¬
löſung möglich gemacht werden könne. Ob hervorragende National¬
liberale damals die Abſicht hatten, nur meine Collegen oder meine
Nachfolger zu werden, kann unentſchieden bleiben, da erſtres immer
den Uebergang zu der andern Alternative bilden konnte; den zweifels¬
freien Eindruck aber hatte ich, daß zwiſchen einigen meiner Collegen,
einigen Nationalliberalen und einigen Leuten von Einfluß am Hofe
und im Centrum über die Theilung meiner politiſchen Erbſchaft die
Verhandlungen bis zur Verſtändigung oder nahezu ſo weit gediehn
waren. Dieſe Verſtändigung bedingte ein ähnliches Aggregat wie in
dem Miniſterium Gladſtone zwiſchen Liberalismus und Katholicis¬
mus. Der Letztre reichte durch die nächſten Umgebungen der Kaiſerin
Auguſta, einſchließlich des Einfluſſes der „Reichsglocke“, des Haus¬
miniſters von Schleinitz bis in das Palais des alten Kaiſers; und bei
ihm fand der Geſammtangriff gegen mich einen thätigen Bundes¬
genoſſen in dem General von Stoſch. Derſelbe hatte auch am kron¬
prinzlichen Hofe eine gute Stellung, theils direct durch eignes Talent,
theils mit Hülfe des Herrn von Normann und ſeiner Frau, mit
denen er ſchon von Magdeburg her vertraut war und deren Ueber¬
ſiedlung nach Berlin er vermittelt hatte.
IV.
Bei dem Plane, mich durch ein Cabinet Gladſtone zu erſetzen,
war auf den Grafen Botho Eulenburg gerechnet, ſeit dem 31. März
1878 Miniſter des Innern, welchem ſeine Verwandſchaft den traditio¬
nellen Hofeinfluß ſeiner und der Dönhoffſchen Familie ſicherte. Er
[189/0213]
Miniſterium Gladſtone. Differenz mit B. Eulenburg.
iſt geſcheidt, elegant, eine vornehmere Natur als Harry von Arnim,
glatter polirt als Robert Goltz; aber ich habe auch mit ihm das
Erlebniß gehabt, daß begabte Mitarbeiter und eventuelle Nach¬
folger, die ich heranzuziehn ſuchte, mir ihr Wohlwollen nicht dauernd
bewahrten.
Meine Beziehungen zu ihm wurden zuerſt geſchädigt durch einen
Ausbruch der Empfindlichkeit, die bei ihm äußerlich durch die volle
Höflichkeit guter Erziehung verdeckt wurde, aber doch von einer für
den geläufigen und vertraulichen Geſchäftsverkehr ſtörenden Schärfe
war. Mein damaliger Beiſtand für vertrauliche Geſchäfte, der Ge¬
heim-Rath Tiedemann, veranlaßte durch die Form, in der er einen
Auftrag während meiner Abweſenheit von Berlin bei dem Grafen
ausrichtete, dieſen zu einer mir unerwarteten brieflichen Exploſion.
Da mein Auftrag an Tiedemann ein ſachliches und noch lebendiges
Intereſſe hat, ſo laſſe ich die Correſpondenz folgen.
„Kiſſingen, den 15. Auguſt 1878.
Eure Hochwohlgeboren bitte ich, Herrn Miniſter Grafen Eulen¬
burg und Herrn Geheim-Rath Hahn mein Bedauern darüber aus¬
zuſprechen, daß der Entwurf des Socialiſtengeſetzes in der Provinzial-
Correſpondenz amtlich publicirt worden iſt, bevor er im Bundesrath
vorgelegt war. Die Veröffentlichung präjudicirt jeder Amendirung
durch uns und iſt für Baiern und andre Diſſentirende verletzend.
Nach meinen Verhandlungen von hier aus mit Baiern muß ich
annehmen, daß letztres an ſeinem Widerſpruche gegen das Reichs¬
amt unbedingt feſthält. Würtemberg und, wie ich höre, auch Sachſen
widerſprechen dem Reichsamt nicht im Prinzip, wohl aber an¬
gebrachter Maßen, indem ſie die Zuziehung von Richtern perhorres¬
ciren. Dieſem Widerſpruche kann ich mich perſönlich nur anſchließen.
Es handelt ſich nicht um richterliche, ſondern um politiſche Functionen,
und auch das preußiſche Miniſterium darf in ſeinen Vorentſcheidungen
nicht einem richterlichen Collegium unterſtellt und auf dieſe Weiſe
für alle Zukunft in ſeiner politiſchen Bewegung gegen den Socialis¬
[190/0214]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
mus lahm gelegt werden. Die Functionen des Reichsamts können
nach meiner Auffaſſung nur durch den Bundesrath entweder direct
oder durch Delegation an einen jährlich zu wählenden Ausſchuß
geübt werden. Der Bundesrath repräſentirt die Regirungsgewalt
der Geſammt-Souveränetät von Deutſchland, dabei etwa dem Staats¬
rathe unter andern Verhältniſſen entſprechend.
Bisher muß ich indeſſen annehmen, daß Baiern auf dieſen
für Würtemberg, Sachſen und für mich perſönlich annehmbaren
Ausweg nicht eingehn wird. Auch die Klauſel in Nro. 3 Artikel 23,
daß nur arbeitsloſe Individuen ausgewieſen werden dürfen, iſt für
den Zweck ungenügend.
Ferner bedarf das Geſetz meines Erachtens eines Zuſatzes in
Betreff der Beamten dahingehend, daß Betheiligung an ſocialiſtiſcher
Politik die Entlaſſung ohne Penſion nach ſich zieht. Die Mehr¬
zahl der ſchlecht bezahlten Subalternbeamten in Berlin, und dann
der Bahnwärter, Weichenſteller und ähnlicher Kategorien ſind Socia¬
liſten, eine Thatſache, deren Gefährlichkeit bei Aufſtänden und
Truppentransporten einleuchtet.
Ich halte ferner, wenn das Geſetz wirken ſoll, für die Dauer
nicht möglich, den geſetzlich als Socialiſten erweislichen Staats¬
bürgern das Wahlrecht und die Wählbarkeit und den Genuß der
Privilegien der Reichstagsmitglieder zu laſſen.
Alle dieſe Verſchärfungen werden, nachdem einmal die mildere
Form in allen Zeitungen gleichzeitig bekannt gegeben, denſelben
alſo wohl amtlich mitgetheilt iſt, im Reichstage ſehr viel weniger
Ausſicht haben, als der Fall ſein könnte, wenn eine mildere Verſion
nicht amtlich bekannt geworden wäre.
Die Vorlage, ſo wie ſie jetzt iſt, wird praktiſch dem Socia¬
lismus nicht Schaden thun, zu ſeiner Unſchädlichmachung keinesfalls
ausreichen, namentlich da ganz zweifellos iſt, daß der Reichstag
von jeder Vorlage etwas abhandelt. Ich bedaure, daß meine Ge¬
ſundheit mir abſolut verbietet, mich jetzt ſofort an den Verhand¬
lungen des Bundesrathes zu betheiligen, und muß mir vorbehalten,
[191/0215]
Differenz mit Graf B. Eulenburg.
meine weitern Anträge im Bundesrathe im Hinblick auf die ordent¬
liche Reichstagsſeſſion im Winter zu ſtellen.
v. Bismarck.“
„Berlin, den 18. Auguſt 1878.
Eure Durchlaucht
haben den Geheimen Regierungsrath Tiedemann beauftragt, mir
und dem Geheimen Rath Hahn Ihr Bedauern darüber auszuſprechen,
daß der Entwurf des Socialiſtengeſetzes in der Provinzial-Corre¬
ſpondenz amtlich publicirt worden iſt, ehe er im Bundesrath vor¬
gelegt war. Den Geheimen Rath Hahn trifft hierbei keine Ver¬
antwortlichkeit, da er nicht ohne meine Zuſtimmung gehandelt hat.
Letztere habe ich erſt ertheilt, nachdem Abends zuvor die den
Entwurf enthaltende Druckſache des Bundesraths ohne beſondere
Anempfehlung discreter Behandlung ausgegeben und mir Seitens
des Herrn Präſidenten des Reichskanzleramts mitgetheilt worden
war, daß unter dieſen Umſtänden die Veröffentlichung des Ent¬
wurfs durch die Zeitungen am folgenden, alſo an demſelben Tage,
an welchem die Provinzial-Correſpondenz erſchien, mit Sicherheit
zu erwarten ſei, eine Annahme, welche ſich demnächſt als völlig
zutreffend erwieſen hat. Die Sitzung des Bundesraths fand am
14. d. M. Nachmittags 2 Uhr ſtatt, die Provinzial-Correſpondenz
wurde an demſelben Tage Nachmittags ausgegeben; die Mittheilung
des Inhalts des Geſetzentwurfs in derſelben hat alſo nicht früher
ſtattgefunden, als die Vorlegung des Entwurfs im Bundesrathe.
Ob es dennoch beſſer geweſen wäre, jene Mittheilung in der
Provinzial-Correſpondenz zu unterlaſſen, habe ich nicht die Abſicht
weiter zu erörtern. Ew. Durchlaucht erleuchtetes Urtheil zu ver¬
nehmen, wird mir ſtets von hohem Werthe ſein, auch wenn daſſelbe
von dem meinigen abweicht. Dagegen kann ich es nicht ſtillſchwei¬
gend hinnehmen, daß Ew. Durchlaucht Ihr Mißfallen mir durch
Einen Ihrer Untergebenen haben eröffnen und die darin liegende
Mißachtung meiner Stellung um ſo ſchärfer haben hervortreten
[192/0216]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
laſſen, als Sie mich hierbei mit Einem meiner Untergebenen auf
Eine Linie ſtellten. Das Verletzende dieſes Verfahrens ſpringt ſo
ſehr in die Augen, daß die Annahme der Abſichtlichkeit und die
hieran nothwendiger Weiſe ſich knüpfende Gedankenreihe nahe
liegen. Der letzteren Folge zu geben, werde ich nicht zögern, ſo¬
bald ich mich überzeuge, daß dieſe Annahme zutrifft. Indem ich
einſtweilen davon ausgehe, daß dies nicht der Fall iſt, beſchränke
ich mich darauf, Ew. Durchlaucht dringend zu bitten, ein ähnliches
Verfahren nicht wiederkehren zu laſſen.
Mit ꝛc. Graf Eulenburg.“
„Gaſtein, den 20. Auguſt 1878.
Eure Excellenz haben, wie ich aus dem geehrten Schreiben
vom 18. entnehme, die, wie es ſcheint, wenig vorſichtige, mir jeden¬
falls unerwartete Folge, die der Geheim-Rath Tiedemann meiner
vertraulichen und formloſen Aeußerung gegeben hat, mir mit vollem
Gewichte zur Laſt geſchrieben, ohne mir auch nur das Beneficium
der Unvollkommenheit des Geſchäftsganges bei eingreifender Bade¬
kur zu gewähren. Nach Inhalt Ihres Schreibens bin ich unter
dem Eindruck, daß Ihnen gegenüber eine Tactloſigkeit in der Form
begangen iſt, für die ich Sie um Verzeihung bitte, obſchon ich ſie
nicht verſchuldet, höchſtens ermöglicht habe. Daß Eurer Excellenz
dabei der Gedanke an eine Abſichtlichkeit meinerſeits hat nahe treten
können, iſt mir unerwartet und betrübend, indem ich die freund¬
ſchaftliche Natur unſrer perſönlichen Beziehungen zu einander zu
geſichert glaubte, um ein derartiges Mißverſtändniß aufkommen
zu laſſen.
Mit ꝛc. v. Bismarck.“
Es iſt bekannt, unter welchen Umſtänden Graf Eulenburg
im Februar 1881 ſeinen Abſchied nahm, und daß er im Auguſt
deſſelben Jahres zum Oberpräſidenten in Kaſſel ernannt wurde.
[193/0217]
Differenz mit B. Eulenburg. Ein Traum des Kaiſers.
An ſeinen Namen knüpft ſich folgender Briefwechſel zwiſchen
Sr. Majeſtät und mir. Den Gegenſtand meines darin erwähnten
Vortrags vom 17. December 1881 habe ich nicht zu ermitteln
vermocht.
„Berlin, den 18. December 1881.
Einen eigenthümlichen Traum muß ich Ihnen erzählen, den
ich dieſe Nacht träumte, ſo klar, wie ich ihn hier mittheile.
Der Reichstag trat nach den jetzigen Ferien zum erſten Mal
zuſammen. Während der Discussion trat der Graf Eulenburg ein;
ſogleich ſchwieg die Discussion; nach einer langen Pauſe ertheilte
der Präſident dem letzten Redner von Neuem das Wort. Schweigen!
Der Präſident hebt die Sitzung auf. Nun entſteht ein Tumult und
Geſchrei. Keinem Mitgliede darf ein Orden während der Session
des Reichstags ertheilt werden; der Monarch darf nicht in der
Session genannt werden. Andern Tages Sitzung. Eulenburg
erſcheint und wird mit ſolchem Ziſchen und Lärm empfangen —
darüber erwache ich in einer nervöſen Agitation, daß ich lange
mich nicht erholen konnte und zwei Stunden von ½5 bis ½7 Uhr
nicht ſchlafen konnte.
Das alles geſchah in meiner Gegenwart im Hauſe ſo klar,
wie ich es hier niederſchreibe.
Ich will nicht hoffen, daß der Traum ſich realisire, aber eigen¬
thümlich bleibt die Sache. Da dieſer Traum erſt nach dem ſechs¬
ſtündigen ruhigen Schlaf eintrat, ſo könnte er doch keine unmittel¬
bare Folge unſerer Unterredung ſein.
Enfin ich mußte Ihnen dieſe Curioſität doch erzählen.
Ihr
Wilhelm.“
„Berlin, den 18. December 1881.
Eurer Majeſtät danke ich ehrfurchtsvoll für das huldreiche Hand¬
ſchreiben. Ich glaube doch, daß der Traum das Ergebniß nicht grade
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 13
[194/0218]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
meines vorhergehenden Vortrages, aber doch der Geſammtheit der
Eindrücke der letzten Tage, auf Grund der mündlichen Berichte von
Puttkamer, der Zeitungsartikel und meines Vortrags war. Die Bilder
des Wachens tauchen im Spiegel des Traumes nicht ſofort, ſondern
erſt dann wieder auf, wenn der Geiſt durch Schlaf und Ruhe ſtill ge¬
worden iſt. Eurer Majeſtät Mittheilung ermuthigt mich zur Erzählung
eines Traumes, den ich Frühjahr 1863 in den ſchwerſten Conflicts¬
tagen hatte, aus denen ein menſchliches Auge keinen gangbaren Aus¬
weg ſah. Mir träumte, und ich erzählte es ſofort am Morgen
meiner Frau und andern Zeugen, daß ich auf einem ſchmalen
Alpenpfad ritt, rechts Abgrund, links Felſen; der Pfad wurde
ſchmaler, ſo daß das Pferd ſich weigerte, und Umkehr und Abſitzen
wegen Mangel an Platz unmöglich; da ſchlug ich mit meiner Gerte
in der linken Hand gegen die glatte Felswand und rief Gott an;
die Gerte wurde unendlich lang, die Felswand ſtürzte wie eine
Couliſſe und eröffnete einen breiten Weg mit dem Blick auf Hügel
und Waldland wie in Böhmen, Preußiſche Truppen mit Fahnen
und in mir noch im Traume der Gedanke, wie ich das ſchleunig
Eurer Majeſtät melden könnte. Dieſer Traum erfüllte ſich, und ich
erwachte froh und geſtärkt aus ihm.
Der böſe Traum, aus dem Eure Majeſtät nervös und agitirt
erwachten, kann doch nur ſo weit in Erfüllung gehn, daß wir noch
manche ſtürmiſche und lärmende Parlamentsſitzung haben werden,
durch welche die Parlamente ihr Anſehn leider untergraben und die
Staatsgeſchäfte hemmen; aber Eurer Majeſtät Gegenwart dabei iſt
nicht möglich, und ich halte dergleichen Erſcheinungen wie die letzten
Reichstagsſitzungen zwar für bedauerlich als Maßſtab unſrer Sitten
und unſrer politiſchen Bildung, vielleicht unſrer politiſchen Be¬
fähigung; aber für kein Unglück an ſich: l'excès du mal en devient
le remède.
Verzeihn Eure Majeſtät mit gewohnter Huld dieſe durch Aller¬
höchſtdero Schreiben angeregte Ferienbetrachtung; denn ſeit geſtern
bis zum 9. Januar haben wir Ferien und Ruhe.“
[195/0219]
Ein Traum als Offenbarung. Nervenkriſis. Roons Präſidium.
Die Beſchwerde des Grafen Eulenburg über Tiedemann und die
darin ſofort geſtellte Cabinetsfrage waren mir in ihrer Form um
ſo mehr auf die Nerven gefallen, als ich an den Folgen einer
ſchweren Erkrankung litt, die durch die Einwirkung der auf den Kaiſer
gemachten Attentate und den gleichzeitigen Zwang zur Arbeit in
dem Präſidium des Berliner Congreſſes hervorgerufen, zwar aus
amtlichem Pflichtgefühle zurückgedrängt, aber durch die Gaſteiner
Kur mehr verſchärft als geheilt war. Dieſe Kur, der mein Mit¬
arbeiter, der Staatsminiſter Bernhard von Bülow, am 20. October
1879 erlag, wirkt auf überarbeitete Nerven nicht beruhigend, wenn
ſie durch Arbeit oder Gemüthsbewegung geſtört wird.
Unmittelbar nach meiner Rückkehr nach Berlin hatte ich die
Vorlage des Socialiſtengeſetzes im Reichstage zu vertreten und fand
dabei die Erfahrung beſtätigt, daß die oratoriſche Leiſtung auf der
Tribüne eine geringere Nervenanſtrengung erfordert als die Correctur
einer langen ſchnell geſprochenen Rede, deren Wortlaut an leitender
Stelle vertreten werden ſoll. Während einer ſolchen Correctur
kam bei mir eine ſeit Monaten vorbereitete Nervenkriſis körperlich
zum Ausbruche, glücklicherweiſe in der leichtern Form der Neſſelſucht.
Die Aufgaben eines leitenden Miniſters einer europäiſchen
Großmacht mit parlamentariſcher Verfaſſung ſind an ſich hin¬
reichend aufreibender Natur, um die Arbeitsfähigkeit eines Mannes
zu abſorbiren; ſie werden es in höherm Maße, wenn der Miniſter,
wie in Deutſchland und Italien, einer Nation über das Stadium
ihrer Ausbildung hinwegzuhelfen und wie bei uns mit einem ſtarken
Iſolirungstrieb der Parteien und Individuen zu kämpfen hat. Wenn
man Alles, was der Menſch an Kräften und Geſundheit beſitzt,
an die Löſung ſolcher Aufgaben ſetzt, ſo iſt man gegen alle Er¬
ſchwerungen derſelben, welche nicht ſachlich nothwendig ſind, doppelt
empfindlich. Ich glaubte ſchon zu Anfang der 70er Jahre mit
meiner Geſundheit zu Ende zu ſein und überließ deshalb das Prä¬
ſidium des Cabinets dem einzigen mir perſönlich Naheſtehenden
unter meinen Collegen, dem Grafen Roon, wurde aber damals
[196/0220]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
nicht durch ſachliche Schwierigkeiten entmuthigt. Um letztres her¬
beizuführen, mußte die feindliche Intrige der Kreiſe hinzutreten,
auf deren Unterſtützung ich vorzugsweiſe glaubte rechnen zu können,
und die ſich zur Zeit der „Reichsglocke“ in den Beziehungen der
durch dieſes Blatt vertretenen Elemente in erſter Linie zum Hofe
und den Conſervativen und zu vielen meiner amtlichen Mitarbeiter
kennzeichnete. Die Thatſache, daß ich bei dem mir ſonſt ſo gnä¬
digen Monarchen keinen genügenden Beiſtand gegen die Hof- und
Hauseinflüſſe des Reichsglockenringes fand, hatte mich am meiſten
entmuthigt und das Gewicht der Erwägungen vervollſtändigt, die
mich zu meinem Abſchiedsgeſuche vom 27. März 1877 bewogen
hatten. Die Gürtelroſe, an welcher ich krank war, als Graf
Schuwalow 1878 von mir die Berufung des Congreſſes verlangte,
kennzeichnete den Fehlbetrag in dem damaligen Zuſtande meiner
Geſundheit, war eine Quittung über Erſchöpfung der Nerven.
Mehr als die „Reichsglocke“ und deren Zubehör am Hofe hatte
daran der Mangel an Aufrichtigkeit in der Mitwirkung einiger
meiner amtlichen Mitarbeiter Antheil. Meine Vertretung durch
das Vicepräſidium des Grafen Stolberg nahm durch den Einfluß,
den die Miniſter Friedenthal und dann Graf Botho Eulenburg
auf meinen Vertreter ausübten, eine Geſtalt an, die mir ſchlie߬
lich den Eindruck machte, daß ich mich einem Syſteme allmäligen
Abdrängens von den Geſchäften der politiſchen Leitung gegenüber
befand. Das Symbol dieſes Syſtems machte ſich in der That¬
ſache kenntlich, daß die amtlichen Kundgebungen des Staatsmini¬
ſteriums aus der damaligen Zeit meiner Mitunterſchrift entbehrten.
Es geſchah das nicht auf meinen Wunſch oder mit meiner Zu¬
ſtimmung, ſondern unter Benutzung meiner Gleichgültigkeit gegen
Aeußerlichkeiten, und ich habe dieſe Vorgänge ungerügt gelaſſen,
bis ich über die ſyſtematiſche Abſichtlichkeit derſelben keinen Zweifel
mehr haben konnte.
Die auf ſpätere Ereigniſſe Licht werfenden Einzelnheiten ge¬
hören nicht alle in die Situation zur Zeit der Conſeilſitzung im
[197/0221]
Syſtematiſche Abdrängung von den Geſchäften.
Juni 1878, aber ſie beleuchten zum Theil retroſpectiv die damalige
Lage und ihre Triebfedern. Graf Botho Eulenburg als Miniſter
des Innern gab damals auf der Tribüne des Landtags ohne
Zwang ſein Wohlwollen für den Abgeordneten Rickert gegenüber
einem Artikel der „Nordd. Allg. Ztg.“ mit abſichtlicher Klarheit
zu erkennen, für mich um ſo einleuchtender, als ich keinen Zweifel
hatte, daß er jenen von ihm gemißbilligten Artikel mit mir in
Verbindung brachte. Wie in der Nacht beim Gewitter jeder Blitz
die Gegend deutlich zeigt, ſo geſtatteten auch mir einzelne Schach¬
züge meiner Gegner die Geſammtheit der Situation zu überblicken,
die durch äußerlich achtungsvolle Kundgebungen von perſönlichem
Wohlwollen bei thatſächlicher Boycottirung erzeugt wurde. Ob
ein Cabinet Gladſtone, deſſen Miſſion durch die Namen Stoſch,
Eulenburg, Friedenthal, Camphauſen, Rickert und beliebige Ab¬
ſchwächungen des Gattungsbegriffs „Windthorſt“ mit katholiſchen
Hofeinflüſſen bezeichnet werden kann, wenn es gelang, daſſelbe
zu Stande zu bringen, in ſich haltbar geweſen wäre, iſt eine
Frage, die ſich die Intereſſenten wohl nicht vorgelegt hatten; der
Hauptzweck war der negative, mich zu beſeitigen, und über den
waren einſtweilen die Inhaber der Antheilſcheine auf die Zukunft
einig. Jeder konnte nachher wieder hoffen, den Andern hinaus¬
zudrängen, wie das bei uns im Syſtem aller der heterogenen
Coalitionen liegt, die nur in der Abneigung gegen das Beſtehende
einig ſind. Die ganze Combination hatte damals keinen Erfolg,
weil weder der König noch der Kronprinz dafür zu gewinnen
waren. Ueber die Beziehungen des Letztern zu mir waren die
ſtrebenden Gegner damals wie ſpäter 1888 ſtets falſch unter¬
richtet. Er hatte bis an ſein Lebensende daſſelbe Vertrauen zu
mir wie ſein Vater, und die Neigung, es zu erſchüttern, erreichte
bei ſeiner Gemalin niemals dieſelbe kampfbereite Entſchiedenheit
wie bei der Kaiſerin Auguſta, die ſich auch in der Wahl der
Mittel freier bewegte.
Neben den aufreibenden Kämpfen perſönlicher Natur waren mir
[198/0222]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
ſachliche Schwierigkeiten und anſtrengende Arbeiten erwachſen aus
dem Bruche mit der Freihandelspolitik, den mein Brief an den
Freiherrn von Thüngen 1) über Schutzzoll ſymptomatiſch kennzeichnet,
dann aus der Seceſſion und dem Uebergange der Seceſſioniſten zu
dem Centrum. Ich verfiel in einen Geſundheitsbankrott, der
mich lähmte, bis Dr. Schweninger meine Krankheit richtig erkannte,
richtig behandelte und mir ein relatives Geſundheitsgefühl ver¬
ſchaffte, das ich ſeit vielen Jahren nicht mehr gekannt hatte.
V.
Herr von Gruner, während der Neuen Aera Unterſtaats¬
ſekretär in dem Miniſterium der Auswärtigen Angelegenheiten,
wurde bald nach meiner Uebernahme des Miniſteriums des Aus¬
wärtigen zur Diſpoſition geſtellt und durch Herrn von Thile erſetzt.
Er gehörte ſchon ſeit meiner Ernennung zum Bundesgeſandten zu
meinen Gegnern, da er dieſe Stellung als ein Erbtheil von ſeinem
Vater Juſtus Gruner angeſehn hatte; er blieb mir Feind und war
geſchäftlich unfähig. Im November 1863 richtete er an Se. Ma¬
jeſtät ein Schreiben über den Budgetſtreit in demſelben Sinne,
in dem der Oberſtlieutenant von Vincke auf Olbendorf (vergl.
Bd. I S. 303) und Roggenbach denſelben Schritt zu thun für gut
befunden hatten. Indem dieſe Herrn ihre Vorſchläge an den König
richteten, gingen ſie von der Vorausſetzung aus, daß derſelbe,
wenn er ihrem Rathe folgend, dem Abgeordnetenhauſe nachgäbe,
ein andres Miniſterium, wenigſtens einen andern Miniſterpräſidenten
und Miniſter des Auswärtigen berufen werde, ein Ergebniß, für
das außerhalb des öffentlichen Lebens Einflüſſe in Thätigkeit waren,
denen der Hausminiſter von Schleinitz mit andern dem Hofe nahe¬
ſtehenden Perſonen ſeine Dienſte widmete. Auch ſpäter lebte Herr
1) Vom 16. April 1879, Politiſche Reden VIII 54 f.
[199/0223]
Geſundheitsbankrott. Herr v. Gruner.
von Gruner in den Kreiſen, die 1876 die „Reichsglocke“ prote¬
girten und ſpeiſten.
Nachdem der Redacteur dieſes Blattes im Januar 1877 ver¬
urtheilt und ich im März das von Sr. Majeſtät abgelehnte Ab¬
ſchiedsgeſuch eingereicht hatte, kam es im Juni, während ich mich
zur Kur in Kiſſingen befand, im Geſchäftswege zu meiner Kenntniß,
daß Herr von Gruner in das Hausminiſterium berufen, zugleich
ohne Gegenzeichnung eines verantwortlichen Miniſters zum Wirk¬
lichen Geheimen Rath ernannt ſei, und daß Herr von Schleinitz
an den Curator des „Reichs- und Staats-Anzeigers“ das An¬
ſinnen geſtellt habe, dieſe Ernennung in dem amtlichen Blatte zu
publiciren.
Ich ſchrieb darüber unter dem 8. Juni an den Chef der
Reichskanzlei Geheim-Rath Tiedemann, zur Mittheilung an das
Staatsminiſterium:
„Meiner Anſicht nach iſt der amtliche Theil des Reichs-
und Staats-Anzeigers für ſolche Veröffentlichungen da, welche be¬
züglich der Reichs- und der Preußiſchen Staats-Angelegenheiten
unter Verantwortung des Reichskanzlers reſp. des Preußiſchen
Staatsminiſteriums erfolgen. Kommt die Ernennung Gruners ohne
Weitres in den amtlichen Theil, ſo kann ſelbſt durch die vorgängige
Erwähnung der Ueberweiſung an das Hausminiſterium die Prä¬
ſumtion nicht entkräftet werden, daß das Staatsminiſterium die Er¬
nennung Gruners zum Wirkl. Geheimen Rath mit ſeiner Ver¬
antwortlichkeit deckt. Die öffentliche Meinung und der Landtag
würden kaum annehmen, daß das Staatsminiſterium dieſe Aus¬
zeichnung ſeines notoriſchen Gegners gewünſcht habe; ſie würden
vielmehr die Wahrheit leicht errathen, daß das Staatsminiſterium
bei Hofe nicht das hinreichende Anſehn, bei Sr. Majeſtät nicht
den hinreichenden Einfluß gehabt habe, um dieſe Ernennung zu
hindern; man würde auch darüber garnicht zweifelhaft ſein, daß
dieſe im Staatsanzeiger veröffentlichte Ernennung eine vom Staats¬
miniſterium more solito contraſignirte geweſen ſei. Der Glaube,
[200/0224]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
daß das Staatsminiſterinm ſich im Beſitz des von der Verfaſſung
vorausgeſetzten Einfluſſes auf die Allerhöchſten Entſchließungen be¬
fände, würde auch dann nicht gefördert werden, wenn etwa die
ungnädige Allerhöchſte Randbemerkung und die darauf erfolgte Ant¬
wort des Staatsminiſteriums öffentlich bekannt würden. Man würde
in Verſuchung ſein, in Betreff von Inhalt und Wirkung Vergleiche
mit dem Vorgange in Frankreich anzuſtellen, der dort zu dem
jüngſten Miniſterwechſel führte.
Ich bin nicht ohne Beſorgniß, daß wir in dem Grunerſchen
Vorgange nur eine Sonde zu erblicken haben, die von Herrn von
Schleinitz und ſeinen Rathgebern (nicht von Sr. Majeſtät dem
Kaiſer) angelegt wird, um zu probiren, was man uns bieten kann
und wie hoch wir unſre miniſterielle Autorität anſchlagen. Meiner
Anſicht nach iſt Fügſamkeit gegen dieſe unberechtigten Einflüſſe auf
die Allerhöchſten Entſchließungen nicht das Mittel, ſie abzuſchneiden;
im Gegentheil, ſie werden wachſen, und der Conflict, der jetzt ein
blos formaler iſt, würde ſich auf ungünſtigern Feldern und unter
Hineinziehung großer Parteifragen demnächſt wiederholen.
Ich könnte mich nach meiner augenblicklichen Lage jeder amt¬
lichen Aeußerung enthalten, aber ich habe das Gefühl, daß die für
mich perſönlich doch ſehr wichtige Frage meines Wiedereintritts in die
Geſchäfte auf dieſem Wege auch ohne Rückſicht auf meine Geſund¬
heit präjudicirt werden würde. Da ich hoffe, daß meine Geſund¬
heit ſich beſſern wird, und da ich für dieſen Fall mir gern den
Wiedereintritt in die Geſchäfte, ſo weit er dem Allerhöchſten Willen
entſpricht, offen erhalte, ſo nehme ich ein perſönliches Intereſſe
daran, daß das Anſehn der miniſteriellen Stellung hinreichend ge¬
wahrt werde, um mir die Wiederaufnahme einer ſolchen nach meinem
Gewiſſen möglich zu erhalten.
Die richtige der Logik des erſten Beſchluſſes entſprechende Er¬
ledigung wäre meiner Anſicht nach die Ablehnung der von dem Haus¬
miniſter beantragten Veröffentlichung für den amtlichen Theil des
Staats-Anzeigers. Die amtliche Aufnahme iſt vor Mißdeutung in
[201/0225]
Gruners Ernennung zum Wirkl. Geh. Rathe.
der Oeffentlichkeit nicht zu ſchützen und bleibt immer ein partieller
Sieg der Reichsglocken-Intrige über die gegenwärtige Regirung.
Bekanntmachungen des Hausminiſteriums gehören an und für ſich
nicht in den ‚Reichs- und Staats-Anzeiger‘; ſoll letztrer außerdem
ein ‚Königlicher Haus-Anzeiger‘ ſein, ſo können doch meiner An¬
ſicht nach in ſeinem amtlichen Theile immer keine Anordnungen
des Hausminiſters Platz greifen, der keine Verantwortlichkeit für
den Inhalt des amtlichen Blattes trägt; dieſelben müßten immer
in der einen oder andern Geſtalt das von dem Hausminiſter nach¬
zuſuchende Placet des verantwortlichen Staatsminiſteriums erhalten,
bevor ſie abgedruckt werden. Dieſes Placet iſt im vorliegenden
Falle nicht nachgeſucht; der Hausminiſter hat ein Verfügungsrecht
über den Staats-Anzeiger in Anſpruch genommen, und wäre deshalb
ſein Verlangen angebrachtermaßen ſchon unter Anführung dieſes for¬
mellen Grundes abzulehnen. Geht ein Befehl zur Aufnahme einer
Angelegenheit des Königlichen Hauſes von Sr. Majeſtät dem Könige
ſelbſt aus, ſo wird ſeine Ausführung in den Fällen, welche die Regel
bilden, ja kein Bedenken haben; nur wird es ſich auch ſelbſt in unver¬
fänglichen Fällen empfehlen, die amtlichen Bekanntmachungen des
Königlichen Hauſes durch ihren Platz von denen des Staates geſondert
erſcheinen zu laſſen. Dieſe Sonderung wäre meines Erachtens in
der Art vorzunehmen, daß die das Königliche Haus angehenden
Allerhöchſten Anordnungen nicht promiscue mit denen des Staats¬
miniſteriums erſcheinen, ſondern es würde neben den beiden großen
amtlichen Rubriken des Staatsanzeigers ‚Deutſches Reich‘ und
‚Königreich Preußen‘, am höflichſten zwiſchen beiden, eventuell
auch nach ‚Königreich Preußen‘ eine dritte mit der Bezeichnung
‚Königliches Haus‘ einzuſchalten ſein, von den andern beiden Rubriken
ebenſo mittelſt durchgehender Striche geſchieden, wie jetzt ‚Preußen‘
und das ‚Reich‘. Damit ließe ſich die formale Frage für die
Zukunft erledigen, und in einer, wie mir ſcheint, nach keiner Seite
hin verletzenden Form.
Etwas andres iſt es aber, wenn eine Allerhöchſte Entſchließung
[202/0226]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
amtlich bekannt gemacht wird, welche in der Oeffentlichkeit, ungeachtet
der in den Acten verbleibenden Verſicherung des Gegentheils, das¬
jenige bekundet, was man im conſtitutionellen Sprachgebrauch Mangel
an Vertrauen des Monarchen zu ſeinen Miniſtern zu nennen pflegt.
Dagegen haben Miniſter natürlich kein andres Hülfsmittel, als
den Rücktritt aus ihrer Stellung. Unzweifelhaft trifft der vorliegende
Fall, ſoweit er dieſe Natur hat, mehr mich als meine Collegen.
Die letztern ſind von der Reichsglocke und andern Blättern, in
denen die Tendenzen der Herrn von Gruner, von Schleinitz, Graf
Neſſelrode, Nathuſius-Ludom vertreten wurden, theils garnicht, theils
doch nicht in dem Maße wie ich öffentlich verleumdet worden.
Eine Begnadigung des Herrn von Nathuſius, eine Auszeichnung
des Grafen Neſſelrode und des Herrn von Gruner grade in der
Zeit, wo die Verleumdungen des Organs dieſer Herrn gegen mich
die öffentliche Meinung und die Gerichte beſchäftigten, wo der Zu¬
ſammenhang jener Herrn mit dieſen Blättern offenkundig wurde,
enthalten einen Act Königlichen Wohlwollens für Leute, die durch
weiter nichts bekannt ſind, als durch ihre Feindſchaft gegen die
Regirung und durch öffentliche Verletzung meiner Ehre. Letztre
aber ſollte, ſo lange ich des Königs Diener bin, unter Sr. Majeſtät
Schutze ſtehn. Wird mir das Gegentheil dieſes Schutzes zu Theil,
ſo liegt ein perſönliches Motiv vor, welches mich viel gebieteriſcher
aus dem Dienſte vertreibt, als die Rückſicht auf meine Geſundheit
es jemals könnte. Dieſe Entſchließungsgründe liegen nur perſön¬
lich für mich vor, werden aber je nach der Entwicklung der Sache
für die Möglichkeit meines Wiedereintritts in die Geſchäfte ent¬
ſcheidend ſein.
Meinen Herrn Collegen ſtelle ich ergebenſt anheim, im In¬
tereſſe ihrer miniſteriellen Zukunft dafür Sorge tragen zu wollen,
daß die amtliche Publication von Gruners Ernennung, wenn Se.
Majeſtät nicht überhaupt darauf verzichten will, doch in einer Form
ſtattfinde, aus der die Nichtcontraſignatur zweifellos erſichtlich iſt.
Es würde dies in der oben vorgeſchlagenen Dreitheilung der Er¬
[203/0227]
Gruners Ernennung zum Wirkl. Geh. Rathe.
nennungen zwiſchen Reich, Preußen und Haus erreichbar ſein,
namentlich wenn die Preſſe dazu eine Erläuterung erhält. Em¬
pfehlen würde es ſich aber meines Erachtens, wenn die Anſtellung
Gruners im Hausminiſterium vorher in separato unter der Haus¬
miniſterial-Rubrik veröffentlicht und am andern Tage bekannt ge¬
geben würde, daß Se. Majeſtät geruht hätte, den im Hausmini¬
ſterium ꝛc. Angeſtellten den Titel eines Wirklichen Geheim-Raths ꝛc.
zu verleihn; eine etwas abweichende Geſtalt des Wortlauts der
Bekanntmachung von der ſonſt üblichen, wenn auch nur eine ganz
geringe, würde ſich immer empfehlen.“
Dieſem, an den Geheim-Rath Tiedemann gerichteten, unter
fliegendem Siegel an den Miniſter von Bülow beförderten Schreiben
fügte ich für Letztern mit dem Anheimſtellen vertraulicher Benutzung
bei den Collegen Folgendes hinzu:
„...Ich bin, wie ich glaube, von dem Vorgange in einem
ſtärkern Maße betroffen als meine Collegen; höchſtens Camphauſen
iſt außer mir noch von der Reichsglockenpartei verleumdet worden,
aber doch lange nicht mit dem Maße von Niedertracht, wie es mir
gegenüber geſchehn iſt. Man hat ihn ſachlich in Bezug auf ſein
Amt mit unwürdigen Mitteln angegriffen, aber doch ſeine perſön¬
liche Ehre nicht angetaſtet. Das Staatsminiſterium im Ganzen iſt
gewiß in der Lage, ſich durch die Form der Ernennung Gruners
verletzt zu finden und gegen dieſe Verletzung zu reagiren, um
ſeine Rechte und ſeine Würde für die Zukunft ſicher zu ſtellen.
Die Verletzung aber, die in der Thatſache der Ernennung
Gruners liegt, trifft weſentlich mich allein; ſeine langjährige Feind¬
ſchaft gegen mich perſönlich iſt es allein, welche die Aufmerkſam¬
keit auf ihn hat lenken können, denn er beſitzt weder Fähigkeiten
noch Verdienſte, war im Auswärtigen Amte durch ſeine, in wich¬
tigen Momenten an Geiſteskrankheit grenzende Unfähigkeit ein
Hinderniß und hat nunmehr ſeit 15 Jahren nichts geleiſtet, als
mit der ganzen Verbiſſenheit verkannter Selbſtüberſchätzung gegen
mich geſprochen, geſchrieben, intrigirt. Ich ſehe dabei für den
[204/0228]
Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.
Augenblick ganz davon ab, daß grade dieſe Reichsglocken-Elemente
mir die Erfüllung meiner Amtspflicht in einem meine Kräfte über¬
ſchreitenden Maße erſchweren. Ich ſpreche jetzt nur von dem
Schlag, der dadurch perſönlich gegen mich hat geführt werden
ſollen, daß dieſer Menſch Sr. Majeſtät hat mit Erfolg empfohlen
werden können. Wenn ich dem gegenüber in meinem Schreiben
an Tiedemann ſage, daß für meine Herrn Collegen ein zwingendes
Motiv zum Rücktritt in dieſem Grunerſchen Falle nicht liegt, ſo
erſcheint mir meine Lage demſelben gegenüber als eine weſentlich
andre.
Ich würde Ihnen ſehr dankbar ſein, wenn Sie namentlich mit
Camphauſen, Friedenthal und Falk in dieſem Sinne vertraulich reden
wollten. Das Verhalten Wilmowskis geſtaltet ſich anders, als ich
erwartet hatte. Ich hatte bisher auf ihn als auf einen ſichern
Bundesgenoſſen gegen die Schleinitzſche Camarilla gerechnet; ſeine
Thätigkeit in dieſem Falle aber verſtehe ich nicht recht. Er wird
mit Eulenburg und Leonhardt zuſammen das Staatsminiſterium um
das Maß von Selbſtachtung, von Conſideration und ſchließlich auch
im Lande bringen, ohne welches ſich in dieſen ſchwierigen Lagen
am Hofe und im Lande die Staatsgeſchäfte nicht führen laſſen.
Gegen Eulenburg wird man ſich nur ſo äußern können, wie es
wiedererzählt werden kann. Wie ſtellt ſich eigentlich Hofmann zu
der Sache?
Mir ſcheint die Kur gut zu bekommen, doch markirt ſich jeder
Rückſchlag über ärgerliche Eindrücke in empfindlicher Weiſe und
läßt mich vorausſehn, daß mein Geſundheitszuſtand ein geſchäfts¬
fähiger ſchwerlich wieder werden wird. Vor der einfachen Be¬
ſorgung der Amtsgeſchäfte würde ich nicht zurückſchrecken; aber die
faux frais der Hofintrigen vermag ich nicht mehr in der Weiſe zu
tragen wie früher, vielleicht auch deshalb, weil ſie an Umfang und
Wirkung in erſchreckender Weiſe zugenommen haben. Dieſe eigent¬
lichen Gründe meiner fortbeſtehenden Abſicht, zurückzutreten, habe
ich vor drei Monaten verſchwiegen, obſchon es weſentlich dieſelben
[205/0229]
Gruners Ernennung zum Wirkl. Geh. Rathe.
waren; und ich werde auch demnächſt aus Rückſicht für den Kaiſer
keine andern Motive für mein Ausſcheiden anführen können, als
den Zuſtand meiner Geſundheit.“
Die Sache ſchloß damit ab, daß die Ernennung Gruners
zum Wirklichen Geheimen Rathe im Staatsanzeiger nicht veröffent¬
licht wurde.
[[206]/0230]
Siebenundzwanzigſtes Kapitel.
Die Reſſorts.
Bei meinen vielen Abweſenheiten verlor ich mit manchen
meiner Collegen die Fühlung; die Thatſache, daß ich jedem Ein¬
zelnen von ihnen das Aufſteigen von zum Theil geringen Stel¬
lungen bis zum Miniſter verſchafft und ſie mit Einmiſchungen in
ihre Reſſorts nicht beläſtigt hatte, ließ mich ihr perſönliches Wohl¬
wollen für mich überſchätzen. In die laufenden Geſchäfte ihrer
Reſſorts habe ich ſehr ſelten hineingeredet, und nur wenn ich ſah,
daß ein großes öffentliches Intereſſe Gefahr lief, unter Sonder¬
intereſſen zu leiden. Ich habe z. B. die Canaliſirung des Rheins
am Rheingau bekämpft, die um der Schifffahrt willen geſchehn
ſollte und das Flußbett zwiſchen den Ufern und den beiden zu
erbauenden Dämmen auf 30 Jahre in einen Sumpf verwandelt
hätte; desgleichen den Plan, den Kurfürſtendamm nur in der ge¬
wöhnlichen Breite der Chauſſeen zu chauſſiren und bis dicht an
den alten Weg zu bebauen. In beiden Fällen habe ich die Ab¬
ſichten der zunächſt competenten Behörden gekreuzt und glaube mir
damit ein dauerndes Verdienſt erworben zu haben. Auch mit Pro¬
tectionen bin ich meinen Collegen und den mir untergeordneten
Reichsämtern nicht läſtig gefallen. Verfaſſungsmäßig hätte ich alle
Poſt-, Telegraphen- und Eiſenbahnbeamte anſtellen und alle Poſten
der einzelnen Reichs-Reſſorts beſetzen können. Ich glaube aber
kaum, daß ich je von Herrn von Stephan oder Andern Poſten
[207/0231]
Als Vertreter des öffentlichen Intereſſes gegen die Reſſorts.
für einen von mir empfohlenen Candidaten verlangt habe, auch
nicht für einen Briefträger. Nur der Neigung, neue eingreifende
Geſetze oder Organiſationen zu machen, der Neigung, vom grünen
Tiſche aus zu reglementiren, bin ich bei meinen Collegen nicht
ſelten entgegen getreten, weil ich wußte, daß, wenn nicht ſie ſelbſt,
ſo doch ihre Räthe die Geſetzmacherei übertrieben, und daß ſo
manche vortragende Räthe in den innern Reſſorts ſeit dem Examen
her Projecte in ihren Fächern haben, durch die ſie die Unterthanen
des Reiches zu beglücken ſuchen, ſobald ſie einen Chef finden, der
darauf eingeht.
Ungeachtet meiner Zurückhaltung iſt nach meinem Ausſcheiden
bei der Mehrheit meiner Geſchäftsfreunde ein Gefühl wie der Er¬
leichterung von einem Drucke wahrgenommen worden, das in vielen
Fällen eben aus dem Widerſtande zu erklären iſt, den ich dem über¬
wuchernden Triebe zu unnöthigen Eingriffen in den Beſtand unſrer
Geſetzgebung geleiſtet hatte. Auf dem Gebiete der Schule hatte ich
dauernd, aber ohne Erfolg die Theorie bekämpft, daß der Unter¬
richtsminiſter ohne Geſetz und ohne ſich an das vorhandene Schul¬
vermögen zu binden, auf dem Verwaltungswege und ohne die
Leiſtungsfähigkeit zu beachten, beſtimmen könne, was jede Gemeinde
zur Schule beizutragen habe. Dieſe in keinem andern Verwaltungs¬
zweige vorhandene Machtvollkommenheit, deren Anwendung in
manchen Fällen ſo weit getrieben wurde, daß die Gemeinden exiſtenz¬
unfähig wurden, beruhte nicht auf Geſetz, ſondern auf einem Re¬
ſcript des frühern Cultusminiſters von Raumer, das das Schulbudget
von einer Verfügung der betreffenden Abtheilung der Regirungen,
in letzter Inſtanz des Miniſters, abhängig machte. Das Beſtreben,
dieſen Miniſterabſolutismus durch Geſetz zu conſolidiren, war für
mich ein Hinderniß, den gelegentlich mir vorgelegten Schulgeſetz¬
entwürfen meine Zuſtimmung zu geben.
Auf dem Gebiete der Finanzen war meine Zuſtimmung zu
einer Steuerreform jederzeit dem Verlangen untergeordnet, die¬
jenigen directen Steuern, die von dem Vermögen des Zahlenden
[208/0232]
Siebenundzwanzigſtes Kapitel: Die Reſſorts.
unabhängig ſind, nicht ferner als Maßſtab für jährliche Zuſchläge
zu benutzen. Wenn auch die durch Auflegung der Grund- und
Häuſerſteuer einmal begangene Ungerechtigkeit ſich nicht ausgleichen
ließ, ſo iſt es deshalb doch nicht der Gerechtigkeit entſprechend, ſie
jährlich durch Zuſchläge zu wiederholen. Mein letzter College im
Finanzminiſterium, Scholz, mit dem ich jederzeit in freundlichen
Beziehungen gelebt habe, theilte meine Anſicht, hatte jedoch mit
den parlamentariſchen und miniſteriellen Schwierigkeiten der Remedur
zu kämpfen; dagegen war die Streitmacht ſeiner Räthe ohne Zweifel
der freiern Bewegung froh, die nach meinem Ausſcheiden aus dem
Staatsminiſterium eintrat. Eine Forderung, mit der ich Jahre
lang im Finanzminiſterium keinen Anklang finden konnte, war
neben der Selbſteinſchätzung die, daß das Einkommen von aus¬
ländiſchen Werthen höher zu beſteuern ſei als von deutſchen,
gewiſſermaßen ein Schutzzoll für deutſche Werthe, und das
von ſelbſt flüſſige höher als das durch Arbeit jährlich neu zu ge¬
winnende.
Auf dem Gebiete der Landwirthſchaft iſt der Wegfall des von
mir angeblich ausgeübten agrariſchen Druckes hauptſächlich den
kranken Schweinen und den Viehſeuchen zu Gute gekommen, des¬
gleichen den höhern und niedern Beamten, denen die Aufgabe zu¬
fiel, vor dem Parlamente und dem Lande die Agitationslüge von
der Vertheuerung der Lebensmittel zu bekämpfen. In der Nach¬
giebigkeit auf dieſem Gebiete und in der, nach unangenehmen Er¬
fahrungen im Februar 1891 wieder zurückgenommnen, Erleichterung
des franzöſiſchen Verkehrs mit dem Elſaß ſehe ich den gemeinſchaft¬
lichen Ausdruck der Kampfesſcheu, die die Zukunft für etwas mehr
Bequemlichkeit in der Gegenwart zu opfern bereit iſt. Der Zweck,
wohlfeiles Schweinefleiſch zu haben, wird durch laxe Behandlung
der Anſteckungsgefahr auf die Dauer ebenſo wenig gefördert werden,
wie die Loslöſung des Elſaß von Frankreich durch die beifalls¬
bedürftige Weichlichkeit gegen locale Beſchwerden und Grenz¬
ſchwierigkeiten.
[209/0233]
Als Vertreter des öffentlichen Intereſſes gegen die Reſſorts.
Was die Reichsämter betrifft, ſo habe ich mit dem Schatz¬
amte ſtets gute Fühlung gehabt, zur Zeit von Scholz wie von
Maltzahn. Die Beſtimmung dieſes Amtes hatte keine größere Trag¬
weite als diejenige, dem Reichskanzler in ſeinen Erörterungen und
Verſtändigungen mit dem preußiſchen Miniſter der Finanzen Bei¬
ſtand und techniſch geſchulte Arbeitskräfte zu ſtellen. Die entſcheidende
Stelle in Finanzfragen blieb der preußiſche Finanzminiſter und das
Staatsminiſterium. Der Charakter beider Herrn geſtattete, Mei¬
nungsverſchiedenheiten in ehrlicher Erörterung und ohne Verſtim¬
mung zu erledigen. Die neuerdings in der Preſſe vertretne und
thatſächlich gehandhabte Auffaſſung von der Möglichkeit einer von
einander unabhängigen Finanzpolitik des Reichskanzlers oder gar
des ihm untergebnen Reichsſchatzamtes einerſeits und des preußi¬
ſchen Finanzminiſters andrerſeits galt zu meiner Zeit als ver¬
faſſungswidrig. Divergenzen beider Stellen fanden ihre Löſung
in collegialiſchen Berathungen des Staatsminiſteriums, dem der
Kanzler als auswärtiger Miniſter angehörte, und ohne deſſen vor¬
ausgeſetztes oder ausgeſprochnes Einverſtändniß er nicht berechtigt
iſt, im Bundesrath die preußiſchen Stimmen abzugeben oder eine
Geſetzesvorlage zu machen.
Weniger durchſichtig waren für mich die Beziehungen zu dem
Reichspoſtamte. Während des franzöſiſchen Krieges traten Erſchei¬
nungen hervor, die mich hart an den Bruch mit Herrn von Stephan
brachten, aber ich war ſchon damals von ſeiner ungewöhnlichen
Begabung, nicht für ſein Fach allein, ſo überzeugt, daß ich
ihn gegen die Ungnade Sr. Majeſtät mit Erfolg vertrat. Herr
von Stephan hatte an ſeine Untergebenen ein amtliches Circular
gerichtet, in dem er die Beſorgung von gewiſſen Blättern für alle
Armeelazarethe in Frankreich anbefahl und zur Motivirung dieſes
Befehls auf Wünſche I. K. Hoheit der Kronprinzeſſin Bezug nahm.
Wie weit er dazu berechtigt war, weiß ich nicht; wer aber den
alten Herrn kannte, wird ſich ſeine Stimmung denken können, als
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 14
[210/0234]
Siebenundzwanzigſtes Kapitel: Die Reſſorts.
dieſer poſtaliſche Erlaß durch Militärberichte zu ſeiner Kenntniß
gekommen war. Die Farbe der empfohlenen Blätter allein hätte
genügt, um Stephan bei Wilhelm I. in Ungnade zu bringen; noch
verſtimmender aber wirkte die Berufung auf ein Mitglied der könig¬
lichen Familie und grade der Frau Kronprinzeſſin. Ich ſtellte den
Frieden mit Sr. Majeſtät her. Das Bedürfniß hoher Anerkennung
iſt eins der Paſſiva, die auf den meiſten ungewöhnlichen Begabungen
laſten. Ich nahm an, daß die Schwächen, welche Stephan aus
ſeinen Anfängen in ſeine höhern Stellungen hinübergebracht hatte,
je älter und je vornehmer er werde, deſto mehr von ihm abfallen
würden. Ich kann nur wünſchen, daß er in ſeinem Amte alt werde
und geſund bleibe, und würde ſeinen Verluſt für ſchwer erſetzlich
halten 1), vermuthe aber, daß auch er bei meinem Abgange zu denen
gehörte, welche eine Erleichterung zu empfinden glaubten. Ich bin
ſtets der Meinung geweſen, daß der Transport- und Correſpondenz-
Verkehr zu dem Staatszwecke beizuſteuern habe und dieſe Beiſteuer in
der Porto- und Frachtvergütung einzubegreifen ſei. Stephan iſt mehr
Reſſortpatriot und als ſolcher allerdings nicht nur ſeinem Reſſort
und deſſen Beamten, ſondern auch dem Reiche in einem Maße nützlich
geweſen, das für jeden Nachfolger ſchwer erreichbar ſein wird. Ich
bin ſeinen Eigenmächtigkeiten ſtets mit dem Wohlwollen entgegen
getreten, das die Achtung vor ſeiner eminenten Begabung mir ein¬
flößte, auch wenn ſie in meine Competenz als Kanzler und ſtimm¬
führender Vertreter Preußens einſchnitten, oder er durch ſeine Vor¬
liebe für Prachtbauten die finanziellen Ergebniſſe ſchädigte.
1) Stephan ſtarb 8. April 1897.
[[211]/0235]
Achtundzwanzigſtes Kapitel.
Berliner Congreß.
I.
Im Herbſt 1876 erhielt ich in Varzin ein chiffrirtes Tele¬
gramm unſres Militärbevollmächtigten, des Generals von Werder
aus Livadia, durch welches er im Auftrage des Kaiſers Ale¬
xander eine Aeußerung darüber verlangte, ob wir neutral bleiben
würden, wenn Rußland mit Oeſtreich in Krieg geriethe. Bei der
Beantwortung deſſelben hatte ich zu erwägen, daß Werders Chiffre
innerhalb des Kaiſerlichen Palais nicht unzugänglich ſein werde,
hatte ich doch die Erfahrung gemacht, daß ſelbſt in unſerm Geſand¬
ſchaftshauſe in Petersburg durch keinen künſtlichen Verſchluß, ſondern
nur durch häufigen Wechſel der Chiffre das Geheimniß derſelben zu
bewahren war 1). Ich konnte meiner Ueberzeugung nach nichts nach
Livadia telegraphiren, was nicht auch zur Kenntniß des Kaiſers
kommen würde. Daß eine ſolche Frage überhaupt auf ſolchem
Wege geſtellt werden konnte, hatte ſchon eine Verſchiebung der
geſchäftlichen Traditionen zur Vorausſetzung. Wenn ein Cabinet
Fragen der Art an ein andres ſtellen will, ſo iſt der correcte Weg
eine vertrauliche mündliche Sondirung durch den eignen Botſchafter
oder von Souverän zu Souverän bei perſönlicher Begegnung. Daß
1) S. Bd. I 228.
[212/0236]
Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.
die Sondirung durch eine Anfrage bei dem Vertreter der zu ſon¬
direnden Macht ſeine Bedenken hat, hatte die ruſſiſche Diplomatie
durch die Vorgänge zwiſchen dem Kaiſer Nicolaus und Seymour
erfahren. Die Neigung Gortſchakows, telegraphiſche Anfragen
bei uns nicht durch den ruſſiſchen Vertreter in Berlin, ſondern
durch den deutſchen in Petersburg zu bewirken 1), hat mich ge¬
nöthigt, unſre Miſſionen in Petersburg häufiger als an andern
Höfen darauf aufmerkſam zu machen, daß ihre Aufgabe nicht
in der Vertretung der Anliegen des ruſſiſchen Cabinets bei
uns, ſondern unſrer Wünſche an Rußland liege. Die Verſuchung
für einen Diplomaten, ſeine dienſtliche und geſellſchaftliche Stel¬
lung durch Gefälligkeiten für die Regirung, bei der er beglaubigt
iſt, zu pflegen, iſt groß und wird noch gefährlicher, wenn der
fremde Miniſter unſern Agenten für ſeine Wünſche bearbeiten
und gewinnen kann, ehe dieſer alle die Gründe kennt, aus denen
für ſeine Regirung die Erfüllung und ſelbſt die Zumuthung inop¬
portun iſt.
Außerhalb aller aber, ſelbſt der ruſſiſchen, Gewohnheiten lag
es, wenn der deutſche Militärbevollmächtigte am ruſſiſchen Hofe uns,
und während ich nicht in Berlin war, auf Befehl des ruſſiſchen
Kaiſers eine politiſche Frage von großer Tragweite in dem kate¬
goriſchen Stile eines Telegramms vorlegte. Ich hatte, ſo unbequem
ſie mir auch war, nie eine Aenderung in der alten Gewohnheit er¬
langen können, daß unſre Militärbevollmächtigten in Petersburg
nicht, wie andre, durch das Auswärtige Amt, ſondern direct in
eigenhändigen Briefen an Se. Majeſtät berichteten, — einer Ge¬
wohnheit, die ſich davon herſchrieb, daß Friedrich Wilhelm III. dem
erſten Militärattaché in Petersburg, dem frühern Commandanten
von Kolberg, Lucadou, eine beſonders intime Stellung zu dem Kaiſer
gegeben hatte. Freilich meldete der Militärattaché in ſolchen Briefen
Alles, was der ruſſiſche Kaiſer über Politik in dem gewohnheits¬
1) S. o. S. 173.
[213/0237]
Eine indiscrete Anfrage des ruſſiſchen Kaiſers.
mäßigen vertraulichen Verkehre am Hofe mit ihm geſprochen hatte,
und das war nicht ſelten viel mehr, als Gortſchakow mit dem Bot¬
ſchafter ſprach; der „Pruski Fligeladjudant“, wie er am Hofe hieß,
ſah den Kaiſer faſt täglich, jedenfalls viel öfter als Gortſchakow,
der Kaiſer ſprach mit ihm nicht bloß über Militäriſches, und die
Aufträge zu Beſtellungen an unſern Herrn beſchränkten ſich nicht
auf Familienangelegenheiten. Die diplomatiſchen Verhandlungen
zwiſchen beiden Cabineten haben ihren Schwerpunkt, wie zur Zeit
Rauchs und Münſters, oft und lange mehr in den Berichten des
Militärbevollmächtigten als in denen der amtlich accreditirten Ge¬
ſandten gefunden. Da indeſſen Kaiſer Wilhelm niemals verſäumte,
mir ſeine Correſpondenz mit dem Militärbevollmächtigten in Peters¬
burg nachträglich, wenn auch oft zu ſpät, mitzutheilen, und poli¬
tiſche Entſchlüſſe nie ohne Erwägung an amtlicher Stelle faßte, ſo
beſchränkten ſich die Nachtheile dieſes directen Verkehrs auf Ver¬
ſpätung von Informationen und Anzeigen, die in ſolchen Immediat¬
berichten enthalten waren. Es lag alſo außerhalb dieſer Gewohn¬
heit im Geſchäftsverkehr, daß Kaiſer Alexander, ohne Zweifel auf
Anregung des Fürſten Gortſchakow, Herrn von Werder als Organ
benutzte, um uns jene Doctorfrage vorzulegen. Gortſchakow war
damals bemüht, ſeinem Kaiſer zu beweiſen, daß meine Ergebenheit
für ihn und meine Sympathie für Rußland unaufrichtig oder doch
nur „platoniſch“ ſei, und ſein Vertrauen zu mir zu erſchüttern,
was ihm denn auch ſpäter gelungen iſt.
Bevor ich die Werderſche Anfrage ſachlich beantwortete, ver¬
ſuchte ich es mit dilatoriſchen Rückäußerungen, bezugnehmend auf
die Unmöglichkeit, mich auf eine ſolche Frage ohne höhere Ermächti¬
gung zu äußern, und empfahl auf wiederholtes Drängen, die Frage
auf amtlichem, wenn auch vertraulichem Wege durch den ruſſiſchen
Botſchafter in Berlin im Auswärtigen Amte zu ſtellen. Indeſſen
ſchnitten wiederholte Interpellationen durch Werderſche Telegramme
dieſen ausweichenden Weg ab. Inzwiſchen hatte ich Se. Majeſtät
gebeten, Herrn von Werder, der in Livadia diplomatiſch gemißbraucht
[214/0238]
Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.
werde, ohne ſich deſſen erwehren zu können, telegraphiſch an das
kaiſerliche Hoflager zu berufen und ihm die Uebernahme von poli¬
tiſchen Aufträgen zu unterſagen, als eine Leiſtung, die dem ruſſiſchen,
aber nicht dem deutſchen Dienſte angehöre. Der Kaiſer ging auf
meinen Wunſch nicht ein, und da Kaiſer Alexander endlich auf
Grund unſrer perſönlichen Beziehungen die Ausſprache meiner eignen
Meinung unter Betheiligung der ruſſiſchen Botſchaft in Berlin von
mir verlangte, ſo war es mir nicht länger möglich, der Beantwortung
der indiscreten Frage auszuweichen. Ich erſuchte den Botſchafter
von Schweinitz, der am Ende ſeines Urlaubs ſtand, mich vor der
Rückkehr nach St. Petersburg in Varzin zu beſuchen, um meine
Inſtruction entgegenzunehmen. Vom 11. bis 13. October war
Schweinitz mein Gaſt. Ich beauftragte ihn, ſich ſobald als mög¬
lich über Petersburg an das Hoflager des Kaiſers Alexander nach
Livadia zu begeben. Der Sinn meiner Inſtruction für Herrn
von Schweinitz war, unſer erſtes Bedürfniß ſei, die Freundſchaft
zwiſchen den großen Monarchien zu erhalten, welche der Revolution
gegenüber mehr zu verlieren, als im Kampfe unter einander zu ge¬
winnen hätten. Wenn dies zu unſerm Schmerze zwiſchen Rußland
und Oeſtreich nicht möglich ſei, ſo könnten wir zwar ertragen,
daß unſre Freunde gegen einander Schlachten verlören oder ge¬
wönnen, aber nicht, daß einer von beiden ſo ſchwer verwundet
und geſchädigt werde, daß ſeine Stellung als unabhängige und
in Europa mitredende Großmacht gefährdet würde. Dieſe unſre
Erklärung, welche von uns in zweifelsfreier Deutlichkeit zu er¬
zwingen Gortſchakow ſeinen Herrn bewogen hatte, um ihm den
platoniſchen Charakter unſrer Liebe zu beweiſen, hatte zur Folge,
daß das ruſſiſche Gewitter von Oſtgalizien ſich nach dem Balkan
hin verzog, — und daß Rußland anſtatt der mit uns abgebrochnen
Verhandlungen dergleichen mit Oeſtreich, ſo viel ich mich erinnere,
zunächſt in Peſt, im Sinne der Abmachungen von Reichſtadt,
wo die Kaiſer Alexander und Franz Joſeph am 8. Juli 1876
zuſammengetroffen waren, einleitete unter dem Verlangen, ſie vor
[215/0239]
Beantwortung der Frage. Reichſtadter Convention. Türkenkrieg.
uns geheim zu halten. Dieſe Convention 1), nicht der Berliner
Congreß, iſt die Grundlage des öſtreichiſchen Beſitzes an Bosnien
und der Herzegowina und hat den Ruſſen während ihres Krieges
mit den Türken die Neutralität Oeſtreichs geſichert.
II.
Daß das ruſſiſche Cabinet in den Abmachungen von Reich¬
ſtadt den Oeſtreichern für ihre Neutralität die Erwerbung Bosniens
zugeſtanden hat, läßt annehmen, daß Herr von Oubril uns nicht
die Wahrheit ſagte, indem er verſicherte, es werde ſich in dem
Balkankriege nur um eine promenade militaire, um Beſchäftigung
des trop plein des Heeres und um Roßſchweife und Georgenkreuze
handeln; dafür wäre Bosnien ein zu hoher Preis geweſen. Wahr¬
ſcheinlich hatte man in Petersburg darauf gerechnet, daß Bulgarien,
wenn von der Türkei losgelöſt, dauernd in Abhängigkeit von Rußland
bleiben werde. Dieſe Berechnung würde wahrſcheinlich auch dann nicht
zugetroffen ſein, wenn der Friede von San Stefano ungeſchmälert zur
Ausführung gekommen wäre. Um nicht vor dem eignen Volke für
dieſen Irrthum verantwortlich zu ſein, hat man ſich mit Erfolg be¬
müht, der deutſchen Politik, der „Untreue“ des deutſchen Freundes die
Schuld für den unbefriedigenden Ausgang des Krieges aufzubürden.
Es war das eine unehrliche Fiction; wir hatten niemals etwas Andres
in Ausſicht geſtellt als wohlwollende Neutralität, und wie ehrlich
wir es damit gemeint haben, ergibt ſich ſchon daraus, daß wir uns
durch die von Rußland verlangte Geheimhaltung der Reichſtadter
Abmachungen vor uns in unſerm Vertrauen und Wohlwollen für
Rußland nicht irre machen ließen, ſondern bereitwillig dem Wunſche,
den der Graf Peter Schuwalow mir nach Friedrichsruh überbrachte,
entgegen kamen, einen Congreß nach Berlin zu berufen. Der Wunſch
1) Abgeſchloſſen am 15. Januar 1877.
[216/0240]
Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.
der ruſſiſchen Regirung, vermittelſt eines Congreſſes zu dem Frieden
mit der Türkei zu gelangen, bewies, daß ſie ſich militäriſch nicht
ſtark genug fühlte, es auf Krieg mit England und Oeſtreich an¬
kommen zu laſſen, nachdem die rechtzeitige Beſetzung von Con¬
ſtantinopel einmal verſäumt war. Für die Mißgriffe der ruſſiſchen
Politik theilt Fürſt Gortſchakow ohne Zweifel mit jüngern und
energiſcheren Geſinnungsgenoſſen die Verantwortlichkeit, aber frei
davon iſt er nicht. Wie ſtark ſeine Stellung, nach den ruſſiſchen
Traditionen gemeſſen, dem Kaiſer gegenüber war, zeigt die
Thatſache, daß er gegen den ihm bekannten Wunſch ſeines
Herrn an dem Berliner Congreſſe als Vertreter Rußlands theil¬
nahm. Indem er, geſtützt auf ſeine Eigenſchaft als Reichskanzler
und auswärtiger Miniſter, ſeinen Sitz einnahm, entſtand die eigen¬
thümliche Situation, daß der vorgeſetzte Reichskanzler und der ſeinem
Reſſort unterſtellte Botſchafter Schuwalow neben einander figurirten,
der Träger der ruſſiſchen Vollmacht aber nicht der Reichskanzler
ſondern der Botſchafter war 1).
Dieſe vielleicht actenmäßig nur aus den ruſſiſchen Archiven
und vielleicht auch aus dieſen nicht nachweisbare, aber nach meiner
Wahrnehmung unzweifelhafte Situation zeigt, daß auch in einer
Regirung mit ſo einheitlicher und abſoluter Spitze, wie der ruſſi¬
ſchen, die Einheit der politiſchen Action nicht geſichert iſt. Sie iſt
es vielleicht in höherm Grade in England, wo der leitende Miniſter
und die Berichte, die er empfängt, der öffentlichen Kritik unter¬
liegen, während in Rußland nur der jedesmalige Kaiſer in der
Lage iſt, je nach ſeiner Menſchenkenntniß und Befähigung zu be¬
urtheilen, welcher von ſeinen berichtenden und vortragenden Dienern
irrt oder ihn belügt, und von welchem er die Wahrheit erfährt.
Ich will damit nicht ſagen, daß der laufende Dienſt des auswärtigen
Amtes in London klüger betrieben wird als in Petersburg, aber die
engliſche Regirung geräth ſeltener als die ruſſiſche in die Noth¬
1) S. o. S. 106.
[217/0241]
Gortſchakow und Schuwalow. Verſtimmung des Zaren.
wendigkeit, Irrthümer ihrer Untergebenen durch Unaufrichtigkeit
wieder gut zu machen. Lord Palmerſton hat freilich am 4. April
1856 im Unterhauſe mit einer von der Maſſe der Mitglieder wahr¬
ſcheinlich nicht verſtandenen Ironie geſagt, die Auswahl der dem
Parlamente vorzulegenden Schriftſtücke über Kars habe große Sorg¬
falt und Aufmerkſamkeit von Perſonen, die nicht eine untergeord¬
nete, ſondern eine hohe Stellung im Auswärtigen einnähmen, er¬
fordert. Das Blaubuch über Kars, die caſtrirten Depeſchen von
Sir Alexander Burnes aus Afghaniſtan und die Mittheilungen der
Miniſter über die Entſtehung der Note, welche die Wiener Con¬
ferenz 1854 dem Sultan anſtatt der Mentſchikowſchen zur Unter¬
zeichnung empfahl, ſind Proben von der Leichtigkeit, mit welcher
Parlament und Preſſe in England getäuſcht werden können. Daß
die Archive des Auswärtigen Amtes in London ängſtlicher als irgend¬
wo gehütet werden, läßt vermuthen, daß in ihnen noch manche
ähnliche Probe zu entdecken ſein würde. Im Ganzen wird man
aber doch ſagen dürfen, daß der Zar leichter zu belügen iſt als das
Parlament.
Bei den diplomatiſchen Verhandlungen über Ausführung der
Beſtimmungen des Berliner Congreſſes wurde in Petersburg er¬
wartet, daß wir jede ruſſiſche Auffaſſung der öſtreichiſch-engliſchen
gegenüber ohne weitres und namentlich ohne vorgängige Ver¬
ſtändigung zwiſchen Berlin und Petersburg unterſtützen und durch¬
ſetzen würden. Meine angedeutete, endlich ausgeſprochene Forderung,
die ruſſiſchen Wünſche uns vertraulich, aber deutlich auszuſprechen
und darüber zu verhandeln, wurde eludirt, und ich erhielt den
Eindruck, daß Fürſt Gortſchakow von mir, wie eine Dame von
ihrem Verehrer, erwartete, daß ich die ruſſiſchen Wünſche errathen
und vertreten würde, ohne daß Rußland ſelbſt ſie auszuſprechen
und dadurch eine Verantwortlichkeit zu übernehmen brauchte. Selbſt
in Fällen, wo wir annehmen durften, der ruſſiſchen Intereſſen und
Abſichten völlig gewiß zu ſein, und glaubten, der ruſſiſchen Politik
einen Beweis unſrer Freundſchaft freiwillig geben zu können, ohne
[218/0242]
Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.
eigne Intereſſen zu ſchädigen, erfuhren wir ſtatt der erwarteten An¬
erkennung eine nörgelnde Mißbilligung, weil wir angeblich in Rich¬
tung und Maß nicht das von unſerm ruſſiſchen Freunde Erwartete
getroffen hatten. Auch wenn letztres unzweifelhaft der Fall war,
hatten wir keinen beſſern Erfolg. In dieſem ganzen Verfahren
lag eine berechnete Unehrlichkeit nicht nur uns, ſondern auch dem
Kaiſer Alexander gegenüber, deſſen Gemüthe die deutſche Politik
als unehrlich und unzuverläſſig erſcheinen ſollte. Votre amitié est
trop platonique, hat die Kaiſerin Marie einem unſrer Vertreter
vorwurfsvoll geſagt. Platoniſch bleibt die Freundſchaft eines gro߬
mächtlichen Cabinets für die andern allerdings immer bis zu einem
gewiſſen Grade; denn keine Großmacht kann ſich in den ausſchlie߬
lichen Dienſt einer andern ſtellen. Sie wird immer ihre, nicht nur
gegenwärtigen, ſondern auch zukünftigen Beziehungen zu den übrigen
im Auge behalten und dauernde, prinzipielle Feindſchaft mit jeder
von ihnen nach Möglichkeit vermeiden müſſen. Für Deutſchland
mit ſeiner centralen, nach drei großen Angriffsfronten offnen Lage
trifft das beſonders zu.
Irrthümer in der Cabinetspolitik der großen Mächte ſtrafen
ſich nicht ſofort, weder in Petersburg noch in Berlin, aber un¬
ſchädlich ſind ſie nie. Die geſchichtliche Logik iſt noch genauer in
ihren Reviſionen als unſre Oberrechenkammer. Bei Ausführung
der Congreßbeſchlüſſe erwartete und verlangte Rußland, daß die
deutſchen Commiſſarien bei localen Verhandlungen darüber im Orient,
bei Divergenzen zwiſchen ruſſiſchen und andern Auffaſſungen, generell
der ruſſiſchen zuſtimmen ſollten 1). Uns konnte in manchen Fragen
allerdings die objective Entſcheidung ziemlich gleichgültig ſein, es kam
für uns nur darauf an, die Stipulationen ehrlich auszulegen und
unſre Beziehungen auch zu den übrigen Großmächten nicht durch
parteiiſches Verhalten zu ſtören in Localfragen, die ein deutſches
1) Vgl. dazu die einer Depeſche entnommene Charakteriſtik der Situation
im Bismarck-Jahrbuch I 125 ff.
[219/0243]
Unehrliche Politik Gortſchakows. Ruſſiſche Kriegsdrohung.
Intereſſe nicht berührten. Die leidenſchaftliche Bitterkeit der Sprache
aller ruſſiſchen Organe, die durch die Cenſur autoriſirte Verhetzung
der ruſſiſchen Volksſtimmung gegen uns ließ es dann gerathen
erſcheinen, die Sympathien, die wir bei nichtruſſiſchen Mächten
noch haben konnten, uns nicht zu entfremden.
In dieſer Situation nun kam ein eigenhändiges Schreiben des
Kaiſers Alexander, das trotz aller Verehrung für den bejahrten
Freund und Oheim an zwei Stellen beſtimmte Kriegsdrohungen
enthielt in der Form, die völkerrechtlich üblich iſt, etwa des In¬
halts: wenn die Weigerung, das deutſche Votum dem ruſſiſchen
anzupaſſen, feſtgehalten wird, ſo kann der Friede zwiſchen uns nicht
dauern. Dieſes Thema war in ſcharfen und unzweideutigen Worten
an zwei Stellen variirt. Daß Fürſt Gortſchakow, der am 6. Sep¬
tember 1879 in einem Interview mit dem Correſpondenten des
orleaniſtiſchen „Soleil“, Louis Peyramont, Frankreich eine ſehr auf¬
fallende Liebeserklärung machte, auch an jenem Schreiben mitge¬
arbeitet hatte, ſah ich dem letztern an; durch zwei ſpätre Wahr¬
nehmungen wurde meine Vermuthung beſtätigt. Im October hörte
eine Dame der Berliner Geſellſchaft, die in dem Hôtel de l'Eu¬
rope in Baden-Baden Zimmernachbarin Gortſchakows war, ihn
ſagen: „j'aurais voulu faire la guerre, mais la France a
d'autres intentions.“ Und am 1. November war der Pariſer
Correſpondent der „Times“ in der Lage, ſeinem Blatte zu melden,
vor der Zuſammenkunft in Alexandrowo habe der Zar an Kaiſer
Wilhelm geſchrieben, ſich über die Haltung Deutſchlands beſchwert
und ſich der Phraſe bedient: „Der Kanzler Ew. Majeſtät hat die
Verſprechungen von 1870 vergeſſen“ *).
*) Der Correſpondent, Herr Oppert aus Blowitz in Böhmen, wird die
Verbreitung dieſer ihm doch wohl von Gortſchakow zugegangenen Nachricht um
ſo bereitwilliger übernommen haben, als er mir von dem Congreß her grollte.
Auf den Wunſch Beaconsfields, der ihn bei guter Laune erhalten wollte, hatte
ich ihm die dritte Claſſe des Kronenordens verſchafft. Er war über die nach
preußiſchen Begriffen ungewöhnlich hoch gegriffene Auszeichnung entrüſtet,
lehnte ſie ab und verlangte die zweite Claſſe.
[220/0244]
Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.
Angeſichts der Haltung der ruſſiſchen Preſſe, der ſteigenden
Erregtheit der großen Maſſen des Volkes, der Truppenanhäufung
unmittelbar längs der preußiſchen Grenzen wäre es leichtfertig ge¬
weſen, den Ernſt der Situation und der kaiſerlichen Drohung gegen
den früher ſo verehrten Freund zu bezweifeln. Daß Kaiſer Wilhelm
auf den Rath des Feldmarſchalls von Manteuffel am 3. September
1879 nach Alexandrowo ging, um die ſchriftlichen Drohungen ſeines
Neffen mündlich begütigend zu beantworten, widerſtrebte meinem
Gefühle und meinem Urtheil über das, was noth thue.
III.
Betrachtungen analog denen, welche den Verſuch widerriethen,
die complicirten Schwierigkeiten von 1863 auf dem Wege eines
ruſſiſchen Bündniſſes zu löſen 1), ſtanden in der zweiten Hälfte der
ſiebziger Jahre ebenfalls einer ſtärkern Accentuirung der ruſſiſchen
Freundſchaft ohne Oeſtreich entgegen. Ich weiß nicht, in wie weit
Graf Peter Schuwalow vor Beginn des letzten Balkankrieges und
während des Congreſſes ausdrücklich beauftragt war, die Frage eines
deutſch-ruſſiſchen Bündniſſes zu beſprechen; er war nicht in Berlin
beglaubigt, ſondern in London, ſeine perſönlichen Beziehungen zu
mir geſtatteten ihm aber, ſowohl bei ſeinen vorübergehenden Be¬
rührungen Berlins auf der Durchreiſe wie während des Congreſſes
mit mir alle Eventualitäten rückhaltlos zu beſprechen.
Anfang Februar 1877 hatte ich von ihm ein längeres Schrei¬
ben aus London erhalten; meine Antwort und ſeine Erwiderung
darauf laſſe ich folgen:
Berlin, le 15 février 1877.
Cher Comte,
Je vous remercie des bonnes paroles que vous avez bien
voulu m'écrire et je suis bien obligé au Cte. Munster pour
1) S. o. S. 62 ff.
[221/0245]
Alexandrowo. Correſpondenz mit P. Schuwalow.
avoir si bien interprété en cette occasion les sentiments, qui
dès notre première connaissance ont formé entre nous un lien
qui survivra aux relations politiques, qui aujourd'hui nous
mettent en rapport. Parmi les regrets que me laissera la vie
officielle, celui qui naîtra du souvenir de mes relations avec
vous, sera des plus vifs.
Quel que soit l'avenir politique de nos deux pays, la part
que j'ai prise au passé, me laissera la satisfaction, qu'au sujet
de la nécessité de leur alliance, j'ai de tout temps été d'accord
avec l'homme d'état le plus aimable parmi vos compatriotes.
Tant que je resterai en place, je serai fidèle aux traditions qui
m'ont guidé depuis 25 ans et dont les principes coincident
avec les idées développées dans votre lettre au sujet des ser¬
vices que la Russie et l'Allemagne peuvent se rendre et se
sont rendus mutuellement depuis plus d'un siècle sans que les
intérêts spéciaux de l'une ou de l'autre en aient souffert. C'est
cette conviction qui m'a guidé en 1848, en 54, en 63 comme
dans la situation actuelle, et pour laquelle j'ai réussi à gagner
l'opinion de la grande majorité de mes compatriotes. C'est
une oeuvre qu'il sera peut-être plus facile de détruire qu'il n'a
été de la créer, surtout dans le cas où mes successeurs ne
mettraient pas la même constance que moi à cultiver des
traditions dont l'expérience leur manquera, et quelquefois
l'abnégation d'amour propre, qu'il faut pour subordonner les
apparences au fond des affaires, les susceptibilités aux grands
intérêts monarchiques. Un vieux routier de ma trempe ne se
laisse pas facilement dérouter par de fausses alarmes, et dans
l'intérêt de mon Souverain et de mon pays, je sais oublier les
déboires qui pendant les derniers deux ans ne m'ont pas été
épargnés de la part de chez vous; je ne tiens pas compte des
„flirtations“ que mon ancien ami et tuteur de Pétersbourg et
mon jeune ami à Paris 1) y entretiennent; mais avec les Chan¬
1) Orlow.
[222/0246]
Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.
celiers qui me suivront, il sera peut-être plus aisé d'égarer
leur jugement politique en leur faisant entrevoir comme on
l'a fait depuis trois ans, la facilité que l'on aurait chez vous
à créer une coalition sur la base de la revanche. Le sangfroid
avec lequel j'envisage cette éventualité, je ne pourrai pas le
léguer à mon successeur. Avec des journaux officieux qui
menacent, avec des câlineries parisiennes en feuilletons et en
lettres aux dames politiques, il ne sera pas trop difficile un
de ces jours de fausser la boussole à un ministre allemand
épouvanté par l'idée de l'isolement, et pour l'éviter il prendra
des engagements maladroits, mais difficiles à résoudre après
coup. Ce ne sera pas moi dans tous les cas; car dès que j'aurai
satisfait tant bien que mal aux exigences de la diète qui
s'ouvrira le 22 et qui ne doit durer que quelques semaines, je
me rendrai aux eaux pour ne plus revenir aux affaires. Je
tiens le certificat de la faculté que je suis „untauglich“, phrase
officielle pour l'admission à la retraite, et qui dans cette cir¬
constance ne dit que la triste vérité! Je n'y tiens plus.
Avant cette époque j'aurai à répondre au dernier énigme
de votre politique; je suis maladroit à deviner, j'ai besoin
d'être éclairé sur une pensée intime que j'ai à ce qu'il paraît,
mal comprise par le passé. En ne recevant ni consigne ni
avis, je ne saurai trouver la ligne étroite entre le reproche
d'encourager le Turc en parlant paix et le soupçon de pousser
traitreusement à la guerre. Je viens de passer sous le feu
de ces accusations en sens opposé et je n'ai pas envie de m'y
exposer de nouveau sans pilote et sans phare même qui
indique le port où vous désirez nous voir arriver.
Bismarck.
Londres, le 25 févr. 1877.
Mon cher Prince,
J'ai été très profondément touché de votre si bonne lettre —
seulement c'est un vrai remords pour moi que de penser à la
[223/0247]
Correſpondenz mit P. Schuwalow.
peine que vous vous êtes donnée de l'écrire et au temps pré¬
cieux (quand c'est le vôtre) qu'elle vous à coûté!
Cette lettre restera un des meilleurs souvenirs de ma car¬
rière politique et je la léguerai à mon fils.
Eloigné depuis un an de Berlin et de Pétersbourg, le
doute s'était emparé de moi.
Je pensais que ce qui avait existé — n'existait peut-être
plus . Vous m'en donnez la preuve contraire. Je m'en ré¬
jouis en bon Russe et de tout mon coeur.
Si je n'avais pas retrouvé en vous, cher Prince, l'homme
qui ne varie jamais ni en politique, ni dans sa bienveillance
pour ses amis, — c'est alors pour le coup que j'aurais vendu
mes fonds russes comme vous aviez voulu le faire il y a trois
ans, parce que vous aviez une trop haute opinion de moi.
J'ai copié quelques passages de votre lettre, et les ai
envoyés à mon Empereur. Je sais que cela lui fera plaisir de
les lire. Toutes les fois qu'il s'est trouvé en contact direct
avec vous, il en est résulté du bon et de l'utile; or lire ce
que vous écrivez à quelqu'un que vous honorez du titre d'ami,
c'est pour l'Empereur, comme s'il était en rapports directs.
Inutile d'ajouter que j'ai omis tout ce qui concernait Gor¬
tschakow, car j'ai considéré vos allusions à son égard comme
une preuve de confiance dans ma discrétion.
Tout mal informé que je suis (et pour cause) de ce que
l'on veut à Pétersbourg, l'ajournement et le désarmement me
paraissent probables.
La paix avec la Serbie et le Monténégro va être conclue,
dit-on. Le grand-visir à adressé des lettres à Decazes et
Derby pour leur déclarer que le Sultan promet d'accomplir
spontanément toutes les réformes demandées par la conférence.
L'Europe va nous demander d'accorder du temps à la Turquie.
Serait-ce le moment favorable pour nous de déclarer la guerre
et de nous aliéner encore davantage les sentiments de l'Europe?
[224/0248]
Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.
Des affaires particulières me réclament impérieusement en
Russie; je compte demander un court congé aussitôt qu'une
décision sera prise chez nous dans un sens ou dans l'autre.
J'espère, mon cher Prince, que vous me permettrez de vous
voir à mon passage par Berlin — j'y tiens énormément .
Excusez la longueur de cette lettre pour la raison que
vous n'avez pas un seul mot à y répondre.
Recevez encore une fois, cher Prince, mes chaleureux re¬
merciements pour votre „kindness“ et pour votre lettre, à la¬
quelle je ne fais qu'une seule objection, c'est la façon dont
vous parlez malheureusement de votre santé. — Dieu la sou¬
tiendra, j'en suis sûr, comme II préserve tout ce qui est utile
à des millions d'hommes et à la préservation de grands et de
vastes intérêts.
Soyez assuré, cher Prince, que vous trouverez toujours
en moi plus même qu'un admirateur, dont le nombre est
assez grand sans moi, mais un homme qui vous est sincère¬
ment attaché et dévoué de tout coeur.
Schouvaloff.
Noch vor dem Congreß berührte Graf Schuwalow die Frage
eines ruſſiſch-deutſchen Schutz- und Trutzbündniſſes und ſtellte ſie
direct. Ich beſprach mit ihm offen die Schwierigkeiten und Aus¬
ſichten, die die Bündnißfrage und zunächſt, wenn der Dreibund der
Oſtmächte nicht haltbar wäre, die Wahl zwiſchen Oeſtreich und Ru߬
land für uns habe. Er ſagte unter Anderm in der Diſcuſſion:
„vous avez le cauchemar des coalitions“, worauf ich erwiderte:
„nécessairement“. Als das ſicherſte Mittel dagegen bezeichnete er
ein feſtes, unerſchütterliches Bündniß mit Rußland, weil bei Aus¬
ſchluß der letztern Macht aus dem Kreiſe unſrer Coalitionsgegner
keine für uns lebensgefährliche Combination möglich ſei.
Ich gab dies zu, ſprach aber meine Befürchtung aus, daß die
deutſche Politik, wenn ſie ihre Möglichkeiten auf das ruſſiſche Bünd¬
[225/0249]
Schwierigkeiten eines deutſch-ruſſiſchen Bündniſſes.
niß einſchränkte und allen übrigen Staaten den ruſſiſchen Wünſchen
entſprechend abſagte, Rußland gegenüber in eine ungleiche Stellung
gerathen könne, weil die geographiſche Lage und die autokratiſche
Verfaſſung Rußlands dieſem für das Aufgeben des Bündniſſes
ſtets mehr Leichtigkeit gewähre, als wir haben würden, und weil
das Feſthalten an der alten Tradition des preußiſch-ruſſiſchen Bundes
doch immer nur auf zwei Augen ſtehe, d. h. von dem Gemüths¬
leben des jedesmaligen Kaiſers von Rußland abhänge. Unſre Be¬
ziehungen zu Rußland beruhten weſentlich auf dem perſönlichen
Verhältniß beider Monarchen zu einander und auf deſſen richtiger
Pflege durch höfiſche und diplomatiſche Geſchicklichkeit, reſpective
Geſinnung der beiderſeitigen Vertreter. Wir hätten das Beiſpiel
gehabt, daß bei ziemlich hülfloſen preußiſchen Geſandten in Peters¬
burg durch die Geſchicklichkeit von Militärbevollmächtigten, wie
der Generale von Rauch und Graf Münſter, die gegenſeitigen
Beziehungen intim geblieben wären, trotz mancher berechtigten Em¬
pfindlichkeit auf beiden Seiten. Wir hätten ebenſo erlebt, daß jäh¬
zornige oder reizbare Vertreter Rußlands, wie Budberg und Oubril,
durch ihre Haltung in Berlin und durch ihre Berichterſtattung, wenn
ſie perſönlich verſtimmt waren, Eindrücke erzeugten, welche auf die
gegenſeitigen Geſammtbeziehungen zweier Völker von einundeinhalb
Hundert Millionen gefährlich zurückwirken konnten.
Ich erinnere mich, daß Fürſt Gortſchakow mir, als ich in
Petersburg Geſandter war und ſeines unbegrenzten Vertrauens
mich erfreute, mitunter, wenn er mich warten ließ, noch un¬
erbrochne Berliner Berichte zu leſen gab, bevor er ſelbſt ſie durch¬
geſehn hatte. Ich war zuweilen erſtaunt, daraus zu entnehmen,
mit welchem Uebelwollen mein früherer Freund Budberg ſeiner
Empfindlichkeit über irgend ein Erlebniß in der Geſellſchaft oder
auch nur dem Bedürfniß, einen witzigen Sarkasmus über Berliner
Verhältniſſe am Hofe und in dem Miniſterium anzubringen, die
Aufgabe der Erhaltung der gegenwärtigen Beziehungen unter¬
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 15
[226/0250]
Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.
ordnete. Seine Berichte wurden natürlich dem Kaiſer vorgelegt
und zwar ohne Commentar und ohne Vortrag, und die kaiſerlichen
Randbemerkungen, von denen Gortſchakow mir in der weitern
geſchäftlichen Correſpondenz mitunter Einſicht geſtattete, lieferten
mir den zweifelloſen Beweis, wie der uns wohlgeſinnte Kaiſer
Alexander II. für die verſtimmten Berichte von Budberg und Oubril
empfänglich war und daraus nicht auf die falſche Darſtellung ſeiner
Vertreter, ſondern auf den in Berlin herrſchenden Mangel an
einſichtiger und wohlwollender Politik ſchloß. Wenn der Fürſt
Gortſchakow mir derartige Dinge unerbrochen zu leſen gab, um
mit ſeinem Vertrauen zu coquettiren, ſo pflegte er zu ſagen: „Vous
oublierez ce que vous ne deviez pas lire,“ was ich natürlich,
nachdem ich im Nebenzimmer die Depeſchen durchgeſehn hatte, zu¬
ſagte und, ſo lange ich in Petersburg war, auch gehalten habe,
da es nicht meine Aufgabe war, die Beziehungen beider Höfe durch
Anklagen gegen den Vertreter des ruſſiſchen in Berlin zu ver¬
ſchlechtern, und da ich ungeſchickte Verwerthung meiner Meldungen
zu höfiſchen Intrigen und Verhetzungen befürchtete.
Es wäre überhaupt zu wünſchen, daß wir an jedem befreun¬
deten Hofe durch Diplomaten vertreten wären, die ohne der Ge¬
ſammtpolitik des eignen Vaterlandes vorzugreifen, doch nach Mög¬
lichkeit die Beziehungen beider betheiligten Staaten dadurch pflegten,
daß ſie Verſtimmungen und Klatſch nach Möglichkeit verſchwiegen,
ihr Bedürfniß, witzig zu ſein, zügelten und eher die förderliche
Seite der Sache hervorhöben. Ich habe die Berichte unſrer
Vertreter an deutſchen Höfen höhern Orts oft nicht vorgelegt,
weil ſie mehr die Tendenz hatten, pikant zu ſein oder verſtim¬
mende Aeußerungen oder Erſcheinungen mit Vorliebe zu melden
und zu würdigen, als die Beziehungen zwiſchen beiden Höfen zu
beſſern und zu pflegen, ſo lange letztres, wie in Deutſchland ſtets
der Fall iſt, die Aufgabe unſrer Politik war. Ich habe mich für
berechtigt gehalten, aus Petersburg und Paris Dinge, die zu Hauſe
nur zwecklos verſtimmen konnten oder ſich lediglich zu ſatiriſchen
[227/0251]
Aufgaben eines Geſandten an fremdem Hofe.
Darſtellungen eigneten, zu verſchweigen, und als ich Miniſter war,
dergleichen allerhöchſten Orts nicht vorzulegen. In der Stellung
eines Botſchafters am Hofe einer Großmacht findet die Verpflich¬
tung zur mechaniſchen Berichterſtattung über alle am Domicil des
Botſchafters vorkommenden thörichten Reden und Bosheiten nicht
Anwendung. Ein Botſchafter nicht nur, ſondern auch jeder deutſche
Diplomat an einem deutſchen Hofe, ſollte nicht Berichte ſchreiben,
wie ſie Budberg, Oubril aus Berlin, Balabin aus Wien nach
Hauſe ſandten in der Berechnung, daß ſie als witzig mit Intereſſe
und mit ſelbſtgefälliger Heiterkeit geleſen würden, ſondern er ſollte
ſich, ſo lange die Verhältniſſe freundlich ſind und bleiben ſollen,
des Hetzens und Klatſchens enthalten. Wer nur das Förmliche des
Geſchäftsganges im Auge hat, wird es allerdings für das Richtigſte
halten, daß der Geſandte rückhaltlos meldet, was er hört, und es
dem Miniſter überläßt, über was er hinwegſehn und was er be¬
tonen will. Ob das aber ſachlich zweckmäßig iſt, hängt von der
Perſönlichkeit des Miniſters ab. Da ich mich für ebenſo einſichtig
hielt wie Herrn von Schleinitz und einen tiefern und gewiſſen¬
haftern Antheil an dem Schickſal unſres Landes nahm als er, ſo
habe ich mich für berechtigt und verpflichtet gehalten, manches nicht
zu ſeiner Kenntniß zu bringen, was in ſeinen Händen Verhetzungen
und Intrigen am Hofe im Sinne einer Politik dienen konnte, die
nicht die des Königs war.
Ich kehre von dieſer Abſchweifung zu den Beſprechungen zurück,
die ich zur Zeit des Balkankrieges mit dem Grafen Peter Schuwalow
gehabt habe. Ich ſagte ihm, daß wir, wenn wir der Feſtigkeit
eines Bündniſſes mit Rußland die Beziehungen zu allen andern
Mächten zum Opfer brächten, uns bei acuten Vorkommniſſen von
franzöſiſcher und öſtreichiſcher Revancheluſt bei unſrer exponirten
geographiſchen Lage in einer gefährlichen Abhängigkeit von Ru߬
land befinden würden. Die Verträglichkeit Rußlands mit Mächten,
die nicht auch ohne ſein Wohlwollen beſtehn könnten, hätte ihre
Grenzen, namentlich bei einer Politik, wie die des Fürſten Gor¬
[228/0252]
Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.
tſchakow, die mich mitunter an aſiatiſche Auffaſſungen erinnerte.
Er habe oft jeden politiſchen Einwand einfach mit dem Argumente
niedergeſchlagen: „l' empereur est fort irrité“, worauf ich ironiſch
zu antworten pflegte: „Eh, le mien donc!“ Schuwalow bemerkte
dazu: „Gortschakoff est un animal“, was in dem Petersburger
Jargon nicht ſo grob gemeint iſt, wie es klingt, „il n'a aucune
influence“; er verdanke es überhaupt nur der Achtung des Kaiſers
vor dem Alter und dem frühern Verdienſte, daß er formell noch
die Geſchäfte führe. Worüber könnten Rußland und Preußen ernſt¬
haft jemals in Streit gerathen? Es gebe gar keine Frage zwiſchen
ihnen, die wichtig genug dazu wäre. Das letztre gab ich zu, er¬
innerte aber an Olmütz und den ſiebenjährigen Krieg, man gerathe
auch aus unwichtigen Urſachen in Händel, ſogar aus Formfragen;
es würde manchen Ruſſen auch ohne Gortſchakow ſchwer, einen
Freund als gleichberechtigt zu betrachten und zu behandeln, ich
wäre in dem Punkte der Form perſönlich nicht empfindlich — aber
das jetzige Rußland habe bis auf Weitres nicht blos die Formen,
ſondern auch die Anſprüche Gortſchakows.
Ich lehnte die „Option“ zwiſchen Oeſtreich und Rußland auch
damals ab und empfahl den Bund der drei Kaiſer oder doch die
Pflege des Friedens zwiſchen ihnen.
[[229]/0253]
Neunundzwanzigſtes Kapitel.
Der Dreibund.
I.
Der Dreibund, den ich urſprünglich nach dem Frankfurter
Frieden zu erreichen ſuchte und über den ich ſchon im September
1870 von Meaux aus in Wien und Petersburg ſondirt hatte, war
ein Bund der drei Kaiſer mit dem Hintergedanken des Beitritts
des monarchiſchen Italiens und gerichtet auf den, wie ich be¬
fürchtete, in irgend einer Form bevorſtehenden Kampf zwiſchen den
beiden europäiſchen Richtungen, die Napoleon die republikaniſche
und die koſakiſche genannt hat und die ich nach heutigen Begriffen
bezeichnen möchte einerſeits als das Syſtem der Ordnung auf
monarchiſcher Grundlage, andrerſeits als die ſociale Republik, auf
deren Niveau die antimonarchiſche Entwicklung langſam oder ſprung¬
weiſe hinabzuſinken pflegt, bis die Unerträglichkeit der dadurch ge¬
ſchaffenen Zuſtände die enttäuſchte Bevölkerung für gewaltſame
Rückkehr zu monarchiſchen Inſtitutionen in cäſariſcher Form em¬
pfänglich macht. Dieſem circulus vitiosus zu entgehn, oder das
Eintreten in ihn der gegenwärtigen Generation oder ihren Kin¬
dern womöglich zu erſparen, halte ich für eine Aufgabe, die den
noch lebenskräftigen Monarchien näher liegen ſollte als die Ri¬
valilät um den Einfluß auf die nationalen Fragmente, welche die
Balkanhalbinſel bevölkern. Wenn die monarchiſchen Regirungen
[230/0254]
Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
für das Bedürfniß des Zuſammenhaltens im Intereſſe ſtaatlicher
und geſellſchaftlicher Ordnung kein Verſtändniß haben, ſondern ſich
chauviniſtiſchen Regungen ihrer Unterthanen dienſtbar machen, ſo
befürchte ich, daß die internationalen revolutionären und ſocialen
Kämpfe, die auszufechten ſein werden, um ſo gefährlicher und
für den Sieg der monarchiſchen Ordnung ſchwieriger ſich geſtalten
werden. Ich habe die nächſtliegende Aſſecuranz gegen dieſe Kämpfe
ſeit 1871 in dem Dreikaiſerbunde und in dem Beſtreben geſucht,
dem monarchiſchen Prinzipe in Italien eine feſte Anlehnung an
dieſen Bund zu gewähren. Ich war nicht ohne Hoffnung auf einen
dauernden Erfolg, als im September 1872 die Zuſammenkunft
der drei Kaiſer in Berlin, demnächſt die Beſuche meines Kaiſers
in Petersburg im Mai, des Königs von Italien in Berlin im
September, des deutſchen Kaiſers in Wien im October des folgenden
Jahres ſtattfanden. Die erſte Trübung dieſer Hoffnung wurde
1875 verurſacht durch die Hetzereien des Fürſten Gortſchakow 1),
der die Lüge verbreitete, daß wir Frankreich, bevor es ſich von ſeinen
Wunden erholt hätte, zu überfallen beabſichtigten.
Ich bin zur Zeit der Luxemburger Frage (1867) ein grund¬
ſätzlicher Gegner von Präventivkriegen geweſen, d. h. von An¬
griffskriegen, die wir um deshalb führen würden, weil wir ver¬
mutheten, daß wir ſie ſpäter mit dem beſſer gerüſteten Feinde zu
beſtehn haben würden. Daß wir 1875 Frankreich beſiegt haben
würden, war nach der Anſicht unſrer Militärs wahrſcheinlich; aber
nicht ſo wahrſcheinlich war es, daß die übrigen Mächte neutral
geblieben ſein würden. Wenn ſchon in den letzten Monaten vor
den Verſailler Verhandlungen die Gefahr europäiſcher Einmiſchung
mich täglich beängſtigte, ſo würde die ſcheinbare Gehäſſigkeit eines
Angriffs, den wir unternommen hätten, nur um Frankreich nicht
wieder zu Athem kommen zu laſſen, einen willkommnen Vorwand
zunächſt für engliſche Humanitätsphraſen geboten haben, dann aber
1) Kap. 26, ſ. o. S. 174.
[231/0255]
Der Dreikaiſerbund. Die Gortſchakowſche Intrige.
auch für Rußland, um aus der Politik der perſönlichen Freund¬
ſchaft der beiden Kaiſer einen Uebergang zu der des kühlen ruſſi¬
ſchen Staatsintereſſes zu finden, das 1814 und 1815 bei Ab¬
ſteckung des franzöſiſchen Gebiets maßgebend geweſen war. Daß
es für die ruſſiſche Politik eine Grenze giebt, über die hinaus
das Gewicht Frankreichs in Europa nicht vermindert werden darf,
iſt erklärlich. Dieſelbe war, wie ich glaube, mit dem Frankfurter
Frieden erreicht, und dieſe Thatſache war vielleicht 1870 und 1871
in Petersburg noch nicht in dem Maße zum Bewußtſein gekommen,
wie fünf Jahre ſpäter. Ich glaube kaum, daß das ruſſiſche Cabinet
während unſres Krieges deutlich vorausgeſehn hat, daß es nach
demſelben ein ſo ſtarkes und conſolidirtes Deutſchland zum Nachbar
haben würde. Im Jahre 1875 nahm ich an, daß an der Newa
ſchon einige Zweifel darüber herrſchten, ob es richtig geweſen ſei,
die Dinge ſo weit kommen zu laſſen, ohne in die Entwicklung einzu¬
greifen. Die aufrichtige Freundſchaft und Verehrung Alexanders II.
für ſeinen Oheim deckten das Unbehagen, das die amtlichen Kreiſe
bereits empfanden. Hätten wir damals den Krieg erneuern
wollen, nur um das kranke Frankreich nicht geneſen zu laſſen, ſo
würde unzweifelhaft nach einigen mißlungenen Conferenzen zur
Verhütung des Krieges unſre Kriegführung ſich in Frankreich in
der Lage befunden haben, die ich in Verſailles bei der Ver¬
ſchleppung der Belagerung befürchtet hatte. Die Beendigung des
Krieges würde nicht durch einen Friedensſchluß unter vier Augen,
ſondern in einem Congreſſe zu Stande gekommen ſein, wie 1814
unter Zuziehung des beſiegten Frankreich und vielleicht bei der
Mißgunſt, der wir ausgeſetzt waren, ebenſo wie damals unter
Leitung eines neuen Talleyrand.
Ich hatte ſchon in Verſailles befürchtet, daß die Betheiligung
Frankreichs an den Londoner Conferenzen über die das Schwarze
Meer betreffenden Clauſeln des Pariſer Friedens dazu benutzt werden
könnte, um mit der Dreiſtigkeit, die Talleyrand in Wien bewieſen
hatte, die deutſch-franzöſiſche Frage als Pfropfreis auf die pro¬
[232/0256]
Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
grammmäßigen Erörterungen zu ſetzen. Aus dem Grunde habe ich,
trotz vielſeitiger Befürwortung, die Betheiligung Favres an jener
Conferenz durch äußere und innere Einflüſſe verhindert. Ob Frank¬
reich 1875 unſerm Anfalle gegenüber in ſeiner Vertheidigung ſo
ſchwach geweſen ſein würde, wie unſre Militärs annahmen, erſcheint
fraglich, wenn man ſich erinnert, daß in dem franzöſiſch-engliſch-
öſtreichiſchen Vertrage vom 3. Januar 1815 das beſiegte und noch
theilweiſe beſetzte, durch zwanzig Kriegsjahre erſchöpfte Frankreich
doch noch bereit war, für die Coalition gegen Preußen und Rußland
150000 Mann ſofort und demnächſt 300000 in's Feld zu führen.
Die 300000 in unſrer Gefangenſchaft geweſenen altgedienten
Soldaten befanden ſich wieder in Frankreich, und wir hätten die
ruſſiſche Macht ſchließlich wohl nicht wie im Januar 1815 wohl¬
wollend neutral, ſondern vielleicht feindlich hinter uns gehabt. Aus
dem Gortſchakowſchen Circular-Telegramm vom Mai 1875 1) an
alle ruſſiſchen Geſandſchaften geht hervor, daß die ruſſiſche Diplo¬
matie bereits zu einer Thätigkeit gegen unſre angebliche Neigung
zur Friedensſtörung veranlaßt worden war.
Auf dieſe Epiſode folgten die unruhigen Beſtrebungen des
ruſſiſchen Reichskanzlers, unſre und beſonders meine perſönlich
guten Beziehungen zum Kaiſer Alexander zu trüben, unter anderm
dadurch, daß er, wie im 28. Kapitel erzählt iſt, durch Vermittlung
des Generals von Werder die Ablehnung des Verſprechens der
Neutralität für den Fall eines ruſſiſch-öſtreichiſchen Krieges von
mir erpreßte. Daß das ruſſiſche Cabinet ſich alsdann direct und
im Geheimen an das Wiener wandte, bezeichnet wiederum eine
Phaſe der Gortſchakowſchen Politik, die meinem Streben nach
einem monarchiſch-conſervativen Dreibunde nicht günſtig war.
1) S. o. S. 174.
[233/0257]
Gortſchakows Trugkomödie. Le cauchemar des coalitions.
II.
Graf Schuwalow hatte vollkommen Recht, wenn er mir ſagte,
daß mir der Gedanke an Coalitionen böſe Träume verurſache 1).
Wir hatten gegen zwei der europäiſchen Großmächte ſiegreiche Kriege
geführt; es kam darauf an, wenigſtens einen der beiden mächtigen
Gegner, die wir im Felde bekämpft hatten, der Verſuchung zu ent¬
ziehn, die in der Ausſicht lag, im Bunde mit andern Revanche
nehmen zu können. Daß Frankreich das nicht ſein konnte, lag für
jeden Kenner der Geſchichte und der galliſchen Nationalität auf
der Hand, und wenn ein geheimer Vertrag von Reichſtadt ohne
unſre Zuſtimmung und unſer Wiſſen möglich war, ſo war auch
die alte Kaunitzſche Coalition von Frankreich, Oeſtreich, Rußland
nicht unmöglich, ſobald die ihr entſprechenden, in Oeſtreich latent
vorhandenen Elemente dort an das Ruder kamen. Sie konnten
Anknüpfungspunkte finden, von denen aus ſich die alte Rivalität,
das alte Streben nach deutſcher Hegemonie als Factor der öſt¬
reichiſchen Politik wieder beleben ließ in Anlehnung, ſei es an
Frankreich, die zur Zeit des Grafen Beuſt und der Salzburger
Begegnung mit Louis Napoleon, Auguſt 1867, in der Luft ſchwebte,
ſei es in Annäherung an Rußland, wie ſie ſich in dem geheimen
Abkommen von Reichſtadt erkennen ließ.
Die Frage, welche Unterſtützung Deutſchland von England in
einem ſolchen Falle zu erwarten haben würde, will ich nicht ohne
Weitres im Rückblick auf die Geſchichte des ſiebenjährigen Krieges
und des Wiener Congreſſes beantworten, es aber doch als wahr¬
ſcheinlich bezeichnen, daß ohne die Siege Friedrichs des Großen
die Sache des Königs von Preußen damals noch früher von Eng¬
land wäre fallen gelaſſen worden.
In dieſer Situation lag die Aufforderung zu dem Verſuch,
1) S. o. S. 224.
[234/0258]
Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
die Möglichkeit der antideutſchen Coalition durch vertragsmäßige
Sicherſtellung der Beziehungen zu wenigſtens einer der Gro߬
mächte einzuſchränken. Die Wahl konnte nur zwiſchen Oeſtreich
und Rußland ſtehn, da die engliſche Verfaſſung Bündniſſe von
geſicherter Dauer nicht zuläßt und die Verbindung mit Italien
allein ein hinreichendes Gegengewicht gegen eine Coalition der drei
übrigen Großmächte auch dann nicht gewährte, wenn die zukünftige
Haltung und Geſtaltung Italiens nicht nur von Frankreich, ſondern
auch von Oeſtreich unabhängig gedacht wurde. Es blieb, um
das Feld der Coalitionsbildung zu verkleinern, nur die bezeich¬
nete Wahl.
Für materiell ſtärker hielt ich die Verbindung mit Rußland.
Sie hatte mir früher auch als ſichrer gegolten, weil ich die tradi¬
tionelle dynaſtiſche Freundſchaft, die Gemeinſamkeit des monarchi¬
ſchen Erhaltungstriebes und die Abweſenheit aller eingebornen
Gegenſätze in der Politik für ſichrer hielt als die wandelbaren
Eindrücke der öffentlichen Meinung in der ungariſchen, ſlaviſchen
und katholiſchen Bevölkerung der habsburgiſchen Monarchie. Abſolut
ſicher für die Dauer war keine der beiden Verbindungen, weder
das dynaſtiſche Band mit Rußland, noch das populäre ungariſch-
deutſcher Sympathie. Wenn in Ungarn ſtets die beſonnene poli¬
tiſche Erwägung den Ausſchlag gäbe, ſo würde dieſe tapfere und
unabhängige Nation ſich darüber klar bleiben, daß ſie als Inſel
in dem weiten Meere ſlaviſcher Bevölkerungen ſich bei ihrer ver¬
hältnißmäßig geringen Ziffer nur durch Anlehnung an das deutſche
Element in Oeſtreich und in Deutſchland ſicher ſtellen kann. Aber
die Koſſuthſche Epiſode und die Unterdrückung der reichstreuen
deutſchen Elemente in Ungarn ſelbſt und andre Symptome zeigten,
daß in kritiſchen Momenten das Selbſtvertrauen des ungariſchen
Huſaren und Advocaten ſtärker iſt als die politiſche Berechnung
und die Selbſtbeherrſchung. Läßt doch auch in ruhigen Zeiten
mancher Magyar ſich von den Zigeunern das Lied „Der Deutſche
iſt ein Hundsfott“ aufſpielen!
[235/0259]
Deutſchland vor der Wahl. Bedenken gegen Oeſtreich.
Zu den Bedenken über die zukünftigen öſtreichiſch-deutſchen
Beziehungen kam der Mangel an Augenmaß für politiſche Mög¬
lichkeiten, infolge deſſen das deutſche Element in Oeſtreich die
Fühlung mit der Dynaſtie und die Leitung verloren hat, die ihm
in der geſchichtlichen Entwicklung zugefallen war. Zu Sorgen für
die Zukunft eines öſtreichiſch-deutſchen Bundes gab ferner die con¬
feſſionelle Frage Anlaß, die Erinnerung an den Einfluß der Beicht¬
väter der Kaiſerlichen Familie, die Möglichkeit der Herſtellung fran¬
zöſiſcher Beziehungen auf katholiſirender Unterlage, ſobald in Frank¬
reich eine entſprechende Wandlung der Form und der Prinzipien
der Staatsleitung eingetreten wäre. Wie fern oder wie nahe eine
ſolche in Frankreich liegt, entzieht ſich jeder Berechnung.
Dazu kam endlich die polniſche Seite der öſtreichiſchen Politik.
Wir können von Oeſtreich nicht verlangen, daß es auf die Waffe
verzichte, die es in der Pflege des Polenthums in Galizien Rußland
gegenüber beſitzt. Die Politik, die 1846 dazu führte, daß öſtreichiſche
Beamte Preiſe auf die Köpfe polniſcher Inſurgenten ſetzten, war
möglich, weil Oeſtreich die Vortheile der heiligen Allianz, des Bünd¬
niſſes der drei Oſtmächte, durch ein adäquates Verhalten in den
polniſchen und orientaliſchen Dingen bezahlte, gleichſam durch einen
Aſſecuranzbeitrag zu einem gemeinſamen Geſchäfte. Beſtand der
Dreibund der Oſtmächte, ſo konnte Oeſtreich ſeine Beziehungen zu
den Ruthenen in den Vordergrund ſtellen; löſte er ſich auf, ſo war
es rathſamer, den polniſchen Adel für den Fall eines ruſſiſchen
Krieges zur Verfügung zu haben. Galizien iſt überhaupt der öſt¬
reichiſchen Monarchie lockrer angefügt, als Poſen und Weſtpreußen
der preußiſchen. Die öſtreichiſche, gegen Oſten offne Provinz iſt
außerhalb der Grenzmauer der Karpathen künſtlich angeklebt, und
Oeſtreich könnte ohne ſie ebenſo gut beſtehn, wenn es für die 5 oder
6 Millionen Polen und Ruthenen einen Erſatz innerhalb des Donau¬
beckens fände. Pläne der Art in Geſtalt eines Eintauſches rumäni¬
ſcher und ſüdſlaviſcher Bevölkerungen gegen Galizien, unter Her¬
ſtellung Polens mit einem Erzherzoge an der Spitze, ſind während
[236/0260]
Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
des Krimkrieges und 1863 von berufner und unberufner Seite er¬
wogen worden. Die alten preußiſchen Provinzen aber ſind von
Poſen und Weſtpreußen durch keine natürliche Grenze getrennt, und
der Verzicht auf ſie wäre unausführbar. Die Frage der Zukunft
Polens iſt deshalb unter den Vorbedingungen eines deutſch-öſtreichi¬
ſchen Kriegsbündniſſes eine beſonders ſchwierige.
III.
In dieſer Erwägung nöthigte mich der drohende Brief des
Kaiſers Alexander (1879) zu feſtem Entſchluſſe behufs Abwehr und
Wahrung unſrer Unabhängigkeit von Rußland. Ein öſtreichiſches
Bündniß war ziemlich bei allen Parteien populär, bei den Conſerva¬
tiven aus einer geſchichtlichen Tradition, bezüglich deren man zweifel¬
haft ſein kann, ob ſie grade von dem Standpunkt einer conſervativen
Fraction heut zu Tage als folgerichtig gelten könne. Thatſache iſt aber,
daß die Mehrheit der Conſervativen in Preußen die Anlehnung
an Oeſtreich als ihren Tendenzen entſprechend anſieht, auch wenn
vorübergehend eine Art von Wettlauf im Liberalismus zwiſchen den
beiden Regirungen ſtattfand. Der conſervative Nimbus des öſt¬
reichiſchen Namens überwog bei den meiſten Mitgliedern dieſer
Fraction den Eindruck der theils überwundenen, theils neuen Vor¬
ſtöße auf dem Gebiete des Liberalismus und der gelegentlichen
Neigung zu Annäherungen an die Weſtmächte und ſpeciell an Frank¬
reich. Noch näher lagen die Erwägungen, welche den Katholiken
den Bund mit der vorwiegend katholiſchen Großmacht als nützlich
erſcheinen ließen. Der nationalliberalen Partei war ein vertrags¬
mäßig verbrieftes Bündniß des neuen Deutſchen Reiches mit Oeſt¬
reich ein Weg, auf dem man der Löſung der 1848er Cirkelquadratur
näher kam, ohne an den Schwierigkeiten zu ſcheitern, die einer
unitariſchen Verbindung nicht nur zwiſchen Oeſtreich und Preußen-
Deutſchland, ſondern ſchon innerhalb des öſtreichiſch-ungariſchen
[237/0261]
Popularität eines Bundes mit Oeſtreich.
Geſammtreiches entgegen ſtanden. Es gab alſo auf unſerm parla¬
mentariſchen Gebiete außer der ſocialdemokratiſchen Partei, deren
Zuſtimmung überhaupt zu keiner Art von Regirungspolitik zu haben
war, keinen Widerſpruch gegen und ſehr viel Vorliebe für das
Bündniß mit Oeſtreich.
Auch die Traditionen des Völkerrechts waren von den Zeiten
des Römiſchen Reiches deutſcher Nation und des Deutſchen Bundes
her theoretiſch darauf zugeſchnitten, daß zwiſchen dem geſammten
Deutſchland und der Habsburgiſchen Monarchie eine ſtaatsrechtliche
Verbindung beſtand, durch welche dieſe mitteleuropäiſchen Länder¬
maſſen theoretiſch zum gegenſeitigen Beiſtande verpflichtet erſchienen.
Praktiſch allerdings iſt ihre politiſche Zuſammengehörigkeit in der
Vorgeſchichte nur ſelten zum Ausdruck gekommen; aber man konnte
Europa und namentlich Rußland gegenüber mit Recht geltend
machen, daß ein dauernder Bund zwiſchen Oeſtreich und dem
heutigen Deutſchen Reiche völkerrechtlich nichts Neues ſei. Dieſe
Fragen der Popularität in Deutſchland und des Völkerrechts ſtanden
jedoch für mich in zweiter Linie und waren zu erwägen als Hülfs¬
mittel für die eventuelle Ausführung. Im Vordergrunde ſtand die
Frage, ob der Durchführung des Gedankens ſofort näher zu treten
und mit welchem Maße von Entſchiedenheit der vorausſichtliche
Widerſtand des Kaiſers Wilhelm aus Gründen, die weniger der
Politik als dem Gemüthsleben angehörten, zu bekämpfen ſein würde.
Mir erſchienen die Gründe, die in der politiſchen Situation uns
auf ein öſtreichiſches Bündniß hinwieſen, ſo zwingender Natur, daß
ich nach einem ſolchen auch gegen den Widerſtand unſrer öffent¬
lichen Meinung geſtrebt haben würde.
IV.
Als Kaiſer Wilhelm ſich nach Alexandrowo begab (3. Sep¬
tember), hatte ich ſchon in Gaſtein eine Begegnung mit dem Grafen
Andraſſy eingeleitet, die am 27. und 28. Auguſt ſtattfand.
[238/0262]
Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
Nachdem ich ihm die Lage dargelegt hatte, zog er daraus die
Folgerung mit den Worten: „Gegen ein ruſſiſch-franzöſiſches Bündniß
iſt der natürliche Gegenzug ein öſtreichiſch-deutſches.“ Ich erwiderte,
daß er damit die Frage formulirt habe, zu deren Beſprechung ich
unſre Zuſammenkunft angeregt hätte, und wir kamen leicht zu einer
vorläufigen Verſtändigung über ein rein defenſives Bündniß gegen
einen ruſſiſchen Angriff auf einen von beiden Theilen, dagegen fand
mein Vorſchlag, das Bündniß auch auf andre als ruſſiſche Angriffe
auszudehnen, bei dem Grafen keinen Anklang.
Nachdem ich nicht ohne Schwierigkeit die Ermächtigung Sr.
Majeſtät dazu erlangt hatte, in amtliche Verhandlungen einzutreten,
nahm ich zu dem Zwecke meinen Rückweg über Wien.
Vor meiner Abreiſe von Gaſtein richtete ich am 10. September
folgendes Schreiben an den König von Baiern:
„Gaſtein, den 10. September 1879.
Eure Majeſtät haben früher die Gnade gehabt, Allerhöchſtihre
Zufriedenheit mit den Beſtrebungen auszuſprechen, welche meinerſeits
dahin gerichtet waren, dem Deutſchen Reiche Frieden und Freund¬
ſchaft mit den beiden großen Nachbarreichen Oeſtreich und Ru߬
land gleichmäßig zu erhalten. Im Laufe der letzten drei Jahre iſt
dieſe Aufgabe um ſo ſchwieriger geworden, je mehr die ruſſiſche
Politik dem Einfluſſe der theils kriegeriſchen, theils revolutionären
Tendenzen des Panſlavismus ſich hingegeben hat. Schon im Jahre
1876 wurde uns von Livadia aus wiederholentlich die Forderung
geſtellt, uns darüber in verbindlicher Form zu erklären, ob das
Deutſche Reich in einem Kriege zwiſchen Rußland und Oeſtreich
neutral bleiben werde. Es gelang nicht, dieſer Erklärung aus¬
zuweichen, und das ruſſiſche Kriegswetter zog einſtweilen nach dem
Balkan ab. Die auch nach dem Congreſſe noch immer großen Er¬
folge, welche die ruſſiſche Politik infolge dieſes Krieges gewonnen
hat, haben leider die Erregtheit der ruſſiſchen Politik nicht in dem
Maße abgekühlt, wie es für das friedliebende Europa wünſchens¬
[239/0263]
Abſchluß des Defenſivbundes mit Oeſtreich.
werth wäre. Die ruſſiſchen Beſtrebungen ſind unruhig und friedlos
geblieben; der Einfluß des panſlaviſtiſchen Chauvinismus auf die
Stimmungen des Kaiſers Alexander hat ſich geſteigert, und mit der,
wie es leider ſcheint, ernſtlichen Ungnade des Grafen Schuwalow
hat deſſen Werk, der Berliner Congreß, ſeine Verurtheilung durch
den Kaiſer erfahren. Der leitende Miniſter, inſoweit es einen
ſolchen in Rußland gegenwärtig giebt, iſt der Kriegsminiſter Milutin.
Auf ſein Verlangen ſind jetzt nach dem Frieden, wo Rußland
von niemand bedroht iſt, die gewaltigen Rüſtungen erfolgt, welche
trotz der Finanzopfer des Krieges den Friedensſtand des ruſſiſchen
Heeres um 56000, den Stand der mobilen weſtlichen Kriegs¬
armee um faſt 400000 Mann ſteigerten. Dieſe Rüſtungen können
nur gegen Oeſtreich oder Deutſchland beſtimmt ſein, und die Truppen¬
aufſtellungen im Königreich Polen entſprechen einer ſolchen Be¬
ſtimmung. Der Kriegsminiſter hat auch den techniſchen Com¬
miſſionen *) gegenüber rückhaltlos geäußert, daß Rußland ſich auf
einen Krieg ,mit Europa‘ einrichten müſſe.
Wenn es zweifellos iſt, daß der Kaiſer Alexander, ohne den
Türkenkrieg zu wollen, unter dem Drucke der panſlaviſtiſchen Ein¬
flüſſe denſelben dennoch geführt hat, und wenn inzwiſchen dieſelbe
Partei ihren Einfluß dadurch geſteigert hat, daß dem Kaiſer die
Agitation, welche hinter ihr ſteht, heut mehr und gefährlicheren
Eindruck macht als früher, ſo liegt die Befürchtung nahe, daß es
ihr ebenſo gelingen kann, die Unterſchrift des Kaiſers Alexander für
weitre kriegeriſche Unternehmungen nach Weſten zu gewinnen. Die
europäiſchen Schwierigkeiten, welchen Rußland auf dieſem Wege be¬
gegnen könnte, können einen Miniſter wie Milutin oder Makoff
wenig ſchrecken, wenn es wahr iſt, was die Conſervativen in Ru߬
land befürchten, daß die Bewegungspartei, indem ſie Rußland in
ſchwere Kriege zu verwickeln ſucht, weniger einen Sieg Rußlands
über das Ausland, als einen Umſturz im Innern Rußlands erſtrebt.
*) Welche gewiſſe Beſtimmungen des Berliner Vertrages vom 13. Juli
1878 auszuführen hatten.
[240/0264]
Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
Ich kann mich unter dieſen Umſtänden der Ueberzeugung
nicht erwehren, daß der Friede durch Rußland, und zwar nur durch
Rußland, in der Zukunft, vielleicht auch in naher Zukunft, bedroht
ſei. Die nach unſern Berichten in jüngſter Zeit verſuchten Er¬
mittlungen, ob Rußland in Frankreich und Italien, wenn es Krieg
beginnt, Beiſtand finden würde, haben freilich ein negatives Reſultat
ergeben. Italien iſt machtlos befunden worden, und Frankreich
hat erklärt, daß es jetzt keinen Krieg wolle und im Bunde mit Ru߬
land allein ſich für einen Angriffskrieg gegen Deutſchland nicht
ſtark genug fühle.
In dieſer Lage hat nun Rußland in den letzten Wochen an
uns Forderungen geſtellt, welche darauf hinausgehn, daß wir defi¬
nitiv zwiſchen Rußland und Oeſtreich optiren ſollen, indem wir
die deutſchen Mitglieder der orientaliſchen Commiſſionen anwieſen,
in den zweifelhaften Fragen mit Rußland zu ſtimmen, während in
dieſen Fragen unſrer Meinung nach die richtige Auslegung der
Congreßbeſchlüſſe auf Seiten der durch Oeſtreich, England und
Frankreich gebildeten Majorität iſt, und Deutſchland deshalb mit
dieſer geſtimmt hat, ſo daß Rußland theils mit, theils ohne Italien
allein die Minorität bildet. Obſchon dieſe Fragen, wie z. B. die
Lage der Brücke bei Siliſtria, die der Türkei vom Congreß conce¬
dirte Militärſtraße in Bulgarien, die Verwaltung der Poſt und
Telegraphie und der Grenzſtreit über einzelne Dörfer an ſich im
Vergleich mit dem Frieden großer Reiche ſehr unbedeutende ſind,
ſo war das ruſſiſche Verlangen, daß wir in Betreff derſelben nicht
mehr mit Oeſtreich, ſondern mit Rußland ſtimmen ſollten, nicht
einmal, ſondern wiederholt von unzweideutigen Drohungen begleitet
bezüglich der Folgen, welche unſre Weigerung eventuell für die
internationalen Beziehungen beider Länder haben würde. Dieſe
auffällige Thatſache war, da ſie mit dem Rücktritt des Grafen
Andraſſy *) zuſammenfiel, geeignet, die Beſorgniß zu erwecken, daß
*) Am 14. Auguſt hatte der Kaiſer Franz Joſeph die von dem Grafen
Andraſſy nachgeſuchte Entlaſſung im Prinzip genehmigt, ſich aber die definitive
[241/0265]
Schreiben an den König von Baiern.
zwiſchen Rußland und Oeſtreich eine geheime Verſtändigung zum
Nachtheile Deutſchlands ſtattgefunden hätte. Dieſe Beſorgniß iſt
aber unbegründet; Oeſtreich fühlt gegenüber der Unruhe der ruſ¬
ſiſchen Politik daſſelbe Unbehagen wie wir und ſcheint zu einer
Verſtändigung mit uns behufs gemeinſamer Abwehr eines et¬
waigen ruſſiſchen Angriffs auf eine der beiden Mächte geneigt
zu ſein.
Ich würde es für eine weſentliche Garantie des europäiſchen
Friedens und der Sicherheit Deutſchlands halten, wenn das Deutſche
Reich auf eine ſolche Abmachung mit Oeſtreich einginge, welche
zum Zweck hätte, den Frieden mit Rußland nach wie vor ſorg¬
fältig zu pflegen, aber wenn trotzdem eine der beiden Mächte an¬
gegriffen würde, einander beizuſtehn. Im Beſitze dieſer gegen¬
ſeitigen Aſſecuranz könnten beide Reiche ſich nach wie vor der
erneuten Befeſtigung des Dreikaiſerbundes widmen. Das Deutſche
Reich im Bunde mit Oeſtreich würde der Anlehnung Englands
nicht entbehren und bei der friedfertigen Politik der beiden großen
Reichskörper den Frieden Europas mit zwei Millionen Streitern
verbürgen. Der rein defenſive Charakter dieſer gegenſeitigen An¬
lehnung der beiden deutſchen Mächte aneinander könnte auch für
niemand etwas Herausforderndes haben, da dieſelbe gegenſeitige
Aſſecuranz beider in dem deutſchen Bundesverhältniß von 1815
ſchon 50 Jahre völkerrechtlich beſtanden hat.
Unterbleibt jedes Abkommen derart, ſo wird man es Oeſt¬
reich nicht verargen können, wenn es unter dem Drucke ruſſiſcher
Drohungen und ohne Gewißheit über Deutſchland ſchließlich ent¬
weder bei Frankreich oder bei Rußland ſelbſt nähere Fühlung ſucht.
Träte der letztre Fall ein, ſo wäre Deutſchland bei ſeinem Ver¬
*)
*) Enthebung vorbehalten, bis über den Nachfolger Beſchluß gefaßt ſei. Der Graf
verſtand ſich dazu, noch einige Zeit in Function zu bleiben, um das Bündniß
mit Deutſchland zu Stande zu bringen. Am 8. October wurde ſeine Ver¬
abſchiedung und die Ernennung ſeines Nachfolgers Haymerle veröffentlicht.
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 16
[242/0266]
Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
hältniß zu Frankreich der gänzlichen Iſolirung auf dem Continent
ausgeſetzt. Nähme Oeſtreich aber bei Frankreich und England
Fühlung, ähnlich wie 1854, ſo wäre Deutſchland auf Rußland
allein angewieſen und wenn es ſich nicht iſoliren wollte, an die
wie ich fürchte fehlerhaften und gefährlichen Bahnen der ruſſiſchen
innern und äußern Politik gebunden.
Zwingt uns Rußland, zwiſchen ihm und Oeſtreich zu optiren,
ſo glaube ich, daß Oeſtreich die conſervative und friedliebende
Richtung für uns anzeigen würde, Rußland aber eine unſichre.
Ich wage mich der Hoffnung hinzugeben, daß Eure Majeſtät
nach Allerhöchſtdero mir bekannter politiſcher Auffaſſung meine vor¬
ſtehende Ueberzeugung theilen, und würde glücklich ſein, wenn ich
darüber vergewiſſert werden könnte.
Die Schwierigkeiten der Aufgabe, welche ich mir ſtelle, ſind
an ſich groß, aber ſie werden noch weſentlich geſteigert durch die
Nothwendigkeit, eine ſo umfängliche und vielſeitige Angelegenheit
ſchriftlich von hier aus zu verhandeln, wo ich lediglich auf meine
eigne, durch die bisherige Ueberanſtrengung ganz unzulänglich ge¬
wordene Arbeitskraft reducirt bin. Ich habe aus Geſundheits¬
rückſichten meinen Aufenthalt hier ſchon verlängern müſſen, hoffe
aber nach dem 20. ds. M. meine Rückreiſe über Wien antreten zu
können. Wenn es bis dahin nicht gelingt, wenigſtens prinzipiell
zu einer Gewißheit zu gelangen, ſo wird, wie ich fürchte, die jetzt
günſtige Gelegenheit verſäumt ſein, und bei dem Rücktritt Andraſſys
läßt ſich nicht vorherſehn, ob ſie jemals wiederkehren wird.
Wenn ich für meine Pflicht halte, meine Anſicht über die Lage
und die Politik des Deutſchen Reiches in Ehrfurcht zu Eurer Majeſtät
Kenntniß zu bringen, ſo wollen Allerhöchſtdieſelben der Thatſache
in Gnaden Rechnung tragen, daß Graf Andraſſy und ich uns die
Geheimhaltung des vorſtehend dargelegten Planes gegenſeitig zu¬
geſagt haben und bisher nur Ihre Majeſtäten die beiden Kaiſer
Kenntniß haben von der Abſicht ihrer leitenden Miniſter, eine Ver¬
einbarung zwiſchen Allerhöchſtdenſelben herbeizuführen.“
[243/0267]
Correſpondenz mit König Ludwig II.
Ich füge zur Vervollſtändigung die Antwort des Königs, ſo¬
wie meine Erwiderung bei:
„Mein lieber Fürſt von Bismarck!
Mit aufrichtigem Bedauern entnahm ich Ihrem Schreiben
vom 10. d. M., daß die Wirkung Ihrer Kiſſinger und Gaſteiner
Badecur durch anſtrengende und aufregende Geſchäftsthätigkeit be¬
einträchtigt wurde. Ihrer ausführlichen Darlegung des gegen¬
wärtigen Standes der Politik bin ich mit dem größten Intereſſe
gefolgt und ſpreche Ihnen hiefür meinen lebhaften Dank aus.
Sollte es zwiſchen dem Deutſchen Reiche und Rußland zu kriege¬
riſchen Verwickelungen kommen, ſo würde mich eine ſo tief be¬
klagenswerthe Aenderung in den gegenſeitigen Beziehungen beider
Reiche auf das Schmerzlichſte berühren, und noch gebe ich mich
der Hoffnung hin, daß es gelingen wird, einer ſolchen Wendung
der Dinge durch eine im friedlichen Sinne ſich geltend machende
Einwirkung auf Seine Majeſtät den Kaiſer von Rußland vorzu¬
beugen. Unter allen Umſtänden jedoch dürfen Ihre Beſtrebungen
für einen engen Anſchluß des Deutſchen Reichs an Oeſterreich-
Ungarn meines vollen Beifalles und meiner angelegentlichſten
Wünſche für einen glücklichen Erfolg verſichert ſein.
Mit dem Wunſche, daß Sie neu gekräftigt in die Heimath
zurückkehren mögen, verbinde ich gerne die wiederholte Verſicherung
beſonderer Werthſchätzung, mit welcher ich bin und ſtets verbleibe
Berg, den 16. September 1879.
Ihr
aufrichtiger Freund
Ludwig.“
„Gaſtein, 19. 9. 1879.
Mit ehrfurchtsvollem Danke habe ich Eurer Majeſtät gnädiges
Schreiben vom 16. d. M. erhalten und daraus zu meiner Freude
das Allerhöchſte Einverſtändniß mit meinen Beſtrebungen nach
gegenſeitiger Anlehnung mit Oeſtreich-Ungarn entnommen. In
[244/0268]
Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
Betreff der Beziehungen zu Rußland bemerke ich allerunterthänigſt,
daß die Gefahr kriegeriſcher Verwicklungen, welche auch ich nicht
nur politiſch, ſondern auch perſönlich auf das Tiefſte beklagen
würde, nach meinem ehrfurchtsvollen Dafürhalten nicht unmittelbar
bevorſteht, uns vielmehr nur dann nähertreten würde, wenn Frank¬
reich zu einem gemeinſamen Vorgehn mit Rußland bereit wäre.
Dies iſt bisher nicht der Fall, und unſre Politik wird nach den
Intentionen Seiner Majeſtät des Kaiſers nichts unterlaſſen, um
den Frieden des Reichs mit Rußland durch Einwirkung auf Seine
Majeſtät den Kaiſer Alexander nach wie vor zu pflegen und zu
befeſtigen. Die Verhandlungen über einen engern gegenſeitigen
Anſchluß mit Oeſtreich haben nur friedliche, defenſive Ziele und
daneben die Förderung der nachbarlichen Verkehrsverhältniſſe zum
Ziele.
In der Abſicht, Gaſtein morgen zu verlaſſen, hoffe ich am
Sonntag in Wien einzutreffen.
Mit unterthänigſtem Danke für Eurer Majeſtät huldreiche
Theilnahme an meiner Geſundheit verharre ich in tiefſter Ehrfurcht
Eurer Majeſtät
unterthänigſter Diener
v. Bismarck.“
V.
Auf der langen Fahrt von Gaſtein über Salzburg und Linz
wurde mein Bewußtſein, daß ich mich auf rein deutſchem Gebiete
und unter deutſcher Bevölkerung befand, durch die entgegenkommende
Haltung des Publikums auf den Stationen vertieft. In Linz war
die Maſſe ſo groß und ihre Stimmung ſo erregt, daß ich aus
Beſorgniß, in Wiener Kreiſen Mißverſtändniſſe zu erregen, die
Vorhänge der Fenſter meines Wagens vorzog, auf keine der wohl¬
wollenden Kundgebungen reagirte und abfuhr, ohne mich gezeigt zu
[245/0269]
Popularität des Bündniſſes in Oeſtreich.
haben. In Wien fand ich eine ähnliche Stimmung in den Straßen,
die Begrüßungen der dicht gedrängten Menge waren ſo zuſammen¬
hängend, daß ich, da ich in Civil war, in die unbequeme Noth¬
wendigkeit gerieth, die Fahrt zum Gaſthofe ſo gut wie mit bloßem
Kopfe zurückzulegen. Auch während der Tage, die ich in dem
Gaſthofe zubrachte, konnte ich mich nicht am Fenſter zeigen, ohne
freundliche Demonſtrationen der dort Wartenden oder Vorübergehen¬
den hervorzurufen. Dieſe Kundgebungen vermehrten ſich, nachdem
der Kaiſer Franz Joſeph mir die Ehre erzeigt hatte, mich zu be¬
ſuchen. Alle dieſe Erſcheinungen waren der unzweideutige Aus¬
druck des Wunſches der Bevölkerung der Hauptſtadt und der durch¬
reiſten deutſchen Provinzen, eine enge Freundſchaft mit dem neuen
Deutſchen Reiche als Signatur der Zukunft beider Großmächte ſich
bilden zu ſehn. Daß dieſelben Sympathien im Deutſchen Reiche,
im Süden noch mehr als im Norden, bei den Conſervativen mehr
als bei der Oppoſition, im katholiſchen Weſten mehr als im evan¬
geliſchen Oſten, der Blutsverwandſchaft entgegenkamen, war mir
nicht zweifelhaft. Die angeblich confeſſionellen Kämpfe des dreißig¬
jährigen Krieges, die einfach politiſchen des ſiebenjährigen und
die diplomatiſchen Rivalitäten vom Tode Friedrichs des Großen
bis 1866 hatten das Gefühl dieſer Verwandſchaft nicht erſtickt,
ſo ſehr ſonſt der Deutſche auch geneigt iſt, den Landsmann,
wenn ihm Gelegenheit dazu geboten wird, mit mehr Eifer zu
bekämpfen als den Ausländer. Es iſt möglich, daß der ſlaviſche
Keil, durch den in Geſtalt der Czechen die urdeutſche Bevölkerung
der öſtreichiſchen Stammlande von den nordweſtlichen Landsleuten
getrennt iſt, die Wirkungen, die nachbarliche Reibungen auf Deutſche
gleichen Stammes, aber verſchiedener dynaſtiſcher Angehörigkeit,
auszuüben pflegen, abgeſchwächt und das germaniſche Gefühl der
Deutſch-Oeſtreicher gekräftigt hat, das durch den Schutt, den
hiſtoriſche Kämpfe hinterlaſſen, wohl verdeckt, aber nicht erſtickt
worden iſt.
Ich fand bei dem Kaiſer Franz Joſeph eine ſehr huldreiche
[246/0270]
Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
Aufnahme und die Bereitwilligkeit, mit uns abzuſchließen. Um
mich der Zuſtimmung meines allergnädigſten Herrn zu verſichern,
hatte ich ſchon in Gaſtein täglich einen Theil der für die Cur be¬
ſtimmten Zeit am Schreibtiſche zugebracht und auseinandergeſetzt,
daß es nothwendig ſei, den Kreis der möglichen gegen uns ge¬
richteten Coalitionen einzuſchränken, und daß der zweckmäßigſte Weg
dazu ein Bündniß mit Oeſtreich ſei. Ich hatte freilich wenig
Hoffnung, daß der todte Buchſtabe meiner Abhandlungen die mehr
auf Gemüthsregungen als auf politiſcher Erwägung beruhende Auf¬
faſſung Sr. Majeſtät ändern werde. Der Abſchluß eines Vertrages,
deſſen wenn auch defenſives doch kriegeriſches Ziel ein Ausdruck
des Mißtrauens gegen den Freund und Neffen war, mit dem
er eben in Alexandrowo von Neuem unter Thränen und in der
vollſten Aufrichtigkeit des Herzens die Verſicherungen der alther¬
gebrachten Freundſchaft ausgetauſcht hatte, lief zu ſehr gegen
die ritterlichen Gefühle, mit denen der Kaiſer ſein Verhältniß zu
einem ebenbürtigen Freunde auffaßte. Ich zweifelte zwar nicht,
daß die gleiche rückhaltloſe Ehrlichkeit des Empfindens bei dem
Kaiſer Alexander vorhanden war; aber ich wußte, daß er nicht die
Schärfe des politiſchen Urtheils und nicht die Arbeitſamkeit beſaß,
die ihn dauernd gegen die unaufrichtigen Einflüſſe ſeiner Um¬
gebung gedeckt hätten, auch nicht die gewiſſenhafte Zuverläſſigkeit
in perſönlichen Beziehungen, die meinen hohen Herrn auszeichnete.
Die Offenheit, die der Kaiſer Nicolaus im Guten wie im Böſen
bewieſen hatte, war auf die weichere Natur ſeines Nachfolgers
nicht vollſtändig übergegangen; auch weiblichen Einflüſſen gegen¬
über war die Unabhängigkeit des Sohnes nicht auf derſelben Höhe
wie die des Vaters. Nun iſt aber die einzige Bürgſchaft für die
Dauer der ruſſiſchen Freundſchaft die Perſönlichkeit des regirenden
Kaiſers, und ſobald letztre eine minder ſichre Unterlage gewährt,
als Alexander I., der 1813 eine auf demſelben Throne nicht immer
vorauszuſetzende Treue gegen das preußiſche Königshaus bewährt
hat, wird man auf das ruſſiſche Bündniß, wenn man ſeiner
[247/0271]
Abneigung Wilhelms I. Tragfähigkeit von Bündniſſen.
bedarf, nicht jederzeit in dem vollen Maße des Bedürfniſſes rechnen
können.
Schon im vorigen Jahrhundert war es gefährlich, auf die
zwingende Gewalt eines Bündnißtextes zu rechnen, wenn die Ver¬
hältniſſe, unter denen er geſchrieben war, ſich geändert hatten;
heut zu Tage aber iſt es für eine große Regirung kaum möglich,
die Kraft ihres Landes für ein andres befreundetes voll ein¬
zuſetzen, wenn die Ueberzeugung des Volkes es mißbilligt. Es ge¬
währt deshalb der Wortlaut eines Vertrages dann, wenn er zur
Kriegführung zwingt, nicht mehr die gleichen Bürgſchaften wie zur
Zeit der Cabinetskriege, die mit Heeren von 30–60 000 Mann
geführt wurden; ein Familienkrieg, wie ihn Friedrich Wilhelm II.
für ſeinen Schwager in Holland führte, iſt heut ſchwer in Scene
zu ſetzen, und für einen Krieg, wie Nicolaus ihn 1849 in Ungarn
führte, finden ſich die Vorbedingungen nicht leicht wieder. In¬
deſſen iſt auf die Diplomatie in den Momenten, wo es ſich darum
handelt, einen Krieg herbeizuführen oder zu vermeiden, der Wort¬
laut eines klaren und tiefgreifenden Vertrages nicht ohne Einfluß.
Die Bereitwilligkeit zum zweifelloſen Wortbruch pflegt auch bei
ſophiſtiſchen und gewaltthätigen Regirungen nicht vorhanden zu
ſein, ſo lange nicht die force majeure unabweislicher Intereſſen
eintritt.
Alle Erwägungen und Argumente, die ich dem in Baden be¬
findlichen Kaiſer ſchriftlich aus Gaſtein, aus Wien und demnächſt
aus Berlin unterbreitete, waren ohne die gewünſchte Wirkung. Um
die Zuſtimmung des Kaiſers zu dem von mir mit Andraſſy ver¬
einbarten und von dem Kaiſer Franz Joſeph unter der Voraus¬
ſetzung, daß Kaiſer Wilhelm daſſelbe thun würde, genehmigten
Vertragsentwurfe herbeizuführen, war ich genöthigt, zu dem für
mich ſehr peinlichen Mittel der Cabinetsfrage zu greifen, und es
gelang mir, meine Collegen für mein Vorhaben zu gewinnen. Da
ich ſelbſt von den Anſtrengungen der letzten Wochen und von der
Unterbrechung der Gaſteiner Cur zu angegriffen war, um die
[248/0272]
Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
Reiſe nach Baden-Baden zu machen, ſo übernahm ſie Graf
Stolberg; er führte die Verhandlungen, wenn auch unter ſtarkem
Widerſtreben Sr. Majeſtät, glücklich zu Ende. Der Kaiſer war
von den politiſchen Argumenten nicht überzeugt worden, ſondern
ertheilte das Verſprechen, den Vertrag zu ratificiren, nur aus
Abneigung gegen einen Perſonenwechſel in dem Miniſterium. Der
Kronprinz war von Hauſe aus für das öſtreichiſche Bündniß
lebhaft eingenommen, aber ohne Einfluß auf ſeinen Vater.
Der Kaiſer hielt es in ſeinem ritterlichen Sinne für erforder¬
lich, den Kaiſer von Rußland vertraulich darüber zu verſtändigen,
daß er, wenn er eine der beiden Nachbarmächte angriffe, beide
gegen ſich haben werde, damit Kaiſer Alexander nicht etwa irrthüm¬
lich annehme, Oeſtreich allein angreifen zu können. Mir ſchien
dieſe Beſorgniß ungegründet, da das Petersburger Cabinet ſchon
aus unſrer Beantwortung der aus Livadia an uns gerichteten Frage
wiſſen mußte, daß wir Oeſtreich nicht würden fallen laſſen, durch
unſern Vertrag mit Oeſtreich alſo eine neue Situation nicht ge¬
ſchaffen, nur die vorhandene legaliſirt wurde.
VI.
Eine Erneuerung der Kaunitzſchen Coalition wäre für Deutſch¬
land, wenn es in ſich geſchloſſen einig bleibt und ſeine Kriege
geſchickt geführt werden, zwar keine verzweifelte, aber doch eine ſehr
ernſte Conſtellation, welche nach Möglichkeit zu verhüten Aufgabe
unſrer auswärtigen Politik ſein muß. Wenn die geeinte öſtreichiſch-
deutſche Macht in der Feſtigkeit ihres Zuſammenhangs und in der
Einheitlichkeit ihrer Führung ebenſo geſichert wäre wie die ruſſiſche
und die franzöſiſche, jede für ſich betrachtet, es ſind, ſo würde ich,
auch ohne daß Italien der Dritte im Bunde wäre, den gleich¬
zeitigen Angriff unſrer beiden großen Nachbarreiche nicht für lebens¬
gefährlich halten. Wenn aber in Oeſtreich antideutſche Richtungen
[249/0273]
Wilhelm I. giebt nach. Verträge zwiſchen Großſtaaten.
nationaler oder confeſſioneller Natur ſich ſtärker als bisher zeigen,
wenn ruſſiſche Verſuchungen und Anerbietungen auf dem Gebiet
der orientaliſchen Politik wie zur Zeit Katharinas und Joſephs II.
hinzutreten, wenn italieniſche Begehrlichkeiten Oeſtreichs Beſitz am
Adriatiſchen Meere bedrohn und ſeine Streitkräfte in ähnlicher
Weiſe wie zu Radetzkys Zeit in Anſpruch nehmen ſollten: dann
würde der Kampf, deſſen Möglichkeit mir vorſchwebt, ungleicher
ſein. Es braucht nicht geſagt zu werden, wie viel gefährdeter
Deutſchlands Lage erſcheint, wenn man ſich auch Oeſtreich, Her¬
ſtellung der Monarchie in Frankreich, im Einverſtändniß beider mit
der Römiſchen Curie, im Lager unſrer Gegner denkt mit dem Be¬
ſtreben, die Ergebniſſe von 1866 aus der Welt zu ſchaffen.
Dieſe peſſimiſtiſche, aber doch nicht außer dem Bereich der
Möglichkeit liegende und durch Vergangenes nicht ungerechtfertigte
Vorſtellung hatte mich veranlaßt, die Frage anzuregen, ob ſich ein
organiſcher Verband zwiſchen dem Deutſchen Reiche und Oeſtreich-
Ungarn empföhle, der nicht wie gewöhnliche Verträge kündbar,
ſondern der Geſetzgebung beider Reiche einverleibt und nur durch
einen neuen Act der Geſetzgebung eines derſelben lösbar wäre.
Eine ſolche Aſſecuranz hat für den Gedanken etwas Beruhi¬
gendes; ob auch im Drange der Ereigniſſe etwas Sicherſtellendes,
daran kann man zweifeln, wenn man ſich erinnert, daß die theo¬
retiſch ſehr viel ſtärker verpflichtende Verfaſſung des heiligen Römi¬
ſchen Reiches den Zuſammenhalt der deutſchen Nation niemals hat
ſichern können, und daß wir nicht im Stande ſein würden, für
unſer Verhältniß zu Oeſtreich einen Vertragsmodus zu finden,
der in ſich eine ſtärkere Bindekraft trüge als die frühern Bundes¬
verträge, nach denen die Schlacht von Königgrätz theoretiſch un¬
möglich war. Die Haltbarkeit aller Verträge zwiſchen Großſtaaten
iſt eine bedingte, ſobald ſie „in dem Kampf um's Daſein“ auf
die Probe geſtellt wird. Keine große Nation wird je zu bewegen
ſein, ihr Beſtehn auf dem Altar der Vertragſtreue zu opfern, wenn
ſie gezwungen iſt, zwiſchen beiden zu wählen. Das ultra posse nemo
[250/0274]
Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
obligatur kann durch keine Vertragsclauſel außer Kraft geſetzt
werden; und ebenſo wenig läßt ſich durch einen Vertrag das Maß
von Ernſt und Kraftaufwand ſicherſtellen, mit dem die Erfüllung
geleiſtet werden wird, ſobald das eigne Intereſſe des Erfüllenden
dem unterſchriebenen Texte und ſeiner frühern Auslegung nicht
mehr zur Seite ſteht. Es läßt ſich daher, wenn in der euro¬
päiſchen Politik Wendungen eintreten, die für Oeſtreich-Ungarn
eine antideutſche Politik als Staatsrettung erſcheinen laſſen, eine
Selbſtaufopferung für die Vertragstreue ebenſo wenig erwarten, wie
während des Krimkrieges die Einlöſung einer Dankespflicht er¬
folgte, die vielleicht gewichtiger war als das Pergament eines
Staatsvertrages.
Ein Bündniß unter geſetzlicher Bürgſchaft wäre eine Verwirk¬
lichung der Verfaſſungsgedanken geweſen, die in der Paulskirche
den gemäßigtſten Mitgliedern, den Vertretern des engern reichs¬
deutſchen und des größern öſtreichiſch-deutſchen Bundes vorſchwebten;
aber grade die vertragsmäßige Sicherſtellung ſolcher gegenſeitigen
Verpflichtungen iſt eine Feindin ihrer Haltbarkeit. Das Bei¬
ſpiel Oeſtreichs aus der Zeit von 1850 bis 1866 iſt mir eine
Warnung geweſen, daß die politiſchen Wechſel, die man auf ſolche
Verhältniſſe zu ziehn in Verſuchung kommt, über die Grenzen
des Credits hinausgehn, den unabhängige Staaten in ihren poli¬
tiſchen Operationen einander gewähren können. Ich glaube des¬
halb, daß das wandelbare Element des politiſchen Intereſſes und
ſeiner Gefahren ein unentbehrliches Unterfutter für geſchriebene
Verträge iſt, wenn ſie haltbar ſein ſollen. Für eine ruhige und
erhaltende öſtreichiſche Politik iſt das deutſche Bündniß das nützlichſte.
Die Gefahren, die für unſre Einigkeit mit Oeſtreich in den
Verſuchungen ruſſiſch-öſtreichiſcher Verſtändigungen im Sinne der
Zeit von Joſeph II. und Katharina oder der Reichſtadter Con¬
vention und ihrer Heimlichkeit liegen, laſſen ſich, ſo weit das über¬
haupt möglich iſt, paralyſiren, wenn wir zwar feſt auf Treue gegen
Oeſtreich, aber auch darauf halten, daß der Weg von Berlin nach
[251/0275]
Der Weg nach Petersburg muß Deutſchland frei bleiben.
Petersburg frei bleibt. Unſre Aufgabe iſt, unſre beiden kaiſer¬
lichen Nachbarn in Frieden zu erhalten. Die Zukunft der vierten
großen Dynaſtie in Italien werden wir in demſelben Maße ſicher
zu ſtellen im Stande ſein, in dem es uns gelingt, die drei
Kaiſerreiche einig zu erhalten und den Ehrgeiz unſrer beiden öſt¬
lichen Nachbarn entweder zu zügeln oder in beiderſeitiger Ver¬
ſtändigung zu befriedigen. Jeder von beiden iſt für uns nicht nur
in der europäiſchen Gleichgewichtsfrage unentbehrlich, — wir könnten
keinen von beiden miſſen, ohne ſelbſt gefährdet zu werden — ſon¬
dern die Erhaltung eines Elementes monarchiſcher Ordnung in
Wien und Petersburg, und auf der Baſis beider in Rom, iſt für
uns in Deutſchland eine Aufgabe, die mit der Erhaltung der ſtaat¬
lichen Ordnung bei uns ſelbſt zuſammenfällt.
VII.
Der Vertrag, den wir mit Oeſtreich zu gemeinſamer Ab¬
wehr eines ruſſiſchen Angriffs geſchloſſen haben, iſt publici juris.
Ein analoger Defenſivvertrag zwiſchen beiden Mächten gegenüber
Frankreich iſt nicht bekannt. Das deutſch-öſtreichiſche Bündniß
enthält gegen einen franzöſiſchen Krieg, von dem Deutſchland in
erſter Linie bedroht iſt, nicht dieſelbe Deckung wie gegen einen
ruſſiſchen, der mehr für Oeſtreich als für Deutſchland wahrſchein¬
lich iſt. Zwiſchen Deutſchland und Rußland exiſtiren keine Ver¬
ſchiedenheiten der Intereſſen, welche die Keime von Conflicten und
eines Bruches unabweislich in ſich trügen. Dagegen gewähren die
übereinſtimmenden Bedürfniſſe in der polniſchen Frage und die
Nachwirkung der hergebrachten dynaſtiſchen Solidarität im Gegen¬
ſatz zu den Umſturzbeſtrebungen Unterlagen für eine gemeinſame
Politik beider Cabinete. Dieſelben ſind abgeſchwächt worden durch
eine zehnjährige Fälſchung der öffentlichen Meinung ſeitens der
ruſſiſchen Preſſe, die in dem leſenden Theile der Bevölkerung
[252/0276]
Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
einen künſtlichen Haß gegen alles Deutſche geſchaffen und genährt
hat, mit dem die Dynaſtie rechnen muß, auch wenn der Kaiſer die
deutſche Freundſchaft pflegen will. Doch dürfte die Feindſchaft der
ruſſiſchen Maſſen gegen das Deutſchthum kaum ſchärfer zugeſpitzt
ſein, wie die der Czechen in Böhmen und Mähren, der Slowenen
in dem frühern deutſchen Bundesgebiete und der Polen in Galizien.
Kurz, wenn ich in der Wahl zwiſchen dem ruſſiſchen und dem öſt¬
reichiſchen Bündniß das letztre vorgezogen habe, ſo bin ich keines¬
wegs blind geweſen gegen die Zweifel, welche die Wahl erſchwerten.
Ich habe die Pflege nachbarlicher Beziehungen zu Rußland neben
unſerm defenſiven Bunde mit Oeſtreich nach wie vor für geboten
angeſehn, denn eine ſichre Aſſecuranz gegen einen Schiffbruch der
gewählten Combination iſt für Deutſchland nicht vorhanden, wohl
aber die Möglichkeit, antideutſche Belleitäten in Oeſtreich-Ungarn in
Schach zu halten, ſo lange die deutſche Politik ſich die Brücke, die
nach Petersburg führt, nicht abbricht und keinen Riß zwiſchen Ru߬
land und uns herſtellt, der ſich nicht überbrücken ließe. So lange
ein ſolcher unheilbarer Riß nicht vorhanden iſt, wird es für Wien
möglich bleiben, die dem deutſchen Bündniſſe feindlichen oder frem¬
den Elemente im Zaume zu halten. Wenn aber der Bruch zwiſchen
uns und Rußland, ſchon die Entfremdung, unheilbar erſchiene,
würden auch in Wien die Anſprüche wachſen, die man an die
Dienſte des deutſchen Bundesgenoſſen glauben würde ſtellen zu
können, erſtens in Erweiterung des casus foederis, der ſich bisher
nach dem veröffentlichten Texte doch nur auf die Abwehr eines
ruſſiſchen Angriffes auf Oeſtreich erſtreckt, und zweitens in dem
Verlangen, dem bezeichneten casus foederis die Vertretung öſt¬
reichiſcher Intereſſen im Balkan und im Orient zu ſubſtituiren,
was ſelbſt in unſrer Preſſe ſchon mit Erfolg verſucht worden iſt.
Es iſt natürlich, daß die Bewohner des Donaubeckens Bedürfniſſe
und Pläne haben, die ſich über die heutigen Grenzen der öſtreichiſch¬
ungariſchen Monarchie hinaus erſtrecken; und die deutſche Reichs¬
verfaſſung zeigt den Weg an, auf dem Oeſtreich eine Verſöhnung
[253/0277]
Gefahren eines Bruchs mit Rußland.
der politiſchen und materiellen Intereſſen erreichen kann, die zwiſchen
der Oſtgrenze des rumäniſchen Volksſtammes und der Bucht von
Cattaro vorhanden ſind. Aber es iſt nicht die Aufgabe des Deut¬
ſchen Reichs, ſeine Unterthanen mit Gut und Blut zur Verwirk¬
lichung von nachbarlichen Wünſchen herzuleihen. Die Erhaltung
der öſtreichiſch-ungariſchen Monarchie als einer unabhängigen ſtarken
Großmacht iſt für Deutſchland ein Bedürfniß des Gleichgewichts in
Europa, für das der Friede des Landes bei eintretender Noth¬
wendigkeit mit gutem Gewiſſen eingeſetzt werden kann. Man ſollte
ſich jedoch in Wien enthalten, über dieſe Aſſecuranz hinaus An¬
ſprüche aus dem Bündniſſe ableiten zu wollen, für die es nicht
geſchloſſen iſt.
Directe Bedrohung des Friedens zwiſchen Deutſchland und
Rußland iſt kaum auf anderm Wege möglich, als durch künſtliche
Verhetzung oder durch den Ehrgeiz ruſſiſcher oder deutſcher Militärs
von der Art Skobelews, die den Krieg wünſchen, bevor ſie zu alt
werden, um ſich darin auszuzeichnen. Es gehört ein ungewöhnliches
Maß von Dummheit und Verlogenheit in der öffentlichen Meinung
und in der Preſſe Rußlands dazu, um zu glauben und zu be¬
haupten, daß die deutſche Politik von aggreſſiven Tendenzen ge¬
leitet worden ſei, indem ſie das öſtreichiſche und dann das italie¬
niſche Defenſivbündniß abſchloß. Die Verlogenheit war mehr pol¬
niſch-franzöſiſchen, die Dummheit mehr ruſſiſchen Urſprungs. Pol¬
niſch-franzöſiſche Gewandheit hat auf dem Felde der ruſſiſchen
Leichtgläubigkeit und Unwiſſenheit den Sieg über den Mangel ſolcher
Gewandheit davongetragen, in dem je nach den Umſtänden eine
Stärke oder Schwäche der deutſchen Politik liegt. In den meiſten
Fällen iſt eine offne und ehrliche Politik erfolgreicher als die Fein¬
ſpinnerei früherer Zeiten, aber ſie bedarf, wenn ſie gelingen ſoll,
eines Maßes von perſönlichem Vertrauen, das leichter zu verlieren
als zu erwerben iſt.
Niemand kann die Zukunft Oeſtreichs an ſich mit der Sicher¬
heit berechnen, die für dauernde und organiſche Verträge erforder¬
[254/0278]
Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
lich iſt. Die bei Geſtaltung derſelben mitwirkenden Factoren ſind
ebenſo mannigfaltig wie die Völkermiſchung; und zu der ätzenden
und gelegentlich ſprengenden Wirkung dieſer kommt der unberechen¬
bare Einfluß, den je nach dem Steigen oder Fallen der römiſchen
Fluth das confeſſionelle Element auf die leitenden Perſönlichkeiten
auszuüben vermag. Nicht blos der Panſlavismus und Bulgarien
oder Bosnien, ſondern auch die ſerbiſche, die rumäniſche, die pol¬
niſche, die czechiſche Frage, ja ſelbſt noch heut die italieniſche im
Trentino, in Trieſt und an der dalmatiſchen Küſte, können zu
Kryſtalliſationspunkten für nicht blos öſtreichiſche, ſondern auch
europäiſche Kriſen werden, von denen die deutſchen Intereſſen nur
inſoweit nachweislich berührt werden, als das Deutſche Reich mit
Oeſtreich in ein ſolidariſches Haftverhältniß tritt. In Böhmen iſt
die Spaltung zwiſchen Deutſchen und Czechen ſtellenweis ſchon ſo
weit in die Armee eingedrungen, daß die Offiziere beider Nationa¬
litäten in einigen Regimentern nicht mit einander verkehren und ge¬
trennt eſſen. Für Deutſchland unmittelbar exiſtirt die Gefahr, in
ſchwere und gefährliche Kämpfe verwickelt zu werden, mehr auf
ſeiner Weſtſeite infolge der angriffsluſtigen, auf Eroberung gerich¬
teten Neigungen des franzöſiſchen Volks, die von den Monarchen
ſeit den Zeiten Kaiſer Karls V. im Intereſſe ihrer Herrſchſucht im
Innern ſowohl wie nach Außen groß gezogen worden ſind.
Der Beiſtand Oeſtreichs iſt für uns gegen Rußland leichter
zu haben als gegen Frankreich, nachdem die Frictionen dieſer beiden
Mächte in dem von ihnen umworbenen Italien in der alten Form
nicht mehr exiſtiren. Für ein monarchiſches und katholiſch geſinntes
Frankreich, wenn ein ſolches wieder erſtanden, wäre die Hoffnung
nicht erſtorben, ähnliche Beziehungen zu Oeſtreich wieder zu ge¬
winnen, wie ſie während des ſiebenjährigen Krieges und auf dem
Wiener Congreß vor der Rückkehr Napoleons von Elba beſtanden,
in der polniſchen Frage 1863 drohten, im Krimkriege und zur
Zeit des Grafen Beuſt von 1866 bis 1870 in Salzburg und Wien
Ausſicht auf Verwirklichung hatten. Bei etwaiger Wiederherſtellung
[255/0279]
Unſicherheit der Zukunft Oeſtreichs.
der Monarchie in Frankreich würde die durch die italieniſche
Rivalität nicht mehr abgeſchwächte gegenſeitige Anziehung der beiden
katholiſchen Großmächte unternehmende Politiker in Verſuchung
führen können, mit der Wiederbelebung derſelben zu experimentiren.
In der Beurtheilung Oeſtreichs iſt es auch heut noch ein Irr¬
thum, die Möglichkeit einer feindſeligen Politik auszuſchließen, wie
ſie von Thugut, Schwarzenberg, Buol, Bach und Beuſt getrieben
worden iſt. Kann ſich nicht die Politik für Pflicht gehaltner Un¬
dankbarkeit, deren Schwarzenberg ſich Rußland gegenüber rühmte, in
andrer Richtung wiederholen, die Politik, die uns von 1792 bis
1795, während wir mit Oeſtreich im Felde ſtanden, Verlegenheit be¬
reitete und im Stiche ließ, um uns gegenüber in den polniſchen
Händeln ſtark genug zu bleiben, die bis dicht an den Erfolg beſtrebt
war, uns einen ruſſiſchen Krieg auf den Hals zu ziehn, während
wir als nominelle Verbündete für das Deutſche Reich gegen Frank¬
reich fochten, die ſich auf dem Wiener Congreß bis nahe zum
Kriege zwiſchen Rußland und Preußen geltend machte? Die An¬
wandlungen, ähnliche Wege einzuſchlagen, werden für jetzt durch
die perſönliche Ehrlichkeit und Treue des Kaiſers Franz Joſeph
niedergehalten, und dieſer Monarch iſt nicht mehr ſo jung und
ohne Erfahrung, wie zu der Zeit, da er ſich von der perſönlichen
Rancüne des Grafen Buol gegen den Kaiſer Nicolaus zum poli¬
tiſchen Druck auf Rußland beſtimmen ließ, wenig Jahre nach
Vilagos; aber ſeine Garantie iſt eine rein perſönliche, fällt mit dem
Perſonenwechſel hinweg, und die Elemente, die die Träger einer
rivaliſirenden Politik zu verſchiedenen Epochen geweſen ſind, können
zu neuem Einfluſſe gelangen. Die Liebe der galiziſchen Polen, des
ultramontanen Clerus für das Deutſche Reich iſt vorübergehender
und opportuniſtiſcher Natur, ebenſo das Uebergewicht der Einſicht
in die Nützlichkeit der deutſchen Anlehnung über das Gefühl der
Geringſchätzung, mit dem der vollblütige Magyar auf den Schwaben
herabſieht. In Ungarn, in Polen ſind franzöſiſche Sympathien
auch heut lebendig, und im Clerus der habsburgiſchen Geſammt¬
[256/0280]
Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
monarchie würde eine katholiſch-monarchiſche Reſtauration in Frank¬
reich die Beziehungen wieder beleben können, die 1863 und
zwiſchen 1866 und 1870 in gemeinſamer Diplomatie und in mehr
oder weniger reifen Vertragsbildungen ihren Ausdruck fanden. Die
Bürgſchaft, die dieſen Möglichkeiten gegenüber in der Perſon
des heutigen Kaiſers von Oeſtreich und Königs von Ungarn liegt,
ſteht, wie geſagt, auf zwei Augen; eine vorausſehende Politik ſoll
aber alle Eventualitäten im Auge behalten, die im Reiche der
Möglichkeit liegen. Die Möglichkeit eines Wettbewerbes zwiſchen
Wien und Berlin um ruſſiſche Freundſchaft kann ebenſo gut wieder¬
kommen, wie ſie zur Zeit von Olmütz vorhanden war, und zur
Zeit des Reichſtadter Vertrages unter dem uns ſehr wohlgeſinnten
Grafen Andraſſy Lebenszeichen gab.
Dieſer Eventualität gegenüber iſt es ein Vortheil für uns,
daß Oeſtreich und Rußland entgegengeſetzte Intereſſen im Balkan
haben, und daß ſolche zwiſchen Rußland und Preußen-Deutſchland
nicht in der Stärke vorhanden ſind, daß ſie zu Bruch und Kampf
Anlaß geben könnten. Dieſer Vortheil kann aber vermöge der ruſſi¬
ſchen Staatsverfaſſung durch perſönliche Verſtimmungen und unge¬
ſchickte Politik noch heut mit derſelben Leichtigkeit aufgehoben werden,
mit der die Kaiſerin Eliſabeth durch Witze und bittre Worte Fried¬
richs des Großen bewogen wurde, dem franzöſiſch-öſtreichiſchen
Bunde gegen uns beizutreten. Zuträgereien, wie ſie damals zur Auf¬
hetzung Rußlands dienten, Erfindungen und Indiscretionen werden
auch heut an beiden Höfen nicht fehlen; aber wir können Unabhängigkeit
und Würde Rußland gegenüber wahren, ohne die ruſſiſche Empfind¬
lichkeit zu provociren und Rußlands Intereſſen zu ſchädigen. Ver¬
ſtimmung und Erbitterung, welche ohne Nothwendigkeit provocirt
werden, ſind heut ſo wenig ohne Rückwirkung auf die geſchichtlichen
Ereigniſſe, wie zur Zeit der Kaiſerin Eliſabeth von Rußland und
der Königin Anna von England. Aber die Rückwirkung von Ereig¬
niſſen, die dadurch gefördert werden, auf das Wohl und die Zu¬
kunft der Völker iſt heut zu Tage gewaltiger als vor 100 Jahren.
[257/0281]
Aufgaben einer vorſchauenden Politik Deutſchlands.
Eine Coalition wie im ſiebenjährigen Kriege gegen Preußen von
Rußland, Oeſtreich und Frankreich, vielleicht in Verbindung mit
andern dynaſtiſchen Unzufriedenheiten, iſt für unſre Exiſtenz ebenſo
gefährlich und für unſern Wohlſtand, wenn ſie ſiegt, noch er¬
drückender als die damalige. Es iſt unvernünftig und ruchlos, die
Brücke, die uns eine Annäherung an Rußland geſtattet, aus per¬
ſönlicher Verſtimmung abzubrechen.
Wir müſſen und können der öſtreichiſch-ungariſchen Mon¬
archie das Bündniß ehrlich halten; es entſpricht unſern Intereſſen,
den hiſtoriſchen Traditionen Deutſchlands und der öffentlichen Mei¬
nung unſres Volkes. Die Eindrücke und Kräfte, unter denen
die Zukunft der Wiener Politik ſich zu geſtalten haben wird, ſind
jedoch complicirter als bei uns, wegen der Mannigfaltigkeit der
Nationalitäten, der Divergenz ihrer Beſtrebungen, der clericalen
Einflüſſe und der in den Breiten des Balkan und des Schwarzen
Meeres für die Donauländer liegenden Verſuchungen. Wir dürfen
Oeſtreich nicht verlaſſen, aber auch die Möglichkeit, daß wir von
der Wiener Politik freiwillig oder unfreiwillig verlaſſen werden,
nicht aus den Augen verlieren. Die Möglichkeiten, die uns in
ſolchen Fällen offen bleiben, muß die Leitung der deutſchen Politik,
wenn ſie ihre Pflicht thun will, ſich klar machen und gegenwärtig
halten, bevor ſie eintreten, und ſie dürfen nicht von Vorliebe oder
Verſtimmung abhängen, ſondern nur von objectiver Erwägung der
nationalen Intereſſen.
VIII.
Ich habe mich ſtets bemüht, nicht nur die Sicherſtellung gegen
ruſſiſche Angriffe, ſondern auch die Beruhigung der ruſſiſchen Stim¬
mung und den Glauben an den inoffenſiven Charakter unſrer
Politik zu pflegen. Es iſt mir auch bis zu meinem Ausſcheiden
aus dem Amte vermöge des perſönlichen Vertrauens, das Kaiſer
Alexander III. mir ſchenkte, ſtets gelungen, dem Mißtrauen die
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 17
[258/0282]
Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.
Spitze abzubrechen, das wiederholt durch fremde und einheimiſche
Entſtellungen und gelegentlich durch diesſeitige militäriſche Unter¬
ſtrömungen in ihm erregt wurde. Er hat mir, als ich ihn auf der
Danziger Rhede zum erſten Male als Kaiſer ſah, und bei allen
ſpätern Begegnungen auch trotz der über den Berliner Congreß
verbreiteten Lügen und trotz der Kenntniß des öſtreichiſchen Ver¬
trags ein Wohlwollen bewieſen, das in Skierniewice und in Berlin
zum authentiſchen Ausdruck kam und darauf beruhte, daß er mir
glaubte. Selbſt die durch ihre unverſchämte Dreiſtigkeit eindrucks¬
volle Intrige mit gefälſchten Briefen, die ihm in Kopenhagen zu¬
geſteckt worden waren, wurde durch meine einfache Verſicherung ſofort
unſchädlich gemacht. Ebenſo gelang es mir bei der Begegnung im
October 1889, die Zweifel, die er wieder aus Kopenhagen mit¬
gebracht hatte, zu zerſtreuen bis auf den einen, ob ich Miniſter
bleiben würde. Er war wohl beſſer unterrichtet als ich, als er die
Frage an mich richtete, ob ich meiner Stellung bei dem jungen
Kaiſer ganz ſicher ſei. Ich antwortete, was ich damals dachte, daß
ich von dem Vertrauen Kaiſer Wilhelms II. zu mir überzeugt ſei
und nicht glaubte, daß ich jemals gegen meinen Willen würde ent¬
laſſen werden, weil Seine Majeſtät bei meiner langjährigen Er¬
fahrung im Dienſte und bei dem Vertrauen, das ich mir in Deutſch¬
land ſowohl wie bei den auswärtigen Höfen erworben hätte, in
meiner Perſon einen ſchwer zu erſetzenden Diener beſäße. Der
Kaiſer gab ſeiner großen Genugthuung über meine Zuverſicht Aus¬
druck, wenn er ſie auch nicht unbedingt zu theilen ſchien.
Die internationale Politik iſt ein flüſſiges Element, das unter
Umſtänden zeitweilig feſt wird, aber bei Veränderungen der Atmo¬
ſphäre in ſeinen urſprünglichen Aggregatzuſtand zurückfällt. Die
clausula rebus sic stantibus wird bei Staatsverträgen, die
Leiſtungen bedingen, ſtillſchweigend angenommen. Der Dreibund
iſt eine ſtrategiſche Stellung, welche Angeſichts der zur Zeit ſeines
Abſchluſſes drohenden Gefahren rathſam und unter den obwaltenden
Verhältniſſen zu erreichen war. Er iſt von Zeit zu Zeit verlängert
[259/0283]
Vertrauen Alexanders III. Toujours en vedette!
worden, und es mag gelingen, ihn weiter zu verlängern; aber
ewige Dauer iſt keinem Vertrage zwiſchen Großmächten geſichert,
und es wäre unweiſe, ihn als ſichre Grundlage für alle Mög¬
lichkeiten betrachten zu wollen, durch die in Zukunft die Ver¬
hältniſſe, Bedürfniſſe und Stimmungen verändert werden können,
unter denen er zu Stande gebracht wurde. Er hat die Bedeutung
einer ſtrategiſchen Stellungnahme in der europäiſchen Politik nach
Maßgabe ihrer Lage zur Zeit des Abſchluſſes; aber ein für jeden
Wechſel haltbares ewiges Fundament bildet er für alle Zukunft
ebenſo wenig, wie viele frühere Tripel- und Quadrupel-Allianzen
der letzten Jahrhunderte und insbeſondre die heilige Allianz und
der Deutſche Bund. Er diſpenſirt nicht von dem toujours en vedette!
[[260]/0284]
Dreißigſtes Kapitel.
Zukünftige Politik Rußlands.
Die Gefahr auswärtiger Kriege, die Gefahr, daß der nächſte
auf der Weſtgrenze uns gegenüber die rothe Fahne ebenſo gut wie
vor hundert Jahren die dreifarbige in's Gefecht führen könne, lag
zur Zeit von Schnäbele und Boulanger vor und liegt noch heut
vor. Die Wahrſcheinlichkeit eines Krieges nach zwei Seiten hin
iſt durch den Tod von Katkow und Skobelew in etwas vermindert:
es iſt nicht nothwendig, daß ein franzöſiſcher Angriff auf uns Ru߬
land mit derſelben Gewißheit gegen uns in das Feld rufen würde,
wie ein ruſſiſcher Angriff Frankreich; aber die Neigung Rußlands,
ſtill zu ſitzen, hängt nicht allein von Stimmungen, ſondern mehr
noch von techniſchen Fragen der Bewaffnung zu Waſſer und zu
Lande ab. Wenn Rußland mit der Conſtruction ſeines Gewehrs,
der Art ſeines Pulvers und der Stärke ſeiner Schwarzen-Meer-
Flotte ſeiner Meinung nach „fertig“ iſt, ſo wird die Tonart, in
der heut die Variationen der ruſſiſchen Politik gehalten ſind, viel¬
leicht einer freiern Platz machen.
Es iſt nicht wahrſcheinlich, daß Rußland, wenn es ſeine
Rüſtung vollendet hat, dieſelbe benutzen wird, um ohne Weitres
und in Rechnung auf franzöſiſchen Beiſtand uns anzugreifen. Der
deutſche Krieg bietet für Rußland ebenſo wenig unmittelbare Vor¬
theile, wie der ruſſiſche für Deutſchland, höchſtens im Betrage der
[261/0285]
Wahrſcheinlicher Grund der Zurückhaltung Rußlands.
Kriegscontribution würde der ruſſiſche Sieger günſtiger ſtehn als
der deutſche, aber doch kaum auf ſeine Koſten kommen. Der Ge¬
danke an den Erwerb Oſtpreußens, der im ſiebenjährigen Kriege
an das Licht trat, wird ſchwerlich noch Anhänger haben. Wenn
Rußland ſchon den deutſchen Beſtandtheil der Bevölkerung ſeiner
baltiſchen Provinzen nicht vertragen mag, ſo iſt nicht anzunehmen,
daß ſeine Politik auf die Verſtärkung dieſer für gefährlich ge¬
haltenen Minderheit durch einen ſo kräftigen Zuſatz wie den oſt¬
preußiſchen ausgehn wird. Ebenſo wenig erſcheint dem ruſſiſchen
Staatsmanne eine Vermehrung der polniſchen Unterthanen des
Zaren durch Poſen und Weſtpreußen begehrenswerth. Wenn man
Deutſchland und Rußland iſolirt betrachtet, ſo iſt es ſchwer, auf
einer von beiden Seiten einen zwingenden oder auch nur berech¬
tigten Kriegsgrund zu finden. Lediglich zur Befriedigung der Rauf¬
luſt oder zur Verhütung der Gefahren unbeſchäftigter Heere kann
man vielleicht in einen Balkankrieg gehn; ein deutſch-ruſſiſcher
aber wiegt zu ſchwer, um auf der einen oder andern Seite als
Mittel nur zur Beſchäftigung der Armee und ihrer Offiziere ver¬
wendet zu werden.
Ich glaube auch nicht, daß Rußland, wenn es fertig iſt, ohne
Weitres Oeſtreich angreifen würde, und bin noch heut der Mei¬
nung, daß die Truppenaufſtellung im ruſſiſchen Weſten auf keine
direct aggreſſive Tendenz gegen Deutſchland berechnet iſt, ſondern
nur auf die Vertheidigung im Falle, daß Rußlands Vorgehn gegen
die Türkei die weſtlichen Mächte zur Repreſſion beſtimmen ſollte.
Wenn Rußland ſich für ausreichend gerüſtet halten wird, wozu
eine angemeſſene Stärke der Flotte im Schwarzen Meere gehört,
ſo wird, denke ich mir, das Petersburger Cabinet, ähnlich wie
es in dem Vertrage von Hunkiar-Iſkeleſſi 1833 verfahren, dem
Sultan anbieten, ihm ſeine Stellung in Konſtantinopel und den
ihm verbliebenen Provinzen zu garantiren, wenn er Rußland den
Schlüſſel zum ruſſiſchen Hauſe, d. h. zum Schwarzen Meere, in
der Geſtalt eines ruſſiſchen Verſchluſſes des Bosporus gewährt.
[262/0286]
Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.
Daß die Pforte auf ein ruſſiſches Protectorat in dieſer Form
eingehe, liegt nicht nur in der Möglichkeit, ſondern, wenn die
Sache geſchickt betrieben wird, auch in der Wahrſcheinlichkeit. Der
Sultan hat in frühern Jahrzehnten glauben können, daß die
Eiferſucht der europäiſchen Mächte ihm gegen Rußland Garantien
gewähre. Für England und Oeſtreich war es eine traditionelle
Politik, die Türkei zu erhalten; aber die Gladſtoneſchen Kund¬
gebungen haben dem Sultan dieſen Rückhalt entzogen, nicht nur
in London, ſondern auch in Wien, denn man kann nicht an¬
nehmen, daß das Wiener Cabinet die Traditionen der Metter¬
nichſchen Zeit (Ypſilanti, Feindſchaft gegen die Befreiung Griechen¬
lands) hätte in Reichſtadt fallen laſſen, wenn es der engliſchen
Unterſtützung ſicher geblieben wäre. Der Bann der Dankbarkeit
gegen den Kaiſer Nicolaus war bereits durch Buol während
des Krimkrieges gebrochen, und auf dem Pariſer Congreſſe war
die Haltung Oeſtreichs um ſo deutlicher in die alte Metternichſche
Richtung zurückgetreten, als ſie nicht durch die finanziellen Be¬
ziehungen jenes Staatsmannes zum ruſſiſchen Kaiſer gemildert,
vielmehr durch Kränkung der Eitelkeit des Grafen Buol verſchärft
war. Das Oeſtreich von 1856 würde ohne die zerſetzende Wir¬
kung ungeſchickter engliſcher Politik ſelbſt um den Preis Bosniens
ſich weder von England noch von der Pforte losgeſagt haben.
So wie die Sachen aber heut liegen, iſt es nicht wahrſcheinlich,
daß der Sultan von England oder Oeſtreich noch ſo viel Bei¬
ſtand und Schutz erwartet, wie ihm Rußland, ohne eigne Intereſſen
Preis zu geben, zuſagen und vermöge ſeiner Nachbarſchaft erfolg¬
reich gewähren kann.
Wenn Rußland, nachdem es hinreichend fertig iſt, um den
Sultan und den Bosporus nöthigenfalls militäriſch zu Waſſer und
zu Lande überzulaufen, dem Sultan perſönlich und vertraulich vor¬
ſchlägt, gegen Bewilligung einer ausreichenden Befeſtigung und
Truppenzahl am nördlichen Eingang des Bosporus ihm ſeine
Stellung im Serail und alle Provinzen nicht nur gegen das Aus¬
[263/0287]
Sein Streben nach dem Beſitze von Konſtantinopel.
land, ſondern auch gegen ſeine eignen Unterthanen zu garantiren,
ſo würde das ein Angebot ſein, in dem eine erhebliche Verſuchung
zur Annahme liegt. Setzen wir aber den Fall, daß der Sultan
aus eignem oder auf fremden Antrieb die ruſſiſche Inſinuation
zurückweiſt, ſo kann die neue Schwarze-Meer-Flotte die Beſtimmung
haben, auch vor entſchiedener Sache ſich der Stellung am Bosporus
zu bemächtigen, deren Rußland zu bedürfen glaubt, um in den
Beſitz ſeines Hausſchlüſſels zu gelangen.
Wie auch dieſe Phaſe der von mir vorausgeſetzten ruſſiſchen
Politik verlaufen mag, ſo wird aus derſelben immer die Situation
entſtehn, daß Rußland wie im Juli 1853 ein Pfand nimmt
und abwartet, ob man und wer es ihm wieder abnehmen werde.
Der erſte Schritt der ruſſiſchen Diplomatie nach dieſen ſeit lange
vorbereiteten Operationen würde vielleicht eine vorſichtige Sondirung
in Berlin ſein, bezüglich der Frage, ob Oeſtreich oder England,
wenn ſie ſich dem ruſſiſchen Vorgehn kriegeriſch widerſetzten, auf
die Unterſtützung Deutſchlands rechnen könnten. Dieſe Frage würde
meiner Ueberzeugung nach unbedingt zu verneinen ſein. Ich glaube,
daß es für Deutſchland nützlich ſein würde, wenn die Ruſſen auf
dem einen oder andern Wege, phyſiſch oder diplomatiſch, ſich in
Konſtantinopel feſtgeſetzt und daſſelbe zu vertheidigen hätten. Wir
würden dann nicht mehr in der Lage ſein, von England und
gelegentlich auch von Oeſtreich als Hetzhund gegen ruſſiſche Bos¬
porus-Gelüſte ausgebeutet zu werden, ſondern abwarten können, ob
Oeſtreich angegriffen wird und damit unſer casus belli eintritt.
Auch für die öſtreichiſche Politik wäre es richtiger, ſich den
Wirkungen des ungariſchen Chauvinismus ſo lange zu entziehn,
bis Rußland eine Poſition am Bosporus eingenommen und dadurch
ſeine Frictionen mit den Mittelmeerſtaaten, alſo mit England und
ſelbſt mit Italien und Frankreich, erheblich verſchärft und ſein Be¬
dürfniß, ſich mit Oeſtreich à l'amiable zu verſtändigen, geſteigert
hätte. Wenn ich öſtreichiſcher Miniſter wäre, ſo würde ich die
Ruſſen nicht hindern, nach Konſtantinopel zu gehn, aber eine Ver¬
[264/0288]
Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.
ſtändigung mit ihnen erſt beginnen, nachdem ſie den Vorſtoß gemacht
hätten. Die Betheiligung Oeſtreichs an der türkiſchen Erbſchaft
wird doch nur im Einverſtändniſſe mit Rußland geregelt werden,
und der öſtreichiſche Antheil um ſo größer ausfallen, je mehr
man in Wien zu warten und die ruſſiſche Politik zu ermuthigen
weiß, eine weiter vorgeſchobene Stellung einzunehmen. England
gegenüber mag die Poſition des heutigen Rußland als verbeſſert
gelten, wenn es Konſtantinopel beherrſcht, Oeſtreich und Deutſch¬
land gegenüber iſt ſie weniger gefährlich, ſo lange es in Konſtan¬
tinopel ſteht. Es würde dann die preußiſche Ungeſchicklichkeit nicht
mehr möglich ſein, uns wie 1855 für Oeſtreich, England, Frank¬
reich auszuſpielen und einzuſetzen, um uns in Paris eine demüthi¬
gende Zulaſſung zum Congreß und eine mention honorable als
europäiſche Macht zu verdienen.
Wenn man die Sondirung, ob Rußland, wenn es wegen ſeines
Vorgreifens nach dem Bosporus von andern Mächten angegriffen
wird, auf unſre Neutralität rechnen könne, ſo lange Oeſtreich
nicht gefährdet werde, in Berlin verneinend oder gar bedrohlich
beantwortet, ſo wird Rußland zunächſt denſelben Weg wie 1876
in Reichſtadt einſchlagen und wieder verſuchen, Oeſtreichs Ge¬
noſſenſchaft zu gewinnen. Das Feld, auf dem Rußland An¬
erbietungen machen könnte, iſt ein ſehr weites, nicht nur im Orient
auf Koſten der Pforte, ſondern auch in Deutſchland auf unſre
Koſten. Die Zuverläſſigkeit unſres Bündniſſes mit Oeſtreich-
Ungarn gegenüber ſolchen Verſuchungen wird nicht allein von dem
Buchſtaben der Verabredung, ſondern auch einigermaßen von dem
Charakter der Perſönlichkeiten und von den politiſchen und con¬
feſſionellen Strömungen abhängen, die dann in Oeſtreich leitend
ſein werden. Gelingt es der ruſſiſchen Politik, Oeſtreich zu ge¬
winnen, ſo iſt die Coalition des ſiebenjährigen Krieges gegen uns
fertig, denn Frankreich wird immer gegen uns zu haben ſein, weil
ſeine Intereſſen am Rheine gewichtiger ſind als die im Orient und
am Bosporus.
[265/0289]
Welche Politik haben Oeſtreich und Deutſchland zu befolgen?
Jedenfalls wird auch in der Zukunft nicht bloß kriegeriſche
Rüſtung, ſondern auch ein richtiger politiſcher Blick dazu gehören,
das deutſche Staatsſchiff durch die Strömungen der Coalitionen zu
ſteuern, denen wir nach unſrer geographiſchen Lage und unſrer
Vorgeſchichte ausgeſetzt ſind. Durch Liebenswürdigkeiten und wirth¬
ſchaftliche Trinkgelder für befreundete Mächte werden wir den Ge¬
fahren, die im Schoße der Zukunft liegen, nicht vorbeugen, ſondern
die Begehrlichkeit unſrer einſtweiligen Freunde und ihre Rechnung
auf unſer Gefühl ſorgenvoller Bedürftigkeit ſteigern. Meine Be¬
fürchtung iſt, daß auf dem eingeſchlagenen Wege unſre Zukunft
kleinen und vorübergehenden Stimmungen der Gegenwart geopfert
wird. Frühere Herrſcher ſahen mehr auf Befähigung als auf
Gehorſam ihrer Rathgeber; wenn der Gehorſam allein das Kriterium
iſt, ſo wird ein Anſpruch an die univerſelle Begabung des Monarchen
geſtellt, dem ſelbſt Friedrich der Große nicht genügen würde, obſchon
die Politik in Krieg und Frieden zu ſeiner Zeit weniger ſchwierig
war wie heut.
Unſer Anſehn und unſre Sicherheit werden ſich um ſo nach¬
haltiger entwickeln, je mehr wir uns bei Streitigkeiten, die uns
nicht unmittelbar berühren, in der Reſerve halten und unempfindlich
werden gegen jeden Verſuch, unſre Eitelkeit zu reizen und aus¬
zubeuten, Verſuche, wie ſie während des Krimkrieges von der eng¬
liſchen Preſſe und dem engliſchen Hofe und den auf England ge¬
ſtützten Strebern an unſerm eignen Hofe gemacht wurden, indem
man uns mit der Entziehung der Titulatur einer Großmacht ſo
erfolgreich bedrohte, daß Herr von Manteuffel uns in Paris großen
Demüthigungen ausſetzte, um zur Mitunterſchrift eines Vertrages
zugelaſſen zu werden, an den nicht gebunden zu ſein uns nützlich
geweſen ſein würde 1). Deutſchland würde auch heut eine große
Thorheit begehn, wenn es in orientaliſchen Streitfragen ohne eignes
Intereſſe früher Partei nehmen wollte, als die andern, mehr inter¬
1) S. Bd. I 276 f.
[266/0290]
Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.
eſſirten Mächte. Wie das ſchwächere Preußen ſchon während des
Krimkrieges Momente hatte, in denen es bei entſchloſſener Rüſtung
im Sinne öſtreichiſcher Forderungen und über dieſelben hinaus
den Frieden gebieten und ſein Verſtändniß mit Oeſtreich über
deutſche Fragen fördern konnte, ſo wird auch Deutſchland in zu¬
künftigen orientaliſchen Händeln, wenn es ſich zurückzuhalten weiß,
den Vortheil, daß es die in orientaliſchen Fragen am wenigſten inter¬
eſſirte Macht iſt, um ſo ſichrer verwerthen können, je länger es ſeinen
Einſatz zurückhält, auch wenn dieſer Vortheil nur in längerem Genuſſe
des Friedens beſtände. Oeſtreich, England, Italien werden einem
ruſſiſchen Vorſtoße auf Konſtantinopel gegenüber immer früher
Stellung zu nehmen haben als die Franzoſen, weil die orientaliſchen
Intereſſen Frankreichs weniger zwingend und mehr im Zuſammen¬
hange mit der deutſchen Grenzfrage zu denken ſind. Frankreich
würde in ruſſiſch-orientaliſchen Kriſen weder auf eine neue „weſt¬
mächtliche“ Politik, noch um ſeiner Freundſchaft mit Rußland willen
auf eine Bedrohung Englands ſich einlaſſen können, ohne vorgängige
Verſtändigung oder vorgängigen Bruch mit Deutſchland.
Dem Vortheile, den der deutſchen Politik ihre Freiheit von
directen orientaliſchen Intereſſen gewährt, ſteht der Nachtheil der
centralen und exponirten Lage des Deutſchen Reiches mit ſeinen
ausgedehnten Vertheidigungsfronten nach allen Seiten hin und die
Leichtigkeit antideutſcher Coalitionen gegenüber. Dabei iſt Deutſch¬
land vielleicht die einzige große Macht in Europa, die durch
keine Ziele, die nur durch ſiegreiche Kriege zu erreichen wären, in
Verſuchung geführt wird. Unſer Intereſſe iſt, den Frieden zu er¬
halten, während unſre continentalen Nachbarn ohne Ausnahme
Wünſche haben, geheime oder amtlich bekannte, die nur durch Krieg
zu erfüllen ſind. Dementſprechend müſſen wir unſre Politik ein¬
richten, das heißt den Krieg nach Möglichkeit hindern oder ein¬
ſchränken, uns in dem europäiſchen Kartenſpiele die Hinterhand
wahren und uns durch keine Ungeduld, keine Gefälligkeit auf Koſten
des Landes, keine Eitelkeit oder befreundete Provocation vor der
[267/0291]
Deutſchlands Aufgabe: den Frieden zu erhalten.
Zeit aus dem abwartenden Stadium in das handelnde drängen
laſſen; wenn nicht, plectuntur Achivi.
Unſre Zurückhaltung kann vernünftiger Weiſe nicht den Zweck
haben, über irgend einen unſrer Nachbarn oder möglichen Gegner
mit geſchonten Kräften herzufallen, nachdem die andern ſich ge¬
ſchwächt hätten. Im Gegentheil ſollten wir uns bemühn, die
Verſtimmungen, die unſer Heranwachſen zu einer wirklichen Gro߬
macht hervorgerufen hat, durch den ehrlichen und friedliebenden
Gebrauch unſrer Schwerkraft abzuſchwächen, um die Welt zu über¬
zeugen, daß eine deutſche Hegemonie in Europa nützlicher und
unparteiiſcher, auch unſchädlicher für die Freiheit andrer wirkt als
eine franzöſiſche, ruſſiſche oder engliſche. Die Achtung vor den
Rechten andrer Staaten, an der namentlich Frankreich in den
Zeiten ſeines Uebergewichts es hat fehlen laſſen, und die in Eng¬
land doch nur ſo weit reicht, als die engliſchen Intereſſen nicht
berührt werden, wird dem Deutſchen Reiche und ſeiner Politik
erleichtert, einerſeits durch die Objectivität des deutſchen Charakters,
andrerſeits durch die verdienſtloſe Thatſache, daß wir eine Ver¬
größerung unſres unmittelbaren Gebietes nicht brauchen, auch nicht
herſtellen könnten, ohne die centrifugalen Elemente im eignen Ge¬
biete zu ſtärken. Mein ideales Ziel, nachdem wir unſre Einheit
innerhalb der erreichbaren Grenzen zu Stande gebracht hatten, iſt
ſtets geweſen, das Vertrauen nicht nur der mindermächtigen euro¬
päiſchen Staaten, ſondern auch der großen Mächte zu erwerben,
daß die deutſche Politik, nachdem ſie die injuria temporum, die
Zerſplitterung der Nation, gut gemacht hat, friedliebend und gerecht
ſein will. Um dieſes Vertrauen zu erzeugen, iſt vor allen Dingen
Ehrlichkeit, Offenheit und Verſöhnlichkeit im Falle von Reibungen
oder von untoward events nöthig. Ich habe dieſes Recept nicht
ohne Widerſtreben meiner perſönlichen Empfindlichkeiten befolgt in
Fällen wie Schnäbele (April 1887), Boulanger, Kaufmann (Sep¬
tember 1887), Spanien gegenüber in der Carolinen-Frage, den
Vereinigten Staaten gegenüber in Samoa, und vermuthe, daß die
[268/0292]
Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.
Gelegenheiten, zur Anſchauung zu bringen, daß wir befriedigt und
friedliebend ſind, auch in Zukunft nicht ausbleiben werden. Ich
habe während meiner Amtsführung zu drei Kriegen gerathen, dem
däniſchen, dem böhmiſchen und dem franzöſiſchen, aber mir auch
jedesmal vorher klar gemacht, ob der Krieg, wenn er ſiegreich wäre,
einen Kampfpreis bringen würde, werth der Opfer, die jeder Krieg
fordert und die heut ſo viel ſchwerer ſind, als in dem vorigen
Jahrhundert. Wenn ich mir hätte ſagen müſſen, daß wir nach
einem dieſer Kriege in Verlegenheit ſein würden, uns wünſchens¬
werthe Friedensbedingungen auszudenken, ſo würde ich mich, ſo lange
wir nicht materiell angegriffen waren, ſchwerlich von der Noth¬
wendigkeit ſolcher Opfer überzeugt haben. Internationale Streitig¬
keiten, die nur durch den Volkskrieg erledigt werden können, habe
ich niemals aus dem Geſichtspunkte des Göttinger Comments und
der Privatmenſuren-Ehre aufgefaßt, ſondern ſtets nur in Abwägung
ihrer Rückwirkung auf den Anſpruch des deutſchen Volkes, in Gleich¬
berechtigung mit den andern großen Mächten Europas ein autonomes
politiſches Leben zu führen, wie es auf der Baſis der uns eigen¬
thümlichen nationalen Leiſtungsfähigkeit möglich iſt.
Die traditionelle ruſſiſche Politik, die ſich theils auf Glaubens-,
theils auf Blutsverwandſchaft gründet, der Gedanke, die Rumänen,
die Bulgaren, die griechiſchen, gelegentlich auch die römiſch-katholi¬
ſchen Serben, die unter verſchiedenen Namen zu beiden Seiten der
öſtreichiſch-ungariſchen Grenze vorkommen, zu „befreien“ von dem
türkiſchen Joche und dadurch an Rußland zu feſſeln, hat ſich nicht
bewährt. Es iſt nicht unmöglich, daß in ferner Zukunft alle dieſe
Stämme dem ruſſiſchen Syſteme gewaltſam angefügt werden, aber
daß die Befreiung allein ſie nicht in Anhänger der ruſſiſchen Macht
verwandelt, hat zuerſt der griechiſche Stamm bewieſen. Er wurde
ſeit Tſchesme (1770) als Stützpunkt Rußlands betrachtet, und noch
in dem ruſſiſch-türkiſchen Kriege von 1806 bis 1812 ſchienen die
Ziele der kaiſerlich ruſſiſchen Politik unverändert zu ſein. Ob die
Unternehmungen der Hetärie zur Zeit des auch ſchon im Weſten
[269/0293]
Rußlands „Befreiungs“-Politik.
populär gemachten Ypſilanti'ſchen Aufſtandes, des durch die Fa¬
narioten vermittelten Ausläufers gräciſirender Orientpolitik, noch die
einheitliche Zuſtimmung der verſchiedenen ruſſiſchen Strömungen
hatten, die von Araktſchejew bis zu den Decabriſten durch einander
liefen, iſt gleichgültig, jedenfalls aber waren die Erſtlinge der ruſſi¬
ſchen Befreiungspolitik, die Griechen, eine, freilich noch nicht durch¬
ſchlagende, Enttäuſchung für Rußland. Die griechiſche Befreiungs¬
politik hört mit und ſeit Navarin auch in den Augen der Ruſſen
auf, eine ruſſiſche Specialität zu ſein. Es hat lange gedauert, ehe
das ruſſiſche Cabinet aus dieſem kritiſchen Ergebniß die Conſequenzen
zog. Die rudis indigestaque moles Rußland wiegt zu ſchwer, um
für jede Wahrnehmung des politiſchen Inſtincts leicht lenkſam zu
ſein. Man fuhr fort zu befreien und machte mit den Rumänen,
Serben, Bulgaren dieſelbe Erfahrung wie mit den Griechen. Alle
dieſe Stämme haben Rußlands Hülfe zur Befreiung von den
Türken bereitwillig angenommen, aber, nachdem ſie frei geworden,
keine Neigung gezeigt, den Zaren zum Nachfolger des Sultans
anzunehmen. Ich weiß nicht, ob man in Petersburg die Ueber¬
zeugung theilt, daß auch der „einzige Freund“ des Zaren, der
Fürſt von Montenegro, was bei ſeiner entfernten und iſolirten
Situation auch einigermaßen entſchuldbar iſt, nur ſo lange die
ruſſiſche Flagge hiſſen wird, als er Aequivalente an Geld oder
Macht dafür erwartet; aber es kann in Petersburg nicht unbekannt
ſein, daß der Vladika bereit war, und vielleicht noch bereit iſt, als
großherrlich türkiſcher Connetable an die Spitze der Balkanvölker
zu treten, wenn dieſer Gedanke bei der Pforte eine hinreichend
günſtige Aufnahme und Unterſtützung fände, um für Montenegro
nützlich werden zu können.
Wenn man in Petersburg aus den bisherigen Mißgriffen die
Folgerungen ziehn und praktiſch machen will, ſo wäre es natür¬
lich, ſich auf die weniger phantaſtiſchen Fortſchritte zu beſchränken,
die durch das Gewicht der Regimenter und Kanonen zu erreichen
ſind. Der geſchichtlich poetiſchen Seite, die der Kaiſerin Katharina
[270/0294]
Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.
vorſchwebte, als ſie ihrem zweiten Enkel den Namen Conſtantin
gab, fehlt das placet der Praxis. Befreite Völker ſind nicht dank¬
bar, ſondern anſpruchsvoll, und ich denke mir, daß die ruſſiſche
Politik in der heutigen realiſtiſchen Zeit mehr techniſch als ſchwung¬
haft vorgehn wird in Behandlung der orientaliſchen Fragen.
Ihr erſtes praktiſches Bedürfniß für Kraftentwicklung im Oriente
iſt die Sicherſtellung des Schwarzen Meeres. Gelingt es, einen
feſten Verſchluß des Bosporus durch Geſchütz- und Torpedoanlagen
zu erreichen, ſo iſt die Südküſte Rußlands noch beſſer geſchützt als
die baltiſche, der die überlegnen engliſch-franzöſiſchen Flotten im
Krimkriege nicht viel anzuhaben vermochten.
So mag die Berechnung des Petersburger Cabinets ſich geſtalten,
wenn ſie als Zielpunkt zunächſt den Verſchluß des Schwarzen
Meeres und die Gewinnung des Sultans für dieſen Zweck durch
Liebe, durch Geld, durch Gewalt in Ausſicht nimmt. Wenn die
Pforte ſich der freundſchaftlichen Annäherung Rußlands erwehrt
und gegen die angedrohte Gewalt das Schwert zieht, ſo wird
Rußland wahrſcheinlich von andrer Seite angegriffen werden, und
auf dieſen Fall ſind m. E. die Truppenanhäufungen an der Weſt¬
grenze berechnet. Gelingt es, den Verſchluß des Bosporus in
Güte zu erreichen, ſo werden vielleicht die Mächte, die ſich da¬
durch beeinträchtigt finden, einſtweilen ſtille ſitzen, weil eine jede
auf die Initiative der andern und auf die Entſchließung Frank¬
reichs warten würde. Unſre Intereſſen ſind mehr als die der
andern Mächte mit dem Gravitiren der ruſſiſchen Macht nach
Süden verträglich; man kann ſogar ſagen, daß ſie dadurch gefördert
werden. Wir können die Löſung eines neuen von Rußland ge¬
ſchürzten Knotens länger als die andern abwarten.
[[271]/0295]
Einunddreißigſtes Kapitel.
Der Staatsrath.
Der durch das Geſetz vom 20. März 1817 geſtiftete Staats¬
rath war beſtimmt, den abſoluten König zu berathen. An deſſen
Stelle iſt heut zu Tage der verfaſſungsmäßig von ſeinen Miniſtern
berathene König getreten und dadurch das Staatsminiſterium in
den durch die Vorberathung des Staatsraths aufzuklärenden regi¬
renden Factor, den früher der König allein darſtellte, mit aufge¬
nommen. Die Berathung des Staatsraths iſt heut zu Tage informa¬
toriſch nicht nur für den König, ſondern auch für die verantwortlichen
Miniſter; ſeine Reactivirung im Jahre 1852 hatte den Zweck, nicht
mir die königlichen Entſchließungen, ſondern auch die Vota der
Staatsminiſter vorzubereiten.
Die Vorbereitung der Geſetzentwürfe durch das Staatsminiſte¬
rium iſt unvollkommen. Ein vortragender Rath iſt im Stande, das
Schickſal eines Geſetzes feſtzulegen bis zu der Veröffentlichung, in¬
dem er alle Einwirkungen auf den Inhalt, die von dem Staats¬
miniſterium oder in den verſchiedenen Stadien der parlamenta¬
riſchen Berathung verſucht werden, an der Außenſeite des Ent¬
wurfs abgleiten läßt, wenn der Gegenſtand ſchwierig und die Zahl
der Paragraphen groß iſt. Schon im Staatsminiſterium beherrſcht
der Reſſortminiſter nicht immer den Stoff, den ihm ſeine be¬
treffenden Räthe in Geſtalt eines Geſetzentwurfes mit Motiven
[272/0296]
Einunddreißigſtes Kapitel: Der Staatsrath.
vorgelegt haben. Noch viel weniger verwenden die übrigen Miniſter
Zeit und Mühe darauf, ſich mit Inhalt und Tragweite eines
neuen Geſetzes in allen Einzelheiten vertraut zu machen, wenn
es nicht Wirkungen hat, die in ihr eignes Reſſort eingreifen.
Iſt das aber der Fall, ſo regt ſich das Unabhängigkeitsgefühl
und der Particularismus, wovon jeder der acht föderirten miniſte¬
riellen Staaten und jeder Rath in ſeiner Sphäre beſeelt iſt. Die
Wirkung eines beabſichtigten Geſetzes auf das praktiſche Leben im
Voraus zu beurtheilen, wird aber auch der Reſſortminiſter nicht
im Stande ſein, wenn er ſelbſt ein einſeitiges Product der Büro¬
kratie iſt, noch viel weniger aber ſeine Collegen. Diejenigen unter
ihnen, die das Bewußtſein haben, nicht nur Reſſortminiſter,
ſondern Staatsminiſter mit ſolidariſcher Verantwortlichkeit für die
Geſammtpolitik zu ſein, machen nicht fünf Procent derer aus,
welche ich zu beobachten Gelegenheit gehabt habe. Die übrigen
beſchränken ſich auf das Beſtreben, ihr Reſſort einwandfrei zu ver¬
walten, die Geldmittel dazu von dem Finanzminiſter und dem
Landtage bewilligt zu erhalten und parlamentariſche Angriffe auf ihr
Reſſort mit Beredſamkeit und nach Bedürfniß unter Preisgebung
ihrer Untergebenen erfolgreich abzuwehren. Die Quittungen, die
in der königlichen Unterſchrift und der parlamentariſchen Be¬
willigung liegen, ſind ausreichend, um daneben die Frage, ob die
Sache an ſich vernünftig ſei, vor einem bürokratiſch-miniſteriellen
Gewiſſen nicht zur Entſcheidung kommen zu laſſen. Einreden eines
Collegen, deſſen Reſſort nicht direct betheiligt iſt, erregen die Em¬
pfindlichkeit des Reſſortminiſters, und dieſe wird in der Regel ge¬
ſchont, im Hinblick auf gleiche Schonung, die man für eigne An¬
träge vorkommenden Falls erwartet. Ich habe die Erinnerung, daß
die Erörterungen des alten Staatsraths vor 1848, aus dem ich
einige hervorragende Mitglieder gekannt habe, mit ſchärferer An¬
ſtrengung des eignen Urtheils und größerer Regſamkeit des Ge¬
wiſſens geführt worden ſind, als die Miniſterberathungen, die ich
mehr als vierzig Jahre lang zu beobachten in der Lage geweſen bin.
[273/0297]
Reſſortparticularismus. Landtagsberathung kein Schutz gegen Unſinn.
Ich halte auch die Vorauſſetzung für trügeriſch, daß ein un¬
geſchickter Geſetzentwurf des Miniſteriums im Landtage ſachlich
genügend richtig geſtellt werden wird. Er kann und wird hoffent¬
lich in der Regel abgelehnt werden; iſt aber die Frage, die er
betrifft, dringend, ſo liegt die Gefahr vor, daß auch miniſterieller
Unſinn glatt durch die parlamentariſchen Stadien geht, namentlich
wenn es dem Verfaſſer gelingt, den einen oder andern einflu߬
reichen oder beredten Freund für ſein Erzeugniß zu gewinnen.
Abgeordnete, die einen Geſetzentwurf von mehr als hundert
Paragraphen zu leſen ſich die Mühe geben oder mit Verſtänd¬
niß zu leſen vermöchten, ſind bei der Ueberzahl ſtudirter Leute
aus der Juſtiz und der Verwaltung wohl vorhanden, aber die
Luſt und das Pflichtgefühl zur Arbeit haben nur wenige, und dieſe
ſind vertheilt unter einander bekämpfende Fractionen und Partei¬
beſtrebungen, deren Tendenzen es ihnen erſchweren, ſachlich zu
urtheilen. Die meiſten Abgeordneten leſen und prüfen nicht, ſondern
fragen die für eigne Zwecke arbeitenden und redenden Fractions¬
führer, wann ſie in die Sitzung kommen und wie ſie ſtimmen
ſollen. Das Alles iſt aus der menſchlichen Natur erklärlich, und
niemand iſt darüber zu tadeln, daß er nicht aus ſeiner Haut
hinaus kann; nur darf man ſich darüber nicht täuſchen, daß es ein
bedenklicher Irrthum iſt, anzunehmen, daß unſern Geſetzen heut
zu Tage die Prüfung und vorbereitende Arbeit zu Theil werde, deren
ſie bedürfen, oder auch nur die, welche ſie vor 1848 genoſſen.
Ein Denkmal ſeiner Flüchtigkeit hat ſich der Reichstag von
1867 in der Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes geſetzt, das in
die Verfaſſung des Deutſchen Reiches übergegangen iſt. Der einem
Beſchluſſe des Frankfurter Bundestages nachgebildete Artikel 68 des
Entwurfs zählte fünf Verbrechen auf, die, wenn ſie gegen den Bund
begangen werden, ſo beſtraft werden ſollen, als wenn ſie gegen einen
einzelnen Bundesſtaat begangen wären. Die fünfte Nummer war
mit „endlich“ eingeführt. Der wegen ſeiner Gründlichkeit gerühmte
Tweſten ſtellte den Verbeſſerungsantrag, die drei erſten Nummern
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 18
[274/0298]
Einunddreißigſtes Kapitel: Der Staatsrath.
zu ſtreichen, hatte aber offenbar den zu verbeſſernden Artikel nicht
zu Ende geleſen und das „endlich“ ſtehn laſſen. Sein Antrag
wurde angenommen und in allen Stadien der Berathung beibehalten,
und ſo hat denn der Artikel (jetzt 74) die ſonderbare Faſſung:
Jedes Unternehmen gegen die Exiſtenz, die Integrität, die
Sicherheit oder die Verfaſſung des Deutſchen Reichs, endlich
die Beleidigung des Bundesraths, des Reichstags u. ſ. w.
Vor 1848 war man befliſſen, das Richtige und Vernünftige
zu finden, heut genügt die Majorität und die königliche Unter¬
ſchrift. Ich kann nur bedauern, daß die Mitwirkung weitrer Kreiſe
zur Vorbereitung der Geſetze, wie ſie im Staatsrath und im Volks¬
wirthſchaftsrath gegeben war, gegenüber miniſterieller oder monarchi¬
ſcher Ungeduld nicht hinreichend hat zur Geltung gebracht werden
können. Ich habe, wenn ich Muße fand, mich mit dieſen Problemen
zu beſchäftigen, zu meinen Collegen gelegentlich den Wunſch ge¬
äußert, daß ſie ihre legislatoriſche Thätigkeit damit beginnen möchten,
die Entwürfe zu veröffentlichen, der publiciſtiſchen Kritik preis zu
geben, möglichſt viele ſachkundige und an der Frage intereſſirte
Kreiſe, alſo Staatsrath, Volkswirthſchaftsrath, nach Umſtänden die
Provinziallandtage zu hören, und alsdann erſt die Berathung im
Staatsminiſterium möchten eintreten laſſen. Das Zurückdrängen des
Staatsraths und ähnlicher Berathungskörper ſchreibe ich hauptſächlich
der Eiferſucht zu, mit der dieſe unzünftigen Rathgeber in öffent¬
lichen Angelegenheiten von den zünftigen Räthen und von den
Parlamenten betrachtet werden, zugleich aber auch dem Unbehagen,
mit dem die miniſterielle Machtvollkommenheit innerhalb des eignen
Reſſorts auf das Mitreden Andrer blickt.
Die erſten Staatsrathsſitzungen, denen ich nach ſeiner Wieder¬
einberufung 1884 unter dem Vorſitz des Kronprinzen Friedrich Wil¬
helm beiwohnte, machten nicht nur mir, ſondern, wie ich glaube,
allen Theilnehmern einen geſchäftlich günſtigen Eindruck. Der Prinz
hörte die Vorträge an, ohne ein Bedürfniß, die Vortragenden zu
[275/0299]
Ein Denkmal der Flüchtigkeit. Der Staatsrath von 1884.
beeinfluſſen, zu erkennen zu geben. Bemerkenswerth war, daß die
Vorträge zweier ehemaligen Gardes du Corps-Offiziere, von Zedlitz-
Trützſchler, ſpäterem Oberpräſidenten in Poſen und Cultusminiſter,
und von Minnigerode, einen ſolchen Eindruck machten, daß der
Kronprinz im Sinne der Verſammlung verfuhr, indem er die beiden
Herrn ſpäter zu Referenten beſtellte, obſchon die theoretiſch ſach¬
kundigſten Vorträge ohne Zweifel von den anweſenden fachgelehrten
Profeſſoren gehalten waren. Die Einwirkung, die dadurch frühern
Gardeoffizieren auf die Geſtaltung von Geſetzvorlagen zufiel, be¬
feſtigte mich in der Ueberzeugung, daß die rein und nur mini¬
ſterielle Prüfung von Entwürfen nicht der richtige Weg iſt, um die
Gefahr zu vermeiden, daß unpraktiſche, ſchädliche und gefährliche
Vorlagen in ſprachlich unvollkommner Faſſung ihren Weg aus den
Niederſchriften der legislativen Liebhabereien eines einzelnen vor¬
tragenden Rathes, unbeirrt oder doch ohne ausreichende Richtig¬
ſtellung durch alle Stadien des Staatsminiſteriums, der Parlamente
und des Cabinets bis in die Geſetzſammlung finden und dann bis
zu etwaiger Abhülfe einen Theil der Laſt bilden, die ſich wie eine
Krankheit ſchleichend fortſchleppt.
[[276]/0300]
Zweiunddreißigſtes Kapitel.
Kaiſer Wilhelm I.
I.
Um die Mitte der ſiebziger Jahre begann die geiſtige Em¬
pfänglichkeit des Kaiſers im Auffaſſen andrer und Entwickeln eigner
Vorträge ſchwerfälliger zu functioniren; er verlor zuweilen den
Faden im Zuhören und Sprechen. Merkwürdigerweiſe trat darin
nach dem Nobilingſchen Attentate eine günſtige Veränderung ein.
Momente wie die beſchriebenen kamen nicht mehr vor, der Kaiſer
war freier, lebendiger, auch weicher. Der Ausdruck meiner Freude
über ſein Wohlbefinden veranlaßte ihn zu dem Scherze: „Nobiling
hat beſſer als die Aerzte gewußt, was mir fehlte: ein tüchtiger Ader¬
laß.“ Die letzte Krankheit war kurz, ſie begann am 4. März 1888.
Am 8. Mittags hatte ich die letzte Unterredung mit dem Kaiſer, in
der er noch bei Bewußtſein war, und erlangte von ihm die Ermächti¬
gung zur Veröffentlichung der ſchon am 17. November 1887 voll¬
zogenen Ordre, die den Prinzen Wilhelm mit der Stellvertretung
beauftragte in Fällen, wo Se. Majeſtät einer ſolchen zu bedürfen
glauben würde. Der Kaiſer ſagte, er erwarte von mir, daß ich in
meiner Stellung verbleiben und ſeinen Nachfolgern zur Seite ſtehn
würde, wobei ihm zunächſt die Beſorgniß vorzuſchweben ſchien, daß ich
mich mit dem Kaiſer Friedrich nicht würde ſtellen können. Ich ſprach
mich beruhigend darüber aus, ſo weit es überhaupt angebracht ſchien,
einem Sterbenden gegenüber von dem zu ſprechen, was ſeine Nach¬
[277/0301]
Letzte Krankheit und Tod Wilhelms I.
folger und ich ſelbſt nach ſeinem Tode thun würden. Dann, an
die Krankheit ſeines Sohnes denkend, verlangte er von mir das
Verſprechen, meine Erfahrung ſeinem Enkel zu Gute kommen zu
laſſen und ihm zur Seite zu bleiben, wenn er, wie es ſchiene, bald
zur Regirung gelangen ſollte. Ich gab meiner Bereitwilligkeit
Ausdruck, ſeinen Nachfolgern mit demſelben Eifer zu dienen wie
ihm ſelbſt. Seine einzige Antwort darauf war ein etwas fühl¬
barerer Druck ſeiner Hand; dann aber traten Fieberphantaſien ein,
in denen die Beſchäftigung mit dem Enkel ſo im Vordergrunde
ſtand, daß er glaubte, der Prinz, der im September 1886 dem
Zaren in Breſt-Litowsk einen Beſuch gemacht hatte, ſäße an meiner
Stelle neben dem Bette, und mich plötzlich mit Du anredend ſagte:
„Mit dem ruſſiſchen Kaiſer mußt du immer Fühlung halten, da
iſt kein Streit nothwendig.“ Nach einer langen Pauſe des Schwei¬
gens war die Sinnestäuſchung verſchwunden; er entließ mich mit
den Worten: „Ich ſehe Sie noch.“ Geſehn hat er mich noch, als
ich mich am Nachmittage und dann wieder in der Nacht des 9. um
4 Uhr einfand, aber ſchwerlich unter den vielen Anweſenden erkannt;
noch in ſpäter Abendſtunde des 8. fand eine Rückkehr der vollen
Klarheit des Bewußtſeins und der Fähigkeit ſtatt, ſich den ſein
Sterbebett in dem engen Schlafzimmer Umſtehenden gegenüber
klar und zuſammenhängend auszuſprechen. Es war das letzte
Aufleuchten dieſes ſtarken und tapfern Geiſtes. Um 8 Uhr 30 Mi¬
nuten that er den letzten Athemzug.
II.
Für die Thronfolge war unter Friedrich Wilhelm III. nur
der Kronprinz mit Bewußtſein vorgebildet worden, der zweite Sohn
dagegen ausſchließlich militäriſch. Es war natürlich, daß durch
ſein ganzes Leben militäriſche Einflüſſe an und für ſich ſtärker auf
[278/0302]
Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.
ihn wirkten als civiliſtiſche, und ich ſelbſt habe in dem äußern
Eindruck der Militäruniform, die ich trug, um ein mehrmaliges
Umkleiden am Tage zu vermeiden, ein Moment der Verſtärkung
meines Einfluſſes zu finden geglaubt. Unter den Perſonen, die,
ſo lange er noch Prinz Wilhelm war, Einfluß auf ſeine Entwick¬
lung haben konnten, ſtanden in erſter Linie Militärs ohne politi¬
ſchen Beruf, nachdem der General von Gerlach, der Jahre hin¬
durch ſein Adjutant geweſen war, dem politiſchen Leben vorüber¬
gehend fremd geworden war. Er war der begabteſte unter den
Adjutanten, die der Prinz gehabt hatte, und nicht theoretiſcher
Fanatiker in Politik und Religion wie ſein Bruder, der Präſident,
aber doch genug doctrinär, um bei dem praktiſchen Verſtande des
Prinzen nicht den Anklang zu finden, wie bei dem geiſtreichen
Könige Friedrich Wilhelm. Pietismus war ein Wort und ein
Begriff, die mit dem Namen Gerlach leicht in Verbindung traten
wegen der Rolle, die die beiden Brüder des Generals, der Prä¬
ſident und der Prediger, Verfaſſer eines ausgedehnten Bibelwerks,
in der politiſchen Welt ſpielten.
Ein Geſpräch, das ich 1853 in Oſtende, wo ich dem Prinzen
näher getreten war, mit ihm hatte und das ſich an den Namen
Gerlach knüpfte, iſt mir in Erinnerung geblieben, weil es mich
betroffen machte über des Prinzen Unbekanntſchaft mit unſern ſtaat¬
lichen Einrichtungen und der politiſchen Situation.
Eines Tages ſprach er mit einer gewiſſen Animoſität über den
General von Gerlach, der aus Mangel an Uebereinſtimmung und,
wie es ſchien, verſtimmt aus der Adjutanten-Stellung geſchieden
war. Der Prinz bezeichnete ihn als einen Pietiſten.
Ich: „Was denken Ew. K. H. Sich unter einem Pietiſten?“
Er: „Einen Menſchen, der in der Religion heuchelt, um
Carrière zu machen.“
Ich: „Das liegt Gerlach fern, was kann der werden? Im
heutigen Sprachgebrauch verſteht man unter einem Pietiſten etwas
andres, nämlich einen Menſchen, der orthodox an die chriſtliche
[279/0303]
Mangelhafte Vorbildung Wilhelms I. zum Regentenberuf.
Offenbarung glaubt und aus ſeinem Glauben kein Geheimniß
macht; und deren gibt es viele, die mit dem Staate garnichts
zu thun haben und an Carrière nicht denken.“
Er: „Was verſtehn Sie unter orthodox?“
Ich: „Beiſpielsweiſe Jemanden, der ernſtlich daran glaubt, daß
Jeſus Gottes Sohn und für uns geſtorben iſt als ein Opfer, zur
Vergebung unſrer Sünden. Ich kann es im Augenblick nicht
präciſer faſſen, aber es iſt das Weſentliche der Glaubensver¬
ſchiedenheit.“
Er, hoch erröthend: „Wer iſt denn ſo von Gott verlaſſen,
daß er das nicht glaubte!“
Ich: „Wenn dieſe Aeußerung öffentlich bekannt würde, ſo
würden Ew. K. H. ſelbſt zu den Pietiſten gezählt werden.“
Im weitern Verlauf der Unterhaltung kamen wir auf die
damals ſchwebende Frage der Kreis- und Gemeinde-Ordnung. Bei
der Gelegenheit ſagte der Prinz ungefähr:
Er ſei kein Feind des Adels, könne aber nicht zugeben, daß
„der Bauer von dem Edelmann mißhandelt werde“.
Ich erwiderte: „Wie ſollte der Edelmann das anfangen?
Wenn ich die Schönhauſer Bauern mißhandeln wollte, ſo fehlte
mir jedes Mittel dazu, und der Verſuch würde mit meiner Mi߬
handlung entweder durch die Bauern oder durch das Geſetz endigen.“
Darauf Er: „Das mag bei Ihnen in Schönhauſen ſo ſein;
aber das iſt eine Ausnahme, und ich kann nicht zugeben, daß der
kleine Mann auf dem Lande geſchunden wird.“
Ich bat um die Erlaubniß, ihm eine kurze Darſtellung der
Geneſis unſrer ländlichen Zuſtände, des Verhältniſſes zwiſchen Guts¬
herrn und Bauern vorzulegen. Er nahm das Erbieten freudig
dankend an; und ich habe nachher in Norderney meine freien
Stunden dazu verwendet, dem damals 56 Jahre alten Thronerben
an der Hand von Geſetzesſtellen die rechtliche Situation auseinander
zu ſetzen, in der ſich Rittergüter und Bauern 1853 befanden.
Ich ſchickte ihm die Arbeit nicht ohne die Befürchtung, der Prinz
[280/0304]
Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.
würde kurz und ironiſch antworten, er habe durch mich nichts er¬
fahren, was er nicht ſchon ſeit 30 Jahren wiſſe. Umgekehrt aber
dankte er mir lebhaft für die intereſſante Zuſammenſtellung der ihm
neuen Daten.
III.
Von dem Augenblicke des Antritts der Regentſchaft an hatte
Prinz Wilhelm den Mangel an geſchäftlicher Vorbildung ſo leb¬
haft empfunden, daß er keine Arbeit Tag und Nacht ſcheute, um
demſelben abzuhelfen. Wenn er „Staatsgeſchäfte erledigte“, ſo
arbeitete er wirklich, mit vollem Ernſt und voller Gewiſſenhaftigkeit.
Er las alle Eingänge, nicht blos die, welche ihn anzogen, ſtudirte
die Verträge und Geſetze, um ſich ein ſelbſtändiges Urtheil zu
bilden. Er kannte keine Vergnügung, die den Staatsgeſchäften Zeit
entzogen hätte. Er las niemals Romane oder ſonſt Bücher, die
nicht Bezug auf ſeinen Herrſcherberuf hatten. Er rauchte nicht,
ſpielte nicht Karten. Wenn nach einem Jagddiner in Wuſterhauſen
die Geſellſchaft ſich in das Zimmer begab, in dem Friedrich
Wilhelm I. das Tabakscollegium zu verſammeln pflegte, ſo ließ er
ſich, damit die Anweſenden in ſeiner Gegenwart rauchen durften,
eine der langen holländiſchen Thonpfeifen reichen, that einige Züge
und legte ſie mit einem krauſen Geſichte aus der Hand. Als er
in Frankfurt, damals noch Prinz von Preußen, auf einem Balle
in ein Zimmer gerieth, in dem Hazard geſpielt wurde, ſagte
er zu mir: „Ich will doch auch einmal mein Glück verſuchen, habe
aber kein Geld bei mir, geben Sie mir etwas.“ Da auch ich kein
Geld bei mir zu tragen pflegte, ſo half der Graf Theodor Stol¬
berg aus. Der Prinz ſetzte einige Male einen Thaler, verlor jedes
Mal und verließ das Zimmer. Seine einzige Erholung war, nach
einem arbeitsvollen Tage in ſeiner Theaterloge zu ſitzen; aber auch
dort durfte ich als Miniſter ihn in dringenden Fällen aufſuchen,
[281/0305]
Fleiß und Gewiſſenhaftigkeit Wilhelms I. Menſchenverſtand.
um ihm in dem kleinen Zimmer vor der Loge Vorträge zu halten,
und Unterſchriften entgegennehmen. Obſchon er der Nachtruhe
dermaßen bedürftig war, daß er ſchon über eine ſchlechte Nacht
klagte, wenn er zweimal, und über Schlafloſigkeit, wenn er dreimal
erwacht war, ſo habe ich niemals den leiſeſten Zug von Verdrie߬
lichkeit wahrgenommen, wenn man ihn unter ſchwierigen Verhält¬
niſſen um 2 oder 3 Uhr weckte, um eine eilige Entſcheidung zu
erbitten.
Neben dem Fleiße, zu dem ihn ſein hohes Pflichtgefühl trieb,
kam ihm in Erfüllung ſeiner Regentenpflicht ein ungewöhnliches
Maß von klarem, durch Erlerntes weder unterſtützten noch beein¬
trächtigten geſunden Menſchenverſtande, common sense, zu Statten.
Hinderlich für das Verſtändniß der Geſchäfte war die Zähigkeit,
mit der er an fürſtlichen, militäriſchen und localen Traditionen
hing; jeder Verzicht auf ſolche, jede Wendung zu neuen Bahnen,
wie ſie der Lauf der Ereigniſſe nothwendig machte, wurde ihm
ſchwer und erſchien ihm leicht im Lichte von etwas Unerlaubtem
oder Unwürdigem. Wie an Perſonen ſeiner Umgebung und an
Sachen ſeines Gebrauchs, ſo hielt er auch an Eindrücken und
Ueberzeugungen feſt, unter der Mitwirkung der Erinnerung an das,
was ſein Vater in ähnlichen Lagen gethan hatte oder gethan
haben würde; insbeſondre im franzöſiſchen Kriege hatte er die
Erinnerung an den parallelen Verlauf der Freiheitskriege immer
vor Augen.
König Wilhelm, der mich während der ſchleswig-holſteiniſchen
Epiſode einmal vorwurfsvoll fragte: „Sind Sie denn nicht auch ein
Deutſcher?“ weil ich mich ſeiner durch häusliche Einflüſſe bedingten
Neigung, ein neues gegen Preußen ſtimmendes Großherzogthum in
Kiel zu ſchaffen, widerſetzte, derſelbe Herr war, wenn er, ohne durch
politiſche Gedanken angekränkelt zu ſein, in naturwüchſiger Freiheit
ſeinen Empfindungen folgte, einer der entſchloſſenſten Particulariſten
unter den deutſchen Fürſten, in der Richtung eines patriotiſchen
und conſervativ geſinnten preußiſchen Offiziers aus der Zeit ſeines
[282/0306]
Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.
Vaters. Der Einfluß ſeiner Gemalin brachte ihn in reifern
Jahren in Oppoſition gegen das traditionelle Prinzip, und die Un¬
fähigkeit ſeiner Miniſter der Neuen Aera und das überſtürzende
Ungeſchick der liberalen Parlamentarier in der Conflictszeit weckte
in ihm wiederum den alten Pulsſchlag des preußiſchen Prinzen
und Offiziers, zumal er mit der Frage, ob die Bahn, die er ein¬
ſchlug, gefährlich ſei, niemals rechnete. Wenn er überzeugt war,
daß Pflicht und Ehre, oder eins von beiden, ihm geboten, einen
Weg zu betreten, ſo ging er ihn ohne Rückſicht auf die Gefahren,
denen er ausgeſetzt ſein konnte, in der Politik ebenſo wie auf dem
Schlachtfelde. Einzuſchüchtern war er nicht. Die Königin war es,
und das Bedürfniß des häuslichen Friedens mit ihr war ein un¬
berechenbares Gewicht, aber parlamentariſche Grobheiten oder Droh¬
ungen hatten nur die Wirkung, ſeine Entſchloſſenheit im Wider¬
ſtande zu ſtärken. Mit dieſer Eigenſchaft hatten die Miniſter der
Neuen Aera und ihre parlamentariſchen Stützen und Gefolgſchaften
niemals gerechnet. Graf Schwerin war in ſeinem Mißverſtehn
dieſes furchtloſen Offiziers auf dem Throne ſo weit gegangen, zu
glauben, ihn durch Ueberhebung und Mangel an Höflichkeit ein¬
ſchüchtern zu können 1). In dieſen Vorgängen lag der Wendepunkt
des Einfluſſes der Miniſter der Neuen Aera, der Altliberalen und
der Bethmann-Hollwegſchen Partei, von dem ab die Bewegung
rückläufig wurde, die Leitung in Roons Hände fiel und der Mi¬
niſterpräſident Fürſt Hohenzollern mit ſeinem Adjuncten Auerswald
meinen Eintritt in das Miniſterium wünſchten. Die Königin und
Schleinitz verhinderten ihn einſtweilen noch, als ich im Früh¬
jahr 1860 in Berlin war, aber die Aeußerlichkeiten, die zwiſchen
dem Herrn und ſeinen Miniſtern vorgekommen waren, hatten in
die gegenſeitigen Beziehungen doch einen Riß gebracht, der nicht
mehr vernarbte.
1) S. Bd. I 212.
[283/0307]
Seine Furchtloſigkeit. Prinzeſſin Auguſta.
IV.
Die Prinzeſſin Auguſta vertrat unter Friedrich Wilhelm IV. in
der Regel den Gegenſatz zur Regirungspolitik; die Neue Aera der
Regentſchaft ſah ſie als ihr Miniſterium an, wenigſtens bis zum
Rücktritt des Herrn von Schleinitz. Es lebte in ihr vorher und
ſpäter ein Bedürfniß des Widerſpruchs gegen die jedesmalige Hal¬
tung der Regirung ihres Schwagers und ſpäter ihres Gemals.
Ihr Einfluß wechſelte und zwar ſo, daß derſelbe bis auf die letzten
Lebensjahre ſtets gegen die Miniſter in's Gewicht fiel. War die
Regirungspolitik conſervativ, ſo wurden die liberalen Perſonen und
Beſtrebungen in den häuslichen Kreiſen der hohen Frau ausgezeichnet
und gefördert; befand ſich die Regirung des Kaiſers in ihrer
Arbeit zur Befeſtigung des neuen Reiches auf liberalen Wegen, ſo
neigte die Gunſt mehr nach der Seite der conſervativen und nament¬
lich der katholiſchen Elemente, deren Unterſtützung, da ſie unter einer
evangeliſchen Dynaſtie ſich häufig und bis zu gewiſſen Grenzen
regelmäßig in der Oppoſition befanden, überhaupt der Kaiſerin
nahe lag. In den Perioden, wo unſre auswärtige Politik mit
Oeſtreich Hand in Hand gehn konnte, war die Stimmung gegen
Oeſtreich unfreundlich und fremd; bedingte unſre Politik den
Widerſtreit gegen Oeſtreich, ſo fanden deſſen Intereſſen Vertretung
durch die Königin und zwar bis in die Anfänge des Krieges 1866
hinein. Während an der böhmiſchen Grenze ſchon gefochten wurde,
fanden in Berlin unter dem Patronate Ihrer Majeſtät durch das
Organ von Schleinitz noch Beziehungen und Unterhandlungen
bedenklicher Natur ſtatt. Herr von Schleinitz hatte, ſeit ich Miniſter
des Aeußern und er ſelbſt Miniſter des königlichen Hauſes ge¬
worden, das Amt einer Art Gegenminiſters der Königin, um
Ihrer Majeſtät Material zur Kritik und zur Beeinfluſſung des
Königs zu liefern. Er hatte zu dieſem Behufe die Verbindungen
benutzt, die er in der Zeit, wo er mein Vorgänger war, im Wege
[284/0308]
Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.
der Privatcorreſpondenz angeknüpft hatte, um eine förmliche diplo¬
matiſche Berichterſtattung in ſeiner Hand zu concentriren. Ich er¬
hielt die Beweiſe dafür durch den Zufall, daß einige dieſer Berichte,
aus deren Faſſung die Thatſache der Continuität der Berichterſtattung
erſichtlich war, durch Mißverſtändniß der Feldjäger oder der Poſt
an mich gelangten und amtlichen Berichten ſo genau ähnlich ſahn,
daß ich erſt durch einzelne Bezugnahmen im Texte ſtutzig wurde,
mir das dazu gehörige Couvert aus dem Papierkorb ſuchte und
darauf die Adreſſe des Herrn von Schleinitz vorfand. Zu den Be¬
amten, mit denen er ſolche Verbindungen unterhielt, gehörte unter
Andern ein Conſul, über den mir Roon unter dem 25. Januar 1864
ſchrieb, derſelbe ſtehe im Solde von Drouyn de L'Huys und ſchreibe
unter dem Namen Siegfeld Artikel für das „Mémorial Diplo¬
matique“, die u. A. der Occupation der Rheinlande durch Na¬
poleon das Wort redeten und ſie in Parallele ſtellten mit unſrer
Occupation Schleswigs. Zur Zeit der „Reichsglocke“ und der ge¬
häſſigen Angriffe der conſervativen Partei und der „Kreuz¬
zeitung“ auf mich konnte ich ermitteln, daß die Colportage der
„Reichsglocke“ und ähnlicher verleumderiſcher Preßerzeugniſſe im
Bureau des Hausminiſteriums beſorgt wurde. Der Vermittler war ein
höherer Subalternbeamter Namens Bernhard (?), der der Frau von
Schleinitz die Federn ſchnitt und den Schreibtiſch in Ordnung hielt.
Durch ihn wurden allein an unſre höchſten Herrſchaften dreizehn
Exemplare der „Reichsglocke“, davon zwei in das Kaiſerliche Palais,
berichtmäßig eingeſandt und andre an mehre verwandte Höfe.
Als ich einmal den geärgerten und darüber erkrankten Kaiſer
des Morgens aufſuchen mußte, um über eine höfiſche Demonſtration
zu Gunſten des Centrums eine unter den obwaltenden Umſtänden
dringliche Beſchwerde zu führen, fand ich ihn im Bette und
neben ihm die Kaiſerin in einer Toilette, die darauf ſchließen
ließ, daß ſie erſt auf meine Anmeldung herunter gekommen war.
Auf meine Bitte, mit dem Kaiſer allein ſprechen zu dürfen, ent¬
fernte ſie ſich, aber nur bis zu einem dicht außerhalb der, von ihr
[285/0309]
Wilhelm I. unter dem Einfluſſe ſeiner Gemalin.
nicht ganz geſchloſſenen Thüre ſtehenden Stuhle und trug Sorge,
durch Bewegungen mich erkennen zu laſſen, daß ſie Alles hörte.
Ich ließ mich durch dieſen, nicht den erſten, Einſchüchterungsverſuch
nicht abhalten, meinen Vortrag zu erſtatten. An dem Abende deſſelben
Tages war ich in einer Geſellſchaft im Palais. Ihre Majeſtät
redete mich in einer Weiſe an, die mich vermuthen ließ, daß der
Kaiſer meine Beſchwerde ihr gegenüber vertreten hatte. Die Unter¬
haltung nahm die Wendung, daß ich die Kaiſerin bat, die ſchon
bedenkliche Geſundheit ihres Gemals zu ſchonen und ihn nicht zwie¬
ſpältigen politiſchen Einwirkungen auszuſetzen. Dieſe nach höfiſchen
Traditionen unerwartete Andeutung hatte einen merkwürdigen Effect.
Ich habe die Kaiſerin Auguſta in dem letzten Jahrzehnt ihres Lebens
nie ſo ſchön geſehn wie in dieſem Augenblicke; ihre Haltung richtete
ſich auf, ihr Auge belebte ſich zu einem Feuer, wie ich es weder
vorher noch nachher erlebt habe. Sie brach ab, ließ mich ſtehn
und hat, wie ich von einem befreundeten Hofmanne erfuhr, geſagt:
„Unſer allergnädigſter Reichskanzler iſt heut ſehr ungnädig.“
Ich hatte durch langjährige Gewohnheit allmälig ziemliche
Sicherheit in Beurtheilung der Frage gewonnen, ob der Kaiſer
Anträgen, die mir logiſch geboten erſchienen, aus eigner Ueber¬
zeugung oder im Intereſſe des Hausfriedens widerſtand. War
erſtres der Fall, ſo konnte ich in der Regel auf Verſtändigung
rechnen, wenn ich die Zeit abwartete, wo der klare Verſtand des
Herrn ſich die Sache aſſimilirt hatte. Oder er berief ſich auf das
Miniſter-Conſeil. In ſolchen Fällen blieb die Diſcuſſion zwiſchen
mir und Sr. Majeſtät immer ſachlich. Anders war es, wenn
die Urſache des königlichen Widerſtrebens gegen miniſterielle Mei¬
nungen in vorhergegangenen Erörterungen der Frage lag, die
Ihre Majeſtät beim Frühſtück hervorgerufen und bis zu ſcharfer
Ausſprache der Zuſtimmung durchgeführt hatte. Wenn der König
in ſolchen Momenten, beeinflußt durch ad hoc geſchriebene Briefe
und Zeitungsartikel, zu raſchen Aeußerungen im Sinne antimini¬
ſterieller Politik gebracht war, ſo pflegte Ihre Majeſtät den
[286/0310]
Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.
gewonnenen Erfolg zu befeſtigen durch Aeußerung von Zwei¬
feln, ob der Kaiſer im Stande ſein werde, die geäußerte Abſicht
oder Meinung „Bismarck gegenüber“ aufrecht zu erhalten. Wenn
Se. Majeſtät nicht auf Grund eigner Ueberzeugung, ſondern
weiblicher Bearbeitung widerſtand, ſo konnte ich dies daran
erkennen, daß ſeine Argumente unſachlich und unlogiſch waren.
Dann endete eine ſolche Erörterung, wenn ein Gegenargument
nicht mehr zu finden war, wohl mit der Wendung: „Ei der
Tauſend, da muß ich doch ſehr bitten.“ Ich wußte dann, daß
ich nicht den Kaiſer, ſondern die Gemalin mir gegenüber ge¬
habt hatte.
Alle Gegner, die ich mir in den verſchiedenſten Regionen im
Laufe meiner politiſchen Kämpfe nothwendiger Weiſe und im Intereſſe
des Dienſtes zugezogen hatte, fanden in ihrem gemeinſamen Haſſe
gegen mich ein Band, das einſtweilen ſtärker war, als ihre gegen¬
ſeitigen Abneigungen gegen einander. Sie vertagten ihre Feind¬
ſchaft, um einſtweilen der ſtärkern gegen mich zu dienen. Den
Kryſtalliſationspunkt für dieſe Uebereinſtimmung bildete die Kaiſerin
Auguſta, deren Temperament, wenn es galt ihren Willen durch¬
zuſetzen, auch in der Rückſicht auf Alter und Geſundheit des Ge¬
mals nicht immer Grenze fand.
Der Kaiſer hatte während der Belagerung von Paris, wie
häufig vorher und nachher, unter dem Kampfe zwiſchen ſeinem
Verſtande und ſeinem königlichen Pflichtgefühl einerſeits und dem
Bedürfniß nach häuslichem Frieden und weiblicher Zuſtimmung zur
Politik andrerſeits zu leiden. Die ritterlichen Empfindungen, die ihn
gegenüber ſeiner Gemalin, die myſtiſchen, die ihn der gekrönten
Königin gegenüber bewegten, ſeine Empfindlichkeit für Störungen
ſeiner Hausordnung und ſeiner täglichen Gewohnheiten haben mir
Hinderniſſe bereitet, die zuweilen ſchwerer zu überwinden waren
als die von fremden Mächten oder feindlichen Parteien verurſachten,
und vermöge der herzlichen Anhänglichkeit, die ich für die Perſon
des Kaiſers hatte, die aufreibende Wirkung der Kämpfe erheblich
[287/0311]
Oppoſition der Kaiſerin. Wilhelms I. königliche Vornehmheit.
geſteigert, die ich bei pflichtmäßigem Vertreten meiner Ueberzeugung
in den Vorträgen durchzumachen hatte.
Der Kaiſer hatte das Gefühl davon und machte in den letzten
Jahren ſeines Lebens mir gegenüber kein Geheimniß aus ſeinen
häuslichen Beziehungen, berieth mit mir, welche Wege und Formen
zu wählen ſeien, um ſeinen häuslichen Frieden ohne Schädigung
der Staatsintereſſen zu ſchonen; „der Feuerkopf“ pflegte der hohe
Herr in vertraulichen, aus Verdruß, Reſpect und Wohlwollen ge¬
miſchten Stimmungen die Gemalin zu bezeichnen und dieſen Aus¬
druck mit einer Handbewegung zu begleiten, die etwa ſagen
wollte: „Ich kann nichts ändern“. Ich fand dieſe Bezeichnung
außerordentlich treffend; die Königin war, ſo lange nicht phyſiſche
Gefahren drohten, eine muthige Frau, getragen von einem hohen
Pflichtgefühl, aber auf Grund ihres königlichen Empfindens ab¬
geneigt, andre Autoritäten als die ihrige gewähren zu laſſen.
V.
Das Schwergewicht, das nach dem Antritt der Regent¬
ſchaft der Wille und die Ueberzeugung des Prinzen von Preußen
und ſpätern Kaiſers auf dem außermilitäriſchen, dem politiſchen
Gebiete darſtellte, war das eigenſte Product der mächtigen und
vornehmen Natur, die dieſem Fürſten, unabhängig von der ihm
zu Theil gewordenen Erziehung, angeboren war. Der Ausdruck
„königlich vornehm“ iſt prägnant für ſeine Erſcheinung. Die Eitel¬
keit kann bei Monarchen ein Sporn zu Thaten und zur Arbeit
für das Glück ihrer Unterthanen ſein. Friedrich der Große war
nicht frei davon; ſein erſter Thatendrang entſprang dem Verlangen
nach hiſtoriſchem Ruhm; ob dieſe Triebfeder gegen das Ende ſeiner
Regirung, wie man ſagt, degenerirte, ob er dem Wunſche innerlich
Gehör gab, daß die Nachwelt den Unterſchied zwiſchen ſeiner und
der folgenden Regirung merken möge, laſſe ich unerörtert. Eine
[288/0312]
Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.
dichteriſche Ergießung datirte er von dem Tage vor einer Schlacht
und theilte ſie brieflich mit der Unterſchrift mit: Pas trop mal
à la veille d'une bataille.
Eine Eitelkeit der Art war dem Kaiſer Wilhelm I. durch¬
aus fremd; dagegen war ihm die Furcht vor berechtigter
Kritik der Mit- und Nachwelt in hohem Maße eigen. Er war
darin ganz preußiſcher Offizier, der, ſobald er durch höhern
Befehl gedeckt iſt, ohne Schwanken dem ſichern Tode entgegen geht,
aber durch die Furcht vor dem Tadel des Vorgeſetzten und der
öffentlichen Meinung in zweifelnde Unſicherheit geräth, die ihn das
Falſche wählen läßt. Niemand hätte gewagt, ihm eine platte
Schmeichelei zu ſagen. In dem Gefühle königlicher Würde würde
er gedacht haben: wenn Einer das Recht hätte, mich in's Geſicht
zu loben, ſo hätte er auch das Recht, mich in's Geſicht zu tadeln.
Beides gab er nicht zu.
Monarch und Parlament hatten einander in ſchweren innern
Kämpfen gegenſeitig kennen und achten gelernt; die Ehrlichkeit der
königlichen Würde, die ſichre Ruhe des Königs hatten ſchließlich
die Achtung auch ſeiner Gegner erzwungen, und der König ſelbſt
war durch ſein hohes perſönliches Ehrgefühl zu einer gerechten
Beurtheilung der beiderſeitigen Situationen befähigt. Das Gefühl
der Gerechtigkeit nicht blos ſeinen Freunden und ſeinen Dienern
gegenüber, ſondern auch im Kampfe mit ſeinen Gegnern beherrſchte
ihn. Er war ein gentleman ins Königliche überſetzt, ein Edel¬
mann im beſten Sinne des Wortes, der ſich durch keine Verſuchung
der ihm zufallenden Machtvollkommenheiten von dem Satze noblesse
oblige diſpenſirt fühlte; ſein Verhalten in der innern wie in der
äußern Politik war den Grundſätzen des Cavaliers alter Schule
und des normalen preußiſchen Offiziersgefühls jederzeit unter¬
geordnet. Er hielt auf Treue und Ehre nicht nur Fürſten, ſondern
auch ſeinen Dienern bis zum Kammerdiener gegenüber. Wenn er
durch augenblickliche Erregung ſeinem feinen Gefühl für königliche
Würde und Pflicht zu nah getreten war, ſo fand er ſich ſchnell
[289/0313]
Freiheit von Eitelkeit, Furcht vor Kritik. Treue.
wieder und blieb dabei „jeder Zoll ein Konig“, und zwar ein ge¬
rechter und wohlwollender König und ehrliebender Offizier, den der
Gedanke an ſein preußiſches porte-épée auf richtigem Wege
erhielt 1).
Der Kaiſer konnte heftig werden, ließ ſich aber in der Dis¬
cuſſion von der etwaigen Heftigkeit deſſen, mit dem er diſcutirte,
nicht anſtecken, ſondern brach dann die Unterredung vornehm
freundlich ab. Ausbrüche wie in Verſailles bei Abwehr des Kaiſer¬
titels waren ſehr ſelten. Wenn er heftig wurde gegen Leute, denen
er wohlwollte, wie dem Grafen Roon oder mir, ſo war er entweder
durch den Gegenſtand ſelbſt erregt oder durch fremde, außer¬
amtliche Beſprechungen vorher an Auffaſſungen gebunden, die ſich
ſachlich nicht vertreten ließen. Graf Roon hörte dergleichen Ex¬
ploſionen an, wie ein Militär in der Front den Verweis eines
hohen Vorgeſetzten, den er nicht verdient zu haben glaubt, aber
er litt nervös darunter und ſecundär auch körperlich. Auf mich
haben Ausbrüche von Heftigkeit des Kaiſern, die ich ſeltner erlebte
als Roon, niemals contagiös, eher abkühlend gewirkt. Ich hatte
mir die Logik zurechtgelegt, daß ein Herrſcher, der mir in dem
Maße Vertrauen und Wohlwollen ſchenkte, wie Wilhelm I., in
ſeinen Unregelmäßigkeiten für mich die Natur einer vis major habe,
gegen die zu reagiren mir nicht gegeben ſei, etwa wie das Wetter
oder die See, wie ein Naturereigniß, auf das ich mich einrichten
müſſe; und wenn mir das nicht gelang, ſo hatte ich eben meine
Aufgabe nicht richtig angegriffen. Dieſer mein Eindruck beruhte
nicht auf meiner generellen Auffaſſung der Stellung eines Königs
von Gottes Gnaden zu ſeinem Diener, ſondern auf meiner perſön¬
lichen Liebe zu Kaiſer Wilhelm I. Ihm gegenüber lag mir
perſönliche Empfindlichkeit ſehr fern, er konnte mich ziemlich un¬
gerecht behandeln, ohne in mir Gefühle der Entrüſtung hervor¬
1) S. Bd. I 285 f.
Otto Fürſt von Bismarck. Gedanken und Erinnerungen. II. 19
[290/0314]
Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.
zurufen. Das Gefühl, beleidigt zu ſein, werde ich ihm gegenüber
ebenſo wenig gehabt haben, wie im elterlichen Hauſe. Es hinderte
das nicht, daß mich ſachliche, politiſche Intereſſen, für die ich bei
dem Herrn entweder kein Verſtändniß oder eine vorgefaßte Mei¬
nung vorfand, die von Ihrer Majeſtät oder von confeſſionellen
oder freimaureriſchen Hofintriganten ausging, in der Stimmung
einer durch ununterbrochenen Kampf erzeugten Nervoſität zu einem
paſſiven Widerſtande gegen ihn geführt haben, den ich heut in
ruhiger Stimmung mißbillige und bereue, wie man analoge Em¬
pfindungen nach dem Tode eines Vaters hat, in Erinnerung an
Momente des Diſſenſes.
VI.
Seinem redlichen Sinne und der Aufrichtigkeit ſeines Wohl¬
wollens für Andre, ſeiner aus dem Herzen kommenden und von
hohem Sinne getragnen Liebenswürdigkeit verdankte er es, daß
ihm eine gewiſſe Leiſtung leicht wurde und gut gelang, die der
Verſtandesthätigkeit conſtitutioneller Regenten und Miniſter von Zeit
zu Zeit viel Mühe macht. Für öffentliche Anſprachen enthalten die
jährlich wiederkehrenden Aeußerungen ſolcher Monarchen, deren
Conſtitutionalismus als muſtergültig betrachtet wurde, einen reichen
Vorrath an Redewendungen; aber trotz aller ſprachlichen Gewand¬
heit haben ſowohl Leopold von Belgien wie Louis Philipp die con¬
ſtitutionelle Phraſeologie ziemlich erſchöpft, und ein deutſcher Monarch
wird kaum im Stande ſein, ſchriftlich und gedruckt den Kreis der
brauchbaren Aeußerungen zu erweitern. Mir ſelbſt iſt keine Arbeit
unbehaglicher und ſchwieriger geweſen, als die Herſtellung des
nöthigen Phraſenbedarfs für Thronreden und ähnliche Aeußerungen.
Wenn Kaiſer Wilhelm ſelbſt Proclamationen redigirte oder wenn
er eigenhändig Briefe ſchrieb, ſo hatten dieſelben, auch wenn ſie
ſprachlich incorrect waren, doch immer etwas Gewinnendes, oft Be¬
[291/0315]
Treue um Treue: König und Miniſter, Herr und Diener.
geiſterndes. Sie berührten angenehm durch die Wärme ſeines
Gefühls und die Sicherheit, die aus ihnen ſprach, daß er Treue
nicht nur verlangte, ſondern auch gewährte. Il était de relation
sûre; eine von den fürſtlichen Geſtalten, in Seele und Körper,
deren Eigenſchaften mehr des Herzens als des Verſtandes die im
germaniſchen Charakter hin und wieder vorkommende Hingebung
ihrer Diener und Anhänger auf Tod und Leben erklären. Für
monarchiſche Geſinnung iſt die Ausdehnung des Gebietes ihrer
Ergebenheit nicht jedem Fürſten gegenüber dieſelbe; ſie unterſcheidet
ſich, je nachdem politiſches Verſtändniß oder Empfindung die Grenzen
ziehn. Ein gewiſſes Maß der Hingebung wird durch die Geſetze
beſtimmt, ein größeres durch politiſche Ueberzeugung; wo es darüber
hinaus geht, bedarf es eines perſönlichen Gefühls von Gegen¬
ſeitigkeit, das bewirkt, daß treue Herrn treue Diener haben,
deren Hingebung über das Maß ſtaatsrechtlicher Erwägungen hin¬
ausreicht.
Es iſt eine Eigenthümlichkeit royaliſtiſcher Geſinnung, daß ihren
Träger, auch wenn er ſich bewußt iſt, die Entſchließungen des Königs
zu beeinfluſſen, das Gefühl nicht verläßt, der Diener des Monarchen
zu ſein. Der König ſelbſt rühmte eines Tages (1865) gegen meine
Frau die Geſchicklichkeit, mit der ich ſeine Intentionen zu er¬
rathen und — wie er nach einer Pauſe hinzuſetzte — zu leiten
wüßte. Solche Anerkennung benahm ihm nicht das Gefühl, daß
er der Herr und ich ſein Diener ſei, ein nützlicher, aber ehrerbietig
ergebener. Dieſes Bewußtſein verließ ihn auch dann nicht, als er
bei erregter Erörterung meines Abſchiedsgeſuchs 1877 in die Worte
ausbrach: „Soll ich mich in meinen alten Tagen blamiren? Es
iſt eine Untreue, wenn Sie mich verlaſſen“ — auch unter ſolchen
Gefühlen ſtand er in ſeiner eignen königlichen Einſchätzung und in
ſeinem Gerechtigkeitsſinn zu hoch, um jemals dem Gefühl einer
Sauliſchen Eiferſucht gegen mich zugänglich zu werden. Er hatte
das königliche Gefühl, daß er es nicht nur vertrug, ſondern ſich
gehoben fühlte durch den Gedanken, einen angeſehnen und mächtigen
[292/0316]
Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.
Diener zu haben. Er war zu vornehm für das Gefühl eines Edel¬
mannes, der keinen reichen und unabhängigen Bauern im Dorfe
vertragen kann. Die freudige Art, in welcher er 1885 bei meiner
50jährigen Dienſtfeier 1) die mir gebrachten Huldigungen nicht befahl
und anordnete, aber zuließ und mitmachte, ſtellte auch für das
Publikum und die Geſchichte dieſen königlichen und vornehmen Cha¬
rakter in das richtige Licht. Die Feier war nicht von ihm befohlen,
aber zugelaſſen und freudig befördert. Nicht einen Augenblick kam
ihm der Gedanke einer Eiferſucht auf ſeinen Diener und Unter¬
thanen in den Sinn, und nicht einen Augenblick verließ ihn das
königliche Bewußtſein, der Herr zu ſein, ebenſo wie bei mir alle,
auch übertriebene Huldigungen das Gefühl, der Diener dieſes Herrn
zu ſein, und mit Freuden zu ſein, in keiner Weiſe berührten.
Dieſe Beziehungen und meine Anhänglichkeit hatten ihre prin¬
zipielle Begründung in einem überzeugungstreuen Royalismus: aber
in der Specialität, wie er vorhanden war, iſt er doch nur mög¬
lich unter der Wirkung einer gewiſſen Gegenſeitigkeit des Wohl¬
wollens zwiſchen Herrn und Diener, wie unſer Lehnrecht die „Treue“
auf beiden Seiten zur Vorauſſetzung hatte. Solche Beziehungen,
wie ich ſie zum Kaiſer Wilhelm hatte, ſind nicht ausſchließlich
ſtaatsrechtlicher oder lehnrechtlicher Natur; ſie ſind perſönlich und
ſie wollen von dem Herrn ſowohl wie von dem Diener, wenn ſie
wirkſam ſein ſollen, erworben ſein; ſie übertragen ſich mehr perſön¬
lich, als logiſch leicht auf eine Generation, aber ihnen einen dauern¬
den und prinzipiellen Charakter beizulegen, entſpricht im heutigen
politiſchen Leben nicht mehr den germaniſchen, ſondern eher den
romaniſchen Anſchauungen; der portugieſiſche porteur du coton iſt
in die deutſchen Begriffe nicht übertragbar.
1) Sie wurde nach Wunſch des Kaiſers mit der Feier des 70. Geburts¬
tags verbunden.
[293/0317]
Neidloſe Anerkennung. Briefe Wilhelms I.
VII.
Lebendiger als in meiner Schilderung werden gewiſſe Charakter¬
züge des Kaiſers aus ſeinen nachſtehenden Briefen hervortreten:
„Berlin, den 13. Januar 1870.
Leider vergaß ich noch immer, Ihnen die Sieges-Medaille zu
übergeben, die eigentlich zuerſt in Ihren Händen hätte ſein müſſen,
und ſo ſende ich ſie Ihnen hierbei als Siegel Ihrer Welthiſtoriſchen
Leiſtungen.
Ihr
Wilhelm.“
Ich ſchrieb dem Könige an demſelben Tage:
„Eurer Majeſtät ſage ich meinen ehrfurchtsvollen und tief¬
gefühlten Dank für die huldreiche Verleihung der Sieges-Medaille
und für den ehrenvollen Platz, den Eure Majeſtät mir auf dieſem
hiſtoriſchen Denkmal anzuweiſen geruht haben. Die Erinnerung,
welches dieſes geprägte Document der Nachwelt erhalten wird, ge¬
winnt für mich und die Meinigen ihre beſondre Bedeutung durch
die gnädigen Zeilen, mit denen Eure Majeſtät die Verleihung be¬
gleitet haben. Wenn mein Selbſtgefühl eine hohe Befriedigung
darin findet, daß es mir vergönnt iſt, meinen Namen unter den
Flügeln des Königlichen Adlers, der Deutſchland ſeine Bahnen
anweiſt, auf die Nachwelt kommen zu ſehn, ſo iſt mein Herz noch
mehr befriedigt in dem Gefühle, unter Gottes ſichtbarem Segen
einem angeſtammten Herrn zu dienen, dem ich mit voller perſön¬
licher Liebe anhänge, und deſſen Zufriedenheit zu beſitzen für mich
der in dieſem Leben begehrteſte Lohn iſt.“
„Berlin, den 21. März 1871.
Mit der heutigen Eröffnung des erſten deutſchen Reichstags
nach Wiederherſtellung eines Deutſchen Reiches beginnt die erſte
[294/0318]
Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.
öffentliche Thätigkeit deſſelben. Preußens Geſchichte und Geſchick
wieſen ſeit längerer Zeit auf ein Ereigniß hin, wie es ſich jetzt
durch deſſen Berufung an die Spitze des neugegründeten Reiches
vollzogen hat. Preußen verdankt dies weniger ſeiner Ländergröße
und Macht, wenngleich beides ſich gleichmäßig mehrte, als ſeiner
geiſtigen Entwicklung und ſeiner Heeres-Organiſation. In un¬
erwartet ſchneller Folge haben ſich im Laufe von ſechs Jahren die
Geſchicke meines Landes zu dem Glanzpunkte entwickelt, auf dem
es heute ſtehet. In dieſe Zeit fällt eine Thätigkeit, zu welcher ich
Sie vor 10 Jahren zu mir berief. In welchem Maße Sie das
Vertrauen gerechtfertigt haben, aus welchem ich damals den Ruf
an Sie ergehen ließ, liegt offen vor der Welt. Ihrem Rath, Ihrer
Umſicht, Ihrer unermüdlichen Thätigkeit verdankt Preußen und
Deutſchland das Weltgeſchichtliche Ereigniß, welches ſich heute in
meiner Residenz verkörpert.
Wenngleich der Lohn für ſolche Thaten in Ihrem Innern
ruhet, ſo bin ich doch gedrungen und verpflichtet, Ihnen öffentlich
und dauernd den Dank des Vaterlandes und den meinigen aus¬
zudrücken. Ich erhebe Sie daher in den Fürſtenſtand Preußens
mit der Beſtimmung, daß ſich derſelbe ſtets auf das älteſte männ¬
liche Mitglied Ihrer Familie vererbt.
Mögen Sie in dieſer Auszeichnung den nie verſiegenden Dank
erblicken
Ihres
Kaiſers und Königs
Wilhelm.“
„Berlin, den 2. März 1872.
Wir begehen heute den erſten Jahrestag des glorreichen Friedens¬
ſchluſſes, der durch Tapferkeit und Opfer aller Art erkämpft, durch
Ihre Umſicht und Energie aber zu Reſultaten führte, die nie geahnt
waren! Meine Anerkennung und meinen Dank wiederhole ich Ihnen
heute von neuem mit dankbarem und gerührtem Herzen, dem ich
[295/0319]
Briefe Wilhelms I.
durch Eiſen und edle Metalle öffentlich Ausdruck gab. Es fehlt
aber noch ein Metall, die Bronze. Ein Andenken aus dieſem
Metall ſtelle ich daher heute zu Ihrer Disposition und zwar in
der Geſtalt, die Sie vor einem Jahre zum Schweigen brachten,
ich habe beſtimmt, daß nach Ihrer eignen Auswahl einige eroberte
Geſchütze Ihnen überwieſen werden, die Sie auf Ihren Beſitzungen
zum bleibenden Andenken Ihrer mir und dem Vaterlande geleiſteten
hohen Dienſte aufpflanzen wollen!
Ihr
treuergebener und
dankbarer
Wilhelm.“
„Coblenz, den 26. July 1872.
Sie werden am 28. d. M. ein ſchönes Familien Feſt begehen,
das Ihnen der Allmächtige in Seiner Gnade beſcheert. Daher darf
und kann ich mit meiner Theilnahme an dieſem Feſte nicht zurück¬
bleiben, und ſo wollen Sie und die Fürſtin Ihre Gemahlin hier
meinen innigſten und wärmſten Glückwunſch zu dieſem erhebenden
Feſte entgegen nehmen. Daß Ihnen Beiden unter ſo vielen Glücks¬
gütern, die Ihnen die Vorſehung für Sie erkoren hat, doch immer
das häusliche Glück obenan ſtand, das iſt es, wofür Ihre Dank¬
gebethe zum Himmel ſteigen. Unſere und meine Dankgebethe gehen
aber weiter, indem ſie den Dank in ſich ſchließen, daß Gott Sie
mir in entſcheidender Stunde zur Seite ſtellte und damit eine Lauf¬
bahn meiner Regierung eröffnete, die weit über Denken und Ver¬
ſtehen gehet. Aber auch hierfür werden Sie Ihre Dankgefühle
nach Oben ſenden, daß Gott Sie begnadigte, ſo Hohes zu leiſten.
Und in und nach allen Ihren Mühen fanden Sie ſtets in der
Häuslichkeit Erholung und Frieden, und das erhält Sie Ihrem
ſchweren Berufe. Für dieſen ſich zu erhalten und zu kräftigen, iſt
mein ſtetes Anliegen an Sie, und freue ich mich aus Ihrem Briefe
[296/0320]
Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm l.
durch Graf Lehndorff und von dieſem ſelbſt zu hören, daß Sie
jetzt mehr an ſich als an die Papiere denken werden.
Zur Erinnerung an Ihre ſilberne Hochzeit wird Ihnen eine
Vaſe übergeben werden, die eine dankbare Borussia darſtellt und
die, ſo gebrechlich ihr Matérial auch ſein mag, doch ſelbſt in jeder
Scherbe dereinſt ausſprechen ſoll, was Preußen Ihnen durch die
Erhebung auf die Höhe, auf welcher es jetzt ſtehet, verdankt.
Ihr
treu ergebener
dankbarer König
Wilhelm.“
„Coblenz am 6. November 1878.
Es iſt Ihnen beſchieden geweſen, in Zeit eines Vierteljahres
Europa durch Ihre Einſicht, Umſicht und durch Ihren Muth den
Frieden theils wiederzugeben, theils zu erhalten, und für Deutſchland
auf geſetzlichem Wege einem Feinde entgegen zu treten, der für
alle Staatlichen Verhältniſſe Verderben drohte. Wenn beide Welt¬
geſchichtliche Ereigniſſe von allen Wohlgeſinnten begriffen und Ihnen
derſelben Anerkennung zu Theil geworden iſt, und ich ſelbſt Ihnen
dieſe Anerkennung beweiſen konnte für das zuerſt genannte Ereig¬
niß des Berliner Congreſſes, ſo geziemt es mir nun auch für die
Entſchiedenheit, mit welcher Sie den Rechtsboden vertheidigt haben,
Ihnen dieſe Anerkennung auch öffentlich darzulegen. Das Geſetz *),
welches ich im Sinne habe und welches ſeine Entſtehung einem
meinem Herzen und Gemüth ſchmerzlichen Ereigniß verdankt, ſoll
den deutſchen Staaten ihren jetzigen rechtlichen Standpunkt erhalten
und ſichern, alſo auch Preußen.
Ich habe als Zeichen meiner Anerkennung Ihrer großen Ver¬
dienſte um mein Preußen die Zeichen ſeiner Macht gewählt: Krone,
*) Gegen die gemeingefährlichen Beſtrebungen der Socialdemokratie vom
21. October 1878.
[297/0321]
Briefe Wilhelms I.
Zepter und Schwerdt, und dem Großkreuz des Rothen Adler
Ordens, welches Sie ſtets tragen, zufügen laſſen, welche Décoration
ich Ihnen beifolgend überſende.
Das Schwerdt ſpricht für den Muth und die Einſicht, mit
welcher Sie meinen Zepter und meine Krone zu unterſtützen und
zu ſchützen wiſſen.
Möge die Vorſehung Ihnen noch die Kraft verleihen, um
lange Jahre hindurch ferner Ihren Patriotismus meiner Regierung
und dem Wohle des Vaterlandes zu widmen.
Ihr
treu ergebener dankbarer
Wilhelm.“
„Berlin, den 1. April 1879.
Leider kann ich Ihnen meine Wünſche zum heutigen Tage
nicht perſönlich mündlich darbringen, da ich heute zum Erſtenmale
zwar ausfahren ſoll, aber noch keine Treppen ſteigen darf.
Vor Allem wünſche ich Ihnen Geſundheit, denn von der hängt
ja alle Thätigkeit ab, und dieſe entwickeln Sie jetzt mehr wie ſeit
langer Zeit, ein Beweis, daß Thätigkeit auch geſund erhält.
Möge es zum Wohle des Vaterlandes, des engeren wie weiteren,
ſo fortgehen.
Ich benutze den Tag, um Ihren Schwiegerſohn den Grafen
Rantzau hiermit zum Legationsrath zu ernennen, da ich glaube
Ihnen damit eine Freude zu machen.
Auch ſende ich Ihnen die Copie meines großen Ahnherrn,
des Großkurfürſten, wie er auf der langen Brücke ſteht, zum An¬
denken an den heutigen Tag, der noch recht oft für Sie und
uns wiederkehren möge.
Ihr
dankbarer
Wilhelm.“
[298/0322]
Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.
Um Weihnachten 1883 ſchenkte der Kaiſer mir eine Nach¬
bildung des Denkmals auf dem Niederwald, an der ein Blättchen
mit folgenden Worten befeſtigt war:
„Zu Weihnachten
1883
Der Schlußſtein Ihrer Politik, eine Feier, die hauptſächlich
Ihnen galt und der Sie leider *) nicht beiwohnen konnten!
W.“
„Berlin, 1. April 1885.
Mein lieber Fürſt! Wenn ſich in dem Deutſchen Lande und
Volke das warme Verlangen zeigt, Ihnen bei der Feier Ihres
70. Geburtstages zu bethätigen, daß die Erinnerung an Alles, was
Sie für die Größe des Vaterlandes gethan haben, in ſo vielen
Dankbaren lebt, ſo iſt es mir ein tiefgefühltes Bedürfniß, Ihnen
heute auszuſprechen, wie hoch es mich freut, daß ein ſolcher Zug
des Dankes und der Verehrung für Sie durch die Nation geht.
Es freut mich das für Sie als eine wahrlich im höchſten Maße
verdiente Anerkennung; und es erwärmt mir das Herz, daß ſolche
Geſinnungen ſich in ſo großer Verbreitung kund thun, denn es ziert
die Nation in der Gegenwart und es ſtärkt die Hoffnung auf ihre
Zukunft, wenn ſie Erkenntniß für das Wahre und Große zeigt und
wenn ſie ihre hochverdienten Männer feiert und ehrt. An einer
ſolchen Feier Theil zu nehmen, iſt mir und meinem Hauſe eine
beſondere Freude und wünſchen wir Ihnen durch beifolgendes Bild
(die Kaiſerproclamation in Verſailles) auszudrücken, mit welchen
Empfindungen dankbarer Erinnerung wir dies thun. Denn daſſelbe
vergegenwärtigt einen der größten Momente der Geſchichte des Hohen¬
zollernhauſes, deſſen niemals gedacht werden kann, ohne ſich zugleich
auch Ihrer Verdienſte zu erinnern. Sie, mein lieber Fürſt, wiſſen,
*) Krankheitshalber.
[299/0323]
Briefe Wilhelms I.
wie in mir jederzeit das vollſte Vertrauen, die aufrichtigſte Zu¬
neigung und das wärmſte Dankgefühl für Sie leben wird! Ihnen
ſage ich daher mit dieſem nichts, was ich Ihnen nicht oft genug
ausgeſprochen habe, und ich denke, daß dieſes Bild noch Ihren ſpäten
Nachkommen vor Augen ſtellen wird, daß Ihr Kaiſer und König
und ſein Haus ſich deſſen wohl bewußt waren, was wir Ihnen zu
danken haben. Mit dieſen Geſinnungen und Gefühlen endige ich
dieſe Zeilen als, über das Grab hinausdauernd, Ihr dankbarer
treu ergebener Kaiſer und König
Wilhelm.“
„Berlin zum 23. September 1887.
Sie feiern, mein lieber Fürſt, am 23. September d. J. den
Tag, an welchem ich Sie vor 25 Jahren in mein Staatsminiſterium
berief und nach kurzer Zeit Ihnen das Präſidium deſſelben über¬
trug. Ihre bis dahin dem Vaterlande in den verſchiedenſten und
wichtigſten Aufträgen geleiſteten ausgezeichneten Dienſte berechtigten
mich, Ihnen dieſe höchſte Stellung zu übertragen. Die Geſchichte
des letzten Viertels des Jahrhunderts beweiſet, daß ich mich nicht
bei Ihrer Wahl geirrt habe.
Ein leuchtendes Bild von wahrer Vaterlandsliebe, unermüd¬
licher Thätigkeit, oft mit Hintenanſetzung Ihrer Geſundheit, waren
Sie unermüdlich, die oft ſich aufthürmenden Schwierigkeiten im
Frieden und Kriege feſt ins Auge zu faſſen und zu guten Zielen
zu führen, die Preußen an Ehre und Ruhm zu einer Stellung
führten in der Welt-Geſchichte, wie man ſie nie geahnet hatte;
ſolche Leiſtungen ſind wohl gemacht, um den 25. Jahrestag des
23. Septembers mit Dank gegen Gott zu begehen, daß Er Sie
mir zur Seite ſtellte, um Seinen Willen auf Erden auszuführen.
Und dieſen Dank lege ich nun erneuert an Ihr Herz, wie
ich dieſes ſo oft ausſprechen und bethätigen konnte.
Mit dankerfülltem Herzen wünſche ich Ihnen Glück zur Feier
eines ſolchen Tages und wünſche von Herzen, daß Ihre Kräfte
[300/0324]
Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.
noch lange ungeſchwächt erhalten bleiben zum Segen des Thrones
und des Vaterlandes.
Ihr
ewig dankbarer König
und Freund
Wilhelm.
N. Sch.
Zur Erinnerung an die abgelaufenen 25 Jahre ſende ich
Ihnen die Anſicht des Gebäudes, in welchem wir ſo entſcheidende
Beſchlüſſe berathen und ausführen mußten und die immer Preußen
und nun hoffentlich Deutſchland zur Ehre und zum Wohle ge¬
reichen mögen. W.“
Den letzten Brief des Kaiſers erhielt ich am 23. December 1887.
Verglichen mit dem vorhergehenden zeigt er im Satzbau und in
den Zügen, daß dem Kaiſer während der letztverfloſſenen drei
Monate der ſchriftliche Ausdruck und das Schreiben viel ſaurer
geworden waren; aber die Schwierigkeiten beeinträchtigen nicht die
Klarheit der Gedanken, die väterliche Rückſicht auf das Gefühl des
kranken Sohnes, die landesherrliche Sorge für die gehörige Aus¬
bildung des Enkels. Es wäre unrecht, bei der Wiedergabe dieſes
Briefes irgend etwas daran beſſern zu wollen.
„Berlin, den 23. Dezember 1887.
Anliegend ſende ich Ihnen die Ernennung Ihres Sohnes zum
Wirklichen Geheimen Rath mit dem Prädikat Excellenz, um die¬
ſelbe Ihrem Sohne zu übergeben, eine Freude, die ich Ihnen nicht
verſagen wollte. Ich denke, die Freude wird eine dreifache ſein,
für Sie, für Ihren Sohn und für mich!
Ich ergreife die Gelegenheit, um Ihnen mein bisheriges
Schweigen zu erklären auf Ihren Vorſchlag, meinen Enkel den
Prinzen Wilhelm mehr in die Staatsgeſchäfte einzuführen, bei dem
traurigen Geſundheitszuſtande des Kronprinzen meines Sohnes!
[301/0325]
Briefe Wilhelms I.
Im Princip bin ich ganz einverſtanden, daß dies geſchehe, aber
die Ausführung iſt eine ſehr ſchwierige — Sie werden ja wiſſen,
daß die an ſich ſehr natürliche Beſtimmung, die ich auf Ihren
Rath traf, daß mein Enkel W. in meiner Behinderung die laufenden
Erlaſſe des Civil- und Militär-Cabinets unterſchreiben werde unter
der Ueberſchrift ,auf Allerhöchſten Befehl' — daß dieſe Beſtim¬
mung den Kronprinzen ſehr irritirt hat, als denke man in Berlin
bereits an ſeinen Erſatz! Bei ruhigerer Ueberlegung wird ſich
mein Sohn wohl beruhigt haben. Schwieriger würde dieſe Ueber¬
legung ſein, wenn er erfährt, daß ſeinem Sohn nun noch größere
Einſicht in die Staatsgeſchäfte geſtattet wird und ſelbſt ein Civil-
Adjutant gegeben wird — wie ich ſeinerzeit meine vortragenden
Räthe bezeichnete. Damals lagen die Dinge jedoch ganz anders,
da ein Grund meinen königlichen Vater veranlaſſen konnte, einen
Stellvertreter des damaligen Kronprinzen zu beſtellen, obgleich
meine Erbſchaft an der Krone ſchon längſt vorher zu ſehen war
und unterblieb meine Einführung bis zu meinem 44. Jahre, als
mein Bruder mich ſofort zum Mitglied des Staatsminiſteriums
ernannte mit Beilegung des Titels als Prinz von Preußen. Mit
dieſer Stellung war alſo Zutheilung eines erfahrenen Geſchäfts¬
mannes nothwendig, um mich zur jedesmaligen Staats-Miniſterial-
Sitzung vorzubereiten. Zugleich erhielt ich täglich die politiſchen
Dépéchen, nachdem dieſelben durch 4–5–6 Hände, den Siegeln
nach, gegangen waren! Für bloße Converſation, wie Sie es
vorſchlagen, einen Staatsmann meinem Enkel zuzutheilen, entbehrt
alſo des Grundes einer Vorbereitung, wie bei mir, zu einem be¬
ſtimmten Zweck u. würde beſtimmt meinen Sohn von neuem
u. noch mehr irritiren, was durchaus unterbleiben muß. Ich ſchlage
Ihnen daher vor, daß die bisherige Art der Beſchäftigung-
Erlernung der Behandlung der Staats-Orientirung beibehalten wird
d. h. einzelnen Staats-Miniſterien zugetheilt werde und vielleicht
auf zwei ausgedehnt werde, wie in dieſem Winter, wo mein Enkel
freiwillig den Beſuch des Auswärtigen Amts ferner zu geſtatten
[302/0326]
Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.
neben dem Finanz-Miniſterium, welche Freiwilligkeit dann von Neu¬
jahr ganz fortfallen könnte u. vielleicht das Miniſt. des Inneren,
wobei meinem Enkel zu geſtatten wäre, in (unleſerlich) Fällen
ſich im Auswärt. Amt zu orientiren. Dieſe Fortſetzung des
jetzigen Verfahrens kann meinen Sohn weniger irritiren, obgleich
Sie Sich erinnern werden, daß er auch gegen dieſes Verfahren
ſcharf opponirt.
Ich bitte alſo um Ihre Anſicht in dieſer Materie.
Ein angenehmes Feſt Ihnen allen wünſchend
Ihr
dankbarer
Wilhelm.
Das beifolgende Patent wollen Sie gefälligſt vor der Ueber¬
gabe contrasigniren. W.“ 1)
Von der Kaiſerin Auguſta habe ich ſehr ſelten Zuſchriften er¬
halten; ihr letzter Brief, bei deſſen Abfaſſung ſie wohl ebenſo
wie ich bei dem Leſen an die Kämpfe gedacht hat, die ich mit ihr
zu beſtehn hatte, lautet wie folgt:
„Dictirt.
Baden-Baden, den 24. December 1888.
Lieber Fürſt!
Wenn ich dieſe Zeilen an Sie richte, ſo iſt es nur, um an
dem Wendepunkt eines ernſten Lebensjahres eine Pflicht der Dank¬
barkeit zu erfüllen. Sie haben unſerm unvergeßlichen Kaiſer treu
beigeſtanden und meine Bitte der Fürſorge für ſeinen Enkel er¬
füllt. Sie haben mir in bitteren Stunden Theilnahme bewieſen,
deshalb fühle ich mich berufen, Ihnen, bevor ich dieſes Jahr be¬
1) Eine größere Zahl von Briefen des Kaiſers Wilhelm I. an Bismarck
habe ich im Bismarck-Jahrbuch (I 140. 141, IV 3–12, V 254. 255, VI 203)
veröffentlicht. H. K.
[303/0327]
Briefe Wilhelms I. Brief der Kaiſerin Auguſta.
ſchließe, nochmals zu danken und dabei auf die Fortdauer Ihrer
Hülfe zu rechnen, mitten unter den Widerwärtigkeiten einer viel¬
bewegten Zeit. Ich ſtehe im Begriff, den Jahreswechſel im Familien¬
kreiſe ſtill zu feiern, und ſende Ihnen und Ihrer Gemahlin einen
freundlichen Gruß.
Auguſta.“
Die Unterſchrift iſt eigenhändig, aber ſehr verſchieden von den
feſten Zügen, in denen die Kaiſerin früher zu ſchreiben pflegte.
[[304]/0328]
Dreiunddreißigſtes Kapitel.
Kaiſer Friedrich III.
Es war ein weitverbreiteter Irrthum, daß der Regirungs¬
wechſel von Kaiſer Wilhelm zu Kaiſer Friedrich mit einem Miniſter¬
wechſel, der mir meinen Nachfolger gegeben haben würde, ver¬
bunden ſein müßte. Im Sommer 1848 hatte ich zuerſt Gelegen¬
heit, dem damals 17jährigen Herrn bekannt zu werden und Beweiſe
perſönlichen Vertrauens von ihm zu erhalten. Letztres mag bis
1866 gelegentlich geſchwankt haben, erwies ſich aber als feſt und
offen bei Erledigung der Danziger Epiſode in Gaſtein 1863 1).
Im Kriege von 1866, insbeſondre in den Kämpfen mit dem Könige
und den höhern Militärs über die Opportunität des Friedensſchluſſes
in Nikolsburg, hatte ich mich eines von politiſchen Prinzipien und
Meinungsverſchiedenheiten unabhängigen Vertrauens des Kronprinzen
zu erfreuen 2). Verſuche, es zu erſchüttern, ſind von verſchiedenen
Seiten, die äußerſte Rechte nicht ausgeſchloſſen, und unter An¬
wendung verſchiedener Vorwände und Erfindungen gemacht worden,
haben aber keinen dauernden Erfolg erreicht; zu ihrer Vereitlung
genügte ſeit 1866 eine perſönliche Ausſprache zwiſchen dem hohen
Herrn und mir.
Als der Geſundheitszuſtand Wilhelms I. im Jahre 1885
Anlaß zu ernſten Beſorgniſſen gab, berief der Kronprinz mich nach
1) S. Bd. I 322.
2) S. o. S. 47.
[305/0329]
Beziehungen zum Kronprinzen und zur Kronprinzeſſin.
Potsdam und fragte, ob ich im Falle eines Thronwechſels im
Dienſt bleiben würde. Ich erklärte mich dazu unter zwei Be¬
dingungen bereit: keine Parlamentsregirung und keine auswär¬
tigen Einflüſſe in der Politik. Der Kronprinz erwiderte mit einer
entſprechenden Handbewegung: „Kein Gedanke daran!“
Bei ſeiner Frau Gemalin konnte ich nicht daſſelbe Wohlwollen
für mich vorausſetzen; ihre natürliche und angeborne Sympathie
für ihre Heimath hatte ſich von Hauſe aus gekennzeichnet in dem
Beſtreben, das Gewicht des preußiſch-deutſchen Einfluſſes in euro¬
päiſchen Gruppirungen in die Wagſchale ihres Vaterlandes, als
welches ſie England zu betrachten niemals aufgehört hat, hinüber¬
zuſchieben und im Bewußtſein der Intereſſenverſchiedenheit der
beiden aſiatiſchen Hauptmächte, England und Rußland, bei ein¬
tretendem Bruche die deutſche Macht im Sinne Englands verwendet
zu ſehn. Dieſer auf der Verſchiedenheit der Nationalität beruhende
Diſſens hat in der orientaliſchen Frage, mit Einſchluß der Batten¬
bergiſchen, manche Erörterung zwiſchen Ihrer Kaiſerlichen Hoheit
und mir veranlaßt. Ihr Einfluß auf ihren Gemal war zu allen
Zeiten groß und wurde ſtärker mit den Jahren, um zu culmi¬
niren in der Zeit, wo er Kaiſer war. Aber auch bei ihr beſtand
die Ueberzeugung, daß meine Beibehaltung bei dem Thronwechſel
im Intereſſe der Dynaſtie liege.
Es iſt nicht meine Abſicht, würde auch unausführbar ſein,
jeder Legende und böswilligen Erfindung ausdrücklich zu wider¬
ſprechen. Da indeſſen die Erzählung, der Kronprinz habe 1887
nach der Rückkehr aus Ems eine Urkunde unterzeichnet, in der
er für den Fall, daß er ſeinen Vater überlebe, zu Gunſten des
Prinzen Wilhelm auf die Regirung verzichtet, in ein engliſches
Werk über den Kaiſer Wilhelm II. übergegangen iſt, ſo will ich
conſtatiren, daß an der Geſchichte nicht ein Schatten von Wahrheit
iſt. Auch daß ein Thronerbe, der an einer unheilbaren Körper¬
krankheit leide, nach unſern Hausgeſetzen nicht ſucceſſionsfähig ſei,
wie 1887 in manchen Kreiſen behauptet, in andern geglaubt wurde,
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen II. 20
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Dreiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Friedrich III.
iſt eine Fabel. Die Hausgeſetze ſo wenig wie die preußiſche Ver¬
faſſungs-Urkunde enthalten irgend eine Beſtimmung der Art. Da¬
gegen gab es einen Moment, in dem eine Frage ſtaatsrechtlicher
Natur mich nöthigte, in die Behandlung des Dulders einzugreifen,
deren Geſchichte übrigens die mediziniſche Wiſſenſchaft angeht. Die
behandelnden Aerzte waren Ende Mai 1887 entſchloſſen, den Kron¬
prinzen bewußtlos zu machen und die Exſtirpation des Kehlkopfs
auszuführen, ohne ihm ihre Abſicht angekündigt zu haben. Ich er¬
hob Einſpruch, verlangte, daß nicht ohne die Einwilligung des Pa¬
tienten vorgegangen und, da es ſich um den Thronfolger handle,
auch die Zuſtimmung des Familienhauptes eingeholt werde. Der
Kaiſer, durch mich unterrichtet, verbot, die Operation ohne Ein¬
willigung ſeines Sohnes vorzunehmen.
Von den wenigen Erörterungen, die ich mit dem Kaiſer Friedrich
während ſeiner kurzen Regirungszeit zu führen hatte, ſei eine er¬
wähnt, an die ſich Betrachtungen über die Reichsverfaſſung knüpfen
laſſen, die mich in frühern Conjuncturen und wieder im März 1890
beſchäftigt haben.
Bei dem Kaiſer Friedrich war die Neigung vorhanden, der
Verlängerung der Legislaturperiode von drei auf fünf Jahre im
Reiche und in Preußen die Genehmigung zu verſagen. In Betreff
des Reichstags ſetzte ich ihm auseinander, daß der Kaiſer als ſolcher
kein Factor der Geſetzgebung ſei, ſondern nur als König von
Preußen durch die preußiſche Stimme am Bundesrathe mitwirke;
ein Veto gegen übereinſtimmende Beſchlüſſe beider geſetzgebenden
Körperſchaften habe ihm die Reichsverfaſſung nicht beigelegt. Dieſe
Auseinanderſetzung genügte, um Se. Majeſtät zur Vollziehung des
Schriftſtücks, durch das die Verkündigung des Geſetzes vom 19. März
1888 angeordnet wurde, zu beſtimmen.
Auf die Frage Sr. Majeſtät, wie ſich die Sache nach der
preußiſchen Verfaſſung verhalte, konnte ich nur antworten, daß der
König daſſelbe Recht habe, einen Geſetzentwurf anzunehmen oder
abzulehnen, wie jedes der beiden Häuſer des Landtags. Se. Majeſtät
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Eine Legende. Eine Betrachtung über die Reichsverfaſſung.
lehnte dann vor der Hand die Unterzeichnung ab, ſich die Ent¬
ſchließung vorbehaltend. Es entſtand alſo die Frage, wie das
Staatsminiſterium, das die Königliche Zuſtimmung beantragt hatte,
ſich zu verhalten habe. Ich befürwortete und erreichte, daß einſt¬
weilen auf eine Erörterung mit dem Könige verzichtet wurde, weil
er ein unzweifelhaftes Recht ausübe, weil überdies der Geſetzentwurf
vor dem Thronwechſel eingebracht war, und endlich, weil wir ver¬
meiden müßten, die wegen der Krankheit des Monarchen ohnehin
ſchwierige Situation durch Anregung von Cabinetsfragen zu ver¬
ſchärfen. Die Sache erledigte ſich dadurch, daß Se. Majeſtät mir
am 27. Mai auch das preußiſche Geſetz vollzogen aus eignem An¬
triebe zugehn ließ.
Man hat ſich in der Praxis daran gewöhnt, den Kanzler als
verantwortlich für das geſammte Verhalten der Reichsregirung an¬
zuſehn. Dieſe Verantwortlichkeit läßt ſich nur dann behaupten,
wenn man ſeine Berechtigung zugiebt, das kaiſerliche Ueberſendungs¬
ſchreiben, vermittelſt deſſen Vorlagen der verbündeten Regirungen
(Art. 16) an den Reichstag gelangen, durch Verweigerung der
Gegenzeichnung zu inhibiren. Der Kanzler an ſich hätte, wenn er
nicht zugleich preußiſcher Bevollmächtigter zum Bundesrathe iſt,
nach dem Wortlaute der Verfaſſung nicht einmal die Berechtigung,
an den Debatten des Reichstags perſönlich theilzunehmen. Wenn
er, wie bisher, zugleich Träger eines preußiſchen Mandates zum
Bundesrathe iſt, ſo hat er nach Art. 9 das Recht, im Reichstage
zu erſcheinen und jederzeit gehört zu werden; dem Reichskanzler als
ſolchem iſt dieſe Berechtigung durch keine Beſtimmung der Ver¬
faſſung beigelegt. Wenn alſo weder der König von Preußen, noch
ein andres Mitglied des Bundes den Kanzler mit einer Vollmacht
für den Bundesrath verſieht, ſo fehlt demſelben die verfaſſungs¬
mäßige Legitimation zum Erſcheinen im Reichstage; er führt zwar
nach Art. 15 im Bundesrathe den Vorſitz, aber ohne Votum, und
es würden ihm die preußiſchen Bevollmächtigten in derſelben Un¬
abhängigkeit gegenüberſtehn wie die der übrigen Bundesſtaaten.
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Dreiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Friedrich III.
Es leuchtet ein, daß eine Aenderung der bisherigen Verhält¬
niſſe, infolge deren die bisher dem Kanzler zugeſchriebene Ver¬
antwortlichkeit auf die Anordnungen der kaiſerlichen Executiv-Gewalt
beſchränkt und ihm die Befugniß, geſchweige denn die Verpflichtung,
im Reichstage zu erſcheinen und zu diſcutiren, entzogen würde,
nicht eine nur formelle ſein, ſondern auch die Schwerkraft der Fac¬
toren unſres öffentlichen Lebens weſentlich verändern würde. Ich
habe mir die Frage, ob es ſich empföhle, derartigen Eventualitäten
näher zu treten, vorgelegt zu der Zeit, als ich mich im December
1884 einer Reichstagsmehrheit gegenüber fand, die ſich aus einer
Coalition der verſchiedenartigſten Elemente zuſammenſetzte, aus der
Socialdemokratie, den Polen, Welfen, Franzoſenfreunden aus dem
Elſaß, den freiſinnigen Krypto-Republikanern und gelegentlich aus
mißgünſtigen Conſervativen am Hofe, im Parlamente und in der
Preſſe — der Coalition, die zum Beiſpiel die Geldbewilligung für
einen zweiten Director im Auswärtigen Amt ablehnte. Die Unter¬
ſtützung, die ich dieſer Oppoſition gegenüber am Hofe, im Parla¬
mente und außerhalb deſſelben fand, war keine unbedingte, und
nicht frei von der Mitwirkung mißgünſtiger und rivaliſirender
Streber. Ich habe damals die Frage Jahre hindurch mit wechſelnder
Anſicht über ihre Dringlichkeit bei mir und mit Andern erwogen,
ob das Maß nationaler Einheit, welches wir gewonnen hatten, zu
ſeiner Sicherſtellung nicht einer andern Form bedürfe, als der zur
Zeit gültigen, die aus der Vergangenheit überliefert und durch die
Ereigniſſe und durch Compromiſſe mit Regirungen und Parla¬
menten entwickelt war. Ich habe in jener Zeit, wie ich glaube,
auch in öffentlichen Reden angedeutet, daß der König von Preußen,
wenn ihm der Reichstag die kaiſerliche Wirkſamkeit über die Grenzen
der Möglichkeit monarchiſcher Einrichtungen erſchwere, ſich zu einer
ſtärkern Anlehnung an die Unterlagen veranlaßt ſehn könne, welche
die preußiſche Krone und Verfaſſung ihm gewähre 1). Ich hatte bei
1) Vgl. Pol. Reden XI 468.
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Eine Betrachtung über die Reichsverfaſſung.
Herſtellung der Reichsverfaſſung befürchtet, daß die Gefährdung
unſrer nationalen Einheit in erſter Linie von dynaſtiſchen Sonder¬
beſtrebungen zu befürchten ſei, und hatte mir daher zur Aufgabe
geſtellt, das Vertrauen der Dynaſtien durch ehrliche und wohl¬
wollende Wahrung ihrer verfaſſungsmäßigen Rechte im Reiche zu
gewinnen, habe auch die Genugthuung gehabt, daß insbeſondre die
hervorragenden Fürſtenhäuſer eine gleichzeitige Befriedigung ihres
nationalen Sinnes und ihrer particulären Anſprüche fanden. In
dem Ehrgefühle, das den Kaiſer Wilhelm I. ſeinen Bundesgenoſſen
gegenüber beſeelte, habe ich ſtets ein Verſtändniß für die politiſche
Nothwendigkeit gefunden, das dem eignen ſtark dynaſtiſchen Gefühle
ſchließlich doch überlegen war.
Auf der andern Seite hatte ich darauf gerechnet, in den ge¬
meinſamen öffentlichen Einrichtungen, namentlich in dem Reichs¬
tage, in Finanzen, baſirt auf indirecten Steuern und in Mono¬
polen, deren Erträge nur bei dauernd geſichertem Zuſammenhange
flüſſig bleiben, Bindemittel herzuſtellen, die haltbar genug wären,
um centrifugaler Anwandlung einzelner Bundesregirungen Wider¬
ſtand zu leiſten. Die Ueberzeugung, daß ich mich in dieſer Rech¬
nung geirrt, daß ich die nationale Geſinnung der Dynaſtien unter¬
ſchätzt, die der deutſchen Wähler oder doch des Reichstags über¬
ſchätzt hatte, war Ende der ſiebziger Jahre in mir noch nicht zum
Durchbruch gekommen, mit ſo viel Uebelwollen ich auch im Reichstage,
am Hofe, in der conſervativen Partei und deren „Declaranten“ zu
kämpfen gehabt hatte. Jetzt habe ich den Dynaſtien Abbitte zu leiſten;
ob die Fractionsführer mir ein pater peccavi ſchuldig ſind, darüber
wird die Geſchichte einmal entſcheiden. Ich kann nur das Zeugniß
ablegen, daß ich den Fractionen, den arbeitsſcheuen Mitgliedern ſo¬
wohl wie den Strebern, in deren Hand die Führung und das
Votum ihrer Gefolgſchaften lag, eine ſchwerere Schuld an der
Schädigung unſrer Zukunft beimeſſe, als ſie ſelbſt fühlen. „Get
you home, you fragments,“ ſagt Coriolan. Nur die Führung
des Centrums kann ich nicht eine unfähige nennen, aber ſie
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Dreiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Friedrich III.
iſt berechnet auf die Zerſtörung des unbequemen Gebildes eines
Deutſchen Reiches mit evangeliſchem Kaiſerthum und acceptirt in
Wahlen und Abſtimmungen den Beiſtand jeder ihr an ſich feind¬
lichen, aber zunächſt in gleicher Richtung wirkenden Fraction, nicht
nur der Polen, Welfen, Franzoſen, ſondern auch der Freiſinnigen.
Wie viele der Mitglieder mit Bewußtſein, wie viele in ihrer Be¬
ſchränktheit für reichsfeindliche Zwecke arbeiten, werden nur die
Führer beurtheilen können. Windthorſt, politiſch latitudinarian,
religiös ungläubig, iſt durch Zufall und bürokratiſches Ungeſchick
auf die feindliche Seite geſchoben worden. Trotz alledem hoffe ich,
daß in Kriegszeiten das Nationalgefühl ſtets zu der Höhe an¬
ſchwellen wird, um das Lügengewebe zu zerreißen, in dem Fractions¬
führer, ſtrebſame Redner und Parteiblätter in Friedenszeiten die
Maſſen zu erhalten wiſſen.
Wenn man ſich die Zeit vergegenwärtigt, wo das Centrum,
geſtützt weniger auf den Papſt als auf den Jeſuitenorden, die
Welfen, nicht blos die hanöverſchen, die Polen, die franzöſirenden
Elſäſſer, die Volksparteiler, die Socialdemokraten, die Freiſinnigen
und die Particulariſten, einig unter einander nur in der Feind¬
ſchaft gegen das Reich und ſeine Dynaſtie, unter Führung deſſelben
Windthorſt, der vor und nach ſeinem Tode zu einem National¬
heiligen gemacht wurde, eine ſichre und herriſche Mehrheit gegen
den Kaiſer und die verbündeten Regirungen beſaß, ſo wird
Jeder, der die damalige Situation und die von Weſten und Oſten
drohenden Gefahren ſachkundig zu beurtheilen im Stande iſt, es
natürlich finden, daß ein für die Schlußergebniſſe verantwortlicher
Reichskanzler daran dachte, den möglichen auswärtigen Verwick¬
lungen und ihrer Verbindung mit innern Gefahren mit derſelben
Unabhängigkeit entgegen zu treten, mit der der böhmiſche Krieg
ohne Einverſtändniß, vielfach ſogar im Widerſpruche mit politiſchen
Stimmungen unternommen wurde.
Von den Privatbriefen des Kaiſers Friedrich theile ich einen
um ſeinet- und um meinetwillen mit, als Probe ſeiner Sinnesart
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Deutſches Fractionsgetriebe. Brief Friedrichs III.
und ſeines ſchriftlichen Ausdrucks und behufs Zerſtörung der Legende,
daß ich „ein Feind der Armee“ geweſen ſei.
„Charlottenburg, 25. März 1888.
Ich gedenke mit Ihnen, mein lieber Fürſt, der heute ab¬
gelaufenen 50 Jahre, welche verſtrichen ſind, ſeitdem Sie in das
Heer eintraten, und freue mich aufrichtig, daß der Garde-Jäger
von damals mit ſo viel Zufriedenheit auf dieſes abgelaufene halbe
Jahrhundert zurückblicken kann. Ich will mich heute nicht in lange
Auseinanderſetzungen über die ſtaatsmänniſchen Verdienſte ein¬
laſſen, welche Ihren Namen für immer mit unſrer Geſchichte ver¬
flochten haben. Aber das Eine muß ich hervorheben: daß wo es
galt, das Wohl des Heeres, ſeine Wehrkraft, ſeine Schlagfertigkeit
zu vervollkommnen, Sie nimmer fehlten, den Kampf auszufechten
und durchzuführen. Somit dankt Ihnen das Heer für erlangte
Segnungen, die es Ihnen niemals vergeſſen wird, und an der
Spitze deſſelben der Kriegsherr, der erſt vor wenigen Tagen be¬
rufen iſt, dieſe Stellung nach dem Heimgang deſſen einzunehmen,
der unausgeſetzt das Wohl der Armee auf dem Herzen trug.
Ihr
wohlgeneigter
Friedrich.“
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[Abbildung Aus dem Manuſkript der „Gedanken und Erinnerungen“ von Otto Fürſt von Bismarck.
Fakſimile einer vom Fürſten ſelbſt geſchriebenen Seite.
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[Abbildung Aus dem Manuſkript der „Gedanken und Erinnerungen“ von Otto Fürſt von Bismarck.
Fakſimile einer vom Fürſten ſelbſt geſchriebenen Seite.
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