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Gedanken und Erinnerungen.
Von
Otto Fürſt von Bismarck.
[0009]
[[I]/0010]
[[II]/0011]
[Abbildung F. von Lenbach pinx. Photographie im Verlag der Photogr. Union in München.]
[0012]
[0013]
[[III]/0014]
Gedanken und Erinnerungen.
Von
Otto Fürſt von Bismarck.
Erſter Band.
[Abbildung]
Stuttgart 1898.
Verlag der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung
Nachfolger.
[[IV]/0015]
Alle Rechte, insbeſondere das Ueberſetzungsrecht, vorbehalten.
Copyright 1898 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger.
Druck von C. Grumbach in Leipzig.
[[V]/0016]
Vorwort des Herausgebers.
Fürſt Bismarck begann die Aufzeichnungen ſeiner „Gedanken und
Erinnerungen“ bald nachdem ihm durch die Entlaſſung aus ſeinen
ruhmreich geführten Aemtern — wie er ſelbſt wiederholt geſagt hat —
das Spalier entzogen war, an dem ſich ſein Leben bisher emporgerankt
hatte. Die erſte Anregung gab ihm eine von einem Verlagsangebote
begleitete Anfrage des Cotta'ſchen Hauſes; ſchon am 6. Juli 1890 wurde
zwiſchen dem Fürſten und dem Vertreter der Cotta'ſchen Buchhandlung
ein Abkommen getroffen, durch welches dieſem Hauſe für den Fall, daß
der Fürſt Erinnerungen aus ſeinem Leben niederſchriebe, das Verlags¬
recht übertragen wurde. Lothar Bucher, der geſchichtskundige Diplomat,
der nach des Fürſten Entlaſſung Jahre lang mit kurzen Unterbrechungen
in Friedrichsruh oder Varzin als ſtiller Hausgaſt weilte, hat das Ver¬
dienſt, daß er den Fürſten Bismarck in ſeinem Entſchluſſe zur Nieder¬
ſchrift ſeiner Erinnerungen und ſeiner politiſchen Gedanken beſtärkte und
ihn in täglichen Geſprächen bei dem begonnenen Werke feſthielt. Buchers
ſtenographiſche Nachſchriften nach dem Dictate des Fürſten bildeten
den Grundſtock zu der erſten Ausarbeitung, mit der ſich der Fürſt Jahre
lang eifrig beſchäftigte, indem er die in Kapitel eingetheilten und
ſyſtematiſch geordneten Aufzeichnungen immer von neuem durchſah und
durch eigenhändige Nachträge ergänzte. Um ihm dieſe Arbeit zu er¬
leichtern, wurden die „Gedanken und Erinnerungen“ ſchon im Jahre
1893 als Manuſkript gedruckt mit allen Aenderungen, die der Fürſt
an dem erſten Entwurf angebracht hatte. Dieſes neue Manuſkript
hat Fürſt Bismarck dann noch zwei- bis dreimal durchgearbeitet und
ſorgfältiger Nachprüfung unterzogen, in der ihn ſein faſt untrügliches
Gedächtniß aufs beſte unterſtützte. Ganze Kapitel hat er noch in den
letzten beiden Jahren in neue Formen umgegoſſen.
Die zunehmenden Leiden des Alters und eine gewiſſe Scheu vor
der Mühe des Schreibens ließen die Arbeit zuweilen ins Stocken ge¬
[VI/0017]
Vorwort des Herausgebers.
rathen, aber ein großer Theil iſt fertig geworden und bildet ein koſtbares
Erbe der deutſchen Nation. Aus dieſer reichfließenden Quelle werden
auch noch in künftigen Jahrhunderten unſere Staatsmänner und Geſchicht¬
ſchreiber Belehrung ſchöpfen, unſer ganzes Volk aber wird ſich noch bis
in die fernſten Zeiten, wie an den Werken ſeiner Klaſſiker, an dem
Buche erbauen, das ſein Bismarck ihm hinterlaſſen hat.
Pflicht des Herausgebers, der hierin einem vom Fürſten Otto
von Bismarck ſelbſt herrührenden Auftrage nachkam, mußte es ſein,
die eingeſtreuten Schriftſtücke, die oft aus mangelhaften Drucken über¬
nommen worden waren, nach den Urſchriften richtig zu ſtellen, kleine
Irrthümer in der Angabe von Daten oder der Schreibung von Namen,
die der Mangel an amtlichem Material verſchuldete, zu beſſern, in
Fußnoten auf ähnliche Aeußerungen des Fürſten in ſeinen politiſchen
Reden aufmerkſam zu machen und literariſche Nachweiſe zu geben.
Nirgends aber iſt der Text geändert oder gekürzt worden — die Pietät
gebietet einem ſolchen Todten gegenüber doppelte Zurückhaltung.
Anmerkungen von der Hand des Fürſten ſind durch Sternchen (✱),
ſolche des Herausgebers durch Ziffern kenntlich gemacht.
Chemnitz, 21. Oktober 1898. Horſt Kohl
[[VII]/0018]
Inhaltsverzeichniß.
Seite
Vorwort des Herausgebers V
Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage 1-19
I. Die politiſchen Anſchauungen des Jünglings S. 1. Rückwirkung
der Hambacher Feier und des Frankfurter Putſches auf die deutſch¬
nationale Geſinnung und den Liberalismus Bismarcks 2. Gedanken
des Jünglings über auswärtige Politik 2. Neigung zur diplomati¬
ſchen Laufbahn 3. Ancillons Ideal eines Diplomaten 3. Mangel
an geeignetem Material für die Diplomatie im preußiſchen Landadel
und Urſache dieſer Erſcheinung 4. Die Ausländer in der damaligen
preußiſchen Diplomatie und im Heere 5. Perſonen und Einrich¬
tungen der damaligen preußiſchen Juſtiz 6. Als Auscultator beim
Criminal- und Stadtgericht 6. 7. „Ich ſtimme wie der College
Tempelhof“ 7. Ein Sühneverſuch des Herrn Prätorius 7. Bedürf¬
niß einer Verordnung über das Verfahren in Eheſcheidungen 8. Be¬
ſchäftigung in der Abtheilung für Bagatellprozeſſe 8. Uebergang zur
Verwaltung 8. Die rheiniſchen Regierungscollegien, Perſönlichkeiten
und Geſchäfte 9. Fortſetzung des Referendariats bei der Regierung
zu Potsdam 10. Abneigung gegen Zopf und Perrücke der damaligen
Bureaukratie 10. Ungerechtigkeit in der Beurtheilung der damaligen
Bureaukratie gegenüber dem Bureaukratismus der heutigen Zeit 10.
Der Landrath ſonſt und jetzt 11. Größere Unparteilichkeit der früheren
Regierungsbeamten, parteipolitiſche Beeinfluſſung der Richter in unſrer
Zeit 12. Verzicht auf die Beamtenlaufbahn, Eintritt in die Bewirth¬
ſchaftung der pommerſchen Güter 13. II. Bismarcks angebliches
„Junkerthum“ 13. Die unumſchränkte Autorität der alten preußiſchen
Königsmacht nicht das letzte Wort ſeiner Ueberzeugung 14. Bismarcks
Ideal einer monarchiſchen Gewalt 15. Conflicte mit der Bureau¬
kratie 16. Bismarck contra Bismarck 16. Die Oppoſition auf dem
Erſten Vereinigten Landtag 17. Conflict Bismarcks mit der Oppo¬
ſition 17. Friedrich Wilhelm IV. und Bismarck 18.
[VIII/0019]
Inhaltsverzeichniß.
Seite
Zweites Kapitel: Das Jahr 1848 20–53
I. Erſter Eindruck der Ereigniſſe des 18. und 19. März S. 20.
Vertreibung der Tangermünder Deputirten durch die Schönhauſer
Bauern 20. Ihre Bereitſchaft zum Zuge nach Berlin 21. Bismarck
in Potsdam: Unterredung mit Bodelſchwingh, Möllendorf, Pritt¬
witz 21. Bismarck bei der Prinzeſſin von Preußen 22, beim
Prinzen Friedrich Karl 23. Bismarck verſucht in's Schloß zu Ber¬
lin zu gelangen, wird abgewieſen 23. Bismarcks Brief an den
König die erſte Sympathiekundgebung 24. In den Straßen von
Berlin 24. Unterredung mit Prittwitz und Möllendorf über die
Möglichkeit eines ſelbſtändigen militäriſchen Handelns 25. Bismarck
in Magdeburg mit Verhaftung bedroht 25. Bismarck mit einer De¬
putation Schönhauſer Bauern in Potsdam 26. Anrede des Königs
an die Offiziere des Gardecorps 26. Schreiben Bismarcks an General¬
lieutenant v. Prittwitz 27. Mittheilungen zur Geſchichte der März¬
bewegung aus Geſprächen mit Polizeipräſident v. Minutoli und Ge¬
neral v. Prittwitz 29. 30. Fürſt Lichnowſki 31. II. Bismarcks
Erklärung gegen die Adreſſe 31. Schreiben an eine Magdeburger
Zeitung 32. Ein Zeitungsartikel: „Aus der Altmark“ 34. Bismarck
gegen den Antrag v. Vincke, betr. die Abdankung des Königs und
Berufung der Prinzeſſin von Preußen zur Regentſchaft 36. Begeg¬
nung mit dem Prinzen von Preußen bei deſſen Rückkehr aus Eng¬
land 37. Erſte Begegnung mit dem Prinzen 38. Beim Prinzen in
Babelsberg 38. Erſte Beziehungen zur Prinzeſſin von Preußen und
dem Prinzen Friedrich Wilhelm 41. III. Schutzbedürftigkeit der deut¬
ſchen Fürſten gegenüber der Revolution, von Friedrich Wilhelm IV.
nicht im unitariſchen Sinne ausgebeutet 40. Der Umzug vom
21. März 41. Würde ein Sieg Friedrich Wilhelms IV. über die
Revolution dauernde Erfolge auf national-deutſchem Gebiete gehabt
haben? 42. Erſter Beſuch in Sansſouci 43. Geſpräch mit dem Kö¬
nige 43. Rechtsauffaſſung des Königs 45. Mögliche Hintergedanken
des Königs bei ſeinem Verhalten gegenüber der Nationalverſammlung 46.
Die Camarilla 46. Leopold und Ludwig v. Gerlach 47. General
v. Rauch 48. IV. Auf der Suche nach einem neuen Miniſterium 49.
Uebernahme des Präſidiums durch Graf Brandenburg 50. Otto v. Man¬
teuffel wird von Bismarck bewogen, in das Miniſterium Brandenburg
einzutreten 50. Die neuen Miniſter vor der Nationalverſammlung 50.
Vorkehrungen zu ihrer Sicherung 51. Die militäriſche Beſetzung
der Wohnung des Grafen Kniephauſen 51. Kritik des Verhaltens
Wrangels 52. Hintergedanken des Königs bei Verlegung der National¬
verſammlung 52.
[IX/0020]
Inhaltsverzeichniß.
Seite
Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden 54–77
I. Der latente deutſche Gedanke Friedrich Wilhelms IV. hat die
Mißerfolge der preußiſchen Politik nach 1848 verſchuldet S. 54. Die
Phraſen von dem deutſchen Berufe Preußens und von moraliſchen
Eroberungen 55. Die Dynaſtien und die Barrikade 55. Selbſt¬
täuſchung der Frankfurter Verſammlung 56. Stärke des dynaſtiſchen
Gefühls in Preußen 56. Die Ablehnung der Kaiſerkrone durch Friedrich
Wilhelm IV. 57. Bismarcks Urtheil über die damalige Lage jetzt
und im Jahre 1849 57. Seine damalige Auffaſſung gegründet auf
Fractionsbeurtheilung 58. Fractionsleben ſonſt und jetzt 58. Das
Dreikönigsbündniß 59. Gunſt der Lage für Preußen 59. Täuſchung
der leitenden Kreiſe in Preußen über die realen Machtverhältniſſe 60.
Bedenken Friedrich Wilhelms IV. 61. II. Die preußiſchen Truppen
in Pfalz und Baden 62. Bismarcks Vertrauen auf Preußens mili¬
täriſche Kraft im Kampfe gegen die Revolution 63. Halbheit der
damaligen preußiſchen Politik 64. General v. Radowitz, der Garderobier
der mittelalterlichen Phantaſie des Königs 64. Das Erfurter Parla¬
ment: Graf Brandenburg verſucht Bismarck für die Erfurter Politik
zu gewinnen 66. Bismarck und Gagern 66. Die Familien Gagern
und Auerswald 67. Kriegsminiſter Stockhauſen heißt Bismarck ab¬
wiegeln 68. Preußens militäriſche Gebundenheit und ihre Urſachen 70.
Bismarcks Rede vom 3. December 1850 71. Leitender Gedanke der
Rede 74. Ruhigere Auffaſſung der deutſchen Revolution in St. Peters¬
burg im November 1850 74. Baron v. Budberg 75. III. Geringer
Ertrag der Dresdner Verhandlungen 76. Fürſt v. Schwarzenberg
und Herr v. Manteuffel in Dresden 76. Grundirrthum der dama¬
ligen preußiſchen Politik 77.
Viertes Kapitel: Diplomat 78–91
Ernennung zum Legationsrath bei der Bundestags-Geſandtſchaft S. 78.
Ernennung zum Bundesgeſandten 80. Verſtimmung des Herrn
v. Rochow 80. Erſte Studien über das Ordensweſen, gemacht am
General v. Peucker 80. Bismarcks Gleichgültigkeit gegen Ordens¬
decorationen 81. Der monsieur décoré in Paris und Petersburg 81.
Das tanzluſtige Frankfurt 82. Abneigung des Königs Wilhelm I.
gegen tanzende Miniſter 83. Sendung nach Wien auf die „hohe
Schule der Diplomatie“ 83. Einführungsſchreiben vom 5. Juni 1852 83.
Aufnahme in Wien 85. Schwierigkeiten einer Zollgemeinſchaft mit
Oeſterreich 85. Klentzeſche Verdächtigungen 87. Abneigung Bismarcks
[X/0021]
Inhaltsverzeichniß.
Seite
gegen den Wiener Poſten und den Miniſterpoſten 87. Schwierigkeiten
einer Miniſterſtellung unter Friedrich Wilhelm IV. 88. Bismarck bei
König Georg V. von Hannover 88. Verlaſſenheit Georgs V. 90.
Ein preußiſcher Conſul als öſterreichiſcher Agent? 90.
Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg 92–120
I. Die Fraction Bethmann-Hollweg und der Prinz v. Preußen S. 92.
Graf Karl v. d. Goltz 92. Graf Robert v. d. Goltz als Impreſario
der Bethmann-Hollwegſchen Fraction 93. Das „Preußiſche Wochen¬
blatt“ 93. Rudolf v. Auerswald 94. Bismarck lehnt es ab, der
Wochenblattspartei beizutreten 94. Olmütz in den Empfindungen des
Prinzen v. Preußen 95. Manteuffels Abneigung gegen einen Bruch mit
Oeſterreich 96. Das preußiſch-öſterreichiſche Schutz- und Trutzbündniß
vom 20. April 1854 97. Bismarck ſchlägt dem Könige vor, die Ge¬
legenheit des ruſſiſch-weſtmächtlichen Kriegs zu einer Hebung des
preußiſchen Anſehns in Europa zu benutzen durch eine Truppenauf¬
ſtellung in Oberſchleſien 97. Der Deutſche Bund unter dem Drucke
einer öſterreichiſch-franzöſiſchen Allianz 98. Aeußerung des Königs
Wilhelm I. von Württemberg 98. „Liebeken, das is ſehr ſchöne, aber
es is mich zu theuer“ 99. II. Auszüge aus Briefen des Generals
v. Gerlach 100. Ein Brief des Cabinetsraths v. Niebuhr 103. Weitere
Auszüge aus Briefen Gerlachs 104. Manteuffels Abneigung gegen
eine active anti-öſterreichiſche Politik 108. Gewöhnlicher Verlauf der
Cabinetskriſen 109. Graf Alvensleben als Miniſtercandidat 109.
III. Doppelſpiel der Wochenblattspartei 110. Ihr politiſches Pro¬
gramm 110 und deſſen Kritik 111. Ein gefälſchtes Memoire 111.
Denkſchrift Bunſens über die Neugeſtaltung der Karte von Europa 112.
Unterredung des Prinzen von Preußen mit Bismarck über Preußens
Stellung im Krimkriege, ſpeciell zu Rußland 113. Was ſpricht gegen
einen Krieg Preußens gegen Rußland? 114. Der Depeſchen- und
Briefdiebſtahl 115. Selbſtverrath Hinckeldeys 116. IV. Ein Brief
Bismarcks an Gerlach über die Abdication Preußens von ſeiner euro¬
päiſchen Stellung 117.
Sechſtes Kapitel: Sansſouci und Coblenz 121–127
Der Prinz von Preußen unter dem Einfluſſe ſeiner Gemahlin S. 121.
Hinneigung der Prinzeſſin (und Kaiſerin) Auguſta für alles Franzö¬
ſiſche und Engliſche 121. Ihre Abneigung gegen alles Ruſſiſche 122.
Herr v. Schleinitz 123. Frühſtücksvorträge der Prinzeſſin (und Kai¬
ſerin) Auguſta und ihre Einwirkungen 123. Gegnerſchaft der Höfe
[XI/0022]
Inhaltsverzeichniß.
von Sansſouci und Coblenz 124. Königin Eliſabeth 124. Hinneigung
der Prinzeſſin (und Kaiſerin) Auguſta zum Katholicismus 125. Ihre
Differenzen mit dem Oberpräſidenten v. Kleiſt-Retzow 126. Der
Generalſtab des Hofes von Sansſouci 126. Guſtav v. Alvensleben
als Vertreter des ſtaatlichen Intereſſes am Coblenzer Hofe 127.
Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt u. Berlin 128–148
I. Bismarck zur „Territion“ Manteuffels entboten S.128. Marquis
Mouſtier ſucht Bismarck in weſtmächtlichem Sinne zu beeinfluſſen 129.
Goltz und Pourtalès als gelegentliche Vertrauensmänner des Königs
gegen Manteuffel 129. II. Manteuffel im Streite mit der Kreuz¬
zeitungspartei über Rhino Quehl 130. Briefe Gerlachs in Sachen
dieſes Streites 131. Manteuffel ſchmollt 137. Graf Albrecht v. Alvens¬
leben als „Schreckbild“, Bismarck als Friedensbote 137. Bismarck
befreit Manteuffel von Quehl und den beim Depeſchendiebſtahl be¬
nutzten Agenten 137. Auffaſſung Friedrich Wilhelms IV. von der
Stellung eines Miniſters 138. III. Ein Schreiben Manteuffels und
ein Schreiben Friedrich Wilhelms IV. über die Zuſammenſetzung
der Erſten Kammer 139. 140. Bismarck als königlicher Vertrauens¬
mann in den Verhandlungen mit der conſervativen Partei der Zweiten
Kammer 140. Zorn des Königs über Bismarcks Säumen 141. Eine
Internirung im Schloſſe zu Charlottenburg 141. Umſtimmung der
conſervativen Fraction durch Bismarck 142. Erſte Kammer oder
Herrenhaus? 143. Bismarcks Vorſchlag für die Bildung des Herren¬
hauſes 144. IV. Widerſpruch Manteuffels und der Camarilla gegen
eine Ernennung Bismarcks zum Miniſter 145. Bismarck und die
Führer der conſervativen Fraction 145. Bismarck als Redactor des
Königs 146. Kleine Ursachen, große Wirkungen 148.
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris 149–190
I. Graf Hatzfeldt ladet Bismarck nach Paris ein S. 149. Umſchlag in
der Stimmung des Königs 149. Königin Victoria und Prinz Albert
in Paris 149. Eingenommenheit des Prinzen Albert und der Kron¬
prinzeſſin Victoria gegen Bismarck 149. Geſpräch mit der Kron¬
prinzeſſin über die Zukunft der Monarchie 150. Haltung der Königin
Victoria 151. Ein Souper in Verſailles, Bismarck als Tiſchkarten¬
vertheiler 151. Plebejiſche Sitten der franzöſiſchen Hofgeſellſchaft des
zweiten Kaiſerreichs 153. Begegnung mit Kaiſer Napoleon III. 154.
Der Berliner Hof iſt verſtimmt gegen Bismarck wegen ſeiner Pariſer
Reiſe 154. Aeußerung dieſer Verſtimmung 154. Bismarcks Urtheil
über Napoleon III. 155. Aufnahme dieſes Urtheils durch Friedrich
[XII/0023]
Inhaltsverzeichniß.
Seite
Wilhelm IV. 155. II. Der Legitimitätsbegriff 156. Mittheilungen
aus der Correſpondenz Bismarcks mit Gerlach über die Beziehungen
Preußens zu Napoleon III. 156.
Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft 191-216
I. Neue Annäherung des Königs S. 191. Herrn v. Bismarck wird das
Finanzminiſterium angeboten 191. Napoleons Gedanke einer preußiſch¬
franzöſiſchen Intimität zur Sicherung der preußiſchen Neutralität für
den Fall eines Krieges mit Oeſterreich über Italien 192. Bismarcks
Antwort auf Napoleons Vorſchlag 194. II. Jagdausflug nach Däne¬
mark und Schweden 195. Audienz bei König Friedrich VII. von
Dänemark 195. Abneigung der Schleswig-Holſteiner gegen Bildung
eines neuen Kleinſtaates 195. Sturz in Schweden, Rückkehr nach
Berlin, Reiſe zur Jagd nach Kurland 195. Erſte Erkrankung des
Königs 196. Schlaganfall 196. Unterredung mit dem Prinzen von
Preußen 197. Bismarck räth dem Prinzen ab, ſeinen Regierungs¬
antritt mit einer Ablehnung der Verfaſſung zu eröffnen 197. Des
Prinzen Stellvertretung 198. Intrige gegen den Prinzen 198.
Beſtellung des Prinzen zum Regenten 199. Manteuffels Entlaſſung 201.
III. Unterredung mit dem Prinzen von Preußen wegen der Ernennung
zum Geſandten in Petersburg 202. Uſedom und Frau 203. Epiſode:
das Entlaſſungsgeſuch von 1869 204. Briefe des Königs Wilhelm
an Bismarck 204. Beilegung der Differenz 210. IV. Unterredung
mit dem Prinzen von Preußen (Fortſetzung): das Miniſterium der
neuen Aera 210. Prinzeſſin Auguſta 211. Graf Schwerin 212.
V. Bankier Levinſtein als öſterreichiſcher Agent 212 und als Ver¬
trauensmann im Miniſterium Manteuffel 212. Corruption im aus¬
wärtigen Miniſterium 213.
Zehntes Kapitel: Petersburg 217-236
I. Freundſchaft des Kaiſers Niolaus I. für Oeſterreich 1849 und zu Ol¬
mütz S. 217. Mißtrauen des Zaren gegen ſeine eignen Unterthanen 218.
Nicolaus und Friedrich Willhelm IV. 218. Die damalige Petersburger
Geſellſchaft 219. Noch einmal der monsieur décoré in Paris und
St. Petersburg 221. Petersburger Straßenleben 222. Geſellſchaft¬
licher Ton der jüngeren Generation 223. Ihre antideutſche Stim¬
mung fühlbar auf dem Gebiete der politiſchen Beziehungen 223. Fürſt
Gortſchakow als Gönner und als Gegner Bismarcks 224. Urſache der
Verſtimmung Gortſchakows 224. Hat Deutſchland einen Krieg mit
Rußland nöthig? 224. II. Gaſtlichkeit auf den kaiſerlichen Schlöſſern 225.
Ein großfürſtliches enfant terrible 226. Unterſchleife der Hofdiener¬
ſchaft 226. Eine kaiſerliche Talgrechnung 226. Ruſſiſche Beharr¬
[XIII/0024]
Inhaltsverzeichniß.
Seite
lichkeit: der Poſten aus der Zeit Katharinas II. 227. III. Einflu߬
loſigkeit Bismarcks auf die Entſchließungen in Berlin 227. Die
Genauigkeit ſeiner Berichte wird dem Regenten verdächtigt 228. Graf
Münſter als Inſpicient Bismarcks in St. Petersburg 228. Politiſche
Schachzüge der ruſſiſchen Diplomatie 228. Verletzung des Brief¬
geheimniſſes ein monarchiſches Recht 229. Oeſterreichiſche Praxis 229.
Der einfache Poſtbrief an den preußiſchen Geſandten in Wien oder
Petersburg als Form der Inſinuation einer unangenehmen Mit¬
theilung an die öſterreichiſche oder ruſſiſche Regierung 229. Das Brief¬
geheimniß in der Poſt von Thurn und Taxis 229. Mißbräuchliche
Gewohnheiten der preußiſchen Geſandtſchaft in Wien bis zum Jahre
1852 230. Oeſterreichiſche Gewaltthätigkeiten gegen untreue Beamte
des auswärtigen Dienſtes 231. Ruſſiſches Mittel, unzufriedene
Beamte zufrieden zu machen 231. IV. Erinnerungen an den Beſuch
in Moskau 231. Briefwechſel mit dem Fürſten Obolenſki 232.
V. Erkrankung und Behandlung der Krankheit durch einen ruſſiſchen
„Arzt“ 234. Im Bade Nauheim 236. Langes Krankenlager an
Lungenentzündung in Hohendorf 236. Gedanken eines ſterbenden
Preußen über Vormundſchaft 236.
Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand 237–269
I. Bismarck wird dem Regenten zum Miniſter des Auswärtigen vor¬
geſchlagen S. 237. Bismarck entwickelt ſein Programm 237. Der Re¬
gent erklärt ſich für die Schleinitzſche Auffaſſung 239. Die Prinzeſſin
Auguſta als Schutzengel des Herrn v. Schleinitz 239. II. R. v. Auers¬
wald 240. Miniſterkriſis aus Anlaß der Huldigungsfrage 240. Roons
Brief vom 27. Juni 1861 240. Bismarcks Antwort 242. Seine
Reiſe nach Berlin 245. Verlauf der Kriſis nach Roons Brief vom
24. Juli 1861 246. Krönung Wilhelms I. 249. Geſpräch mit der
Königin Auguſta über die deutſche Politik Preußens 249. III. Mi¬
niſterielle Wechſelreiterei 250. Prinz Hohenlohe-Ingelfingen als ſtell¬
vertretender Miniſterpräſident 250. Berufung Bismarcks von Peters¬
burg nach Berlin, April 1862 250. Seine Ernennung nach Paris 251.
Brief Bismarcks an Roon 251. Brief Roons an Bismarck 252.
Antwort Bismarcks 254. Unterredung mit Napoleon III., Vorſchlag
eines preußiſch-franzöſiſchen Bündniſſes 256. Oeſterreichs Anträge bei
Napoleon III. 257. Reiſe in Südfrankreich, Briefwechſel mit Roon 258.
Berufungsdepeſche vom 18. September 266. Audienz beim Kron¬
prinzen 267. Audienz in Babelsberg 267. Ernennung Bismarcks
zum Staatsminiſter und interimiſtiſchen Vorſitzenden des Staats¬
miniſteriums 269
[XIV/0025]
Inhaltsverzeichniß.
Seite
Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik 270–287
Mangel an Selbſtändigkeit und Energie in der auswärtigen und deut¬
ſchen Politik Preußens ſeit der Zeit Friedrichs des Großen S. 270.
Particulariſtiſcher Charakter der preußiſchen Politik 270. Beſtimmen¬
der Einfluß der polniſchen Frage 271. Die Reichenbacher Convention
und ihre Bedeutung 272. Die verſäumten Gelegenheiten in der Ge¬
ſchichte Preußens 273. Die Fehler der Vermittlung von 1805 273.
Preußen als Vaſallenſtaat Rußlands unter Nicolaus I. 274. Preußen im
Vorſchuß gegen Rußland durch ſeine Haltung im Krimkriege und wäh¬
rend des Polenaufſtandes von 1863 275. Urſachen des Abhängigkeits¬
gefühles am Berliner Hofe 275. Ueberlegenheit Preußens gegenüber
Rußland und Oeſterreich auf dem Gebiete militäriſcher Rüſtungen 275.
Preußen antichambrirt in Paris, um als Großmacht zur Unterzeich¬
nung zugelaſſen zu werden 276. Fehlerhaftigkeit der damaligen
Politik 277. Das Erbe Friedrichs des Großen unter den Händen
ſeiner Epigonen 278. Wer trägt in der abſoluten Monarchie die ſtaat¬
liche Verantwortlichkeit? 278. Die Miniſterverantwortlichkeit im Ver¬
faſſungsſtaat 278. Wen trifft die Verantwortung für die preußiſche
Politik unter Friedrich Wilhelm IV.? 279. Warum Bismarck nicht
Miniſter Friedrich Wilhelms IV. werden mochte 280. Vorzug des
reinen Abſolutismus ohne Parlament vor dem durch gefügige Par¬
lamente unterſtützten 280. Der italieniſche Krieg 281. Planloſigkeit
der damaligen preußiſchen Politik unter der dominirenden Herrſchaft
der Prinzeſſin Auguſta und des Herrn von Schleinitz 281. Quer¬
treibereien gegen Bismarcks Leitung der auswärtigen Politik 283.
Eiſen und Blut 283. Bismarck richtet den muthloſen König auf durch
die Erinnerung an das Porte-épée des preußiſchen Offiziers 284.
Ernſt der Situation 286.
Dreizehntes Kapitel: Dynaſtien und Stämme 288–296
Die Dynaſtien in ihrem Verhalten zur deutſch-nationalen Frage S. 288.
Preußens Stellung im Bunde 289. Der Traum einer dualiſtiſchen
Politik im Einvernehmen Oeſterreichs und Preußens wird zerſtört
durch Schwarzenbergs Depeſche vom 7. December 1850: ein Wende¬
punkt in Bismarcks Anſchauungen 289. Preußen als Großmacht 290.
Deutſcher Patriotismus bedarf der Vermittlung dynaſtiſcher Anhäng¬
lichkeit 290. Stärke des Nationalgefühls bei andern Rationen 292.
Deutſcher Stammes-Particularismus 293. Die dynaſtiſche Anhänglich¬
keit der Welfen 294. Für Bismarck iſt das deutſche Nationalgefühl die
ſtärkere Kraft 294. Inwieweit haben dynaſtiſche Intereſſen in Deutſch¬
land Berechtigung? 294. Kämpfe Bismarcks mit dem preußiſchen
Particularismus 295. Die unbeſchränkte Staatsſouveränetät der Dyna¬
[XV/0026]
Inhaltsverzeichniß.
Seite
ſtien eine revolutionäre Errungenſchaft auf Koſten der Nation und
ihrer Einheit 295. Unnatürliche Zerreißung des deutſchen Volkes durch
dynaſtiſche Grenzen 295.
Vierzehntes Kapitel: Conflicts-Miniſterium 297–305
I. Karl v. Bodelſchwingh S. 297. Graf Itzenplitz 298. v. Jagow 298.
v. Selchow 299. Graf Fr. zu Eulenburg 299. v. Roon 300. v. Mühler 301.
Graf zur Lippe 302. II. Schreiben des Königs an v. Vincke-Olben¬
dorf 303.
Fünfzehntes Kapitel: Die Alvenslebenſche Convention 306–315
Polonismus und Abſolutismus im Streite miteinander am ruſſiſchen
Hofe S. 306. Ruſſiſch-polniſche Verbrüderungsbeſtrebungen 307. Ale¬
xander II. über die Unſicherheit des polniſchen Beſitzes 308. Alexan¬
der II. fordert Bismarck auf in ruſſiſche Dienſte überzutreten 309. Nutzen
der ruſſiſchen Freundſchaft für die deutſchen Einheitsbeſtrebungen 309.
Haltung Oeſterreichs während des polniſchen Aufſtandes 310. Napo¬
leons III. Haltung in der polniſchen Frage 312. Schwierigkeit der
polniſchen Frage für Preußen 313. Bedeutung der Alvensleben¬
ſchen Militärconvention 314. Gortſchakows Stellung zur polniſchen
Frage 314. Erſte Begegnung mit Herrn Hintzpeter 315.
Sechzehntes Kapitel: Danziger Epiſode 316–330
I. Bismarck und Kaiſer Friedrich S. 316. Erlaß der Preßverordnung 317.
Die Danziger Rede des Kronprinzen 317. Seine Beſchwerdeſchrift und
die Antwort des Königs 317. Bismarck hält den König von extremen
Schritten gegen den Sohn zurück 318. Die Indiscretionen der
„Times“ 319. Vermuthungen über die Urheber dieſer Veröffent¬
lichung 320. II. Unterredung mit dem Kronprinzen in Gaſtein 322.
Neuer Proteſt des Kronprinzen 322. Spannung zwiſchen dem König
und dem Kronprinzen 322. Ausſprache Bismarcks mit dem Kron¬
prinzen 323. Denkſchrift des Kronprinzen und die daran anſchließende
Correſpondenz des Königs mit Bismarck 324.
Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag 331–350
I. Graf Rechberg S. 331. Wie Bismarck Rechbergs Vertrauen ge¬
wann 332. Verſuch, zu einer geſammtdeutſchen Union auf der Baſis
des Dualismus zu gelangen 333. Wahrſcheinliche Wirkung einer ſolchen
Geſtaltung 333. Welche Wirkung würde die Begründung der öſterreichi¬
ſchen Vorherrſchaft gehabt haben? 334. Das Einvernehmen Preußens
und Oeſterreichs die Vorausſetzung gegen engliſch-europäiſches Ein¬
greifen in der däniſchen Frage 334. Erörterung der preußiſch-öſterreichi¬
ſchen Beziehungen zwiſchen Bismarck und Graf Karolyi 335. Gering¬
[XVI/0027]
Inhaltsverzeichniß
ſchätzung Preußens in Wien 336. Unterſchiede im Charakter Friedrich
Wilhelms IV. und Wilhelms I. 336. Ueberſchätzung der abſchwächenden
Wirkung des Conflicts auf Preußens äußere Politik und militäriſche
Leiſtungsfähigkeit 336. Der Glaube an die militäriſche Ueberlegenheit
Oeſterreichs 337. II. Abneigung Oeſterreichs gegen einen friedlichen
Dualismus 338. Einladung zum Frankfurter Fürſtentag 339. Kaiſer
Franz Joſeph in Gaſtein 339. Erſter Eindruck der Einladung auf
den König 339. Bismarck gegen den Beſuch des Fürſtentags 340.
König Johann von Sachſen in Baden 340. Wirkung des preußiſchen
Fernbleibens auf die deutſchen Mittelſtaaten 341. Rechberg nähert
ſich Preußen 342. III. Tod. Friedrichs VII. von Dänemark 342.
Glänzender Anfang der dualiſtiſchen Politik 343. Gefährdung des
Zuſammengehns mit Oeſterreich durch militäriſche Einflüſſe 343. Cul¬
mination und Wendepunkt des Verſuchs eines freundlichen Dualis¬
mus 344. Unterredung der beiden Monarchen und ihrer Miniſter in
Schönbrunn 344. IV. Rechbergs Stellung erſchüttert 346. Verhand¬
lungen über eine zukünftige Aufnahme Oeſterreichs in den Zollverein 346.
Bismarck iſt für ein pactum de contrahendo aus politiſchen Er¬
wägungen, aber Gegner einer Zolleinigung 346. Durchkreuzung der
Bismarckſchen Politik durch Bodelſchwingh, Itzenplitz und Delbrück 347.
Rechberg wird entlaſſen und durch Graf Mensdorff erſetzt 347. Aus¬
züge aus Briefen von Thile, Abeken, Goltz 347. V. Unſicherheit
und Wandelbarkeit der öſterreichiſchen Freundſchaft 349.
Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II . von Baiern _ 351-376
Am Münchner Hofe S. 351. Kronprinz Ludwig 351. Zur Charakteriſtik
des Königs Ludwig II. 352. Mittheilungen aus der Correſpondenz
des Königs Ludwig mit Bismarck 353.
[[1]/0028]
Erſtes Kapitel.
Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.
I.
Als normales Product unſres ſtaatlichen Unterrichts verließ
ich Oſtern 1832 die Schule als Pantheiſt, und wenn nicht
als Republikaner, doch mit der Ueberzeugung, daß die
Republik die vernünftigſte Staatsform ſei, und mit Nachdenken über
die Urſachen, welche Millionen von Menſchen beſtimmen könnten,
Einem dauernd zu gehorchen, während ich von Erwachſenen manche
bittre oder geringſchätzige Kritik über die Herrſcher hören konnte.
Dazu hatte ich von der turneriſchen Vorſchule mit Jahn'ſchen Tra¬
ditionen (Plamann), in der ich vom ſechſten bis zum zwölften Jahre
gelebt, deutſch-nationale Eindrücke mitgebracht. Dieſe blieben im
Stadium theoretiſcher Betrachtungen und waren nicht ſtark genug,
um angeborne preußiſch-monarchiſche Gefühle auszutilgen. Meine
geſchichtlichen Sympathien blieben auf Seiten der Autorität. Har¬
modius und Ariſtogiton ſowohl wie Brutus waren für mein kind¬
liches Rechtsgefühl Verbrecher und Tell ein Rebell und Mörder.
Jeder deutſche Fürſt, der vor dem 30jährigen Kriege dem Kaiſer
widerſtrebte, ärgerte mich, vom Großen Kurfürſten an aber war
ich parteiiſch genug, antikaiſerlich zu urtheilen und natürlich zu
finden, daß der ſiebenjährige Krieg ſich vorbereitete. Doch blieb
mein deutſches Nationalgefühl ſo ſtark, daß ich im Anfang der
Univerſitätszeit zunächſt zur Burſchenſchaft in Beziehung gerieth,
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 1
[2/0029]
Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.
welche die Pflege des nationalen Gefühls als ihren Zweck bezeichnete.
Aber bei perſönlicher Bekanntſchaft mit ihren Mitgliedern mißfielen
mir ihre Weigerung, Satisfaction zu geben, und ihr Mangel an
äußerlicher Erziehung und an Formen der guten Geſellſchaft, bei
näherer Bekanntſchaft auch die Extravaganz ihrer politiſchen Auf¬
faſſungen, die auf einem Mangel an Bildung und an Kenntniß der
vorhandenen, hiſtoriſch gewordenen Lebensverhältniſſe beruhte, von
denen ich bei meinen ſiebzehn Jahren mehr zu beobachten Gelegenheit
gehabt hatte als die meiſten jener durchſchnittlich ältern Studenten.
Ich hatte den Eindruck einer Verbindung von Utopie und Mangel
an Erziehung. Gleichwohl bewahrte ich innerlich meine nationalen
Empfindungen und den Glauben, daß die Entwicklung der nächſten
Zukunft uns zur deutſchen Einheit führen werde; ich ging mit
meinem amerikaniſchen Freunde Coffin die Wette darauf ein, daß
dieſes Ziel in zwanzig Jahren erreicht ſein werde.
In mein erſtes Semeſter fiel die Hambacher Feier (27.Mai 1832),
deren Feſtgeſang mir in der Erinnerung geblieben iſt, in mein drittes
der Frankfurter Putſch (3. April 1833). Dieſe Erſcheinungen ſtießen
mich ab, meiner preußiſchen Schulung widerſtrebten tumultuariſche
Eingriffe in die ſtaatliche Ordnung; ich kam nach Berlin mit weniger
liberaler Geſinnung zurück, als ich es verlaſſen hatte, eine Reaction,
die ſich wieder abſchwächte, nachdem ich mit dem ſtaatlichen Räder¬
werke in unmittelbare Beziehung getreten war. Was ich etwa über
auswärtige Politik dachte, mit der das Publikum ſich damals wenig
beſchäftigte, war im Sinne der Freiheitskriege, vom preußiſchen
Offizierſtandpunkt geſehn. Beim Blick auf die Landkarte ärgerte
mich der franzöſiſche Beſitz von Straßburg, und der Beſuch von
Heidelberg, Speier und der Pfalz ſtimmte mich rachſüchtig und
kriegsluſtig. In der Zeit vor 1848 war für einen Kammergerichts-
Auscultator und Regirungs-Referendar, dem jede Beziehung zu mini¬
ſteriellen und höhern amtlichen Kreiſen fehlte, kaum eine Ausſicht zu
einer Betheiligung an der preußiſchen Politik vorhanden, ſo lange er
nicht den einförmigen Weg zurückgelegt hatte, der durch die Stufen
[3/0030]
Jünglingsanſchauungen. Die preußiſche Diplomatie.
der bürokratiſchen Laufbahn nach Jahrzehnten dahin führen konnte,
an den höhern Stellen bemerkt und herangezogen zu werden. Als
muſtergültige Vordermänner auf dieſem Wege wurden mir im
Familienkreiſe damals Männer wie Pommer-Eſche und Delbrück vor¬
gehalten, und als einzuſchlagende Richtung die Arbeit an und in dem
Zollvereine empfohlen. Ich hatte, ſo lange ich in dem damaligen
Alter an eine Beamtenlaufbahn ernſtlich dachte, die diplomatiſche im
Auge, auch nachdem ich von Seiten des Miniſters Ancillon bei meiner
Meldung dazu wenig Ermuthigung gefunden hatte. Derſelbe be¬
zeichnete nicht mir, aber hohen Kreiſen gegenüber als Muſterbild
deſſen, was unſrer Diplomatie fehle, den Fürſten Felix Lichnowſki,
obſchon man hätte vermuthen ſollen, daß dieſe Perſönlichkeit, wie
ſie ſich damals in Berlin zur Anſchauung brachte, der anerkennenden
Würdigung eines der evangeliſchen Geiſtlichkeit entſtammenden
Miniſters nicht grade nahe ſtände.
Der Miniſter hatte den Eindruck, daß die Kategorie unſres
hausbacknen preußiſchen Landadels für unſre Diplomatie den ihm
wünſchenswerthen Erſatz nicht lieferte und die Mängel, welche er
an der Gewandheit des Perſonalbeſtandes dieſes Dienſtzweiges
fand, zu decken nicht geeignet war. Dieſer Eindruck war nicht ganz
ohne Berechtigung. Ich habe als Miniſter ſtets ein landsmann¬
ſchaftliches Wohlwollen für eingeborne preußiſche Diplomaten ge¬
habt, aber im dienſtlichen Pflichtgefühle nur ſelten dieſe Vorliebe
bethätigen können, in der Regel nur dann, wenn die Betheiligten
aus einer militäriſchen Stellung in die diplomatiſche übergingen.
Bei den rein preußiſchen Civil-Diplomaten, welche der Wirkung
militäriſcher Diſciplin garnicht oder unzureichend unterlegen hatten,
habe ich in der Regel eine zu ſtarke Neigung zur Kritik, zum Beſſer¬
wiſſen, zur Oppoſition und zu perſönlichen Empfindlichkeiten ge¬
funden, verſtärkt durch die Unzufriedenheit, welche das Gleichheits¬
gefühl des alten preußiſchen Edelmanns empfindet, wenn ein Standes¬
genoſſe ihm über den Kopf wächſt oder außerhalb der militäriſchen
Verhältniſſe ſein Vorgeſetzter wird. In der Armee ſind dieſe Kreiſe
[4/0031]
Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.
ſeit Jahrhunderten daran gewöhnt, daß das geſchieht, und geben
den Bodenſatz ihrer Verſtimmung gegen frühere Vorgeſetzte an ihre
ſpätern Untergebenen weiter, ſobald ſie ſelbſt in höhere Stellen
gelangt ſind. In der Diplomatie kommt dazu, daß diejenigen
unter den Aſpiranten, welche Vermögen oder die zufällige Kenntniß
fremder Sprachen, namentlich der franzöſiſchen, beſitzen, ſchon darin
einen Grund zur Bevorzugung ſehn und deshalb der obern Leitung
noch anſpruchsvoller und zur Kritik geneigter gegenübertreten als
Andre. Sprachkenntniſſe, wie auch Oberkellner ſie beſitzen, bildeten
bei uns leicht die Unterlage des eignen Glaubens an den Beruf
zur Diplomatie, namentlich ſo lange unſre geſandſchaftlichen Be¬
richte, beſonders die ad Regem, franzöſiſch ſein mußten, wie es
die nicht immer befolgte, aber bis ich Miniſter wurde amtlich in
Kraft ſtehende Vorſchrift war. Ich habe manche unter unſern
ältern Geſandten gekannt, die, ohne Verſtändniß für Politik, lediglich
durch Sicherheit im Franzöſiſchen in die höchſten Stellen aufrückten;
und auch ſie ſagten in ihren Berichten doch nur das, was ſie
franzöſiſch geläufig zur Verfügung hatten. Ich habe noch 1862
von Petersburg franzöſiſch amtlich zu berichten gehabt, und die
Geſandten, welche auch ihre Privatbriefe an den Miniſter franzöſiſch
ſchrieben, empfahlen ſich dadurch als beſonders berufen zur Diplo¬
matie, auch wenn ſie politiſch als urtheilslos bekannt waren.
Außerdem kann ich Ancillon nicht Unrecht geben, wenn er
von den meiſten Aſpiranten aus unſerm Landadel den Eindruck
hatte, daß ſie ſich aus dem engen Geſichtskreiſe ihrer damaligen
Berliner, man könnte ſagen provinziellen Anſchauungen ſchwer los¬
löſen ließen, und daß es ihnen nicht leicht gelingen würde, den
ſpecifiſch preußiſchen Bürokraten in der Diplomatie mit dem
Firniß des europäiſchen zu übertünchen. Die Wirkung dieſer
Wahrnehmungen zeigt ſich deutlich, wenn man die Rangliſte unſrer
Diplomaten aus damaliger Zeit durchgeht; man wird erſtaunt ſein,
ſo wenig geborne Preußen darin zu finden. Die Eigenſchaft, der
Sohn eines in Berlin accreditirten fremden Geſandten zu ſein,
[5/0032]
Beſchaffenheit der preußiſchen Diplomatie.
gab an ſich einen Vorzug. Die an den kleinen Höfen erwachſenen,
in den preußiſchen Dienſt übernommnen Diplomaten hatten nicht
ſelten den Vortheil größrer assurance in höfiſchen Kreiſen und
eines größern Mangels an Blödigkeit vor den eingebornen. Ein
Beiſpiel dieſer Richtung war namentlich Herr von Schleinitz.
Dann finden ſich in der Liſte Mitglieder ſtandesherrlicher Häuſer,
bei denen die Abſtammung die Begabung erſetzte. Aus der Zeit,
als ich nach Frankfurt ernannt wurde, iſt mir außer mir, dem Frei¬
herrn Karl von Werther, Canitz und dem franzöſiſch verheiratheten
Grafen Max Hatzfeldt kaum der Chef einer anſehnlichen Miſſion
preußiſcher Abſtammung erinnerlich. Ausländiſche Namen ſtanden
höher im Kurſe: Braſſier, Perponcher, Savigny, Oriola. Man
ſetzte bei ihnen größere Geläufigkeit im Franzöſiſchen voraus, und
ſie waren „weiter her“, dazu trat der Mangel an Bereitwilligkeit
zur Uebernahme eigner Verantwortlichkeit bei fehlender Deckung
durch zweifelloſe Inſtruction, ähnlich wie im Militär 1806 bei der
alten Schule aus Friedericianiſcher Zeit. Wir züchteten ſchon da¬
mals das Offiziersmaterial bis zum Regiments-Commandeur in einer
Vollkommenheit wie kein andrer Staat, aber darüber hinaus war
das eingeborne preußiſche Blut nicht mehr fruchtbar an Be¬
gabungen wie zur Zeit Friedrichs des Großen ſelbſt. Unſre er¬
folgreichſten Feldherrn, Blücher, Gneiſenau, Moltke, Goeben, waren
keine preußiſchen Urproducte, ebenſowenig im Civildienſte Stein,
Hardenberg, Motz und Grolman. Es iſt, als ob unſre Staats¬
männer wie die Bäume in den Baumſchulen zu voller Wurzel¬
bildung der Verſetzung bedürften.
Ancillon rieth mir, zunächſt das Examen als Regirungs-
Aſſeſſor zu machen und dann auf dem Umwege durch die Zoll¬
vereinsgeſchäfte Eintritt in die deutſche Diplomatie Preußens zu
ſuchen; einen Beruf für die europäiſche erwartete er alſo bei einem
Sprößlinge des einheimiſchen Landadels nicht. Ich nahm mir ſeine
Andeutung zu Herzen und beabſichtigte, zunächſt das Examen als
Regirungs-Aſſeſſor zu machen.
[6/0033]
Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.
Die Perſonen und Einrichtungen unſrer Juſtiz, in der ich
zunächſt beſchäftigt war, gaben meiner jugendlichen Auffaſſung mehr
Stoff zur Kritik als zur Anerkennung. Die praktiſche Ausbildung
des Auscultators begann damit, daß man auf dem Criminalgericht
das Protokoll zu führen hatte, wozu ich von dem Rathe, dem ich
zugewieſen war, Herrn von Brauchitſch, über die Gebühr heran¬
gezogen wurde, weil ich damals über den Durchſchnitt ſchnell und
lesbar ſchrieb. Von den „Unterſuchungen“, wie die Criminal¬
prozeſſe bei dem damals geltenden Inquiſitionsverfahren genannt
wurden, hat mir eine den nachhaltigſten Eindruck hinterlaſſen, welche
eine in Berlin weit verzweigte Verbindung zum Zweck der unnatür¬
lichen Laſter betraf. Die Klubeinrichtungen der Betheiligten, die
Stammbücher, die gleichmachende Wirkung des gemeinſchaftlichen
Betreibens des Verbotenen durch alle Stände hindurch — alles
das bewies ſchon 1835 eine Demoraliſation, welche hinter den
Ergebniſſen des Prozeſſes gegen die Heinze'ſchen Eheleute (October
1891) nicht zurückſtand. Die Verzweigungen dieſer Geſellſchaft
reichten bis in hohe Kreiſe hinauf. Es wurde dem Einfluſſe des
Fürſten Wittgenſtein zugeſchrieben, daß die Akten von dem Juſtiz¬
miniſterium eingefordert und, wenigſtens während meiner Thätigkeit
an dem Criminalgerichte, nicht zurückgegeben wurden.
Nachdem ich vier Monate protokollirt hatte, wurde ich zu dem
Stadtgerichte, vor das die Civilſachen gehörten, verſetzt und aus
der mechaniſchen Beſchäftigung des Schreibens unter Dictat plötzlich
zu einer ſelbſtändigen erhoben, der gegenüber meine Unerfahrenheit
und mein Gefühl mir die Stellung erſchwerten. Das erſte Stadium,
in welchem der juriſtiſche Neuling damals zu einer ſelbſtändigen
Thätigkeit berufen wurde, waren nämlich die Eheſcheidungen.
Offenbar als das Unwichtigſte betrachtet, waren ſie dem unfähigſten
Rathe, Namens Prätorius, übertragen, und unter ihm der Be¬
arbeitung der ganz grünen Auscultatoren überlaſſen worden, die
damit in corpore vili ihre erſten Experimente in der Richterrolle
zu machen hatten, allerdings unter nomineller Verantwortlichkeit
[7/0034]
Als Auscultator beim Criminal- und Stadtgericht.
des Herrn Prätorius, der jedoch ihren Verhandlungen nicht bei¬
wohnte. Zur Charakteriſirung dieſes Herrn wurde uns jungen
Leuten erzählt, daß er in den Sitzungen, wenn behufs der Ab¬
ſtimmung aus einem leichten Schlummer geweckt, zu ſagen pflegte:
„Ich ſtimme wie der College Tempelhof“, und gelegentlich darauf
aufmerkſam gemacht werden mußte, daß Herr Tempelhof nicht an¬
weſend ſei.
Ich trug ihm einmal meine Verlegenheit vor, daß ich, wenige
Monate über 20 Jahre alt, mit einem aufgeregten Ehepaare den
Sühneverſuch vornehmen ſolle, der für meine Auffaſſung einen
gewiſſen kirchlichen und ſittlichen Nimbus hatte, dem ich mich in
meiner Seelenſtimmung nicht adäquat fühlte. Ich fand Prätorius
in der verdrießlichen Stimmung eines zur Unzeit geweckten, ältern
Herrn, der außerdem die Abneigung mancher alten Bürokraten
gegen einen jungen Edelmann hegte. Er ſagte mit geringſchätzigem
Lächeln: „Es iſt verdrießlich, Herr Referendarius, wenn man ſich
auch nicht ein bischen zu helfen weiß; ich werde Ihnen zeigen, wie
man das macht.“ Ich kehrte mit ihm in das Terminszimmer
zurück. Der Fall lag ſo, daß der Mann geſchieden ſein wollte,
die Frau nicht, der Mann ſie des Ehebruchs beſchuldigte, die Frau
mit thränenreichen Declamationen ihre Unſchuld betheuerte und trotz
aller Mißhandlung von Seiten des Mannes bei ihm bleiben wollte.
Mit ſeinem lispelnden Zungenanſchlage ſprach Prätorius die Frau
alſo an: „Aber Frau, ſei ſie doch nicht ſo dumm; was hat ſie
denn davon? Wenn ſie nach Hauſe kommt, ſchlägt ihr der Mann
die Jacke voll, bis ſie es nicht mehr aushalten kann. Sage ſie
doch einfach Ja, dann iſt ſie mit dem Säufer kurzer Hand aus¬
einander.“ Darauf die Frau weinend und ſchreiend: „Ich bin
eine ehrliche Frau, kann die Schande nicht auf mich nehmen, will
nicht geſchieden ſein.“ Nach mehrfacher Replik und Duplik in dieſer
Tonart wandte ſich Prätorius zu mir mit den Worten: „Da ſie
nicht Vernunft annehmen will, ſo ſchreiben Sie, Herr Referendarius,“
und dictirte mir die Worte, die ich wegen des tiefen Eindrucks,
[8/0035]
Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.
welchen ſie mir machten, noch heut auswendig weiß: „Nachdem der
Sühneverſuch angeſtellt und die dafür dem Gebiete der Moral und
Religion entnommnen Gründe erfolglos geblieben waren, wurde
wie folgt weiter verhandelt.“ Mein Vorgeſetzter erhob ſich und
ſagte: „Nun merken Sie ſich, wie man das macht, und laſſen
Sie mich künftig mit dergleichen in Ruhe.“ Ich begleitete ihn zur
Thüre und ſetzte die Verhandlung fort. Die Station der Ehe¬
ſcheidungen dauerte, ſo viel ich mich erinnere, vier bis ſechs Wochen,
ein Sühneverſuch kam mir nicht wieder vor. Es war ein gewiſſes
Bedürfniß vorhanden für die Verordnung über das Verfahren
in Eheſcheidungen, auf welche Friedrich Wilhelm IV. ſich beſchränken
mußte, nachdem ſein Verſuch, ein Geſetz über Aenderung des
materiellen Eherechts zu Stande zu bringen, an dem Widerſtande
des Staatsraths geſcheitert war. Dabei mag erwähnt werden,
daß durch jene Verordnung zuerſt in den Provinzen des All¬
gemeinen Landrechts der Staatsanwalt eingeführt worden iſt, als
defensor matrimonii und zur Verhütung von Colluſionen der
Parteien.
Anſprechender war das folgende Stadium der Bagatellprozeſſe,
wo der ungeſchulte junge Juriſt wenigſtens eine Uebung im Auf¬
nehmen von Klagen und Vernehmen von Zeugen gewann, wo man
ihn im Ganzen aber doch mehr als Hülfsarbeiter ausnutzte, als
mit Belehrung förderte. Das Local und die Procedur hatten
etwas von dem unruhigen Verkehre an einem Eiſenbahnſchalter.
Der Raum, wo der leitende Rath und die drei oder vier Aus¬
cultatoren mit dem Rücken gegen das Publikum ſaßen, war von
hölzernen Gittern umgeben, und die dadurch gebildete viereckige
Bucht war von der wechſelnden und mehr oder weniger lärmenden
Menge der Parteien rings umfluthet.
Mein Eindruck von Inſtitutionen und Perſonen wurde nicht
weſentlich modificirt, nachdem ich zur Verwaltung übergegangen
war. Um den Umweg zur Diplomatie abzukürzen, wandte ich
mich einer rheiniſchen Regirung, der Aachner, zu, deren Curſus
[9/0036]
Eheſcheidungen. Bagatellprozeſſe. Rheiniſche Regirungscollegien.
ſich in zwei Jahren abmachen ließ, während bei den altländiſchen
wenigſtens drei erforderlich waren 1).
Ich kann mir denken, daß bei Beſetzung der rheiniſchen Re¬
girungscollegien 1816 ähnlich verfahren worden war, wie 1871
bei der Organiſation von Elſaß-Lothringen. Die Behörden, welche
einen Theil ihres Perſonals abzugeben hatten, werden nicht auf das
ſtaatliche Bedürfniß gehört haben, für die ſchwierige Aufgabe der
Aſſimilirung einer neu erworbenen Bevölkerung den beſten Fuß
vorzuſetzen, ſondern diejenigen Mitglieder gewählt haben, deren
Abgang von ihren Vorgeſetzten oder von ihnen ſelbſt gewünſcht
wurde; in den Collegien fanden ſich frühere Präfektur-Sekretäre und
andre Reſte der franzöſiſchen Verwaltung. Die Perſönlichkeiten
entſprachen nicht alle dem unberechtigten Ideale, das mir in dem
Alter von 21 Jahren vorſchwebte, und noch weniger that dies
der Inhalt der laufenden Geſchäfte. Ich erinnere mich, daß ich
bei vielen Meinungsverſchiedenheiten zwiſchen Beamten und Re¬
girten oder innerhalb jeder dieſer beiden Kategorien, Meinungsver¬
ſchiedenheiten, deren polemiſche Vertretung jahrelang die Akten an¬
ſchwellen machte, gewöhnlich unter dem Eindrucke ſtand, „ja, ſo
kann man es auch machen,“ und daß Fragen, deren Entſcheidung
in dem einen oder dem andern Sinne das verbrauchte Papier nicht
werth war, eine Geſchäftslaſt erzeugten, die ein einzelner Präfekt
mit dem vierten Theile der aufgewandten Arbeitskraft hätte er¬
ledigen können. Nichtsdeſtoweniger war, abgeſehn von den ſub¬
alternen Beamten, das tägliche Arbeitspenſum ein geringes und
beſonders für die Abtheilungs-Dirigenten eine reine Sinecure. Ich
verließ Aachen mit einer, abgeſehn von dem begabten Präſidenten
Grafen Arnim-Boitzenburg, geringen Meinung von unſrer Büro¬
kratie im Einzelnen und in der Geſammtheit. Im Einzelnen
wurde meine Meinung günſtiger durch meine demnächſtige Erfah¬
1)
Vgl. die Akten des Aachner Aufenthalts in Bismarck-Jahrbuch III,
die Probearbeiten zum Referendariats-Examen in Bismarck-Jahrbuch II.
[10/0037]
Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.
rung bei der Regirung in Potsdam, zu der ich mich im Jahre
1837 verſetzen ließ, weil dort abweichend von den andern Pro¬
vinzen die indirecten Steuern zum Reſſort der Regirung gehörten
und grade dieſe wichtig waren, wenn ich die Zollpolitik zur Baſis
meiner Zukunft nehmen wollte.
Die Mitglieder des Collegiums machten mir einen würdigern
Eindruck als die Aachner, aber doch in ihrer Geſammtheit den
Eindruck von Zopf und Perrücke, in welche Kategorie meine jugend¬
liche Ueberhebung auch den väterlich-würdigen Oberpräſidenten von
Baſſewitz ſtellte, während der Aachner Regirungspräſident Graf
Arnim zwar die generelle Staatsperrücke, aber doch keinen geiſtigen
Zopf trug. Als ich dann aus dem Staatsdienſte in das Land¬
leben überging, brachte ich in die Berührungen, welche ich als
Gutsbeſitzer mit den Behörden hatte, eine nach meinem heutigen
Urtheil zu geringe Meinung von dem Werthe unſrer Bürokratie,
eine vielleicht zu große Neigung zur Kritik mit. Ich erinnere
mich, daß ich als ſtellvertretender Landrath über den Plan, die
Wahl der Landräthe abzuſchaffen, gutachtlich zu berichten hatte und
mich ſo ausſprach, die Bürokratie ſinke in der Achtung vom Land¬
rath aufwärts; ſie habe dieſelbe nur in der Perſon des Landraths
bewahrt, der einen Januskopf trage, ein Geſicht in der Bürokratie,
eins im Lande habe.
Die Neigung zu befremdendem Eingreifen in die verſchiedenſten
Lebensverhältniſſe war unter dem damaligen väterlichen Regimente
vielleicht größer als heut, aber die Organe zum Eingreifen waren
weniger zahlreich und ſtanden an Bildung und Erziehung höher als
ein Theil der heutigen. Die Beamten der Königlichen hochlöblichen
Regirung waren ehrliche, ſtudirte und gut erzogne Beamte, aber
ihre wohlwollende Thätigkeit fand nicht immer Anerkennung, weil
ſie ſich ohne locale Sachkunde auf Details zerſplitterte, in Betreff
deren die Anſichten des gelehrten Stadtbewohners am grünen
Tiſche nicht immer der Kritik des bäuerlichen geſunden Menſchen¬
verſtandes überlegen waren. Die Mitglieder der Regirungs¬
[11/0038]
Bürokratismus ſonſt und jetzt.
Collegien hatten damals multa, nicht multum zu thun, und der
Mangel an höhern Aufgaben brachte es mit ſich, daß ſie kein
ausreichendes Quantum wichtiger Geſchäfte fanden und in ihrem
Pflichteifer ſich über das Bedürfniß der Regirten hinaus zu thun
machten, in die Neigung zur Reglementirerei, zu dem, was der
Schweizer „Befehlerle“ nennt, geriethen. Man hatte, um einen
vergleichenden Blick auf die Gegenwart zu werfen, gehofft, daß
die Staatsbehörden durch die Einführung der heutigen localen
Selbſtverwaltung an Geſchäften und an Beamten würden ent¬
bürdet werden; aber im Gegentheile, die Zahl der Beamten und
ihre Geſchäftslaſt ſind durch Correſpondenzen und Frictionen mit
den Organen der Selbſtverwaltung von dem Provinzialrathe bis zu
der ländlichen Gemeindeverwaltung erheblich geſteigert worden. Es
muß früher oder ſpäter der wunde Punkt eintreten, wo wir von
der Laſt der Schreiberei und beſonders der ſubalternen Bürokratie
erdrückt werden.
Daneben iſt der bürokratiſche Druck auf das Privatleben
durch die Art der Ausführung der „Selbſtverwaltung“ verſtärkt
worden und greift in die ländlichen Gemeinden ſchärfer als früher
ein. Vorher bildete der der Bevölkerung ebenſo nahe als dem Staate
ſtehende Landrath den Abſchluß der ſtaatlichen Bürokratie nach
unten; unter ihm ſtanden locale Verwaltungen, die wohl der Controlle,
aber nicht in gleichem Maße wie heut der Diſciplinargewalt der
Bezirks- oder Miniſterial-Bürokratie unterlagen. Die ländliche Be¬
völkerung erfreut ſich heut vermöge der ihr gewährten Selbſt¬
regirung nicht etwa einer ähnlichen Autonomie wie ſeit lange die
der Städte, ſondern ſie hat in Geſtalt des Amtsvorſtehers einen
Vorſtand erhalten, der durch Befehle von oben, vom Landrathe
unter Androhung von Ordnungsſtrafen diſciplinariſch angehalten
wird, im Sinne der ſtaatlichen Hierarchie ſeine Mitbürger in ſeinem
Bezirke mit Liſten, Meldungen und Zumuthungen zu beläſtigen.
Die regirte contribuens plebs hat in der landräthlichen Inſtanz
ungeſchickten Eingriffen gegenüber nicht mehr die Garantie, welche
[12/0039]
Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.
früher in dem Verhältniß lag, daß die Kreiseingeſeſſenen, die
Landräthe wurden, dies in ihrem Kreiſe lebenslänglich zu bleiben
in der Regel entſchloſſen waren und die Leiden und Freuden des
Kreiſes mitfühlten. Heut iſt der Landrathspoſten die unterſte Stufe
der höhern Verwaltungslaufbahn, geſucht von jungen Aſſeſſoren,
die den berechtigten Ehrgeiz haben, Carrière zu machen; dazu be¬
dürfen ſie der miniſteriellen Gunſt mehr als des Wohlwollens der
Kreisbevölkerung und ſuchen erſtre durch hervorragenden Eifer und
Anſpannung der Amtsvorſteher der angeblichen Selbſtverwaltung
bei Durchführung auch minderwerthiger bürokratiſcher Verſuche zu
gewinnen. Darin liegt zum großen Theil der Anlaß zur Ueber¬
laſtung ihrer Untergebenen in der localen „Selbſtverwaltung“. Die
„Selbſtverwaltung“ iſt alſo Verſchärfung der Bürokratie, Ver¬
mehrung der Beamten, ihrer Macht und ihrer Einmiſchung ins
Privatleben.
Es liegt in der menſchlichen Natur, daß man von jeder
Einrichtung die Dornen ſtärker empfindet als die Roſen, und daß
die erſtern gegen das zur Zeit Beſtehende verſtimmen. Die alten
Regirungsbeamten zeigten ſich, wenn ſie mit der regirten Be¬
völkerung in unmittelbare Berührung traten, pedantiſch und durch
ihre Beſchäftigung am grünen Tiſche den Verhältniſſen des prak¬
tiſchen Lebens entfremdet, hinterließen aber den Eindruck, daß ſie
ehrlich und gewiſſenhaft bemüht waren, gerecht zu ſein. Daſſelbe
läßt ſich von den Organen der heutigen Selbſtverwaltung in Land¬
ſtrichen, wo die Parteien einander ſchärfer gegenüberſtehn, nicht in
allen Stufen vorausſetzen; das Wohlwollen für politiſche Freunde,
die Stimmung bezüglich des Gegners werden leicht ein Hinderniß
unparteiiſcher Handhabung der Einrichtungen. Nach meinen Er¬
fahrungen aus jener und der ſpätern Zeit möchte ich übrigens
den Vorzug der Unparteilichkeit im Vergleiche zwiſchen richterlichen
und adminiſtrativen Entſcheidungen nicht den erſtern allein ein¬
räumen, wenigſtens nicht durchgängig. Ich habe im Gegentheil
den Eindruck behalten, daß Richter an den kleinen und localen
[13/0040]
Der Landrath ſonſt und jetzt. Parteiweſen und Richter.
Gerichten den ſtarken Parteiſtrömungen leichter und hingebender
unterliegen als Verwaltungsbeamte; und es iſt auch kein pſycho¬
logiſcher Grund dafür erfindlich, daß bei gleicher Bildung die
letztern a priori für weniger gerecht und gewiſſenhaft in ihren
amtlichen Entſcheidungen gehalten werden ſollten als die erſtern.
Wohl aber nehme ich an, daß die amtlichen Entſchließungen an
Ehrlichkeit und Angemeſſenheit dadurch nicht gewinnen, daß ſie
collegialiſch gefaßt werden; abgeſehn davon, daß Arithmetik und
Zufall bei dem Majoritätsvotum an die Stelle logiſcher Begrün¬
dung treten, geht das Gefühl perſönlicher Verantwortlichkeit, in
welcher die weſentliche Bürgſchaft für die Gewiſſenhaftigkeit der
Entſcheidung liegt, ſofort verloren, wenn dieſe durch anonyme
Majoritäten erfolgt.
Der Geſchäftsgang in beiden Collegien, in Potsdam wie in
Aachen, war für meine Strebſamkeit nicht ermuthigend geweſen.
Ich fand die mir zugewieſene Beſchäftigung kleinlich und lang¬
weilig, und meine Arbeiten auf dem Gebiete der Mahlſteuerprozeſſe
und der Beitragspflicht zum Bau des Dammes in Rotzis bei
Wuſterhauſen haben mir kein Heimweh nach meiner damaligen Thätig¬
keit hinterlaſſen. Dem Ehrgeiz der Beamtenlaufbahn entſagend,
erfüllte ich gerne den Wunſch meiner Eltern, in die feſtgefahrne
Bewirthſchaftung unſrer pommerſchen Güter einzutreten. Auf dem
Lande dachte ich zu leben und zu ſterben, nachdem ich Erfolge in
der Landwirthſchaft erreicht haben würde, vielleicht auch im Kriege,
wenn es einen gäbe. Soweit mir auf dem Lande Ehrgeiz verblieb,
war es der des Landwehr-Lieutenants.
II.
Die in meiner Kindheit empfangenen Eindrücke waren wenig
dazu angethan, mich zu verjunkern. In der nach Peſtalozzi'ſchen und
Jahn'ſchen Grundſätzen eingerichteten Plamann'ſchen Erziehungs¬
[14/0041]
Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.
anſtalt war das „von“ vor meinem Namen ein Nachtheil für mein
kindliches Behagen im Verkehre mit Mitſchülern und Lehrern. Auch
auf dem Gymnaſium zum grauen Kloſter habe ich einzelnen Lehrern
gegenüber unter dem Adelshaſſe zu leiden gehabt, der ſich in einem
großen Theile des gebildeten Bürgerthums als Reminiſcenz aus
den Zeiten vor 1806 erhalten hatte. Aber ſelbſt die aggreſſive
Tendenz, die in bürgerlichen Kreiſen unter Umſtänden zum Vor¬
ſchein kam, hat mich niemals zu einem Vorſtoße in entgegengeſetzter
Richtung veranlaßt. Mein Vater war vom ariſtokratiſchen Vor¬
urtheile frei, und ſein inneres Gleichheitsgefühl war, wenn über¬
haupt, nur durch die Offizierseindrücke ſeiner Jugend, keineswegs aber
durch Ueberſchätzung des Geburtsſtandes modificirt. Meine Mutter
war die Tochter des in den damaligen Hofkreiſen für liberal
geltenden Cabinetsraths Friedrichs des Großen, Friedrich Wil¬
helms II. und III. aus der Leipziger Profeſſorenfamilie Mencken,
welche in ihren letzten, mir vorhergehenden Generationen nach
Preußen in den auswärtigen und den Hofdienſt gerathen war.
Der Freiherr vom Stein hat meinen Großvater Mencken als einen
ehrlichen, ſtark liberalen Beamten bezeichnet. Unter dieſen Um¬
ſtänden waren die Auffaſſungen, die ich mit der Muttermilch ein¬
ſog, eher liberal als reactionär, und meine Mutter würde, wenn
ſie meine miniſterielle Thätigkeit erlebt hätte, mit der Richtung
derſelben kaum einverſtanden geweſen ſein, wenn ſie auch an den
äußern Erfolgen meiner amtlichen Laufbahn große Freude empfunden
haben würde. Sie war in bürokratiſchen und Hofkreiſen groß ge¬
worden; Friedrich Wilhelm IV. ſprach von ihr als „Mienchen“ im
Andenken an Kinderſpiele. Ich darf es darnach für eine ungerechte
Einſchätzung meiner Auffaſſung in jüngern Jahren erklären, wenn
mir „die Vorurtheile meines Standes“ angeheftet werden und be¬
hauptet wird, daß Erinnerung an Bevorrechtigung des Adels der
Ausgangspunkt meiner innern Politik geweſen wäre.
Auch die unumſchränkte Autorität der alten preußiſchen Königs¬
macht war und iſt nicht das letzte Wort meiner Ueberzeugung.
[15/0042]
„Junkerthum.“ Vortheile und Nachtheile des Abſolutismus.
Für letztre war allerdings auf dem Erſten Vereinigten Landtage
dieſe Autorität des Monarchen ſtaatsrechtlich vorhanden, aber mit
dem Wunſche und dem Zukunftsgedanken, daß die unumſchränkte
Macht des Königs ſelber ohne Ueberſtürzung das Maß ihrer Be¬
ſchränkung zu beſtimmen habe. Der Abſolutismus bedarf in erſter
Linie Unparteilichkeit, Ehrlichkeit, Pflichttreue, Arbeitskraft und
innere Demuth des Regirenden; ſind ſie vorhanden, ſo werden
doch männliche oder weibliche Günſtlinge, im beſten Falle die
legitime Frau, die eigne Eitelkeit und Empfänglichkeit für
Schmeicheleien dem Staate die Früchte des Königlichen Wohl¬
wollens verkürzen, da der Monarch nicht allwiſſend iſt und nicht
für alle Zweige ſeiner Aufgabe gleiches Verſtändniß haben kann.
Ich bin ſchon 1847 dafür geweſen, daß die Möglichkeit öffentlicher
Kritik der Regirung im Parlamente und in der Preſſe erſtrebt
werde, um den Monarchen vor der Gefahr zu behüten, daß Weiber,
Höflinge, Streber und Phantaſten ihm Scheuklappen anlegten, die
ihn hinderten, ſeine monarchiſchen Aufgaben zu überſehn und
Mißgriffe zu vermeiden oder zu corrigiren. Dieſe meine Auffaſſung
hat ſich um ſo ſchärfer ausgeprägt, je nachdem ich mit den Hof¬
kreiſen mehr vertraut wurde und gegen ihre Strömungen und
gegen die Oppoſition des Reſſortpatriotismus das Staatsintereſſe
zu vertreten hatte. Letztres allein hat mich geleitet, und es iſt
eine Verleumdung, wenn ſelbſt wohlwollende Publiziſten mich be¬
ſchuldigen, daß ich je für ein Adelsregiment eingetreten ſei. Die
Geburt hat mir niemals als Erſatz für Mangel an Tüchtigkeit
gegolten; wenn ich für den Grundbeſitz eingetreten bin, ſo habe
ich das nicht im Intereſſe beſitzender Standesgenoſſen gethan,
ſondern weil ich im Verfall der Landwirthſchaft eine der größten
Gefahren für unſern ſtaatlichen Beſtand ſehe. Mir hat immer
als Ideal eine monarchiſche Gewalt vorgeſchwebt, welche durch eine
unabhängige, nach meiner Meinung ſtändiſche oder berufsgenoſſen¬
ſchaftliche Landesvertretung ſoweit controllirt wäre, daß Monarch
oder Parlament den beſtehenden geſetzlichen Rechtszuſtand nicht
[16/0043]
Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.
einſeitig, ſondern nur communi consensu ändern können, bei
Oeffentlichkeit und öffentlicher Kritik aller ſtaatlichen Vorgänge
durch Preſſe und Landtag.
Die Ueberzeugung, daß der uncontrollirte Abſolutismus, wie
er durch Louis XIV. zuerſt in Scene geſetzt wurde, die richtigſte
Regirungsform für deutſche Unterthanen ſei, verliert auch der,
welcher ſie hat, durch Specialſtudien in den Hofgeſchichten und
durch kritiſche Beobachtungen, wie ich ſie am Hofe des von mir
perſönlich geliebten und verehrten Königs Friedrich Wilhelms IV.
zur Zeit Manteuffel's anſtellen konnte. Der König war gläubiger,
gottberufener Abſolutiſt, und die Miniſter nach Brandenburg in der
Regel zufrieden, wenn ſie durch Königliche Unterſchrift gedeckt
waren, auch wenn ſie perſönlich den Inhalt des Unterſchriebenen
nicht hätten verantworten mögen. Ich erlebte damals, daß ein hoher
und abſolutiſtiſch geſinnter Hofbeamter in meiner und mehrer
ſeiner Collegen Gegenwart auf die Nachricht von dem Neufchâteler
Aufſtand der Royaliſten in einer gewiſſen Verblüffung ſagte: „Das
iſt ein Royalismus, den man heut zu Tage doch nur noch ſehr
fern vom Hofe erlebt.“ Sarkasmen lagen ſonſt nicht in der Ge¬
wohnheit dieſes alten Herrn.
Wahrnehmungen, welche ich auf dem Lande über Beſtechlich¬
keit und Chicane von Bezirksfeldwebeln und ſubalternen Beamten
machte, und kleine Conflicte, in welche ich als Kreisdeputirter und
Stellvertreter des Landraths mit der Regirung in Stettin gerieth,
ſteigerten meine Abneigung gegen die Herrſchaft der Bürokratie.
Von dieſen Conflicten mag der eine erwähnt ſein. Während ich
den beurlaubten Landrath vertrat, erhielt ich von der Regirung
den Auftrag, den Patron von Külz, der ich ſelbſt war, zur Ueber¬
nahme gewiſſer Laſten zu bewegen. Ich ließ den Auftrag liegen,
um ihn dem Landrathe bei ſeiner Rückkehr zu übergeben, wurde
wiederholt excitirt, und eine Ordnungsſtrafe von einem Thaler
wurde mir durch Poſtvorſchuß auferlegt. Ich ſetzte nun ein Protokoll
auf, in welchem ich erſtens als ſtellvertretender Landrath, zweitens
[17/0044]
Conflicte mit der Bürokratie. Oppoſition des Erſten Verein. Landtags.
als Patron von Külz als erſchienen aufgeführt war. Comparent
machte in ſeiner Eigenſchaft ad 1 ſich die vorgeſchriebene Vor¬
haltung; entwickelte dagegen in der ad 2 die Gründe, aus denen
er die Zumuthung ablehnen müſſe; worauf das Protokoll von ihm
doppelt genehmigt und unterſchrieben wurde. Die Regirung ver¬
ſtand Scherz und ließ mir die Ordnungsſtrafe zurückzahlen. In
andern Fällen kam es zu unangenehmeren Schraubereien. Ich
wurde zur Kritik geneigt, alſo „liberal“ in dem Sinne, in welchem
man das Wort damals in Kreiſen von Gutsbeſitzern anwandte zur
Bezeichnung der Unzufriedenheit mit der Bürokratie, die ihrer¬
ſeits in der Mehrzahl ihrer Glieder liberaler als ich war, aber in
andrem Sinne.
Aus meiner ſtändiſch-liberalen Stimmung, für die ich in
Pommern kaum Verſtändniß und Theilnahme, in Schönhauſen aber
die Zuſtimmung von Kreisgenoſſen wie Graf Wartensleben-Karow,
Schierſtädt-Dahlen und Andern fand, denſelben Elementen, die
zum Theil zu den ſpäter unter der neuen Aera gerichtlich ver¬
urtheilten Kirchen-Patronen gehörten, aus dieſer Stimmung wurde
ich wieder entgleiſt durch die mir unſympathiſche Art der Oppoſition
des Erſten Vereinigten Landtags, zu dem ich erſt für die letzten
ſechs Wochen der Seſſion wegen Erkrankung des Abgeordneten
von Brauchitſch als deſſen Stellvertreter einberufen wurde. Die
Reden der Oſtpreußen Saucken-Tarputſchen, Alfred Auerswald, die
Sentimentalität von Beckerath, der rheiniſch-franzöſiſche Liberalismus
von Heydt und Meviſſen und die polternde Heftigkeit der Vincke¬
ſchen Reden waren mir widerlich, und auch wenn ich die Verhand¬
lungen heut leſe, ſo machen ſie mir den Eindruck von importirter
Phraſen-Schablone. Ich hatte das Gefühl, daß der König auf
dem richtigen Wege ſei und den Anſpruch darauf habe, daß man
ihm Zeit laſſe und ihn in ſeiner eignen Entwicklung ſchone.
Ich gerieth mit der Oppoſition in Conflict, als ich das erſte
Mal zu längerer Ausführung das Wort nahm, am 17. Mai 1847,
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 2
[18/0045]
Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.
indem ich die Legende bekämpfte, daß die Preußen 1813 in den
Krieg gegangen wären, um eine Verfaſſung zu erlangen, und meiner
naturwüchſigen Entrüſtung darüber Ausdruck gab, daß die Fremd¬
herrſchaft an ſich kein genügender Grund zum Kampfe geweſen ſein
ſolle 1). Mir ſchien es unwürdig, daß die Nation dafür, daß ſie
ſich ſelbſt befreit habe, dem Könige eine in Verfaſſungsparagraphen
zahlbare Rechnung überreichen wolle. Meine Ausführung rief einen
Sturm hervor. Ich blieb auf der Tribüne, blätterte in einer
dort liegenden Zeitung und brachte, nachdem der Lärm ſich aus¬
getobt hatte, meine Rede zu Ende.
Bei den Hoffeſtlichkeiten, die während des Vereinigten Land¬
tags ſtattfanden, wurde ich von dem Könige und der Prinzeſſin
von Preußen in augenfälliger Weiſe gemieden, jedoch aus ver¬
ſchiedenen Gründen, von der letztern, weil ich weder liberal noch
populär war, von dem erſtern aus einem Grunde, der mir erſt
ſpäter klar wurde. Wem er bei Empfang der Mitglieder vermied,
mit mir zu ſprechen, wenn er im Cercle, nachdem er der Reihe
nach jeden angeredet hatte, abbrach, ſobald er an mich kam, um¬
kehrte oder quer durch den Saal abſchwenkte: ſo glaubte ich an¬
nehmen zu müſſen, daß meine Haltung als royaliſtiſcher Heißſporn
die Grenzen überſchritt, die er ſich geſteckt hatte. Daß dieſe Aus¬
legung unrichtig, erkannte ich erſt einige Monate ſpäter, als ich
auf meiner Hochzeitsreiſe Venedig berührte. Der König, der mich
im Theater erkannt hatte, befahl mich folgenden Tags zur Audienz
und zur Tafel, mir ſo unerwartet, daß mein leichtes Reiſegepäck
und die Unfähigkeit der Schneider des Ortes mir nicht die Mög¬
lichkeit gewährten, in correctem Anzuge zu erſcheinen. Mein Empfang
war ein ſo wohlwollender und die Unterhaltung auch auf politi¬
ſchem Gebiete derart, daß ich eine aufmunternde Billigung meiner
Haltung im Landtage daraus entnehmen konnte. Der König befahl
mir, mich im Laufe des Winters bei ihm zu melden, was geſchah.
1)
Politiſche Reden, Cotta'ſche Ausgabe I 9.
[19/0046]
Gegen die Adreſſe. Friedrich Wilhelm IV. und Bismarck.
Bei dieſer Gelegenheit und bei kleinern Diners im Schloſſe über¬
zeugte ich mich, daß ich bei beiden allerhöchſten Herrſchaften in
voller Gnade ſtand, und daß der König, wenn er zur Zeit der
Landtagsſitzungen vermieden hatte, öffentlich mit mir zu reden,
damit nicht eine Kritik meines politiſchen Verhaltens geben, ſondern
nur ſeine Billigung den Andern zur Zeit nicht zeigen wollte.
[[20]/0047]
Zweites Kapitel.
Das Jahr 1848.
I.
Die erſte Kunde von den Ereigniſſen des 18. und 19. März
1848 erhielt ich im Hauſe meines Gutsnachbarn, des Grafen von
Wartensleben auf Karow, zu dem ſich Berliner Damen geflüchtet
hatten. Für die politiſche Tragweite der Vorgänge war ich im
erſten Augenblick nicht ſo empfänglich wie für die Erbitterung über
die Ermordung unſrer Soldaten in den Straßen. Politiſch, dachte
ich, würde der König bald Herr der Sache werden, wenn er nur
frei wäre; ich ſah die nächſte Aufgabe in der Befreiung des Königs,
der in der Gewalt der Aufſtändiſchen ſein ſollte.
Am 20. meldeten mir die Bauern in Schönhauſen, es ſeien
Deputirte aus dem dreiviertel Meilen entfernten Tangermünde an¬
gekommen, mit der Aufforderung, wie in der genannten Stadt
geſchehn war, auf dem Thurme die ſchwarz-roth-goldne Fahne auf¬
zuziehn, und mit der Drohung, im Weigerungsfalle mit Verſtärkung
wiederzukommen. Ich fragte die Bauern, ob ſie ſich wehren wollten:
ſie antworteten mit einem einſtimmigen und lebhaften „Ja“, und
ich empfahl ihnen, die Städter aus dem Dorfe zu treiben, was
unter eifriger Betheiligung der Weiber beſorgt wurde. Ich ließ
dann eine in der Kirche vorhandene weiße Fahne mit ſchwarzem
Kreuz, in Form des eiſernen, auf dem Thurme aufziehn und er¬
mittelte, was an Gewehren und Schießbedarf im Dorfe vorhanden
[21/0048]
Der 18. und 19. März. Die Schönhauſer Bauern.
war, wobei etwa fünfzig bäuerliche Jagdgewehre zum Vorſchein
kamen. Ich ſelbſt beſaß mit Einrechnung der alterthümlichen einige
zwanzig und ließ Pulver durch reitende Boten von Jerichow und
Rathenow holen.
Dann fuhr ich mit meiner Frau auf umliegende Dörfer und
fand die Bauern eifrig bereit, dem Könige nach Berlin zu Hülfe
zu ziehn, beſonders begeiſtert einen alten Deichſchulzen Krauſe in
Neuermark, der in meines Vaters Regiment „Carabiniers“ Wacht¬
meiſter geweſen war. Nur mein nächſter Nachbar ſympathiſirte mit
der Berliner Bewegung, warf mir vor, eine Brandfackel in das
Land zu ſchleudern, und erklärte, wenn die Bauern ſich wirklich
zum Abmarſch anſchicken ſollten, ſo werde er auftreten und ab¬
wiegeln. Ich erwiderte: „Sie kennen mich als einen ruhigen
Mann, aber wenn Sie das thun, ſo ſchieße ich Sie nieder.“ —
„Das werden Sie nicht,“ meinte er. — „Ich gebe mein Ehrenwort
darauf,“ verſetzte ich, „und Sie wiſſen, daß ich das halte, alſo
laſſen Sie das.“
Ich fuhr zunächſt allein nach Potsdam, wo ich am Bahnhofe
Herrn von Bodelſchwingh ſah, der bis zum 19. Miniſter des Innern
geweſen war. Es war ihm offenbar unerwünſcht, im Geſpräch
mit mir, dem „Reactionär“, geſehn zu werden; er erwiderte meine
Begrüßung mit den Worten: „Ne me parlez pas.“ — „Les
paysans se lèvent chez nous,“ erwiderte ich. „Pour le Roi?“ —
„Oui.“ — „Dieſer Seiltänzer,“ ſagte er, die Hände auf die thränen¬
den Augen drückend. In der Stadt fand ich auf der Plantage an
der Garniſonkirche ein Bivouak der Garde-Infanterie; ich ſprach
mit den Leuten und fand Erbitterung über den befohlenen Rückzug
und Verlangen nach neuem Kampfe. Auf dem Rückwege längs
des Kanals folgten mir ſpionartige Civiliſten, welche Verkehr mit
der Truppe geſucht hatten und drohende Reden gegen mich führten.
Ich hatte vier Schuß in der Taſche, bedurfte ihrer aber nicht. Ich
ſtieg bei meinem Freunde Roon ab, der als Mentor des Prinzen
Friedrich Karl einige Zimmer in dem Stadtſchloſſe bewohnte,
[22/0049]
Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.
und beſuchte im „Deutſchen Hauſe“ den General von Möllen¬
dorf, noch ſteif von den Mißhandlungen, die er erlitten, als er
mit den Aufſtändiſchen unterhandelte, und General von Prittwitz,
der in Berlin commandirt hatte. Ich ſchilderte ihnen die Stim¬
mung des Landvolks; ſie gaben mir dagegen Einzelheiten über die
Vorgänge bis zum 19. Morgens. Was ſie zu berichten hatten
und was an ſpätern Nachrichten aus Berlin hergelangt war,
konnte mich nur in dem Glauben beſtärken, daß der König nicht
frei ſei.
Prittwitz, der älter als ich war und ruhiger urtheilte, ſagte:
„Schicken Sie uns keine Bauern, wir brauchen ſie nicht, haben
Soldaten genug; ſchicken Sie uns lieber Kartoffeln und Korn,
vielleicht auch Geld, denn ich weiß nicht, ob für die Verpflegung
und Löhnung der Truppen ausreichend geſorgt werden wird. Wenn
Zuzug käme, würde ich aus Berlin den Befehl erhalten und aus¬
führen müſſen, denſelben zurückzuſchlagen.“ — „So holen Sie den
König heraus!“ ſagte ich. Er erwiderte: „Das würde keine große
Schwierigkeit haben; ich bin ſtark genug, Berlin zu nehmen, aber
dann haben wir wieder Gefecht; was können wir thun, nachdem
der König uns befohlen hat, die Rolle des Beſiegten anzunehmen?
Ohne Befehl kann ich nicht angreifen.“
Bei dieſem Zuſtand der Dinge kam ich auf den Gedanken,
einen Befehl zum Handeln, der von dem unfreien Könige nicht zu
erwarten war, von einer andern Seite zu beſchaffen, und ſuchte
zu dem Prinzen von Preußen zu gelangen. An die Prinzeſſin
verwieſen, deren Einwilligung dazu nöthig ſei, ließ ich mich bei
ihr melden, um den Aufenthalt ihres Gemals zu erfahren (der,
wie ich ſpäter erfuhr, auf der Pfaueninſel war). Sie empfing
mich in einem Dienerzimmer im Entreſol, auf einem fichtenen
Stuhle ſitzend, verweigerte die erbetene Auskunft und erklärte in
lebhafter Erregung, daß es ihre Pflicht ſei, die Rechte ihres Sohnes
zu wahren. Was ſie ſagte, beruhte auf der Vorausſetzung, daß
der König und ihr Gemal ſich nicht halten könnten, und ließ auf
[23/0050]
In Potsdam und Berlin.
den Gedanken ſchließen, während der Minderjährigkeit ihres Sohnes
die Regentſchaft zu führen. Um für dieſen Zweck die Mitwirkung
der Rechten in den Kammern zu gewinnen, ſind mir formelle
Eröffnungen durch Georg von Vincke gemacht worden. Da ich
zum Prinzen von Preußen nicht gelangen konnte, machte ich
einen Verſuch mit dem Prinzen Friedrich Karl, ſtellte ihm vor,
wie nöthig es ſei, daß das Königshaus Fühlung mit der Armee
behalte, und wenn Se. Majeſtät unfrei ſei, auch ohne Befehl des
Königs für die Sache deſſelben handle. Er erwiderte in lebhafter
Gemüthsbewegung, ſo ſehr ihm mein Gedanke zuſage, ſo fühle er
ſich doch zu jung, ihn auszuführen, und könne dem Beiſpiel der
Studenten, die ſich in die Politik miſchten, nicht folgen, er ſei
auch nicht älter als die. Ich entſchloß mich dann zu dem Ver¬
ſuche, zu dem Könige zu gelangen.
Prinz Karl gab mir im Potsdamer Schloſſe als Legitimation
und Paß das nachſtehende offene Schreiben:
Ueberbringer — mir wohlbekannt — hat den Auftrag, ſich bei
Sr. Majeſtät meinem Allergnädigſten Bruder perſönlich nach
Höchſtdeſſen Geſundheit zu erkundigen und mir Nachricht zu bringen,
aus welchem Grunde mir ſeit 30 Stunden auf meine wiederholten
eigenh. Anfragen „ob ich nicht nach Berlin kommen dürfe“ keine
Antwort ward.
Potsdam 21. Maerz 1848 Carl Prinz v. Preußen.
1 Uhr N. M.
Ich fuhr nach Berlin. Vom Vereinigten Landtage her vielen
Leuten von Anſehn bekannt, hatte ich für rathſam gehalten, meinen
Bart abzuſcheeren und einen breiten Hut mit bunter Kokarde auf¬
zuſetzen. Wegen der gehofften Audienz war ich im Frack. Am
Ausgange des Bahnhofes war eine Schüſſel mit einer Aufforderung
zu Spenden für die Barrikadenkämpfer aufgeſtellt, daneben ein baum¬
langer Bürgerwehrmann mit der Muskete auf der Schulter. Ein
Vetter von mir, mit dem ich beim Ausſteigen zuſammengetroffen
[24/0051]
Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.
war, zog die Börſe. „Du wirſt doch für die Mörder nichts geben,“
ſagte ich, und auf einen warnenden Blick, den er mir zuwarf,
„und Dich vor dem Kuhfuß nicht fürchten?“ Ich hatte in dem
Poſten ſchon den mir befreundeten Kammergerichtsrath Meier er¬
kannt, der ſich auf den „Kuhfuß“ zornig umwandte und dann
ausrief: „I Jotte doch, Bismarck! wie ſehn Sie aus! Schöne
Schweinerei hier!“
Die Bürgerwache im Schloſſe fragte mich, was ich dort wolle.
Auf meine Antwort, ich hätte einen Brief des Prinzen Karl an
den König abzugeben, ſagte der Poſten, mich mit mißtrauiſchen
Blicken betrachtend, das könne nicht ſein; der Prinz befinde ſich
eben beim Könige. Erſtrer mußte alſo noch vor mir von Pots¬
dam abgereiſt ſein. Die Wache verlangte den Brief zu ſehn, den
ich hätte; ich zeigte ihn, da er offen und der Inhalt unverfänglich
war, und man ließ mich gehn, aber nicht in's Schloß. Im Gaſthof
Meinhard, parterre, lag ein mir bekannter Arzt im Fenſter, zu
dem ich eintrat. Dort ſchrieb ich dem Könige, was ich ihm zu
ſagen beabſichtigt hatte. Ich ging mit dem Briefe zum Fürſten
Boguslaw Radziwill, der freien Verkehr hatte und ihn dem Könige
übergeben konnte. Es ſtand darin u. A., die Revolution beſchränke
ſich auf die großen Städte, und der König ſei Herr im Lande, ſobald
er Berlin verlaſſe. Der König antwortete nicht, hat mir aber
ſpäter geſagt, er habe den auf ſchlechtem Papier ſchlecht geſchrie¬
benen Brief als das erſte Zeichen von Sympathie, das er damals
erhalten, ſorgfältig aufbewahrt.
Auf meinen Gängen durch die Straßen, um die Spuren des
Kampfes anzuſehn, raunte ein Unbekannter mir zu: „Wiſſen Sie,
daß Sie verfolgt werden?“ Ein andrer Unbekannter flüſterte mir
unter den Linden zu: „Kommen Sie mit“; ich folgte ihm in die
Kleine Mauerſtraße, wo er ſagte: „Reiſen Sie ab, oder Sie werden
verhaftet.“ „Kennen Sie mich?“ fragte ich. „Ja,“ antwortete er, „Sie
ſind Herr von Bismarck.“ Von welcher Seite mir die Gefahr drohen
ſollte, von welcher die Warnung kam, habe ich nie erfahren. Der
[25/0052]
In den Straßen von Berlin. Prittwitz und Möllendorf.
Unbekannte verließ mich ſchnell. Ein Straßenjunge rief mir nach:
„Kiek, det is och en Franzos,“ eine Aeußerung, an die ich durch
manche ſpätere Ermittlung erinnert worden bin. Mein allein un¬
raſirter langer Kinnbart, der Schlapphut und Frack hatten dem
Jungen einen exotiſchen Eindruck gemacht. Die Straßen waren
leer, kein Wagen ſichtbar; zu Fuß nur einige Trupps in Bluſen
und mit Fahnen, deren einer in der Friedrichſtraße einen lorbeer¬
bekränzten Barrikadenhelden zu irgend welcher Ovation geleitete.
Nicht wegen der Warnung, ſondern weil ich in Berlin keinen
Boden für eine Thätigkeit fand, kehrte ich an demſelben Tage nach
Potsdam zurück und beſprach mit den beiden Generalen Möllendorf
und Prittwitz noch einmal die Möglichkeit eines ſelbſtändigen
Handelns. „Wie ſollen wir das anfangen?“ ſagte Prittwitz. Ich
klimperte auf dem geöffneten Klavier, neben dem ich ſaß, den
Infanteriemarſch zum Angriff. Möllendorf fiel mir in Thränen
und vor Wundſchmerzen ſteif um den Hals und rief: „Wenn Sie uns
das beſorgen könnten!“ „Kann ich nicht,“ erwiderte ich; „aber wenn
Sie es ohne Befehl thun, was kann Ihnen denn geſchehn? Das
Land wird Ihnen danken und der König ſchließlich auch.“ Prittwitz:
„Können Sie mir Gewißheit ſchaffen, ob Wrangel und Hedemann
mitgehn werden? wir können zur Inſubordination nicht noch Zwiſt
in die Armee bringen.“ Ich verſprach das zu ermitteln, ſelbſt nach
Magdeburg zu gehn und einen Vertrauten nach Stettin zu ſchicken,
um die beiden commandirenden Generale zu ſondiren. Von Stettin
kam der Beſcheid des Generals von Wrangel: „Was Prittwitz thut,
thue ich auch.“ Ich ſelbſt war in Magdeburg weniger glücklich.
Ich gelangte zunächſt nur an den Adjutanten des Generals von Hede¬
mann, einen jungen Major, dem ich mich eröffnete und der mir
ſeine Sympathie ausdrückte. Nach kurzer Zeit aber kam er zu mir
in den Gaſthof und bat mich, ſofort abzureiſen, um mir eine
Unannehmlichkeit und dem alten General eine Lächerlichkeit zu
erſparen; derſelbe beabſichtige, mich als Hochverräther feſtnehmen
zu laſſen. Der damalige Oberpräſident von Bonin, die höchſte
[26/0053]
Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.
politiſche Autorität der Provinz, hatte eine Proclamation erlaſſen
des Inhalts: „In Berlin iſt eine Revolution ausgebrochen; ich
werde eine Stellung über den Parteien nehmen.“ Dieſe „Stütze
des Thrones“ war ſpäter Miniſter und Inhaber hoher und einflu߬
reicher Aemter. General Hedemann gehörte dem Humboldtſchen
Kreiſe an.
Nach Schönhauſen zurückgekehrt, ſuchte ich den Bauern begreif¬
lich zu machen, daß der bewaffnete Zug nach Berlin nicht thunlich
ſei, gerieth aber dadurch in den Verdacht, in Berlin von dem
revolutionären Schwindel angeſteckt zu ſein. Ich machte ihnen
daher den Vorſchlag, der angenommen wurde, daß Deputirte aus
Schönhauſen und andern Dörfern mit mir nach Potsdam reiſen
ſollten, um ſelbſt zu ſehn, und den General von Prittwitz, viel¬
leicht den Prinzen von Preußen zu ſprechen. Als wir am 25. den
Bahnhof von Potsdam erreichten, war der König eben dort ein¬
getroffen und von einer großen Menſchenmenge in wohlwollender
Stimmung empfangen worden. Ich ſagte meinen bäuerlichen Be¬
gleitern: „Da iſt der König, ich werde Euch ihm vorſtellen, ſprecht
mit ihm.“ Das lehnten ſie aber ängſtlich ab und verzogen ſich
ſchnell in die hinterſten Reihen. Ich begrüßte den König ehr¬
furchtsvoll, er dankte, ohne mich zu erkennen, und fuhr nach dem
Schloſſe. Ich folgte ihm und hörte dort die Anrede, welche er im
Marmorſaale an die Offiziere des Gardecorps richtete *). Bei den
Worten: „Ich bin niemals freier und ſichrer geweſen als unter
dem Schutze meiner Bürger“ erhob ſich ein Murren und Aufſtoßen
von Säbelſcheiden, wie es ein König von Preußen in Mitten
ſeiner Offiziere nie gehört haben wird und hoffentlich nie wieder
hören wird 1).
*)
Die meiner Erinnerung und ſich unter einander widerſprechenden
Berichte der Allgemeinen Preußiſchen, der Voſſiſchen und der Schleſiſchen Zeitung
liegen mir vor. (Wolff, Berliner Revolutions-Chronik Band I 424.)
1)
Sie findet ſich nach den Aufzeichnungen eines Offiziers in Gerlach's
Denkwürdigkeiten I 148 f.
[27/0054]
Die Schönhauſer in Potsdam. Schreiben an Prittwitz.
Mit verwundetem Gefühl kehrte ich nach Schönhauſen zurück.
Die Erinnerung an das Geſpräch, welches ich in Potsdam
mit dem General-Lieutenant von Prittwitz gehabt hatte, veranlaßte
mich, im Mai folgendes, von meinen Freunden in der Schönhauſer
Gegend mitunterzeichnetes Schreiben an ihn zu richten:
„Jeder, dem ein preußiſches Herz in der Bruſt ſchlägt, hat
gewiß gleich uns Unterzeichneten mit Entrüſtung die Angriffe der
Preſſe geleſen, welchen in den erſten Wochen nach dem 19. März
die Königlichen Truppen zum Lohn dafür ausgeſetzt waren, daß
ſie ihre Pflicht im Kampfe treu erfüllt und auf ihrem befohlenen
Rückzuge ein unübertroffenes Beiſpiel militäriſcher Diſciplin und
Selbſtverleugnung gegeben hatten. Wenn die Preſſe ſeit einiger Zeit
eine ſchicklichere Haltung beobachtet, ſo liegt der Grund davon bei
der dieſelbe beherrſchenden Partei weniger in einer ihr ſeither
gewordenen richtigen Erkenntniß des Sachverhältniſſes, als darin,
daß die ſchnelle Bewegung der neuern Ereigniſſe den Eindruck der
ältern in den Hintergrund drängt, und man ſich das Anſehn
giebt, den Truppen wegen ihrer neueſten Thaten *)die frühern
verzeihn zu wollen. Sogar bei dem Landvolk, welches die erſten
Nachrichten von den Berliner Ereigniſſen mit kaum zu zügelnder
Erbitterung aufnahm, fangen die Entſtellungen an Conſiſtenz zu
gewinnen, welche von allen Seiten und ohne irgend erheblichen
Widerſpruch, theils durch die Preſſe, theils durch die bei Gelegen¬
heit der Wahlen das Volk bearbeitenden Emiſſäre verbreitet worden
ſind, ſo daß die wohlgeſinnten Leute unter dem Landvolk bereits
glauben, es könne doch nicht ohne allen Grund ſein, daß der
Berliner Straßenkampf von den Truppen, mit oder ohne Wiſſen
und Willen des vielverleumdeten Thronerben, vorbedachter Weiſe
herbeigeführt ſei, um dem Volke die Conceſſionen, welche der König
gemacht hatte, zu entreißen. An eine Vorbereitung auf der andern
Seite, an eine ſyſtematiſche Bearbeitung des Volkes, will kaum
*)
Am 23. April hatten ſie Schleswig beſetzt.
[28/0055]
Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.
einer mehr glauben. Wir fürchten, daß dieſe Lüge, wenigſtens im
Bewußtſein der untern Volksſchichten, auf lange Zeit hin zu
Geſchichte werde, wenn ihr nicht durch ausführliche, mit Beweiſen
belegte Darſtellungen des wahren Hergangs der Sache entgegen¬
getreten wird, und zwar ſobald als möglich, da bei dem außer
aller Berechnung liegenden Lauf der Zeit heut und morgen
neue Ereigniſſe eintreten könnten, welche die Aufmerkſamkeit des
Publikums durch ihre Wichtigkeit dergeſtalt in Anſpruch nähmen, daß
Erklärungen über die Vergangenheit keinen Anklang mehr fänden.
Es würde unſrer Meinung nach von dem erheblichſten Ein¬
fluß auf die politiſchen Anſichten der Bevölkerung ſein, wenn ſie
über die unlautere Quelle der Berliner Bewegung einigermaßen
aufgeklärt werden könnte, ſowie darüber, daß der Kampf der März¬
helden zur Erreichung des vorgeſchützten Zweckes, nämlich der
Vertheidigung der von Sr. Majeſtät verſprochenen conſtitutionellen
Inſtitutionen, ein unnöthiger war. Ew. Excellenz als Befehlshaber
der ruhmwürdigen Truppen, welche bei jenen Ereigniſſen thätig
waren, ſind unſres Erachtens vorzugsweiſe berufen und im Stande,
die Wahrheit über dieſelben auf überzeugende Weiſe ans Licht zu
bringen. Die Ueberzeugung, wie wichtig dies für unſer Vaterland
ſein und wie ſehr der Ruhm der Armee dabei gewinnen würde,
muß uns zur Entſchuldigung dienen, wenn wir Ew. Excellenz ſo
dringend als ehrerbietig bitten, eine, inſoweit die dienſtlichen Rück¬
ſichten es geſtatten, genaue und mit Beweisſtücken verſehene Dar¬
ſtellung der Berliner Ereigniſſe vom militäriſchen Standpunkt ſo
bald als möglich der Oeffentlichkeit übergeben zu laſſen 1).“
Der General von Prittwitz iſt auf dieſe Anregung nicht ein¬
gegangen. Erſt am 18. März 1891 hat der General-Lieutenant z. D.
von Meyerinck in dem Beiheft des „Militär-Wochenblatts“ eine
Darſtellung zu dem von mir bezeichneten Zwecke geliefert, leider
ſo ſpät, daß grade die wichtigſten Zeugen, namentlich die Flügel¬
1)
Bismarck-Jahrbuch VI 8 ff.
[29/0056]
Mittheilungen aus Geſprächen mit Minutoli, Prittwitz.
adjutanten Edwin von Manteuffel und Graf Oriola, inzwiſchen
verſtorben waren.
Als Beitrag zu der Geſchichte der Märztage ſeien hier Ge¬
ſpräche aufgezeichnet, welche ich einige Wochen danach mit Perſonen
hatte, die mich, den ſie als Vertrauensmann der Conſervativen be¬
trachteten, aufſuchten, die einen, um ſich über ihr Verhalten vor
und an dem 18. März rechtfertigend auszuſprechen, die andern,
um mir die gemachten Wahrnehmungen mitzutheilen. Der Polizei¬
präſident von Minutoli beklagte ſich dabei, daß ihm der Vorwurf
gemacht werde, er habe den Aufſtand vorausgeſehn und nichts
zur Verhinderung deſſelben gethan, und beſtritt, daß irgend welche
auffallende Symptome zu ſeiner Kenntniß gekommen wären. Auf
meine Entgegnung, mir ſei in Genthin von Augenzeugen geſagt
worden, daß während der Tage vor dem 18. März fremdländiſch
ausſehende Männer, meiſtens polniſch ſprechend, einige offen Waffen
mit ſich führend, die andern mit ſchweren Gepäckſtücken, in der
Richtung nach Berlin paſſirt wären, erzählte Minutoli, der Miniſter
von Bodelſchwingh habe ihn Mitte März kommen laſſen und Be¬
ſorgniß über die herrſchende Gährung geäußert; darauf habe er
denſelben in eine Verſammlung vor den Zelten geführt. Nachdem
Bodelſchwingh die dort gehaltenen Reden angehört, habe er ge¬
ſagt: „Die Leute ſprechen ja ganz verſtändig, ich danke Ihnen, Sie
haben mich vor einer Thorheit bewahrt.“ Bedenklich für die Be¬
urtheilung Minutoli's war ſeine Popularität in den nächſten Tagen
nach dem Straßenkampfe. Sie war für einen Polizeipräſidenten
als Ergebniß eines Aufruhrs unnatürlich.
Auch der General von Prittwitz, der die Truppen um das
Schloß befehligt hatte, ſuchte mich auf und erzählte mir, mit
ihrem Abzuge ſei es ſo zugegangen: Nachdem ihm die Procla¬
mation „An meine lieben Berliner“ bekannt geworden, habe er
das Gefecht abgebrochen, aber den Schloßplatz, das Zeughaus und
die einmündenden Straßen zum Schutze des Schloſſes beſetzt ge¬
halten. Da ſei Bodelſchwingh an ihn mit der Forderung heran¬
[30/0057]
Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.
getreten: „Der Schloßplatz muß geräumt werden.“ „Das iſt un¬
möglich,“ habe er geantwortet, „damit gebe ich den König preis.“
Darauf Bodelſchwingh: „Der König hat in ſeiner Proclamation
befohlen, daß alle ,öffentlichen Plätze‘ *)geräumt werden ſollen;
iſt der Schloßplatz ein öffentlicher Platz oder nicht? Noch bin ich
Miniſter, und ich habe es wohl auswendig gelernt, was ich als ſolcher
zu thun habe. Ich fordere Sie auf, den Schloßplatz zu räumen.“
„Was,“ ſo ſchloß Prittwitz ſeine Mittheilung, „was hätte ich dar¬
auf anders thun ſollen, als abmarſchiren?“ „Ich würde,“ antwortete
ich, „es für das Zweckmäßigſte gehalten haben, einem Unteroffizier
zu befehlen: ,Nehmen Sie dieſen Civiliſten in Verwahrung.‘“ Pritt¬
witz erwiderte: „Wenn man vom Rathhauſe kommt, iſt man immer
klüger. Sie urtheilen als Politiker; ich handelte ausſchließlich als
Soldat auf Weiſung des auf eine unterſchriebene allerhöchſte Procla¬
mation ſich ſtützenden dirigirenden Miniſters.“ — Von andrer Seite
habe ich gehört, Prittwitz habe dieſe ſeine letzte im Freien ſtatt¬
findende Unterredung mit Bodelſchwingh damit abgebrochen, daß
er blauroth vor Zorn den Degen in die Scheide geſtoßen und die
Aufforderung gemurmelt habe, die Götz von Berlichingen dem
Reichscommiſſar durch das Fenſter zuruft. Dann habe er ſein
Pferd links gedreht und ſei durch die Schloßfreiheit ſchweigend und
im Schritt abgeritten. Durch einen vom Schloſſe geſendeten Offizier
nach dem Verbleib der Truppen gefragt, habe er biſſig geantwortet:
„Die ſind mir durch die Finger gegangen, wo Alle mitreden **).“
Von Offizieren aus der nächſten Umgebung Sr. Majeſtät habe
ich Folgendes gehört. Sie ſuchten den König auf, der momentan
nicht zu finden war, weil er aus natürlichen Gründen ſich zurück¬
gezogen hatte. Als er wieder zum Vorſchein kam und gefragt wurde:
„Haben Ew. Majeſtät befohlen, daß die Truppen abmarſchiren?“
*)
Die Proclamation ſagt: „alle Straßen und Plätze“.
**)
Das Schreiben des Paſtors von Bodelſchwingh vom 8. November 1891
(Kreuzzeitung vom 18. November 1891, Nr. 539) und die Denkwürdigkeiten aus
dem Leben Leopolds von Gerlach ſind mir bekannt.
[31/0058]
Geſpräch mit Prittwitz. Fürſt Lichnowſki. Adreßdebatte.
erwiderte der König: „Nein,“ — „Sie ſind aber ſchon auf dem Ab¬
marſch,“ ſagte der Adjutant und führte den König an ein Fenſter.
Der Schloßplatz war ſchwarz von Civiliſten, hinter denen noch die
letzten Bajonette der abziehenden Soldaten zu ſehn waren. „Das
habe ich nicht befohlen, das kann nicht ſein,“ rief der König aus
und hatte den Ausdruck der Beſtürzung und Entrüſtung.
Ueber den Fürſten Lichnowſki wurde mir erzählt, daß er ab¬
wechſelnd oben im Schloſſe einſchüchternde Nachrichten über Schwäche
der Truppen, Mangel an Lebensmitteln und Munition verbreitet
und unten auf dem Platze den Aufſtändiſchen deutſch und polniſch
zugeredet habe auszuhalten, oben habe man den Muth verloren.
II.
In der kurzen Seſſion des Zweiten Vereinigten Landtags ſagte
ich am 2. April 1):
„Ich bin einer der wenigen, welche gegen die Adreſſe ſtimmen
werden, und ich habe um das Wort nur deshalb gebeten, um dieſe
Abſtimmung zu motiviren und Ihnen zu erklären, daß ich die
Adreſſe, inſoweit ſie ein Programm der Zukunft iſt, ohne Weitres
acceptire, aber aus dem alleinigen Grunde, weil ich mir nicht
anders helfen kann. — Nicht freiwillig, ſondern durch den Drang
der Umſtände getrieben, thue ich es; denn ich habe meine Anſicht
ſeit den ſechs Monaten nicht gewechſelt; ich glaube, daß dies
Miniſterium das einzige iſt, welches uns aus der gegenwärtigen
Lage einem geordneten und geſetzmäßigen Zuſtande zuführen kann,
und aus dieſem Grunde werde ich demſelben meine geringe Unter¬
ſtützung überall widmen, wo es mir möglich iſt. Was mich aber
veranlaßt, gegen die Adreſſe zu ſtimmen, ſind die Aeußerungen von
Freude und Dank für das, was in den letzten Tagen geſchehn iſt.
Die Vergangenheit iſt begraben, und ich bedaure es ſchmerzlicher
1)
Politiſche Reden Bd. I S. 45 f.
[32/0059]
Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.
als Viele von Ihnen, daß keine menſchliche Macht im Stande iſt,
ſie wieder zu erwecken, nachdem die Krone ſelbſt die Erde auf ihren
Sarg geworfen hat. Aber wenn ich dies, durch die Gewalt der
Umſtände gezwungen, acceptire, ſo kann ich doch nicht aus meiner
Wirkſamkeit auf dem Vereinigten Landtage mit der Lüge ſcheiden,
daß ich für das danken und mich freuen ſoll über das, was ich
mindeſtens für einen irrthümlichen Weg halten muß. Wenn es
wirklich gelingt, auf dem neuen Wege, der jetzt eingeſchlagen iſt,
ein einiges deutſches Vaterland, einen glücklichen oder auch
nur geſetzmäßig geordneten Zuſtand zu erlangen, dann wird der
Augenblick gekommen ſein, wo ich dem Urheber der neuen Ordnung
der Dinge meinen Dank ausſprechen kann, jetzt aber iſt es mir
nicht möglich.“
Ich wollte mehr ſagen, war aber durch innere Bewegung in
die Unmöglichkeit verſetzt, weiter zu ſprechen, und verfiel in einen
Weinkrampf, der mich zwang, die Tribüne zu verlaſſen.
Wenige Tage zuvor hatte mir ein Angriff einer Magdeburger
Zeitung Anlaß gegeben, an die Redaction das nachſtehende Schreiben
zu richten, in welchem ich eine der Errungenſchaften, das ſtürmiſch
geforderte und durch die Aufhebung der Cenſur gewährte „Recht
der freien Meinungsäußerung“, auch für mich in Anſpruch nahm,
nicht ahnend, daß mir daſſelbe 42 Jahre ſpäter 1)würde beſtritten
werden.
„Eure Wohlgeboren
haben in die heutige Nummer Ihrer Zeitung einen ,Aus der Alt¬
mark‘ datirten Artikel aufgenommen, der einzelne Perſönlichkeiten
verdächtigt, indirect auch mich, und ich ſtelle daher Ihrem Gerech¬
tigkeitsgefühl anheim, ob Sie nachſtehende Erwiderung aufnehmen
wollen. Ich bin zwar nicht der in jenem Artikel bezeichnete Herr,
welcher von Potsdam nach Stendal gekommen ſein ſoll, aber ich
1)
Durch den Erlaß Caprivi's vom 23. Mai 1890.
[33/0060]
Schreiben an eine Magdeburger Zeitung.
habe ebenfalls in der vorigen Woche den mir benachbarten Ge¬
meinden erklärt, daß ich den König in Berlin nicht für frei hielte,
und dieſelben zur Abſendung einer Deputation an die geeignete
Stelle aufgefordert, ohne daß ich mir deshalb die ſelbſtſüchtigen
Motive, welche Ihr Correſpondent anführt, unterſchieben laſſen
möchte. Es iſt 1) ſehr erklärlich, daß jemand, dem alle mit der
Perſon des Königs nach dem Abzug der Truppen vorgegangenen
Ereigniſſe bekannt waren, die Meinung faſſen konnte, der König
ſei nicht Herr, zu thun und zu laſſen, was er wollte; 2) halte
ich jeden Bürger eines freien Staates für berechtigt, ſeine Mei¬
nung gegen ſeine Mitbürger ſelbſt dann zu äußern, wenn ſie der
augenblicklichen öffentlichen Meinung widerſpricht: ja nach den
neuſten Vorgängen möchte es ſchwer ſein, jemand das Recht
zu beſtreiten, ſeine politiſchen Anſichten durch Volksaufregung zu
unterſtützen; 3) wenn alle Handlungen Sr. Majeſtät in den
letzten 14 Tagen durchaus freiwillig geweſen ſind, was weder Ihr
Correſpondent noch ich mit Sicherheit wiſſen können, was hätten
dann die Berliner erkämpft? Dann wäre der Kampf am 18. und
19. mindeſtens ein überflüſſiger und zweckloſer geweſen und alles
Blutvergießen ohne Veranlaſſung und ohne Erfolg; 4) glaube
ich die Geſinnung der großen Mehrzahl der Ritterſchaft dahin
ausſprechen zu können, daß in einer Zeit, wo es ſich um das
ſociale und politiſche Fortbeſtehn Preußens handelt, wo Deutſchland
von Spaltungen in mehr als einer Richtung bedroht iſt, wir weder
Zeit noch Neigung haben, unſre Kräfte an reactionäre Verſuche,
oder an Vertheidigung der unbedeutenden uns bisher verbliebenen
gutsherrlichen Rechte zu vergeuden, ſondern gern bereit ſind, dieſe
auf Würdigere zu übertragen, indem wir dieſes als untergeordnete
Frage, die Herſtellung rechtlicher Ordnung in Deutſchland, die Er¬
haltung der Ehre und Unverletzlichkeit unſres Vaterlandes aber
als die für jetzt alleinige Aufgabe eines jeden betrachten, deſſen
Blick auf unſre politiſche Lage nicht durch Parteianſichten ge¬
trübt iſt.
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 3
[34/0061]
Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.
Gegen die Veröffentlichung meines Namens habe ich, falls
Sie Vorſtehendes aufnehmen wollen, nichts einzuwenden. Geneh¬
migen Sie die Verſicherung der größten Hochachtung, mit der ich bin
Schönhauſen bei Jerichow, 30. März 1848
Eurer Wohlgeboren
ergebenſter
Bismarck.“
Ich bemerke dazu, daß ich mich von Jugend auf ohne „v“
unterſchrieben und meine heutige Unterzeichnung v. B. erſt aus
Widerſpruch gegen die Anträge auf Abſchaffung des Adels 1848
angenommen habe.
Der nachſtehende Artikel, deſſen Concept in meiner Handſchrift
ſich erhalten hat, iſt, wie der Inhalt ergiebt, in der Zeit zwiſchen
dem Zweiten Vereinigten Landtage und den Wahlen zur National¬
verſammlung geſchrieben. In welcher Zeitung er erſchienen iſt,
hat ſich nicht ermitteln laſſen 1).
„Aus der Altmark.
Ein Theil unſrer Mitbürger, welcher ſich unter dem Syſtem
der ſtändiſchen Sonderung einer ſtarken Vertretung erfreute, näm¬
lich die Bewohner der Städte, fangen an zu fühlen, daß bei dem
neuen Wahlmodus, nach welchem in faſt allen Kreiſen die ſtädtiſche
Bevölkerung mit einer der Zahl nach ſehr überwiegenden ländlichen
zu concurriren haben wird, ihre Intereſſen gegen die der großen
Maſſen der Landbewohner werden zurückſtehn müſſen. Wir leben
in der Zeit der materiellen Intereſſen, und nach Feſtſtellung der
neuen Verfaſſung, nach Beruhigung der jetzigen Gährung, wird
ſich der Kampf der Parteien darum drehn, ob die Staatslaſten
gleichmäßig nach dem Vermögen getragen, oder ob ſie überwiegend
dem immer ſteuerbereiten Grund und Boden aufgelegt werden
ſollen, der die bequemſte und ſicherſte Erhebung geſtattet und von
1)
Bismarck-Jahrbuch VI 10 ff.
[35/0062]
Ein Zeitungsartikel.
deſſen Umfang nie etwas verheimlicht werden kann. Es iſt natür¬
lich, daß die Städter dahin ſtreben, den Steuererheber von der
Fabrikinduſtrie, von dem ſtädtiſchen Häuſerwerth, von dem Rentier
und Capitaliſten ſo fern als möglich zu halten, und ihn lieber auf
Acker und Wieſen und deren Producte anzuweiſen. Ein Anfang
iſt damit gemacht, daß in den bisher mahlſteuerpflichtigen Städten
die unterſten Stufen von der neuen directen Steuer frei bleiben,
während ſie auf dem Lande nach wie vor Klaſſenſteuer zahlen.
Wir hören ferner von Maßregeln zur Unterſtützung der Induſtrie
auf Koſten der Staatskaſſen, aber wir hören nicht davon, daß
man dem Landmanne zu Hülfe kommen wolle, der wegen der
kriegeriſchen Ausſichten auf der Seeſeite ſeine Producte nicht ver¬
werthen kann, aber der durch Kündigung von Capitalien in dieſer
geldarmen Zeit ſeinen Hof zu verkaufen genöthigt wird. Ebenſo
hören wir mit Bezug auf indirecte Beſteuerung mehr von dem
Schutzzollſyſtem zu Gunſten inländiſcher Fabrication und Gewerbe
ſprechen, als von dem für die ackerbautreibende Bevölkerung nöthigen
freien Handel. Es iſt wie geſagt natürlich, daß ein Theil der
ſtädtiſchen Bevölkerung mit Rückſicht auf die beregten Streitpunkte
kein Mittel ſcheut, bei den bevorſtehenden Wahlen das eigne
Intereſſe zur Geltung zu bringen und die Vertretung der Land¬
bewohner zu ſchwächen. Ein ſehr wirkſamer Hebel zu letzterem
Zweck liegt in den Beſtrebungen, der ländlichen Bevölkerung die¬
jenigen ihrer Mitglieder zu verdächtigen, deren Bildung und
Intelligenz ſie befähigen könnte, die Intereſſen des Grund und
Bodens auf der Nationalverſammlung mit Erfolg zu vertreten;
man bemüht ſich daher, eine Mißſtimmung gegen die Ritterguts¬
beſitzer künſtlich zu befördern, indem man meint, wenn man dieſe
Klaſſe unſchädlich macht, ſo müſſen die Landbewohner entweder
Advokaten oder andre Städter wählen, die nach den ländlichen
Intereſſen nicht viel fragen, oder es kommen meiſt ſchlichte Land¬
leute, und die denkt man durch die Beredſamkeit und kluge Politik
der Parteiführer in der Nationalverſammlung ſchon unvermerkt
[36/0063]
Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.
zu leiten. Man ſucht daher die bisherige Ritterſchaft als ſolche
Leute zu bezeichnen, die den alten Zuſtand erhalten und zurück¬
führen wollen, während die Rittergutsbeſitzer wie jeder andre
vernünftige Menſch ſich ſelbſt ſagen, daß es unſinnig und unmög¬
lich wäre, den Strom der Zeit aufhalten oder zurückdämmen zu
wollen. — Man ſucht ferner auf den Dörfern die Vorſtellung zu
wecken und zu beſtärken, daß jetzt die Zeit gekommen ſei, ſich von
allen den Zahlungen, die nach den Separationsreceſſen an Ritter¬
güter zu leiſten ſind, ohne Entſchädigung loszumachen; aber man
verſchweigt dabei, daß eine Regirung, die Recht und Ordnung will,
nicht damit anfangen kann, eine Klaſſe von Staatsbürgern zu
plündern, um eine andre zu beſchenken, daß alle Rechte, die auf
Geſetz, Erkenntniß oder Vertrag beruhn, alle Forderungen, die
Einer an den Andern haben mag, alle Anſprüche auf hypotheka¬
riſche Zinſen und Capitalien denen, die ſie haben, mit demſelben
Rechtstitel genommen werden können, mit welchem man den Ritter¬
gütern ihre Renten ohne volle Entſchädigung nehmen möchte. Man
täuſcht den Landmann darüber, daß er mit dem Rittergutsbeſitzer
das gleiche Intereſſe des Landwirthes und den gleichen Gegner in
dem ausſchließlichen Induſtrieſyſteme hat, welches ſeine Hand nach
der Herrſchaft in dem preußiſchen Staate ausſtreckt; gelingt dieſe
Täuſchung, ſo wollen wir hoffen, daß ſie nicht lange dauert,
daß man ihr durch eine ſchnelle, geſetzliche Abſchaffung der bis¬
herigen politiſchen Rechte der Rittergüter ein Ende mache, und
daß der ländlichen Bevölkerung nicht erſt dann, wenn es an's Be¬
zahlen geht, dann aber zu ſpät, die Augen darüber aufgehn, wie
fein ſie von den klugen Städtern überliſtet iſt.“
Während der Zweite Vereinigte Landtag zuſammentrat, nahm
Georg von Vincke im Namen ſeiner Parteigenoſſen und angeblich
in höherem Auftrage meine Mitwirkung für den Plan in An¬
ſpruch, den König durch den Landtag zur Abdankung zu bewegen
und mit Uebergehung, aber im angeblichen Einverſtändniß des
[37/0064]
Antrag auf Einſetzung einer Regentſchaft.
Prinzen von Preußen, eine Regentſchaft der Prinzeſſin für ihren
minderjährigen Sohn herzuſtellen. Ich lehnte ſofort ab und er¬
klärte, daß ich einen Antrag des Inhalts mit dem Antrage auf
gerichtliches Verfahren wegen Hochverraths beantworten würde.
Vincke vertheidigte ſeine Anregung als eine politiſch gebotene,
durchdachte und vorbereitete Maßregel. Er hielt den Prinzen
wegen der von ihm leider nicht verdienten Bezeichnung „Kartätſchen¬
prinz“ für unmöglich und behauptete, daß deſſen Einverſtändniß
ſchriftlich vorliege. Damit hatte er eine Erklärung im Sinne,
welche der ritterliche Herr ausgeſtellt haben ſoll, daß er, wenn
ſein König dadurch vor Gefahr geſchützt werden könne, bereit ſei
auf ſein Erbrecht zu verzichten. Ich habe die Erklärung nie geſehn,
und der hohe Herr hat mir nie davon geſprochen. Herr von Vincke
gab ſeinen Verſuch, mich für die Regentſchaft der Prinzeſſin zu
gewinnen, ſchließlich kühl und leicht mit der Erklärung auf, ohne Mit¬
wirkung der äußerſten Rechten, die er als durch mich vertreten anſah,
werde der König nicht zum Rücktritt zu beſtimmen ſein. Die Ver¬
handlung fand bei mir im Hôtel des Princes, parterre rechts,
ſtatt und enthielt beiderſeits mehr, als ſich niederſchreiben läßt.
Von dieſem Vorgange und von der Ausſprache, welche ich
von ſeiner Gemalin während der Märztage in dem Potsdamer
Stadtſchloſſe zu hören bekommen hatte, habe ich dem Kaiſer Wilhelm
niemals geſprochen und weiß nicht, ob Andre es gethan haben.
Ich habe ihm dieſe Erlebniſſe verſchwiegen auch in Zeiten wie die
des vierjährigen Conflicts, des öſtreichiſchen Krieges und des Cultur¬
kampfs, wo ich in der Königin Auguſta den Gegner erkennen mußte,
welcher meine Fähigkeit, zu vertreten was ich für meine Pflicht hielt,
und meine Nerven auf die ſchwerſte Probe im Leben geſtellt hat.
Dagegen muß ſie ihrem Gemal nach England geſchrieben
haben, daß ich verſucht hatte, zu ihm zu gelangen, um ſeine Unter¬
ſtützung für eine contrarevolutionäre Bewegung zur Befreiung des
Königs zu gewinnen; denn als er auf der Rückkehr am 7. Juni
einige Minuten auf dem Genthiner Bahnhof verweilte und ich
[38/0065]
Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.
mich in den Hintergrund gezogen hatte, weil ich nicht wußte, ob
er in ſeiner Eigenſchaft als „Abgeordneter für Wirſitz“ mit mir
geſehn ſein wollte, erkannte er mich in den hinterſten Reihen des
Publikums, bahnte ſich den Weg durch die vor mir Stehenden,
reichte mir die Hand und ſagte: „Ich weiß, daß Sie für mich
thätig geweſen ſind, und werde Ihnen das nie vergeſſen.“
Meine erſte Begegnung mit ihm war im Winter 1834/35 auf
einem Hofballe geweſen. Ich ſtand neben einem Herrn von Schack
aus Mecklenburg, der, wie ich, lang gewachſen und auch in Juſtiz-
Referendarien-Uniform war, was den Prinzen zu dem Scherz ver¬
anlaßte, die Juſtiz ſuche ſich jetzt die Leute wohl nach dem Garde¬
maße aus. Dann zu mir gewandt, fragte er mich, weshalb ich
nicht Soldat geworden ſei. „Ich hatte den Wunſch,“ erwiderte
ich, „aber die Eltern waren dagegen, weil die Ausſichten zu
ungünſtig ſeien.“ Worauf der Prinz ſagte: „Brillant iſt die
Carrière allerdings nicht, aber bei der Juſtiz auch nicht.“ Während
des Erſten Vereinigten Landtags, dem er als Mitglied der Herren¬
curie angehörte, redete er mich in den vereinigten Sitzungen wieder¬
holt in einer Weiſe an, die ſein Wohlgefallen an der damals von
mir angenommnen politiſchen Haltung bezeugte.
Bald nach der Begegnung in Genthin lud er mich nach
Babelsberg ein. Ich erzählte ihm mancherlei aus den Märztagen,
was ich theils erlebt, theils von Offizieren gehört hatte, namentlich
über die Stimmung, in der die Truppen den Rückzug aus Berlin
angetreten und die ſich in ſehr bittern, auf dem Marſch geſungenen
Verſen Luft gemacht hatte. Ich war hart genug, ihm das Gedicht
vorzuleſen, welches für die Stimmung der Truppen auf dem
befohlenen Rückzuge aus Berlin hiſtoriſch bezeichnend iſt:
1. Das waren Preußen, ſchwarz und weiß die Farben,
So ſchwebt' die Fahne einmal noch voran,
Als für den König ſeine Treuen ſtarben,
Für ihren König, jubelnd Mann für Mann.
Wir ſahen ohne Zagen
Fort die Gefall'nen tragen,
[39/0066]
Begegnungen mit dem Prinzen von Preußen.
Da ſchnitt ein Ruf in's treue Herz hinein,
„Ihr ſollt nicht Preußen mehr, ſollt Deutſche ſein.“
2. Doch wir mit Liebe nahten uns dem Throne,
Feſt noch im Glauben und voll Zuverſicht,
Da zeigt er uns, wie man die Treue lohne,
Uns, ſeine Preußen, hört ihr König nicht.
Da löſten ſich die Bande,
Weh' meinem Vaterlande!
Seit er verſtoßen ſeine Vielgetreu'n
Brach unſer Herz und ſeine Stütze ein.
3. Da, wie der Sturm ſein theures Haupt umbrauſet,
Verwünſcht, verläſtert von des Pöbels Wuth,
Der jetzt auf unſrem Siegesfelde hauſet,
Das, was Ihn ſchützte, war der Truppen Muth.
Sie ſtanden ohne Beben
Und ſetzten Blut und Leben
Für ihren Herrn, für ihren König ein,
Ihr Tod war ſüß, und ihre Ehre rein.
4. Und wo ſie fielen, Deine Tapfern, Treuen,
Vernimm die Schandthat, heil'ges Vaterland:
Sieht man des Pöbels ſchmutz'ge Schlächterreihen
Um jenen König ſtehen Hand in Hand.
Da ſchwören ſie auf's Neue
Sich Liebe ha! und Treue.
Trug iſt ihr Schwur
Und ihre Freiheit Schein,
Heil uns, ſie wollen nicht mehr Preußen ſein.
5. Schwarz, Roth und Gold glüht nun im Sonnenlichte,
Der ſchwarze Adler ſinkt herab entweiht;
Hier endet, Zollern, Deines Ruhms Geſchichte,
hier fiel ein König, aber nicht im Streit.
Wir ſehen nicht mehr gerne
Nach dem gefall'nen Sterne.
Was Du hier thateſt, Fürſt, wird Dich gereu'n,
So treu wird Keiner, wie die Preußen ſein.
Er brach darüber in ſo heftiges Weinen aus, wie ich es nur
noch einmal erlebt habe, als ich ihm in Nikolsburg wegen Fort¬
ſetzung des Krieges Widerſtand leiſtete (ſ. Kap. 20).
[40/0067]
Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.
Bei der Prinzeſſin, ſeiner Gemalin, ſtand ich bis zu meiner
Ernennung nach Frankfurt ſo weit in Gnade, daß ich gelegentlich
nach Babelsberg befohlen wurde, um ihre politiſchen Auffaſſungen
und Wünſche zu vernehmen, deren Darlegung mit den Worten zu
ſchließen pflegte: „Es freut mich, Ihre Meinung gehört zu haben,“
obſchon ich nicht in die Lage gekommen war, mich zu äußern. Der
damals 18- und 19jährige, aber jünger ausſehende ſpätere Kaiſer
Friedrich pflegte in ſolchen Fällen ſeine politiſche Sympathie mir
dadurch zu erkennen zu geben, daß er mich im Dunkel der abend¬
lichen Abfahrt beim Einſteigen in den Wagen mit lebhaftem Hände¬
druck freundlich begrüßte in einer Art, als ob ihm eine offne Be¬
kundung ſeiner Geſinnung bei Licht nicht geſtattet wäre.
III.
Die Frage der deutſchen Einheit war in den letzten beiden
Jahrzehnten unter Friedrich Wilhelm III. nur in Geſtalt der burſchen¬
ſchaftlichen Strebungen und deren ſtrafrechtlicher Repreſſion in die
äußere Erſcheinung getreten. Friedrich Wilhelms IV. deutſches
oder, wie er ſchrieb, „teutſches“ Nationalgefühl war gemüthlich
lebhafter wie das ſeines Vaters, aber durch mittelalterliche Ver¬
brämung und durch Abneigung gegen klare und feſte Entſchlüſſe
in der praktiſchen Bethätigung gehemmt. Daher verſäumte er die
Gelegenheit, die im März 1848 günſtig war; und es ſollte das nicht
die einzige verſäumte bleiben. In den Tagen zwiſchen den ſüd¬
deutſchen Revolutionen, einſchließlich der Wiener, und dem 18. März,
ſo lange es vor Augen lag, daß von allen deutſchen Staaten,
Oeſtreich inbegriffen, Preußen der einzige feſtſtehende geblieben
war, waren die deutſchen Fürſten bereit, nach Berlin zu kommen
und Schutz zu ſuchen unter Bedingungen, die in unitariſcher Rich¬
tung über das hinausgingen, was heut verwirklicht iſt; auch das
bairiſche Selbſtbewußtſein war erſchüttert. Wenn es zu dem, nach
[41/0068]
Stellung zur Prinzeſſin. Politiſche Lage.
einer Erklärung der preußiſchen und der öſtreichiſchen Regirung vom
10. März auf den 20. März nach Dresden berufenen Fürſtencongreß
gekommen wäre, ſo wäre nach der Stimmung der betheiligten Höfe
eine Opferwilligkeit auf dem Altar des Vaterlandes wie die fran¬
zöſiſche vom 4. Auguſt 1789 zu erwarten geweſen. Dieſe Auffaſſung
entſprach den thatſächlichen Verhältniſſen; das militäriſche Preußen
war ſtark und intact genug, um die revolutionäre Welle zum Stehn
zu bringen und den übrigen deutſchen Staaten für Geſetz und
Ordnung in Zukunft Garantien zu bieten, welche den andern
Dynaſtien damals annehmbar erſchienen.
Der 18. März war ein Beiſpiel, wie ſchädlich das Eingreifen
roher Kräfte auch den Zwecken werden kann, die dadurch er¬
reicht werden ſollen. Indeſſen war am 19. Morgens noch nichts
verloren. Der Aufſtand war niedergeſchlagen. Führer deſſelben,
darunter der mir von der Univerſität her bekannte Aſſeſſor Rudolf
Schramm, hatten ſich nach Deſſau geflüchtet, hielten die erſte Nach¬
richt von dem Rückzuge der Truppen für eine polizeiliche Falle und
kehrten erſt nach Berlin zurück, nachdem ſie die Zeitungen erhalten
hatten. Ich glaube, daß mit feſter und kluger Ausnutzung des
Sieges; des einzigen, der damals von einer Regirung in Europa
gegen Aufſtände erfochten war, die deutſche Einheit in ſtrengerer
Form zu erreichen war, als zur Zeit meiner Betheiligung an der
Regirung ſchließlich geſchehn iſt. Ob das nützlicher und dauer¬
hafter geweſen wäre, laſſe ich dahingeſtellt ſein.
Wenn der König im März die Empörung in Berlin definitiv
niederwarf und auch nachher nicht wieder aufkommen ließ, ſo würden
wir von dem Kaiſer Nicolaus nach dem Zuſammenbruch Oeſt¬
reichs keine Schwierigkeiten in der Neubildung einer haltbaren
Organiſation Deutſchlands erfahren haben. Seine Sympathien
waren urſprünglich mehr nach Berlin als nach Wien gerichtet,
wenn auch Friedrich Wilhelm IV. perſönlich dieſe nicht beſaß und
bei der Verſchiedenheit der Charaktere nicht beſitzen konnte.
Der Umzug durch die Straßen in den Farben der Burſchen¬
[42/0069]
Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.
ſchaft am 21. März war am wenigſten geeignet, das wieder ein¬
zubringen, was im Innern und nach Außen verloren war. Die
Situation wurde dadurch dergeſtalt umgedreht, daß der König nun
an der Spitze nicht mehr ſeiner Truppen, ſondern der Barrikaden¬
kämpfer, derſelben unlenkbaren Maſſen, ſtand, vor deren Bedrohung
die Fürſten einige Tage zuvor bei ihm Schutz geſucht hatten. Der
Gedanke, eine Verlegung des geplanten Fürſtencongreſſes von
Dresden nach Potsdam als einziges Ergebniß der Märztage zu
behandeln, verlor durch den würdeloſen Umzug jede Haltbarkeit.
Die Weichlichkeit, mit der Friedrich Wilhelm IV. unter dem
Drucke unberufener, vielleicht verrätheriſcher Rathgeber, gedrängt
durch weibliche Thränen, das blutige Ergebniß in Berlin, nachdem
es ſiegreich durchgeführt war, dadurch abſchließen wollte, daß er
ſeinen Truppen befahl, auf den gewonnenen Sieg zu verzichten,
hat für die weitere Entwicklung unſrer Politik zunächſt den
Schaden einer verſäumten Gelegenheit gebracht. Ob der Fortſchritt
ein dauernder geweſen ſein würde, wenn der König den Sieg
ſeiner Truppen feſtgehalten und ausgenutzt hätte, iſt eine andre
Frage. Der König würde dann allerdings nicht in der gebrochenen
Stimmung geweſen ſein, in der ich ihn während des Zweiten Ver¬
einigten Landtags gefunden habe, ſondern in dem durch den Sieg
geſtärkten Schwunge der Beredſamkeit, die er bei Gelegenheit der
Huldigung 1840, in Köln 1842 und ſonſt entwickelt hatte. Ich
wage keine Vermuthung darüber, welche Einwirkung auf die Hal¬
tung des Königs, die Romantik mittelalterlicher Reichserinnerungen
Oeſtreich und den Fürſten gegenüber und das vorher und ſpäter
ſo ſtarke fürſtliche Selbſtgefühl im Inlande das Bewußtſein geübt
haben würde, den Aufruhr definitiv niedergeſchlagen zu haben,
der ihm gegenüber allein ſiegreich blieb im außerruſſiſchen Continent.
Eine auf dem Straßenpflaſter erkämpfte Errungenſchaft wäre von
andrer Art und von minderer Tragweite geweſen als die ſpäter auf
dem Schlachtfeld gewonnene. Es iſt vielleicht für unſre Zukunft beſſer
geweſen, daß wir die Irrwege in der Wüſte innerer Kämpfe von
[43/0070]
Schwäche Friedrich Wilhelms IV. Erſter Beſuch in Sansſouci.
1848 bis 1866 wie die Juden, bevor ſie das gelobte Land er¬
reichten, noch haben durchmachen müſſen. Die Kriege von 1866
und 1870 wären uns doch ſchwerlich erſpart worden, nachdem
unſre 1848 zuſammengebrochenen Nachbarn in Anlehnung an
Paris, Wien und anderswo ſich wieder ermuthigt und gekräftigt
haben würden. Es iſt fraglich, ob auf dem kürzeren und raſcheren
Wege des Märzſieges von 1848 die Wirkung der geſchichtlichen
Ereigniſſe auf die Deutſchen dieſelbe geweſen ſein würde, wie die
heut vorhandene, die den Eindruck macht, daß die Dynaſtien, und
grade die früher hervorragend particulariſtiſchen, reichsfreundlicher
ſind als die Fractionen und Parteien.
Mein erſter Beſuch in Sansſouci kam unter ungünſtigen
Aſpecten zu Stande. In den erſten Tagen des Juni, wenige Tage
vor dem Abgange des Miniſterpräſidenten Ludolf Camphauſen, be¬
fand ich mich in Potsdam, als ein Leibjäger mich in dem Gaſt¬
hofe aufſuchte, um mir zu melden, daß der König mich zu ſprechen
wünſche. Ich ſagte unter dem Eindruck meiner frondirenden Ge¬
müthsſtimmung, daß ich bedauerte, dem Befehle Sr. Majeſtät
nicht Folge leiſten zu können, da ich im Begriffe ſei, nach Hauſe
zu reiſen und meine Frau, deren Geſundheit beſondrer Schonung
bedürfe, ſich ängſtigen würde, wenn ich länger als verabredet aus¬
bliebe. Nach einiger Zeit erſchien der Flügeladjutant Edwin von
Manteuffel, wiederholte die Aufforderung in Form einer Einladung
zur Tafel und ſagte, der König ſtelle mir einen Feldjäger zur Ver¬
fügung, um meine Frau zu benachrichtigen. Es blieb mir nichts
übrig, als mich nach Sansſouci zu begeben. Die Tiſchgeſellſchaft
war ſehr klein, enthielt, wenn ich mich recht erinnere, außer den
Damen und Herrn vom Dienſte nur Camphauſen und mich. Nach
der Tafel führte der König mich auf die Terraſſe und fragte
freundlich: „Wie geht es bei Ihnen?“ In der Gereiztheit, die ich
ſeit den Märztagen in mir trug, antwortete ich: „Schlecht.“ Darauf
der König: „Ich denke, die Stimmung iſt gut bei Ihnen.“ Darauf
ich, unter dem Eindrucke von Anordnungen, deren Inhalt mir nicht
[44/0071]
Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.
erinnerlich iſt: „Die Stimmung war ſehr gut, aber ſeit die Revo¬
lution uns von den königlichen Behörden unter königlichem Stempel
eingeimpft worden, iſt ſie ſchlecht geworden. Das Vertrauen zu
dem Beiſtande des Königs fehlt.“ In dem Augenblicke trat die
Königin hinter einem Gebüſche hervor und ſagte: „Wie können
Sie ſo zu dem Könige ſprechen?“ — „Laß mich nur, Eliſe,“ ver¬
ſetzte der König, „ich werde ſchon mit ihm fertig werden;“ und
dann zu mir gewandt: „Was werfen Sie mir denn eigentlich
vor?“ — „Die Räumung Berlins.“ — „Die habe ich nicht ge¬
wollt,“ erwiderte der König. Und die Königin, die noch in Gehörs¬
weite geblieben war, ſetzte hinzu: „Daran iſt der König ganz un¬
ſchuldig, er hatte ſeit drei Tagen nicht geſchlafen.“ — „Ein König
muß ſchlafen können,“ verſetzte ich. Unbeirrt durch dieſe ſchroffe
Aeußerung ſagte der König: „Man iſt immer klüger, wenn man
von dem Rathhauſe kommt; was wäre denn damit gewonnen, daß
ich zugäbe, ,wie ein Eſel‘ gehandelt zu haben? Vorwürfe ſind nicht
das Mittel, einen umgeſtürzten Thron wieder aufzurichten, dazu
bedarf ich des Beiſtandes und thätiger Hingebung, nicht der Kritik.“
Die Güte, mit der er dies und Aehnliches ſagte, überwältigte mich.
Ich war gekommen in der Stimmung eines Frondeurs, dem es
ganz recht ſein würde, ungnädig weggeſchickt zu werden, und ging,
vollſtändig entwaffnet und gewonnen.
Auf meine Vorſtellungen, daß er Herr im Lande ſei und die
Macht beſitze, die bedrohte Ordnung überall herzuſtellen, ſagte er,
er müſſe ſich hüten, den Weg des formellen Rechtes zu verlaſſen;
wenn er mit der Berliner Verſammlung, dem Tagelöhnerparlamente,
wie man ſie damals in gewiſſen Kreiſen nannte, brechen wolle, ſo
müſſe er dazu das formelle Recht auf ſeiner Seite haben, ſonſt
ſtehe ſeine Sache auf ſchwachen Füßen, und die ganze Monarchie
laufe Gefahr, nicht blos von innern Bewegungen, ſondern auch
von außen her. Vielleicht hat er dabei an einen franzöſiſchen Krieg
unter Betheiligung deutſcher Aufſtände gedacht. Wahrſcheinlicher
aber iſt mir, daß er grade mir die Beſorgniß, ſeine deutſchen
[45/0072]
Geſpräch mit dem Könige. Seine Rechtsauffaſſung.
Ausſichten Preußens zu ſchädigen, in dem Moment, wo er meine
Dienſte gewinnen wollte, nicht ausſprach. Ich erwiderte, daß das
formale Recht und ſeine Grenzen in der vorliegenden Situation
verwiſcht erſchienen und von den Gegnern, ſobald ſie die Macht
hätten, ebenſo wenig reſpectirt werden würden, wie am 18. März,
ich ſähe die Situation mehr in dem Lichte von Krieg und Noth¬
wehr, als von rechtlichen Argumentationen. Der König beharrte
jedoch dabei, daß ſeine Stellung zu ſchwach werde, wenn er von
dem Rechtsboden abweiche, und der Eindruck iſt mir geblieben, daß
er dem von Radowitz bei ihm gepflegten Gedankengange, dem
ſchwarz-roth-goldnen, wie man damals ſagte, die Möglichkeit der
Herſtellung der Ordnung in Preußen zunächſt unterordnete.
Aus den zahlreichen Geſprächen, die auf jenes erſte folgten,
iſt mir das Wort des Königs erinnerlich: „Ich will den Kampf
gegen die Tendenzen der Nationalverſammlung durchführen, aber
wie die Sache heut liegt, ſo mag ich zwar von meinem Rechte
vollſtändig überzeugt ſein, es iſt aber nicht gewiß, daß Andre,
und daß ſchließlich die großen Maſſen es auch ſein werden: damit ich
deſſen gewiß werde, muß die Verſammlung ſich noch mehr und in
ſolchen Fragen in's Unrecht ſetzen, in denen mein Recht, mich mit Gewalt
zu wehren, nicht nur für mich, ſondern allgemein einleuchtend iſt.“
Meine Ueberzeugung, daß die Zweifel des Königs an ſeiner
Macht unbegründet ſeien, und daß es deshalb nur darauf an¬
komme, ob er an ſein Recht glaube, wenn er ſich gegen die Ueber¬
griffe der Verſammlung wehren wolle, konnte ich bei ihm nicht
zur Anerkennung bringen. Daß ſie richtig war, iſt demnächſt da¬
durch beſtätigt worden, daß den großen und kleinen Aufſtänden
gegenüber jede militäriſche Anordnung unbedenklich und mit Eifer
durchgeführt wurde, und zwar unter Umſtänden, wo die Bethätigung
des militäriſchen Gehorſams ſchon von Hauſe aus mit dem Nieder¬
werfen bereits vorhandenen bewaffneten Widerſtandes verbunden
war, während eine Auflöſung der Verſammlung, ſobald man ihre
Wirkſamkeit als ſtaatsgefährlich erkannte, in den Reihen der Truppen
[46/0073]
Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.
die Frage des Gehorſams gegen militäriſche Befehle nicht berührt
haben würde. Auch das Einrücken größerer Truppenmaſſen in
Berlin nach dem Zeughausſturme und ähnlichen Vorgängen würde
nicht blos von den Soldaten, ſondern auch von der Mehrheit der
Bevölkerung als dankenswerthe Ausübung eines zweifelloſen könig¬
lichen Rechts aufgefaßt worden ſein, wenn auch nicht von der
Minderheit, welche die Leitung übte; und auch wenn die Bürger¬
wehr ſich hätte widerſetzen wollen, ſo würde ſie bei den Truppen
nur den berechtigten Kampfeszorn geſteigert haben. Ich kann mir
kaum denken, daß der König im Sommer an ſeiner materiellen
Macht, der Revolution in Berlin ein Ende zu machen, Zweifel
gehabt haben ſollte, vermuthe vielmehr, daß Hintergedanken rege
waren, ob nicht die Berliner Verſammlung und der Friede mit
ihr und ihrem Rechtsboden unter irgend welchen Conſtellationen
direct oder indirect nützlich werden könne, ſei es in Combinationen
mit dem Frankfurter Parlamente oder gegen daſſelbe, ſei es, um
nach andern Seiten hin in der deutſchen Frage einen Druck auszu¬
üben, und ob der formale Bruch mit der preußiſchen Volksvertretung
die deutſchen Ausſichten compromittiren könne. Den Umzug in
den deutſchen Farben ſetze ich allerdings nicht auf Rechnung ſolcher
Neigungen des Königs; er war damals körperlich und geiſtig ſo
angegriffen, daß er Zumuthungen, die ihm mit Entſchiedenheit ge¬
macht wurden, wenig Widerſtand entgegenſetzte.
Bei meinem Verkehr in Sansſouci lernte ich die Perſonen
kennen, die das Vertrauen des Königs auch in politiſchen Dingen
beſaßen, und traf zuweilen in dem Cabinet mit ihnen zuſammen.
Es waren das beſonders die Generale Leopold von Gerlach und
von Rauch, ſpäter Riebuhr, der Cabinetsrath.
Rauch war praktiſcher, Gerlach in der Entſchließung über
actuelle Vorkommniſſe mehr durch geiſtreiche Geſammtauffaſſung
angekränkelt, eine edle Natur von hohem Schwung, doch frei von
dem Fanatismus ſeines Bruders, des Präſidenten Ludwig von
Gerlach, im gewöhnlichen Leben beſcheiden und hülflos wie ein
[47/0074]
Hintergedanken des Königs. Die Camarilla: Rauch und Gerlach.
Kind, in der Politik tapfer und hochfliegend, aber durch körperliches
Phlegma gehemmt. Ich erinnere mich, daß ich in Gegenwart beider
Brüder, des Präſidenten und des Generals, veranlaßt wurde, mich
über den ihnen gemachten Vorwurf des Unpraktiſchen zu erklären
und das in folgender Weiſe that: „Wenn wir drei hier aus dem
Fenſter einen Unfall auf der Straße geſchehn ſehn, ſo wird der
Herr Präſident daran eine geiſtreiche Betrachtung über unſern
Mangel an Glauben und die Unvollkommenheit unſrer Einrichtungen
knüpfen; der General wird genau das Richtige angeben, was unten
geſchehn müſſe, um zu helfen, aber ſitzen bleiben; ich würde der
Einzige ſein, der hinunter ginge oder Leute riefe, um zu helfen.“
So war der General der einflußreichſte Politiker in der Camarilla
Friedrich Wilhelms IV., ein vornehmer und ſelbſtloſer Charakter,
ein treuer Diener des Königs, aber geiſtig vielleicht ebenſo wie
körperlich durch das Schwergewicht ſeiner Perſon an der prompten
Ausführung ſeiner richtigen Gedanken behindert. An Tagen, wo
der König ungerecht oder ungnädig für ihn geweſen war, wurde
in der Abendandacht im Hauſe des Generals wohl das alte Kirchen¬
lied geſungen:
Verlaſſe Dich auf Fürſten nicht,
Sie ſind wie eine Wiege.
Wer heute Hoſianna ſpricht,
Ruft morgen crucifige.
Aber ſeine Hingebung für den König erlitt unter dieſem chriſt¬
lichen Erguß ſeiner Verſtimmung nicht die mindeſte Abſchwächung.
Auch für den ſeiner Meinung nach irrenden König ſetzte er ſich
voll mit Leib und Leben ein, wie er ſchließlich ſeinen Tod dadurch
faſt eigenwillig herbeiführte, daß er hinter der Leiche ſeines Königs
bei Wind und ſehr hoher Kälte ſtundenlang in bloßem Kopfe, den
Helm in der Hand, folgte. Dieſer letzten formalen Hingebung
des alten Dieners für die Leiche ſeines Herrn unterlag ſeine ſchon
länger angegriffene Geſundheit; er kam mit der Kopfroſe nach
Hauſe und ſtarb nach wenigen Tagen. Durch ſein Ende erinnert
[48/0075]
Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.
er an das Gefolge eines altgermaniſchen Fürſten, das freiwillig
mit ihm ſtirbt.
Neben Gerlach und vielleicht in höherem Grade war Rauch
ſeit 1848 von Einfluß auf den König. Sehr begabt, der fleiſch¬
gewordene geſunde Menſchenverſtand, tapfer und ehrlich, ohne
Schulbildung, mit den Tendenzen eines preußiſchen Generals von
der beſten Sorte, war er wiederholt als Militärbevollmächtigter in
Petersburg in der Diplomatie thätig geweſen. Einmal war Rauch
von Berlin in Sansſouci erſchienen mit dem mündlichen Auftrage
des Miniſterpräſidenten Grafen Brandenburg, von dem Könige die
Entſcheidung über eine Frage von Wichtigkeit zu erbitten. Als der
König, dem die Entſcheidung ſchwer wurde, nicht zum Entſchluß
kommen konnte, zog endlich Rauch die Uhr aus der Taſche und
ſagte mit einem Blick auf das Zifferblatt: „Jetzt ſind noch zwanzig
Minuten, bis mein Zug abgeht; da werden Ew. Majeſtät doch nun
befehlen müſſen, ob ich dem Grafen Brandenburg Ja ſagen ſoll
oder Nee, oder ob ich ihm melden ſoll, daß Ew. Majeſtät nich Ja
und nich Nee ſagen wollen.“ Dieſe Aeußerung kam heraus in
dem Tone der Gereiztheit, gedämpft durch die militäriſche Diſciplin,
als Ausdruck der Verſtimmung, die bei dem klaren, entſchiedenen
und durch die lange fruchtloſe Diſcuſſion ermüdeten General erklär¬
lich war. Der König ſagte: „Na, denn meinetwegen Ja“, worauf
Rauch ſich ſofort entfernte, um in beſchleunigter Gangart durch die
Stadt zum Bahnhof zu fahren. Nachdem der König eine Weile
ſchweigend dageſtanden hatte, wie wenn er die Folgen der wider¬
willig getroffenen Entſcheidung noch erwöge, wandte er ſich gegen
Gerlach und mich und ſagte: „Dieſer Rauch! Er kann nicht richtig
Deutſch ſprechen, aber er hat mehr geſunden Menſchenverſtand als
wir Alle,“ und darauf gegen Gerlach gewandt und das Zimmer
verlaſſend: „Klüger wie Sie iſt er immer ſchon geweſen.“ Ob der
König darin Recht hatte, laſſe ich dahingeſtellt; geiſtreicher war
Gerlach, praktiſcher Rauch.
[49/0076]
Die Camarilla. Auf der Suche nach einem Miniſterium.
IV.
Die Entwicklung der Dinge bot keine Gelegenheit, die Berliner
Verſammlung für die deutſche Sache nutzbar zu machen, während
ihre Uebergriffe wuchſen; es reifte daher der Gedanke, ſie nach
einem andern Orte zu verlegen, um ihre Mitglieder dem Drucke
der Einſchüchterung zu entziehn, eventuell ſie aufzulöſen. Damit
ſteigerte ſich die Schwierigkeit, ein Miniſterium zu Stande zu bringen,
welches dieſe Maßregel durchzuführen übernehmen würde. Schon
ſeit der Eröffnung der Verſammlung war es dem Könige nicht
leicht geworden, überhaupt Miniſter zu finden, beſonders aber ſolche,
welche auf ſeine ſich nicht immer gleichbleibenden Anſichten gefügig
eingingen, und deren furchtloſe Feſtigkeit zugleich die Bürgſchaft
gewährte, daß ſie bei einer entſcheidenden Wendung nicht verſagen
würden. Es ſind mir aus dem Frühjahre mehre verfehlte Ver¬
ſuche erinnerlich: Georg von Vincke antwortete auf meine Sondirung,
er ſei ein Mann der rothen Erde, zu Kritik und Oppoſition und
nicht zu einer Miniſterrolle veranlagt. Beckerath wollte die Bildung
eines Miniſteriums nur übernehmen, wenn die äußerſte Rechte ſich
ihm unbedingt hingebe und ihm den König ſicher mache. Männer,
welche in der Nationalverſammlung Einfluß hatten, wollten ſich
die Ausſicht nicht verderben, künftig, nach Herſtellung geordneter
Zuſtände, conſtitutionelle Majoritätsminiſter zu werden und zu
bleiben. Ich begegnete unter anderm bei Harkort, der als Handels¬
miniſter in das Auge gefaßt war, der Meinung, daß die Herſtellung
der Ordnung durch ein Fachminiſterium von Beamten und Militärs
bewirkt werden müſſe, ehe verfaſſungstreue Miniſter die Geſchäfte
übernehmen könnten; ſpäter ſei man bereit.
Die Abneigung, Miniſter zu werden, wurde verſtärkt durch
die Vorſtellung, daß perſönliche Gefahr damit verbunden ſein könne,
wie das Vorkommen körperlicher Mißhandlung conſervativer Ab¬
geordneter auf der Straße ſchon gezeigt habe. Nach den Ge¬
wöhnungen, welche die Straßenbevölkerung angenommen habe, und
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 4
[50/0077]
Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.
bei dem Einfluſſe, den Abgeordnete der äußerſten Linken auf ſie
beſäßen, müſſe man auf größere Ausſchreitungen gefaßt ſein, wenn
die Regirung dem demokratiſchen Andringen Widerſtand zu leiſten
und in feſtere Wege einzulenken verſuche.
Als der Graf Brandenburg, gleichgültig gegen ſolche Beſorg¬
niſſe, ſich bereit erklärt hatte, das Präſidium zu übernehmen, kam
es darauf an, ihm geeignete und genehme Collegen zu gewinnen.
In einer Liſte, welche dem Könige vorgelegt wurde, fand ſich auch
mein Name; wie mir der General Gerlach erzählte, hatte der König
dazu an den Rand geſchrieben: „Nur zu gebrauchen, wenn das
Bayonett ſchrankenlos waltet“ *). Der Graf Brandenburg ſelbſt
ſagte mir in Potsdam: „Ich habe die Sache übernommen, habe
aber kaum die Zeitungen geleſen, bin mit ſtaatsrechtlichen Fragen
unbekannt und kann nichts weiter thun, als meinen Kopf zu Markte
tragen. Ich brauche einen ‚Kornak‘, einen Mann, dem ich traue
und der mir ſagt, was ich thun kann. Ich gehe in die Sache wie
ein Kind in's Dunkel, und weiß Niemanden, als Otto Manteuffel
(Director im Miniſterium des Innern), der die Vorbildung und
zugleich mein perſönliches Vertrauen beſitzt, der aber noch Bedenken
hat. Wenn er will, ſo gehe ich morgen in die Verſammlung;
wenn er nicht will, ſo müſſen wir warten und einen Andern
finden. Fahren Sie nach Berlin hinüber und bewegen Sie Man¬
teuffel.“ Dies gelang, nachdem ich von 9 Uhr bis Mitternacht
in ihn eingeredet und es übernommen hatte, ſeine Frau in Pots¬
dam zu benachrichtigen, und die für die perſönliche Sicherheit der
Miniſter im Schauſpielhauſe und in deſſen Umgebung getroffenen
Maßregeln dargelegt hatte.
Am 9. November früh Morgens kam der zum Kriegsminiſter
ernannte General v. Strotha zu mir, weil ihn Brandenburg an mich
*)
Gerlach iſt zuverläſſiger als die Quelle, aus welcher der Graf Vitzthum
von Eckſtädt geſchöpft haben muß, wenn er — „Berlin und Wien“ S. 247 —
die Randbemerkung ſo giebt: „Rother Reactionär, riecht nach Blut, ſpäter
zu gebrauchen.“
[51/0078]
Miniſterium Brandenburg. Eintritt Manteuffels.
gewieſen hatte, um ſich die Situation klar machen zu laſſen. Ich that
das nach Möglichkeit und fragte: „Sind Sie bereit?“ Er antwortete
mit der Gegenfrage: „Welcher Anzug iſt beſtimmt?“ — „Civil,“
erwiderte ich. — „Das habe ich nicht,“ ſagte er. Ich beſorgte ihm
einen Lohndiener, und es wurde glücklich noch vor der feſtgeſetzten
Stunde ein Anzug aus einer Kleiderhandlung beſchafft. Für die
Sicherheit der Miniſter wurden mannigfache Vorſichtsmaßregeln ge¬
troffen. Zunächſt waren im Schauſpielhauſe ſelbſt außer einer
ſtarken Polizeitruppe ungefähr dreißig der beſten Schützen des Garde-
Jäger-Bataillons ſo untergebracht, daß ſie auf ein beſtimmtes Signal
im Saale und auf den Gallerien erſcheinen und mit ihren der
größten Genauigkeit ſichern Schüſſen die Miniſter decken konnten,
wenn ſie thätlich bedroht wurden. Es ließ ſich annehmen, daß
auf die erſten Schüſſe die Inſaſſen den Saal ſchnell räumen
würden. Entſprechende Vorkehrungen waren an den Fenſtern des
Schauſpielhauſes und in verſchiedenen Gebäuden am Gensdarmen¬
markt getroffen, in der Abſicht, den Rückzug der Miniſter aus dem
Schauſpielhauſe gegen etwaige feindliche Angriffe zu decken; man
nahm an, daß auch größere etwa dort verſammelte Maſſen ſich
zerſtreuen würden, ſobald aus verſchiedenen Richtungen Schüſſe
fielen.
Herr von Manteuffel machte noch darauf aufmerkſam, daß der
Eingang zum Schauſpielhauſe in der dort engen Charlottenſtraße
nicht gedeckt ſei; ich erbot mich, zu bewirken, daß die ihm gegen¬
über liegende Wohnung des beurlaubten hanöverſchen Geſandten,
Grafen Kniephauſen, von Militär beſetzt würde. Ich begab mich
noch in der Nacht zu dem Oberſten von Griesheim im Kriegs¬
miniſterium, der mit den militäriſchen Anordnungen betraut war,
ſtieß aber bei ihm auf Bedenken, ob man eine Geſandſchaft zu
ſolchem Zwecke benutzen dürfe. Ich ſuchte nun den hanöverſchen
Geſchäftsträger, Grafen Platen, auf, der das dem Könige von
Hanover gehörige Haus unter den Linden bewohnte. Derſelbe
war der Anſicht, daß das amtliche Domizil der Geſandſchaft zur
[52/0079]
Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.
Zeit in ſeiner Wohnung unter den Linden ſei, und ermächtigte mich,
dem Oberſten von Griesheim zu ſchreiben, daß er die Wohnung
„ſeines abweſenden Freundes“, des Grafen Kniephauſen, für poli¬
zeiliche Zwecke zur Verfügung ſtelle. Spät zu Bett gegangen,
wurde ich um 7 Uhr Morgens durch einen Boten Platens mit der
Bitte, ihn zu beſuchen, geweckt. Ich fand ihn ſehr erregt darüber,
daß eine Abtheilung von etwa 100 Mann im Hofe ſeiner Woh¬
nung, alſo grade dort, wo er den Sitz der Geſandſchaft bezeichnet
hatte, aufmarſchirt war. Griesheim hatte wahrſcheinlich den durch
meine Mittheilung veranlaßten Befehl irgend einem Beamten er¬
theilt, der das Mißverſtändniß angerichtet hatte. Ich ging zu ihm
und erwirkte den Befehl an den Führer der Abtheilung, die Kniep¬
hauſenſche Wohnung zu beſetzen, was denn auch geſchah, nachdem
es ſchon Tag geworden, während die Beſetzung der übrigen ge¬
wählten Häuſer in der Nacht heimlich erfolgt war. Vielleicht be¬
wirkte grade der zufällige Anſchein offner Entſchloſſenheit, daß
der Gensdarmenmarkt, als die Miniſter ſich in das Schauſpielhaus
begaben, ganz leer war.
Als Wrangel an der Spitze der Truppen eingezogen war (10. No¬
vember), verhandelte er mit der Bürgerwehr und bewog ſie zum
freiwilligen Abzuge. Ich hielt das für einen politiſchen Fehler; wenn
es zum kleinſten Gefecht gekommen wäre, ſo wäre Berlin nicht durch
Capitulation, ſondern gewaltſam eingenommen, und dann wäre die
politiſche Stellung der Regirung eine andre geweſen. Daß der
König die Nationalverſammlung nicht gleich auflöſte, ſondern auf
einige Zeit vertagte und nach Brandenburg verlegte und den Ver¬
ſuch machte, ob ſich dort eine Majorität finden würde, mit der ein
befriedigender Abſchluß zu erreichen war, beweiſt, daß in der poli¬
tiſchen Entwicklung, die dem Könige vorſchweben mochte, die
Rolle der Verſammlung auch damals noch nicht ausgeſpielt war.
Daß dieſe Rolle auf dem Gebiete der deutſchen Frage gedacht war,
dafür ſind mir einige Symptome erinnerlich. In Privatgeſprächen
der maßgebenden Politiker während der Vertagung der Verſamm¬
[53/0080]
Wrangels Einmarſch. Verlegung der Nationalverſammlung.
lung trat die deutſche Frage mehr in den Vordergrund als vorher,
und innerhalb des Miniſteriums wurden in dieſer Beziehung große
Hoffnungen auf den Sachſen von Carlowitz geſetzt, deſſen anerkannte
Beredſamkeit in deutſch-nationalem Sinne wirken würde. Wie der
Graf Brandenburg über die deutſche Sache dachte, darüber habe
ich damals von ihm unmittelbare Mittheilungen nicht erhalten. Er
gab nur ſeine Bereitwilligkeit zu erkennen, mit ſoldatiſchem Ge¬
horſam zu thun, was der König befehlen würde. Später in Erfurt
ſprach er ſich offner zu mir darüber aus.
[[54]/0081]
Drittes Kapitel.
Erfurt, Olmütz, Dresden.
I.
Der latente deutſche Gedanke Friedrich Wilhelms IV. trägt
mehr als ſeine Schwäche die Schuld an den Mißerfolgen unſrer
Politik nach 1848. Der König hoffte, das Wünſchenswerthe würde
kommen, ohne daß er ſeine legitimiſtiſchen Traditionen zu verletzen
brauchte. Wenn Preußen und der König garkeinen Wunſch nach
irgend etwas gehabt hätten, was ſie vor 1848 nicht beſaßen, ſei
es auch nur nach einer hiſtoriſchen mention honorable, wie es die
Reden von 1840 und 1842 vermuthen ließen; wenn der König
keine Ziele und Neigungen gehabt hätte, für deren Verfolgung eine
gewiſſe Popularität nützlich war: was hätte ihn dann abgehalten,
nachdem das Miniſterium Brandenburg feſten Fuß gefaßt, den
revolutionären Errungenſchaften im Innern Preußens in ähnlicher
Weiſe entgegenzutreten, wie dem badiſchen Aufſtande und dem
Widerſtande einzelner preußiſcher Provinzialſtädte? Der Verlauf
dieſer Erhebungen hatte auch denen, die es nicht wußten, gezeigt,
daß die militäriſchen Kräfte zuverläſſig waren; in Baden hatte ſo¬
gar die Landwehr aus Diſtricten, die für unſicher galten, ihre
Schuldigkeit nach Kräften gethan. Die Möglichkeit einer militäriſchen
Reaction, die Möglichkeit, wenn man einmal eine Verfaſſung
octroyirte, das zu Grunde gelegte belgiſche Formular ſchärfer, als
geſchehn iſt, im monarchiſchen Sinne zu amendiren, lag ohne Zweifel
[55/0082]
Urſache der Mißerfolge Preußens.
vor. Die Neigung, dieſe Möglichkeit auszunutzen, muß im Gemüthe
des Königs zurückgetreten ſein vor der Beſorgniß, dasjenige Maß
von Wohlwollen in nationaler und liberaler Richtung zu verlieren,
auf dem die Hoffnung beruhte, daß Preußen ohne Krieg und in
einer mit legitimiſtiſchen Vorſtellungen verträglichen Weiſe das Vor¬
gewicht in Deutſchland zufallen würde.
Dieſe Hoffnung oder Erwartung, die bis in die „Neue Aera“
hinein in Phraſen von dem deutſchen Berufe Preußens und von
moraliſchen Eroberungen einen ſchüchternen Ausdruck fand, beruhte
auf dem doppelten Irrthum, der vom März 1848 bis zum Früh¬
jahr des folgenden Jahres in Sansſouci wie in der Paulskirche
beſtimmend war: einer Unterſchätzung der Lebenskraft der deutſchen
Dynaſtien und ihrer Staaten, und einer Ueberſchätzung der Kräfte,
die man unter dem Wort Barrikade zuſammenfaſſen kann, ſo daß
darunter alle die Barrikade vorbereitenden Momente, Agitation
und Drohung mit dem Straßenkampfe, begriffen ſind. Nicht in
dieſem ſelbſt lag die Gefahr des Umſturzes, ſondern in der Furcht
davor. Die mehr oder weniger phäakiſchen Regirungen waren im
März, ehe ſie den Degen gezogen hatten, geſchlagen, theils durch
die Furcht vor dem Feinde, theils durch die innere Sympathie
ihrer Beamten mit demſelben. Immerhin wäre es für den König
von Preußen an der Spitze der Fürſten leichter geweſen, durch Aus¬
nutzung des Sieges der Truppen in Berlin ein deutſches Einheits¬
gebilde herzuſtellen, als es nachher der Paulskirche geworden iſt; ob
die Eigenthümlichkeit des Königs nicht eine ſolche Herſtellung auch
bei Feſthalten dieſes Sieges gehindert oder das hergeſtellte, wie
Bodelſchwingh im März fürchtete, wieder unſicher gemacht haben
würde, iſt allerdings ſchwer zu beurtheilen. In den Stimmungen
ſeiner letzten Lebensjahre, wie ſie auch aus den Aufzeichnungen
Leopolds v. Gerlach und aus andern Quellen erſichtlich ſind, ſteht
die urſprüngliche Abneigung gegen conſtitutionelle Einrichtungen, die
Ueberzeugung von der Nothwendigkeit eines größern Maßes freier
Bewegung der Königlichen Gewalt, als das in der preußiſchen Ver¬
[56/0083]
Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
faſſung gegebene, wieder im Vordergrunde. Der Gedanke, die
Verfaſſung durch einen „Königlichen Freibrief“ zu erſetzen, war in
der letzten Krankheit noch lebendig.
Die Frankfurter Verſammlung, in demſelben doppelten Irr¬
thum befangen, behandelte die dynaſtiſchen Fragen als über¬
wundenen Standpunkt, und mit der theoretiſchen Energie, welche
dem Deutſchen eigen iſt, auch in Betreff Preußens und Oeſtreichs.
Diejenigen Abgeordneten, welche in Frankfurt über die Stimmung
der preußiſchen Provinzen und der deutſch-öſtreichiſchen Länder
kundige Auskunft geben konnten, waren zum Theil intereſſirt bei
der Verſchweigung der Wahrheit; die Verſammlung täuſchte ſich,
ehrlich oder unehrlich, über die Thatſache, daß im Falle eines Wider¬
ſpruchs zwiſchen einem Frankfurter Reichstagsbeſchluß und einem
preußiſchen Königsbefehl der erſtere bei ſieben Achtel der preußiſchen
Bevölkerung leichter oder garnicht in's Gewicht fiel. Wer damals
in unſern Oſtprovinzen gelebt hat, wird heut noch die Erinnerung
haben, daß die Frankfurter Verhandlungen bei allen den Elementen,
in deren Hand die materielle Macht lag, bei allen denen, welche
in Conflictsfällen Waffen zu führen oder zu befehlen hatten, nicht
ſo ernſthaft aufgefaßt wurden, wie es nach der Würde der wiſſen¬
ſchaftlichen und parlamentariſchen Größen, die dort verſammelt
waren, hätte erwartet werden können. Und nicht nur in Preußen,
ſondern auch in den großen Mittelſtaaten hätte damals ein mon¬
archiſcher Befehl, der die Maſſe der Fäuſte dem Fürſten zu Hülfe
aufrief, falls er erfolgte, eine ausreichende Wirkung gehabt; nicht
überall in dem Maße, wie es in Preußen der Fall war, aber doch
in einem Maße, welches überall dem Bedürfniß materieller Polizei¬
gewalt genügt haben würde, wenn die Fürſten den Muth gehabt
hätten, Miniſter anzuſtellen, die ihre Sache feſt und offen ver¬
traten. Es war dies im Sommer 1848 in Preußen nicht der Fall
geweſen; ſobald aber im November der König ſich entſchloß, Mi¬
niſter zu ernennen, welche bereit waren, die Kronrechte ohne Rück¬
ſicht auf Parlamentsbeſchlüſſe zu vertreten, war der ganze Spuk
[57/0084]
Selbſttäuſchung der Frankfurter. Ablehnung der Kaiſerkrone.
verſchwunden und nur noch die Gefahr vorhanden, daß der Rück¬
ſchlag über das vernünftige Maß hinausgehn werde. In den
übrigen norddeutſchen Staaten kam es nicht einmal zu ſolchen Con¬
flicten, wie ſie das Miniſterium Brandenburg in einzelnen Pro¬
vinzialſtädten zu bekämpfen hatte. Auch in Baiern und Würtem¬
berg erwies ſich das Königthum trotz antiköniglicher Miniſter ſchlie߬
lich ſtärker als die Revolution.
Als der König am 3. April 1849 die Kaiſerkrone ablehnte,
aber aus dem Beſchluſſe der Frankfurter Verſammlung „ein An¬
recht“ entnahm, deſſen Werth er zu ſchätzen wiſſe, war er dazu
hauptſächlich bewogen durch den revolutionären oder doch parla¬
mentariſchen Urſprung des Anerbietens und durch den Mangel
eines ſtaatsrechtlichen Mandats des Frankfurter Parlaments bei
mangelnder Zuſtimmung der Dynaſtien. Aber auch wenn alle
dieſe Mängel nicht, oder doch in den Augen des Königs nicht,
vorhanden geweſen wären, ſo würde unter ihm eine Fortbildung
und Kräftigung der Reichs-Inſtitutionen, wie ſie unter Kaiſer Wil¬
helm ſtattgefunden hat, kaum zu erwarten geweſen ſein. Die Kriege,
welche der Letztere geführt hat, würden nicht ausgeblieben ſein,
nur würden ſie nach der Conſtituirung des Kaiſerthums, als Folge
derſelben, und nicht vorher, das Kaiſerthum vorbereitend und her¬
ſtellend, zu führen geweſen ſein. Ob Friedrich Wilhelm IV. zur
rechtzeitigen Führung derſelben hätte bewogen werden können, weiß
ich nicht; es war das ſchon ſchwierig bei ſeinem Herrn Bruder, in
dem die militäriſche Ader und das preußiſche Offiziersgefühl vor¬
wiegend waren.
Wenn ich die damaligen preußiſchen Zuſtände, perſönliche und
ſachliche, als nicht reif zur Uebernahme der Führung in Deutſch¬
land in Krieg und Frieden bezeichne, ſo will ich damit nicht geſagt
haben, daß ich damals die Vorausſicht davon mit derſelben Klar¬
heit gehabt habe, wie heut im Rückblick auf eine 40jährige ſeitdem
verfloſſene Entwicklung. Meine damalige Befriedigung über die
Ablehnung der Kaiſerkrone durch den König lag nicht in der vor¬
[58/0085]
Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
ſtehenden Beurtheilung ſeiner Perſon, eher in einer ſtärkern
Empfänglichkeit für das Preſtige der Preußiſchen Krone und ihres
Trägers, noch mehr aber in dem inſtinctiven Mißtrauen gegen die
Entwicklung ſeit den Barrikaden von 1848 und ihren parlamen¬
tariſchen Conſequenzen. Den letztern gegenüber war ich mit meinen
politiſchen Freunden unter dem Eindruck, daß die leitenden Männer
in Parlament und Preſſe das Programm „es muß alles ruinirt
werden“ zum Theil bewußt, zum größern Theile unbewußt för¬
derten und ausführten, und daß die vorhandenen Miniſter nicht
die Männer waren, welche die Bewegung leiten oder hemmen
konnten. Mein Standpunkt dazu unterſchied ſich damals nicht
weſentlich von dem noch heut in Kraft ſtehenden eines parlamen¬
tariſchen Fractionsmitgliedes, begründet auf Anhänglichkeit an
Freunde und Mißtrauen oder Feindſchaft gegen Gegner. Die
Ueberzeugung, daß der Gegner in Allem, was er vornimmt, im
beſten Falle beſchränkt, wahrſcheinlich aber böswillig und gewiſſenlos
iſt, und die Abneigung, mit den eignen Fractionsgenoſſen zu
diſſentiren und zu brechen, beherrſcht noch heut das Fractions¬
leben; und damals waren die Ueberzeugungen, auf denen dieſe dem
Staatsleben gefährlichen Erſcheinungen beruhn, ſehr viel lebhafter
und ehrlicher, als ſie heut ſind. Die Gegner kannten ſich damals
wenig, ſie haben ſeitdem 40 Jahre lang Gelegenheit gehabt, ſich
kennen zu lernen, da der Perſonalbeſtand der im Vordergrunde
ſtehenden Parteimänner ſich nur langſam und wenig zu ändern
pflegt. Man hielt ſich damals wirklich gegenſeitig für entweder
dumm oder ſchlecht, man hatte wirklich die Gefühle und Ueber¬
zeugungen, die man heutzutage behufs Einwirkung auf die Wähler
und auf den Monarchen zu haben vorgiebt, weil ſie zu dem Pro¬
gramm gehören, auf welches hin man in einer beſtimmten Fraction
Dienſt genommen hat, „eingeſprungen“ iſt, indem man an deren
Berechtigung geglaubt und ihren Führern vertraut hat. Das
politiſche Streberthum hat heut mehr Antheil an dem Beſtehn
und Verhalten der Fractionen als vor 40 Jahren; die Ueberzeu¬
[59/0086]
Fractionsleben ſonſt und jetzt. Dreikönigsbündniß.
gungen waren damals aufrichtiger und ungeſchulter, wenn auch die
Leidenſchaften, der Haß und die gegenſeitige Mißgunſt der Fractionen
und ihrer Führer, die Neigung, die Landesintereſſen den Fractions¬
intereſſen zu opfern, heut vielleicht ſtärker entwickelt ſind. En tout
cas le diable n'y perd rien. Byzantinismus und verlogene Spe¬
culation auf Liebhabereien des Königs wurden wohl in kleinen
höhern Kreiſen betrieben, aber bei den parlamentariſchen Fractionen
war der Wettlauf um die Gunſt des Hofes noch nicht im Gange;
der Glaube an die Macht des Königthums war irrthümlicher Weiſe
meiſt geringer als der an die eigne Bedeutung; man fürchtete
nichts mehr, als für ſervil oder für miniſteriell zu gelten. Die
Einen ſtrebten nach eigner Ueberzeugung das Königthum zu ſtärken
und zu ſtützen, die Andern glaubten, ihr und des Landes Wohl in
Bekämpfung und Schwächung des Königs zu finden; es liegt darin
ein Beweis, daß, wenn nicht die Macht, doch der Glaube an die
Macht des preußiſchen Königthums damals ſchwächer war als heut
zu Tage. Die Unterſchätzung der Macht der Krone erlitt auch durch
die Thatſache keine Aenderung, daß der perſönliche Wille eines nicht
ſehr willensſtarken Monarchen wie Friedrich Wilhelms IV. hinreichte,
der ganzen deutſchen Bewegung durch Ablehnung der Kaiſerkrone
die Spitze abzubrechen, und daß die ſporadiſchen Aufſtände, die
demnächſt für die Durchführung nationaler Wünſche ausbrachen,
von der Königlichen Gewalt mit Leichtigkeit unterdrückt wurden.
Die günſtige Situation, welche für Preußen in der kurzen
Zeit von der Niederlage des Fürſten Metternich in Wien bis zum
Rückzuge der Truppen aus Berlin beſtanden hatte, erneuerte ſich,
wenn auch in ſchwächern Umriſſen, dank der Wahrnehmung, daß
der König und ſein Heer nach allen Mißgriffen noch ſtark genug
waren, den Aufſtand in Dresden niederzuwerfen und das Drei-
Königsbündniß zu Stande zu bringen. Eine ſchnelle Ausnutzung
der Lage im nationalen Sinne war vielleicht möglich, ſetzte aber
klare und praktiſche Ziele und entſchloſſenes Handeln voraus. Beides
fehlte. Die günſtige Zeit ging verloren mit Erwägungen von
[60/0087]
Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
Einzelheiten der künftigen Verfaſſung, unter denen eine der breiteſten
Stellen die Frage von dem Geſandſchaftsrecht der deutſchen Fürſten
neben dem des Deutſchen Reiches einnahm 1). Ich habe damals in
den mir zugänglichen Kreiſen am Hofe und unter den Abgeordneten
die Anſicht vertreten, daß das Geſandſchaftsrecht nicht die Wichtig¬
keit habe, die man ihm beilegte, ſondern der Frage von dem Ein¬
fluſſe der einzelnen Bundesfürſten im Reiche oder im Auslande
untergeordnet ſei. Wäre der Einfluß eines ſolchen auf die Politik
gering, ſo würden ſeine Geſandſchaften im Auslande den einheit¬
lichen Eindruck des Reiches nicht abſchwächen können; bliebe ſein
Einfluß auf Krieg und Frieden, auf die politiſche und finanzielle
Leitung des Reiches oder auf die Entſchließungen fremder Höfe
ſtark genug, ſo gebe es kein Mittel, zu verhindern, daß fürſtliche
Correſpondenzen oder irgend welche mehr oder weniger diſtinguirte
Privatleute, bis in die Kategorie der internationalen Zahnärzte hinein,
die Träger politiſcher Verhandlungen würden.
Mir ſchien es damals nützlicher, anſtatt der theoretiſchen Er¬
örterungen über Verfaſſungsparagraphen die vorhandene lebens¬
kräftige preußiſche Militärmacht in den Vordergrund zu ſtellen, wie
es gegen den Aufſtand in Dresden geſchehn war und in den übrigen
außerpreußiſchen Staaten hätte geſchehn können. Die Dresdner Vor¬
gänge hatten gezeigt, daß in der ſächſiſchen Truppe Diſciplin und
Treue unerſchüttert waren, ſobald die preußiſche Verſtärkung die
militäriſche Lage haltbar machte. Ebenſo erwieſen ſich bei den Kämpfen
in Frankfurt die heſſiſche, in Baden die mecklenburgiſche Truppe
zuverläſſig, ſobald ſie überzeugt waren, daß eine bewußte Leitung
ſtattfand und einheitliche Befehle gegeben wurden, und ſobald man
ihnen nicht zumuthete, ſich angreifen zu laſſen und ſich nicht zu
wehren. Hätte man damals von Berlin aus die eigne Armee recht¬
zeitig und hinreichend verſtärkt und mit ihr die Führung auf mili¬
1)
Vgl. Bismarck's Aeußerung in der Reichstagsrede vom 8. März 1878,
Politiſche Reden VII 184 f.
[61/0088]
Bedenken und Hintergedanken.
täriſchem Gebiete ohne Hintergedanken übernommen, ſo weiß ich
nicht, was zu Zweifeln an einem günſtigen Erfolge hätte berech¬
tigen können. Die Situation war nicht ſo klar in allen Rechts-
und Gewiſſensfragen wie Anfangs März 1848, aber politiſch
immerhin nicht ungünſtig.
Wenn ich von Hintergedanken ſpreche, ſo meine ich damit den
Verzicht auf Beifall und Popularität bei verwandten Fürſtenhäuſern,
bei Parlamenten, Hiſtorikern und in der Tagespreſſe. Als öffent¬
liche Meinung imponirte damals die tägliche Strömung, die in
der Preſſe und den Parlamenten am lauteſten rauſcht, aber nicht
maßgebend iſt für die Volksſtimmung, von der es abhängt, ob die
Maſſe den auf regelmäßigem Wege von oben ergehenden Anforde¬
rungen noch Folge leiſtet. Die geiſtige Potenz der obern Zehn¬
tauſend in der Preſſe und auf der Tribüne iſt von einer zu
großen Mannigfaltigkeit ſich kreuzender Beſtrebungen und Kräfte
getragen und geleitet, als daß die Regirungen aus ihr die Richt¬
ſchnur für ihr Verhalten entnehmen könnten, ſo lange nicht die
Evangelien der Redner und Schriftſteller vermöge des Glaubens,
den ſie bei den Maſſen finden, die materiellen Kräfte, die ſich
„hart im Raume“ ſtoßen, zur Verfügung haben. Iſt dies der
Fall, ſo tritt vis major ein, mit der die Politik rechnen muß.
So lange dieſe, in der Regel nicht ſchnell eintretende Wirkung
nicht vorliegt, ſo lange nur das Geſchrei der rerum novarum cupidi
in größern Centren, das Emotionsbedürfniß der Preſſe und des
parlamentariſchen Lebens den Lärm machen, tritt für den Real¬
politiker die Betrachtung Coriolans über populäre Kundgebungen
in Kraft, wenn auch in ihr die Druckerſchwärze noch keine Er¬
wähnung findet. Die leitenden Kreiſe in Preußen ließen ſich aber
damals durch den Lärm der großen und kleinen Parlamente be¬
täuben, ohne deren Gewicht an dem Barometer zu meſſen, den
ihnen die Haltung der Mannſchaft in Reih und Glied oder der Ein¬
berufung gegenüber an die Hand gab. Zu der Täuſchung über
die realen Machtverhältniſſe, die ich damals bei Hofe und bei dem
[62/0089]
Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
Könige ſelbſt habe conſtatiren können, haben die Sympathien der
höhern Beamtenſchichten theils für die liberale, theils für die natio¬
nale Seite der Bewegung viel beigetragen — ein Element, das
ohne einen Impuls von oben wohl hemmend, aber nicht thatſächlich
entſcheidend in's Gewicht fallen konnte.
Gegenüber der Verſuchung, die in der Situation lag, hatte
der König ein Gefühl, welches ich dem Unbehagen vergleichen
möchte, von dem ich, obwohl ein großer Liebhaber des Schwimmens,
ergriffen wurde, wenn ich an einem kalten ſtürmiſchen Tage den
erſten Schritt in das Waſſer thun wollte. Seine Bedenken, ob die
Dinge reif ſeien, wurden unter anderm genährt durch die ge¬
ſchichtlichen Erörterungen, die er mit Radowitz pflog, nicht nur
über das ſächſiſche und hanöverſche Geſandſchaftsrecht, ſondern
auch über die Vertheilung der Sitze im „Reichstage“ zwiſchen Regi¬
renden und Mediatiſirten, zwiſchen Landesherrn und Perſonaliſten,
recipirten und nicht recipirten Grafen unter den verſchiedenen
Kategorien der Reichstagsmaſſe, wobei die Specialität des Freien
Standesherrn von Grote-Schauen zu unterſuchen war.
II.
Den militäriſchen Vorgängen ſtand ich damals weniger nahe
als ſpäter, glaube aber nicht zu irren, wenn ich annehme, daß für
die Truppenbewegungen zur Unterdrückung der Aufſtände in der
Pfalz und in Baden mehr Cadres und Stämme verwendet wurden
als rathſam und als erforderlich geweſen wäre, wenn man feld¬
mäßig mobile Truppen hätte marſchiren laſſen. Thatſache iſt,
daß mir der Kriegsminiſter zur Zeit der Olmützer Begegnung als
einen der zwingenden Gründe für den Frieden oder doch Aufſchub
des Krieges die Unmöglichkeit angab, den großen Theil der Armee
rechtzeitig oder überhaupt zu mobiliſiren, deſſen Stämme ſich in
Baden oder ſonſt außerhalb ihrer Stand- und Mobilmachungs¬
[63/0090]
Verzettelung der preußiſchen Truppen.
Bezirke unvollzählig befanden. Wenn wir im Frühjahr 1849 die
Möglichkeit einer kriegeriſchen Löſung im Auge behalten und unſre
Mobilmachungsfähigkeit durch Verwendung keiner andern als kriegs¬
bereiter Truppen intact erhalten hätten, ſo wäre die militäriſche
Kraft, über welche Friedrich Wilhelm IV. verfügte, ausreichend
geweſen, nicht nur jede aufſtändiſche Bewegung in und außer
Preußen niederzuſchlagen, ſondern die aufgeſtellten Streitkräfte
hätten zugleich das Mittel gewährt, uns 1850 auf die Löſung der
damaligen Hauptfragen in unverdächtiger Weiſe vorzubereiten, falls
ſie ſich zu einer militäriſchen Machtfrage zuſpitzten. Es fehlte
dem geiſtreichen Könige nicht an politiſcher Vorausſicht, aber an
Entſchluß, und ſein im Prinzip ſtarker Glaube an die eigne Macht¬
vollkommenheit hielt in concreten Fällen wohl gegen politiſche
Rathgeber Stand, aber nicht gegen finanzminiſterielle Bedenken.
Ich hatte ſchon damals das Vertrauen, daß die militäriſche
Kraft Preußens genügen werde, um alle Aufſtände zu überwältigen,
und daß die Ergebniſſe der Ueberwältigung zu Gunſten der Mon¬
archie und der nationalen Sache um ſo erheblicher ſein würden,
je größer der zu überwindende Widerſtand geweſen wäre, und
vollſtändig befriedigend, wenn alle Kräfte, von denen Widerſtand
zu erwarten war, in einem und demſelben Feldzuge überwunden
werden konnten. Während der Aufſtände in Baden und der Pfalz
war es eine Zeit lang zweifelhaft, wohin ein Theil der bairiſchen
Armee gravitiren würde. Ich erinnere mich, daß ich dem bairiſchen
Geſandten, Grafen Lerchenfeld, als er grade in dieſen kritiſchen
Tagen von mir Abſchied nahm, um nach München zu reiſen, ſagte:
„Gott gebe, daß auch Ihre Armee, ſo weit ſie unſicher iſt, offen
abfällt; dann wird der Kampf groß, aber ein entſcheidender werden,
der das Geſchwür heilt. Machen Sie mit dem unſichern Theil
Ihrer Truppen Frieden, ſo bleibt das Geſchwür unterköthig.“ Lerchen¬
feld, beſorgt und beſtürzt, nannte mich leichtſinnig. Ich ſchloß
das Geſpräch mit den Worten: „Seien Sie ſicher, wir reißen
Ihre und unſre Sache durch; je toller je beſſer.“ Er glaubte mir
[64/0091]
Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
nicht, aber meine Zuverſicht ermuthigte ihn doch, und ich glaube
noch heut, daß die Chancen für eine wünſchenswerthe Löſung der
damaligen Kriſis noch beſſer geworden wären, wenn vorher die
badiſche Revolution durch den damals befürchteten Abfall auch
eines Theils der bairiſchen und würtembergiſchen Truppen ver¬
ſtärkt worden wäre. Freilich würden ſie auch dann vielleicht un¬
benutzt geblieben ſein.
Ich laſſe unentſchieden, ob an der Halbheit und Schüchternheit
der damals den ernſten Gefahren gegenüber ergriffenen Maßregeln
nur finanzielle Miniſter-Aengſtlichkeiten oder dynaſtiſche Gewiſſens¬
bedenken und Unentſchloſſenheit an höchſter Stelle Schuld waren,
oder ob in amtlichen Kreiſen eine ähnliche Sorge mitwirkte wie
die, welche in den Märztagen bei Bodelſchwingh und Andern die
richtige Löſung verhinderte, nämlich die Befürchtung, daß der König
in dem Maße, in dem er ſich wieder mächtig und ſorgenfrei fühlen
würde, auch eine abſolutiſtiſche Richtung einſchlagen könnte. Ich
erinnere mich, dieſe Beſorgniß bei höhern Beamten und in
liberalen Hofkreiſen wahrgenommen zu haben.
Unbeantwortet iſt die Frage geblieben, ob der Einfluß des
Generals von Radowitz aus katholiſirenden Gründen in einer auf
den König wirkſamen Geſtalt verwendet worden iſt, um das
evangeliſche Preußen an der Wahrnehmung der günſtigen Gelegen¬
heit zu hindern und den König über dieſelbe hinweg zu täuſchen.
Ich weiß heut noch nicht, ob er ein katholiſirender Gegner Preu¬
ßens war oder nur beſtrebt, ſeine Stellung bei dem Könige zu
halten *) . Gewiß iſt, daß er den geſchickten Garderobier der
*) Der General von Gerlach hat im Auguſt 1850 niedergeſchrieben
(Denkwürdigkeiten I 514):
„Die Verehrung des Königs für Radowitz beruht auf zwei Dingen:
1) ſeinem ſcheinbar ſcharf logiſch-mathematiſchen Raiſonnement, bei dem ſeine
gedankenloſe Indifferenz es ihm möglich macht, jeden Widerſpruch mit dem
Könige zu vermeiden. Nun ſieht der König in dieſer ſeinem Ideengange ganz
entgegenſetzten Denkart die Probe für das Exempel, was er ſich zuſammen¬
[65/0092]
Radowitz als Garderobier der Phantaſie Friedrich Wilhelms IV.
mittelalterlichen Phantaſie des Königs machte und dazu beitrug,
daß der König über hiſtoriſche Formfragen und reichsgeſchichtliche
Erinnerungen die Gelegenheiten zu praktiſchem Eingreifen in die
Entwicklung der Gegenwart verſäumte. Das tempus utile für
Einrichtung des Dreikönigsbundes wurde dilatoriſch mit neben¬
ſächlichen Formfragen ausgefüllt, bis Oeſtreich wieder ſtark genug
war, um Sachſen und Hanover zum Rücktritt zu vermögen, ſo
daß beide Mitbegründer dieſes Dreibundes in Erfurt ausfielen.
Während des Erfurter Parlaments, in einer von dem General von
Pfuel geladenen Geſellſchaft, kamen vertrauliche Nachrichten einiger
Abgeordneten zur Sprache über die Stärke der öſtreichiſchen Armee,
die ſich in Böhmen ſammelte und dem Parlament als Gegen¬
gewicht und Correctiv dienen ſollte. Es wurden verſchiedene Zahlen,
80000 und 130000 Mann angegeben. Radowitz hörte eine Zeit
lang ruhig zu und ſagte dann mit dem ihm eignen Ausdruck
unwiderleglicher Gewißheit auf ſeinen regelmäßigen Zügen in ent¬
ſcheidendem Tone: „Oeſtreich hat in Böhmen 28254 Mann und
7132 Pferde.“ Die Tauſende, die er angab, ſind mir obiter in
Erinnerung, die übrigen Ziffern ſetze ich nach Gutdünken hinzu,
nur um die erdrückende Genauigkeit der Angaben des Generals
anſchaulich zu machen. Natürlich brachten dieſe Zahlen aus dem
Munde des amtlichen und competenten Vertreters der preußiſchen
Regirung einſtweilen jede abweichende Meinung zum Schweigen.
Wie ſtark die öſtreichiſche Armee im Frühjahr 1850 in Böhmen
geweſen iſt, wird heut wohl feſtſtehn; daß ſie zur Olmützer Zeit er¬
heblich mehr als 100000 Mann betrug, habe ich annehmen müſſen
*)
*) gerechnet, und hält ſich ſo ſeiner Sache gewiß. 2) Der König hält ſeine
Miniſter und auch mich für Rindvieh, ſchon darum, weil jene mit ihm currente
und praktiſche Geſchäfte abmachen müſſen, welche nie ſeinen Ideen entſprechen.
Er traut ſich nicht die Fähigkeit zu, dieſe Miniſter ſich folgſam zu machen, auch
nicht die, andre zu finden, er giebt alſo dieſen Weg auf und glaubt, in Radowitz
einen gefunden zu haben, von Deutſchland aus Preußen zu reſtauriren, wie
das Radowitz in ,Deutſchland und Friedrich Wilhelm IV.‘ geradezu eingeſteht.“
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 5
[66/0093]
Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
nach den vertraulichen Mittheilungen, die mir der Kriegsminiſter
im November deſſelben Jahres machte.
Die nähere Berührung, in welche ich in Erfurt mit dem Grafen
Brandenburg trat, ließ mich erkennen, daß ſein preußiſcher Patrio¬
tismus vorwiegend von den Erinnerungen an 1812 und 1813
zehrte und ſchon deshalb von deutſchem Nationalgefühl durchſetzt
war. Entſcheidend blieb indeß das dynaſtiſche und boruſſiſche
Gefühl und der Gedanke einer Machtvergrößerung Preußens. Er
hatte von dem Könige, der ſchon damals auf ſeine Weiſe an meiner
politiſchen Erziehung arbeitete, den Auftrag erhalten, meinen
etwaigen Einfluß in der Fraction der äußerſten Rechten für die
Erfurter Politik zu gewinnen, und verſuchte das, indem er mir
auf einem einſamen Spaziergange zwiſchen der Stadt und dem
Steigerwalde ſagte: „Was kann bei der ganzen Sache Preußen für
Gefahr laufen? Wir nehmen ruhig an, was uns an Verſtärkung
geboten wird, ‚Viel oder Wenig‛, unter einſtweiligem Verzichte auf
das, was uns nicht geboten wird. Ob wir uns die Verfaſſungs¬
beſtimmungen, die der König mit in den Kauf zu nehmen hat,
auf die Dauer gefallen laſſen können, das kann nur die Erfahrung
lehren. Geht es nicht, ‚ſo ziehn wir den Degen und jagen die
Kerls zum Teufel‘.“ Ich kann nicht leugnen, daß dieſer mili¬
täriſche Schluß ſeiner Auseinanderſetzung mir einen ſehr gewinnen¬
den Eindruck machte, hatte aber meine Zweifel, ob die Allerhöchſte
Entſchließung im entſcheidenden Augenblicke nicht mehr von andern
Einflüſſen abhängen würde als von dieſem ritterlichen Generale.
Sein tragiſches Ende hat meine Zweifel beſtätigt 1).
Auch Herr von Manteuffel war von dem Könige zu dem Ver¬
ſuche veranlaßt worden, die preußiſche äußerſte Rechte für Unter¬
ſtützung der Regirungspolitik zu gewinnen und in dieſem Sinne
1)
Nach Sybel II 3 f. iſt die Erzählung, Brandenburg ſei an „gebrochenem
Herzen“ über die ihm in Warſchau zu Theil gewordene übermüthige Behand¬
lung und die ihm aufgezwungene friedliche Politik geſtorben, gegenüber den
aktenmäßigen Feſtſtellungen als legendär zu bezeichnen.
[67/0094]
Brandenburg für die Erfurter Politik. H. v. Gagern.
eine Verſtändigung zwiſchen uns und der Gagern'ſchen Partei
anzubahnen. Er that das in der Weiſe, daß er Gagern und mich
allein zu Tiſch einlud und uns beide, während wir noch bei der
Flaſche ſaßen, allein ließ, ohne uns eine vermittelnde oder ein¬
leitende Andeutung zu hinterlaſſen. Gagern wiederholte mir, nur
minder genau und verſtändlich, was uns als Programm ſeiner
Partei und etwas abgemindert als Regirungsvorlage bekannt war.
Er ſprach, ohne mich anzublicken, ſchräg weg gegen den Himmel
ſehend. Auf meine Aeußerung, wir royaliſtiſche Preußen befürch¬
teten in erſter Linie, daß mit dieſer Verfaſſung die monarchiſche
Gewalt nicht ſtark genug bleiben werde, verſank er nach der langen
und declamatoriſchen Darlegung in ein geringſchätziges Schweigen,
was den Eindruck machte, den man mit Roma locuta est über¬
ſetzen kann. Als Manteuffel wieder eintrat, hatten wir mehre
Minuten ſchweigend geſeſſen, ich, weil ich Gagern's Erwiderung
erwartete, er, weil er in der Erinnerung an ſeine Frankfurter
Stellung es unter ſeiner Würde hielt, mit einem preußiſchen Land¬
junker anders als maßgebend zu verhandeln. Er war eben mehr
zum parlamentariſchen Redner und Präſidenten als zum politiſchen
Geſchäftsmann veranlagt und hatte ſich in das Bewußtſein eines
Jupiter tonans hineingelebt. Nachdem er ſich entfernt hatte, fragte
Manteuffel mich, was er geſagt habe. „Er hat mir eine Rede
gehalten, als ob ich eine Volksverſammlung wäre,“ antwortete ich.
Es iſt merkwürdig, daß in den beiden Familien, welche da¬
mals in Deutſchland und in Preußen den nationalen Liberalismus
vertraten, Gagern und Auerswald, je drei Brüder vorhanden
waren, unter denen je ein General, daß dieſe beiden Generale die
praktiſcheren Politiker unter ihren Brüdern waren und beide in
Folge der revolutionären Bewegungen ermordet wurden, deren
Entwicklung jeder von ihnen in ſeinem Wirkungskreiſe in gutem
patriotiſchen Glauben gefördert hatte. Der General von Auers¬
wald, der am 18. September 1848 bei Frankfurt ermordet wurde,
wie man ſagt, weil er für Radowitz gehalten wurde, hatte ſich zur
[68/0095]
Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
Zeit des Erſten Vereinigten Landtags gerühmt, daß er als Oberſt
eines Kavallerie-Regiments hunderte von Meilen zu Pferde zurück¬
gelegt habe, um oppoſitionelle Wahlen der Bauern zu fördern 1).
Im November 1850 wurde ich gleichzeitig als Landwehr-
Offizier zu meinem Regimente und als Abgeordneter zu der be¬
vorſtehenden Kammerſeſſion einberufen 2). Auf dem Wege über
Berlin zu dem Marſchquartier des Regiments meldete ich mich
bei dem Kriegsminiſter von Stockhauſen, der mir perſönlich be¬
freundet und für kleine perſönliche Dienſte dankbar war. Nach¬
dem ich den Widerſtand des alten Portiers überwunden und vor¬
gelaſſen war, gab ich meiner durch die Einberufung und den Ton
der Oeſtreicher etwas erregten kriegeriſchen Stimmung Ausdruck.
Der Miniſter, ein alter, ſchneidiger Soldat, deſſen moraliſcher und
phyſiſcher Tapferkeit ich ſicher war, ſagte mir in der Hauptſache
Folgendes:
„Wir müſſen für den Augenblick den Bruch nach Möglichkeit
vermeiden Wir haben keine Macht, welche hinreichte, die Oeſt¬
reicher, auch wenn ſie ohne ſächſiſche Unterſtützung bei uns ein¬
brechen, aufzuhalten. Wir müſſen ihnen Berlin preisgeben und
1)
General Friedrich von Gagern wurde bekanntlich am 20. April 1848
von den Kugeln indiſcher Freiſchärler bei Kandern getödtet, als er von einer
erfolgloſen Unterredung mit Hecker zu ſeiner Truppe zurückritt.
2)
Nach einer Randbemerkung im Manuſkripte beabſichtigte Fürſt Bis¬
marck an dieſer Stelle ein Erlebniß einzuſchalten, deſſen er wiederholt in ſeinen
Tiſchgeſprächen gedacht hat. Ich gebe die Erzählung, wie ſie mir im Gedächtniß
haftet. Als Bismarck ſich mit der Einberufungsordre in der Taſche auf dem
Wege nach Berlin befand, ſtieg ein pommerſcher Schulze, des Namens Stranzke,
zu ihm in den Poſtwagen. Das Geſpräch lenkte ſich ſelbſtverſtändlich bald auf
die politiſchen Ereigniſſe. Als Stranzke von der Einberufungsordre hörte,
fragte er ganz naiv: „Wo ſteiht de Franzos?“ und war ſichtlich enttäuſcht, als
ihm Herr v. Bismarck mittheilte, daß es diesmal nicht gegen die Franzoſen,
ſondern gegen die Oeſtreicher gehn werde. „Das ſollte mir doch leid thun,
wenn wir auf die ,weißen Collets' ſchießen ſollten,“ meinte er, „und nicht
auf die Hundsfötter von Franzoſen.“ So lebendig lebte in ihm die Er¬
innerung an die Leidenszeit Preußens nach der Niederlage von Jena und an
die preußiſch-öſtreichiſche Waffenbrüderſchaft von 1813/14.
[69/0096]
Mangelnde Kriegsbereitſchaft Preußens.
in zwei Centren außerhalb der Hauptſtadt, etwa in Danzig und
in Weſtfalen, mobiliſiren; vorwärts Berlin können wir erſt in
14 Tagen etwa 70000 Mann haben, und auch die würden
nicht reichen gegen die Streitkräfte, die Oeſtreich jetzt ſchon gegen
uns in Bereitſchaft hat.“ Es ſei, fuhr er fort, vor Allem nöthig,
wenn wir ſchlagen wollten, Zeit zu gewinnen, und deshalb zu
wünſchen, daß die bevorſtehenden Verhandlungen im Abgeordneten¬
hauſe nicht den Bruch beſchleunigten durch Erörterungen und Be¬
ſchlüſſe, wie man ſich deren nach den herrſchenden Stimmen in der
Preſſe verſehn müſſe. Er bäte mich daher, in Berlin zu bleiben und
auf die bereits anweſenden und nächſtens eintreffenden befreun¬
deten Abgeordneten vertraulich im Sinne der Mäßigung einzu¬
wirken. Er klagte über die Verzettelung der Stämme, die in ihrer
Friedensformation ausgerückt und verwendet wären und ſich nun
fern von ihren Erſatzbezirken und Zeughäuſern befänden, theils im
Inlande, zum großen Theil aber im Südweſten Deutſchlands, alſo
in Oertlichkeiten, wo eine ſchleunige Mobilmachung auf Kriegsfuß
ſich ſchwer ausführen laſſe 1).
Die badiſchen Truppen hatte man damals auf wenig gang¬
baren Wegen mit Benutzung des braunſchweigiſchen Weſerdiſtricts
nach Preußen kommen laſſen — ein Beweis von der Aengſtlichkeit,
mit welcher man damals die Gebietsgrenzen der Bundesfürſten
reſpectirte, während ſonſtige Attribute ihrer Landeshoheit in den
Verfaſſungsentwürfen für das Reich und den Dreikönigsbund mit
Leichtigkeit ignorirt oder abgeſchafft wurden. Man ging in den
Entwürfen bis nahe an die Mediatiſirung, aber man wagte nicht,
ein Marſchquartier außerhalb der vertragsmäßig vorhandenen
Etappenſtraßen zu beanſpruchen. Erſt bei Ausbruch des däniſchen
Krieges 1864 wurde in Schwartau mit dieſer ſchüchternen Tradi¬
1) Vgl. die Reichstagsrede Bismarck's vom 24. Januar 1882, Politiſche
Reden IX 234; dieſe Mittheilungen geben den Schlüſſel zum richtigen Ver¬
ſtändniß der Rede vom 3. December 1850.
[70/0097]
Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
tion gebrochen und der niedergelaſſene oldenburgiſche Schlagbaum
von den preußiſchen Truppen beſeitigt.
Die Erwägungen eines ſachkundigen und ehrliebenden Generals,
wie Stockhauſen, konnte ich einer Kritik nicht unterziehn und ver¬
mag das auch heut noch nicht. Die Schuld an unſrer militäri¬
ſchen Gebundenheit, die er mir ſchilderte, lag nicht an ihm, ſondern
an der Planloſigkeit, mit der unſre Politik auf militäriſchem Ge¬
biete ſowohl wie auf diplomatiſchem in und ſeit den Märztagen
mit einer Miſchung von Leichtfertigkeit und Knauſerei geleitet
worden war. Auf militäriſchem namentlich war ſie von der Art,
daß man nach den getroffenen Maßregeln vorausſetzen muß, daß
eine kriegeriſche oder auch nur militäriſche Löſung der ſchwebenden
Fragen in letzter Inſtanz in Berlin überhaupt nicht in Erwägung
gezogen wurde. Man war zu ſehr mit öffentlicher Meinung, Reden,
Zeitungen und Verfaſſungsmacherei präoccupirt, um auf dem Gebiete
der auswärtigen, ſelbſt nur der außerpreußiſchen deutſchen Politik
zu feſten Abſichten und praktiſchen Zielen gelangen zu können. Stock¬
hauſen war nicht im Stande, die Unterlaſſungsſünden und die
Planloſigkeit unſrer Politik durch plötzliche militäriſche Leiſtungen
wieder gut zu machen, und gerieth ſo in eine Situation, die ſelbſt
der politiſche Leiter des Miniſteriums, Graf Brandenburg, nicht
für möglich gehalten hatte. Denn derſelbe erlag der Enttäuſchung,
welche ſein hohes patriotiſches Ehrgefühl in den letzten Tagen
ſeines Lebens erlitten hatte 1). Es iſt Unrecht, Stockhauſen der
Kleinmüthigkeit anzuklagen, und ich habe Grund zu glauben, daß
auch König Wilhelm I. zu der Zeit, da ich ſein Miniſter wurde,
meine Auffaſſung bezüglich der militäriſchen Situation im No¬
vember 1850 theilte. Wie dem auch ſei, nur fehlte damals jede
Unterlage zu einer Kritik, die ich als conſervativer Abgeordneter
einem Miniſter auf militäriſchem Gebiete, als Landwehr-Lieutenant
dem General gegenüber hätte ausüben können.
1)
S. o. S. 66 Anm. 1.
[71/0098]
Preußens militäriſche Gebundenheit. Rede vom 3. December.
Stockhauſen übernahm es, mein in der Lauſitz liegendes Regi¬
ment zu benachrichtigen, daß er dem Lieutenant von Bismarck be¬
fohlen habe, in Berlin zu bleiben. Ich begab mich zunächſt zu
meinem Landtagscollegen Juſtizrath Geppert, der damals an
der Spitze zwar nicht meiner Fraction, aber doch derjenigen Zahl¬
reichen ſtand, welche man das rechte Centrum hätte nennen können,
und die zur Unterſtützung der Regirung geneigt waren, aber die
energiſche Wahrnehmung der nationalen Aufgabe Preußens nicht
nur prinzipiell, ſondern auch durch ſofortige militäriſche Bethätigung
für angezeigt hielten. Ich ſtieß bei ihm in erſter Linie auf parla¬
mentariſche Anſichten, die mit dem Programme des Kriegsminiſters
nicht übereinſtimmten, mußte mich alſo bemühn, ihn von einer
Auffaſſung abzubringen, die ich ſelbſt vor meiner Unterredung mit
Stockhauſen in der Hauptſache getheilt hatte, und die man als
natürliches Erzeugniß eines verletzten nationalen oder preußiſch-
militäriſchen Ehrgefühls bezeichnen kann. Ich erinnere mich, daß
unſre Beſprechungen von langer Dauer waren und wiederholt
werden mußten. Ihre Wirkung auf die Fractionen der Rechten
läßt ſich aus der Adreßdebatte entnehmen. Ich ſelbſt habe am
3. December meine damalige Ueberzeugung in einer Rede aus¬
geſprochen, der die nachſtehenden Sätze entnommen ſind 1):
„Das preußiſche Volk hat ſich, wie uns Allen bekannt iſt, auf
den Ruf ſeines Königs einmüthig erhoben, es hat ſich in ver¬
trauensvollem Gehorſam erhoben, es hat ſich erhoben, um gleich
ſeinen Vätern die Schlachten der Könige von Preußen zu ſchlagen,
ehe es wußte, und, meine Herrn, merken Sie das wohl, ehe es
wußte, was in dieſen Schlachten erkämpft werden ſollte; das wußte
vielleicht Niemand, der zur Landwehr abging.
Ich hatte gehofft, daß ich dieſes Gefühl der Einmüthigkeit
und des Vertrauens wiederfinden würde in den Kreiſen der Landes¬
vertretung, in den engern Kreiſen, in denen die Zügel der Re¬
1)
Politiſche Reden l 261 ff.
[72/0099]
Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
girung auslaufen. Ein kurzer Aufenthalt in Berlin, ein flüchtiger
Blick in das hieſige Treiben hat mir gezeigt, daß ich mich geirrt
habe. Der Adreßentwurf nennt dieſe Zeit eine große; ich habe
hier nichts Großes gefunden als perſönliche Ehrſucht, nichts Großes
als Mißtrauen, nichts Großes als Parteihaß. Das ſind drei
Größen, die in meinem Urtheile dieſe Zeit zu einer kleinlichen
ſtempeln und dem Vaterlandsfreunde einen trüben Blick in unſre
Zukunft gewähren. Der Mangel an Einigkeit in den Kreiſen, die
ich andeutete, wird in dem Adreßentwurfe locker verdeckt durch große
Worte, bei denen ſich Jeder das Seine denkt. Von dem Ver¬
trauen, das das Land beſeelt, von dem hingebenden Vertrauen,
gegründet auf die Anhänglichkeit an Seine Majeſtät den König,
gegründet auf die Erfahrung, daß das Land mit dem Miniſterium,
welches ihm zwei Jahre lang vorſteht, gut gefahren iſt, habe ich
in der Adreſſe und in ihren Amendements nichts geſpürt. Ich
hätte dies um ſo nöthiger gefunden, als es mir Bedürfniß ſchien,
daß der Eindruck, den die einmüthige Erhebung des Landes in
Europa gemacht hat, gehoben und gekräftigt werde durch die Ein¬
heit derer, die nicht der Wehrkraft angehören, in dem Augenblicke,
wo uns unſre Nachbarn in Waffen gegenüberſtehn, wo wir in
Waffen nach unſern Grenzen eilen, in einem Augenblicke, wo ein
Geiſt des Vertrauens ſelbſt in ſolchen herrſcht, denen er ſonſt nicht
angebracht ſchien; in einem Augenblicke, wo jede Frage der Adreſſe,
welche die auswärtige Politik berührt, Krieg oder Frieden in ihrem
Schoße birgt; und, meine Herrn, welchen Krieg? Keinen Feldzug
einzelner Regimenter nach Schleswig oder Baden, keine militäriſche
Promenade durch unruhige Provinzen, ſondern einen Krieg in
großem Maßſtabe gegen zwei unter den drei großen Continental¬
mächten, während die dritte beuteluſtig an unſern Grenzen rüſtet
und ſehr wohl weiß, daß im Dome zu Köln das Kleinod zu finden
iſt, welches geeignet wäre, die franzöſiſche Revolution zu ſchließen
und die dortigen Machthaber zu befeſtigen, nämlich die franzöſiſche
Kaiſerkrone. ...
[73/0100]
Rede vom 3. December 1850.
Es iſt leicht für einen Staatsmann, ſei es in dem Cabinete
oder in der Kammer, mit dem populären Winde in die Kriegs¬
trompete zu ſtoßen und ſich dabei an ſeinem Kaminfeuer zu wärmen
oder von dieſer Tribüne donnernde Reden zu halten, und es dem
Musketier, der auf dem Schnee verblutet, zu überlaſſen, ob ſein
Syſtem Sieg und Ruhm erwirbt oder nicht. Es iſt nichts leichter
als das, aber wehe dem Staatsmann, der ſich in dieſer Zeit nicht
nach einem Grunde zum Kriege umſieht, der auch nach dem Kriege
noch ſtichhaltig iſt. ...
Die preußiſche Ehre beſteht nach meiner Ueberzeugung nicht
darin, daß Preußen überall in Deutſchland den Don Quixote ſpiele
für gekränkte Kammer-Celebritäten, welche ihre locale Verfaſſung
für gefährdet halten. Ich ſuche die preußiſche Ehre darin, daß
Preußen vor Allem ſich von jeder ſchmachvollen Verbindung mit
der Demokratie entfernt halte, daß Preußen in der vorliegenden
wie in allen andern Fragen nicht zugebe, daß in Deutſchland
etwas geſchehe ohne Preußens Einwilligung, daß dasjenige, was
Preußen und Oeſtreich nach gemeinſchaftlicher unabhängiger Er¬
wägung für vernünftig und politiſch richtig halten, durch die beiden
gleichberechtigten Schutzmächte Deutſchlands gemeinſchaftlich aus¬
geführt werde. ...
Die Hauptfrage, die Krieg und Frieden birgt, die Geſtaltung
Deutſchlands, die Regelung der Verhältniſſe zwiſchen Preußen und
Oeſtreich und der Verhältniſſe von Preußen und Oeſtreich zu
den kleinern Staaten, ſoll in wenigen Tagen der Gegenſtand der
freien Conferenzen werden, kann alſo jetzt nicht Gegenſtand eines
Krieges ſein. Wer den Krieg durchaus will, den vertröſte ich
darauf, daß er in den freien Conferenzen jederzeit zu finden
iſt: in vier oder ſechs Wochen, wenn man ihn haben will. Ich
bin weit davon entfernt, in einem ſo wichtigen Augenblicke, wie
dieſer iſt, die Handlungsweiſe der Regirung durch Rathgeben
hemmen zu wollen. Wenn ich dem Miniſterium gegenüber einen
Wunſch ausſprechen wollte, ſo wäre es der, daß wir nicht eher
[74/0101]
Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
entwaffnen, als bis die freien Conferenzen ein poſitives Reſultat
gegeben haben; dann bleibt es noch immer Zeit, einen Krieg
zu führen, wenn wir ihn wirklich mit Ehren nicht vermeiden
können oder nicht vermeiden wollen.
Wie in der Union die deutſche Einheit geſucht werden ſoll,
vermag ich nicht zu verſtehn; es iſt eine ſonderbare Einheit, die
von Hauſe aus verlangt, im Intereſſe dieſes Sonderbundes einſt¬
weilen unſre deutſchen Landsleute im Süden zu erſchießen und
zu erſtechen; die die deutſche Ehre darin findet, daß der Schwer¬
punkt aller deutſchen Fragen nothwendig nach Warſchau und Paris
fällt. Denken Sie ſich zwei Theile Deutſchlands einander in Waffen
gegenüber, deren Machtverſchiedenheit nicht in dem Grade bedeutend
iſt, daß nicht eine Parteinahme auf einer Seite, auch von einer
geringern Macht als Rußland und Frankreich, ein entſcheidendes
Gewicht in die Wagſchale legen könnte, und ich begreife nicht, mit
welchem Recht Jemand, der ein ſolches Verhältniß ſelbſt herbei¬
führen will, ſich darüber beklagen darf, daß der Schwerpunkt der
Entſcheidung unter ſolchen Umſtänden nach dem Auslande fällt.“
Mein leitender Gedanke bei meiner Rede war, im Sinne der
Ueberzeugung des Kriegsminiſters für den Aufſchub des Krieges zu
wirken, bis wir gerüſtet ſein würden. In ſeiner Klarheit konnte
ich aber den Gedanken nicht öffentlich ausſprechen, ich konnte ihn
nur andeuten. Es wäre kein übermäßiger Anſpruch an Geſchick¬
lichkeit unſrer Diplomatie geweſen, von ihr zu verlangen, daß ſie
den Krieg nach Bedürfniß verſchieben, verhüten oder zum Ausbruch
bringen ſolle.
Zu jener Zeit, November 1850, war die ruſſiſche Auffaſſung
der revolutionären Bewegung in Deutſchland ſchon eine viel ruhigere
als bei dem erſten Ausbruche im März 1848. Ich war befreundet
mit dem ruſſiſchen Militär-Attaché Grafen Benckendorf und erhielt
1850 im vertrauten Geſpräche mit ihm den Eindruck, daß die
deutſche einſchließlich der polniſchen Bewegung im Petersburger
Cabinete nicht mehr in demſelben Maße wie bei ihrem Ausbruche
[75/0102]
Ruhigere Auffaſſung der deutſchen Revolution in Petersburg. Budberg.
in Petersburg beunruhigte und als eine militäriſche Gefahr im
Kriegsfalle aufgefaßt wurde. Im März 1848 erſchien den Ruſſen
die Entwicklung der Revolution in Deutſchland und Polen noch
als etwas Unberechenbares und Gefährliches. Der erſte ruſſiſche
Diplomat, der in Petersburg durch ſeine Berichte eine andre An¬
ſicht vertrat, war der damalige Geſchäftsträger in Frankfurt am
Main, ſpätre Geſandte in Berlin, Baron von Budberg. Seine
Berichte über die Verhandlungen und die Bedeutung der Paulskirche
waren von Hauſe aus ſatiriſch gefärbt, und die Geringſchätzung,
mit welcher dieſer junge Diplomat von den Reden der deutſchen
Profeſſoren und von der Machtſtellung der Nationalverſammlung
in ſeinen Berichten ſprach, hatte den Kaiſer Nicolaus dergeſtalt
befriedigt, daß Budberg's Carrière dadurch gemacht und er ſehr
ſchnell zum Geſandten und Botſchafter befördert wurde. Er hatte in
ihnen vom antideutſchen Standpunkte eine analoge politiſche Schätzung
zum Ausdruck gebracht, wie ſie in den altpreußiſchen Kreiſen in
Berlin, in denen er früher gelebt hatte, in landsmannſchaftlicher
und beſorgter Weiſe herrſchend war, und man kann ſagen, daß
die Auffaſſung, als deren erſter Erfinder er in Petersburg Carrière
machte, dem Berliner „Caſino“ entſprungen war. Seitdem hatte
man in Rußland nicht nur die militäriſche Stellung an der Weichſel
weſentlich verſtärkt, ſondern auch einen geringern Eindruck von
der damaligen militäriſchen Leiſtungsfähigkeit der Revolution ſowohl
wie der deutſchen Regirungen gewonnen, und die Sprache, welche
ich im November 1850 bei dem mir befreundeten ruſſiſchen Ge¬
ſandten Baron Meyendorff und ſeinen Landsleuten hörte, war eine
im ruſſiſchen Sinne vollkommen zuverſichtliche, von einer perſönlich
wohlwollenden, aber für mich verletzenden Theilnahme für die Zu¬
kunft des befreundeten Preußens durchſetzt. Sie machte mir den
Eindruck, daß man Oeſtreich für den ſtärkern und zuverläſſigern
Theil und Rußland ſelbſt für ſtark genug hielt, um die Ent¬
ſcheidung zwiſchen beiden in die Hand zu nehmen.
[76/0103]
Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
III.
Mit den Mitteln und Gewohnheiten des auswärtigen Dienſtes
noch nicht ſo vertraut wie ſpäter, war ich doch als Laie nicht
zweifelhaft, daß der Krieg, wenn er für uns überhaupt geboten
oder annehmbar erſchien, auch nach Olmütz in den Dresdner Ver¬
handlungen jederzeit gefunden und durch Abbruch derſelben herbei¬
geführt werden konnte. Stockhauſen hatte mir gelegentlich ſechs
Wochen als die Friſt bezeichnet, deren er bedürfte, um fechten zu
können, und es wäre nach meiner Anſicht nicht ſchwer geweſen,
das Doppelte derſelben durch geſchickte Leitung der Verhandlungen
in Dresden zu gewinnen, wenn bei uns die momentane Unfertigkeit
der militäriſchen Rüſtungen der einzige Grund geweſen wäre, uns
eine kriegeriſche Löſung zu verſagen. Wenn die Dresdner Ver¬
handlungen nicht dazu benutzt worden ſind, im preußiſchen Sinne
entweder ein höheres Reſultat oder einen berechtigt erſcheinenden
Anlaß zum Kriege zu gewinnen, ſo iſt mir niemals klar geworden,
ob die auffällige Beſchränkung unſrer Ziele in Dresden von dem
Könige oder von Herrn von Manteuffel, dem neuen auswärtigen
Miniſter, ausgegangen iſt. Ich habe damals nur den Eindruck ge¬
habt, daß letztrer nach ſeinem Vorleben als Landrath, Regirungs-
Präſident und Director im Miniſterium des Innern ſich in der
Sicherheit ſeines Auftretens durch die renommirenden vornehmen
Verkehrsformen des Fürſten Schwarzenberg genirt fühlte. Schon
die häusliche Erſcheinung Beider in Dresden — Fürſt Schwarzenberg
mit Livreen, Silbergeſchirr und Champagner im erſten Stock, der
preußiſche Miniſter mit Kanzleidienern und Waſſergläſern eine Treppe
höher — war geeignet, auf das Selbſtgefühl der betheiligten Vertreter
beider Großmächte und auf ihre Einſchätzung durch die übrigen
deutſchen Vertreter nachtheilig für uns zu wirken. Die alte preußiſche
Einfachheit, die Friedrich der Große ſeinem Vertreter in London
mit der Redensart empfahl: „Sage Er, wenn Er zu Fuß geht,
[77/0104]
Geringer Erfolg der Dresdner Verhandlungen.
daß 100000 Mann hinter ihm gehn,“ bezeugt eine Renommage, die
man dem geiſtreichen Könige nur in einer der Anwandlungen
von übertriebener Sparſamkeit zutrauen kann. Heut hat jeder
100000 Mann, nur wir hatten ſie, wie es ſcheint, zur Dresdner
Zeit nicht verfügbar. Der Grundirrthum der damaligen preußiſchen
Politik war der, daß man glaubte, Erfolge, die nur durch Kampf
oder durch Bereitſchaft dazu gewonnen werden konnten, würden
ſich durch publiciſtiſche, parlamentariſche und diplomatiſche Heuche¬
leien in der Geſtalt erreichen laſſen, daß ſie als unſrer tugend¬
haften Beſcheidenheit zum Lohn oratoriſcher Bethätigung unſrer
„deutſchen Geſinnung“ aufgezwungen erſchienen. Man nannte das
ſpäter „moraliſche“ Eroberungen; es war die Hoffnung, daß Andre
für uns thun würden, was wir ſelbſt nicht wagten.
[[78]/0105]
Viertes Kapitel.
Nachdem die preußiſche Regirung ſich entſchloſſen hatte, den
von Oeſtreich reactivirten Bundestag zu beſchicken und dadurch
vollzählig zu machen, wurde der General von Rochow, der in
Petersburg accreditirt war und blieb, proviſoriſch zum Bundestags-
Geſandten ernannt. Gleichzeitig wurden zwei Legationsräthe für
die Geſandſchaft auf den Etat gebracht, ich ſelbſt und Herr
von Gruner. Mir wurde durch Se. Majeſtät und den Miniſter
von Manteuffel vor meiner Ernennung zum Legationsrath die
demnächſtige Ernennung zum Bundestags-Geſandten in Ausſicht
geſtellt. Rochow ſollte mich einführen und anlernen, konnte aber
ſelbſt nicht geſchäftsmäßig arbeiten und benutzte mich als Redacteur,
ohne mich politiſch au fait zu halten.
Das meiner Ernennung vorhergehende Geſpräch mit dem
Könige, kurz gegeben in einem Briefe meines verſtorbenen Freundes
J. L. Motley an ſeine Frau 1), verlief folgendermaßen. Nachdem
ich auf die plötzliche Frage des Miniſters Manteuffel, ob ich die
Stelle eines Bundesgeſandten annehmen wolle, einfach mit Ja
geantwortet hatte, ließ der König mich zu ſich beſcheiden und ſagte:
„Sie haben viel Muth, daß Sie ſo ohne Weitres ein Ihnen fremdes
Amt übernehmen.“ Ich erwiderte: „Der Muth iſt ganz auf Seiten
Eurer Majeſtät, wenn Sie mir eine ſolche Stellung anvertrauen,
1) S. Motley's Brief vom 27. Juli 1855, Briefwechſel von J. L. Motley,
überſetzt von Eltze (Berlin 1890) I 175.
[79/0106]
Ernennung zum Legationsrath bei der Bundesgeſandſchaft.
indeſſen ſind Eure Majeſtät ja nicht gebunden, die Ernennung
aufrecht zu erhalten, ſobald ſie ſich nicht bewährt. Ich ſelbſt kann
keine Gewißheit darüber haben, ob die Aufgabe meine Fähigkeit
überſteigt, ehe ich ihr näher getreten bin. Wenn ich mich derſelben
nicht gewachſen finde, ſo werde ich der erſte ſein, meine Abberufung
zu erbitten. Ich habe den Muth zu gehorchen, wenn Eure Majeſtät
den haben zu befehlen.“ Worauf der König: „Dann wollen wir
die Sache verſuchen.“
Am 11. Mai 1851 traf ich in Frankfurt ein. Herr von
Rochow mit weniger Ehrgeiz als Liebe zum Behagen, des Klimas
und des anſtrengenden Hoflebens in Petersburg müde, hätte lieber
den Frankfurter Poſten, in dem er alle ſeine Wünſche befriedigt
fand, dauernd behalten, arbeitete in Berlin dafür, daß ich zum
Geſandten in Darmſtadt mit gleichzeitiger Accreditirung bei dem
Herzog von Naſſau und der Stadt Frankfurt ernannt werde, und
wäre vielleicht auch nicht abgeneigt geweſen, mir den Petersburger
Poſten im Tauſch zu überlaſſen. Er liebte das Leben am Rhein
und den Verkehr mit den deutſchen Höfen. Seine Bemühungen
hatten indeſſen keinen Erfolg. Unter dem 11. Juli ſchrieb mir Herr
von Manteuffel, daß der König meine Ernennung zum Bundestags¬
geſandten genehmigt habe. „Es verſteht ſich dabei von ſelbſt,“
ſchrieb der Miniſter, „daß man Herrn von Rochow nicht brusque¬
ment wegſchicken kann; ich beabſichtige daher, ihm heut noch einige
Worte darüber zu ſchreiben, und glaube Ihres Einverſtändniſſes
gewiß zu ſein, wenn ich in dieſer Sache mit aller Rückſicht auf
Herrn von Rochow's Wünſche verfahre, dem ich es in der That
nur Dank wiſſen kann, daß er die ſchwierige und undankbare
Miſſion angenommen hat im Gegenſatz zu manchen andern Leuten,
die immer mit der Kritik bei der Hand ſind, wenn es aber auf
das Handeln ankommt, ſich zurückziehn. Daß ich Sie damit nicht
meine, brauche ich nicht zu verſichern, denn Sie ſind ja auch mit
uns in die Breſche getreten und werden ſie, ſo denke ich, auch
allein vertheidigen.“
[80/0107]
Viertes Kapitel: Diplomat.
Unter dem 15. Juli erfolgte meine Ernennung zum Bundes¬
tagsgeſandten. Ungeachtet der Rückſicht, mit welcher er behandelt
wurde, war Herr von Rochow verſtimmt und ließ mich die Ver¬
eitelung ſeines Wunſches entgelten, indem er Frankfurt eines
Morgens früh verließ, ohne mich von ſeiner Abreiſe unterrichtet
und mir die Geſchäfte und die Akten übergeben zu haben. Von
andrer Seite benachrichtigt, kam ich zur rechten Zeit nach dem
Bahnhofe, um ihm meinen Dank für das mir bewieſene Wohl¬
wollen auszudrücken. — Ueber meine Thätigkeit und meine Wahr¬
nehmungen am Bundestage iſt ſo viel Amtliches und Privates ver¬
öffentlicht worden 1), daß mir nur eine Nachleſe übrig bleibt.
Ich fand in Frankfurt zwei preußiſche Commiſſarien aus der
Zeit des Interim, den Oberpräſidenten von Boetticher, deſſen Sohn
ſpäter als Staatsſekretär und Miniſter mein Beiſtand ſein ſollte,
und den General von Peucker, der mir Gelegenheit zu meinen
erſten Studien über das Ordensweſen gab. Er war ein geſcheidter,
tapferer Offizier von hoher wiſſenſchaftlicher Bildung, die er ſpäter
als Generalinſpecteur des Militär-Erziehungs- und Bildungsweſens
verwerthen konnte. Im Jahre 1812 in dem York'ſchen Corps
dienend, hatte er durch Diebſtahl ſeinen Mantel eingebüßt, den
Rückzug in der knappen Uniform machen müſſen, ſich die Zehen
erfroren und durch die Kälte anderweitige Schäden erlitten. Trotz
ſeiner äußerlichen Unſchönheit gewann dieſer kluge und tapfere
Offizier die Hand einer hübſchen Gräfin Schulenburg, durch welche
ſpäter das reiche Erbe des Hauſes Schenck von Flechtingen in der
Altmark an ſeinen Sohn gelangte. In merkwürdigem Contraſt
mit ſeiner geiſtigen Bedeutung ſtand ſeine Schwäche für Aeußer¬
lichkeiten, die den Berliner Jargon um einen Ausdruck bereicherte.
1)
Preußen im Bundestage 1851–1859. Documente der K. Preuß.
Bundestags-Geſandtſchaft. Herausgegeben von Dr. Ritter v. Poſchinger. 4 Bde.
Lpz. 1882–1884. — Bismarck's Briefe an den General Leopold v. Gerlach.
Herausgegeben von H. Kohl. Berlin 1896. — Bismarckbriefe. Herausgegeben
von H. Kohl. 7. Auflage. Bielefeld 1898 S. 106 ff.
[81/0108]
Ernennung nach Frankfurt. General v. Peucker. Ordensweſen.
Von Jemand, der zu viele Orden gleichzeitig trug, ſagte man „er
peuckert“.
Bei einem Morgenbeſuche fand ich ihn vor einem Tiſche
ſtehend, auf welchem ſeine wohlverdienten, zuerſt auf dem Schlacht¬
felde gewonnenen Orden ausgebreitet lagen, deren herkömmliche
Ordnung auf der Bruſt durch die eben erfolgte Verleihung eines
neuen Sternes geſtört war. Nach der Begrüßung ſprach er mir
nicht etwa von Oeſtreich und Preußen, ſondern verlangte mein
Urtheil von dem Standpunkte künſtleriſchen Geſchmacks über die
Stelle, wo der neue Stern einzuſchieben ſei. Die Gefühle anhäng¬
licher Achtung, die ich aus meinen Kinderjahren für den hoch¬
verdienten General überkommen hatte, beſtimmten mich, in voller
Ernſthaftigkeit auf das Thema einzugehn und ſeine Erledigung
herbeizuführen, ehe wir auf Geſchäfte zu ſprechen kamen.
Ich geſtehe, daß ich mich, als ich (1842) meine erſte Auszeich¬
nung, die Rettungsmedaille, erhielt, erfreut und gehoben fühlte, weil
ich damals ein in dieſer Beziehung nicht blaſirter Landjunker war.
Im Staatsdienſte habe ich dieſe Urſprünglichkeit der Empfindung
ſchnell verloren; ich erinnere mich nicht, bei ſpätern Decorirungen
ein objectives Vergnügen empfunden zu haben, ſondern nur die
ſubjective Freude über die äußerliche Bethätigung des Wohlwollens,
mit welchem mein König meine Anhänglichkeit erwiderte, oder
andre Monarchen mir den Erfolg meiner politiſchen Werbung
um ihr Vertrauen und ihr Wohlwollen beſtätigten. Unſer Geſandter
von Jordan in Dresden antwortete auf den ſcherzhaften Vorſchlag,
eine ſeiner vielen Decorationen abzutreten: „Je vous les cède
toutes, pourvu que vous m'en laisserez une pour couvrir mes
nudités diplomatiques.“ In der That gehört ein grand cordon
zur Toilette eines Geſandten, und wenn es nicht der des eignen
Hofes iſt, ſo bleibt die Möglichkeit, wechſeln zu können, für elegante
Diplomaten ebenſo erwünſcht, wie für Damen bezüglich der Kleider.
In Paris habe ich erlebt, daß unverſtändige Gewaltthaten gegen
Menſchenmaſſen plötzlich ſtockten, weil ſie auf „un monsieur décoré“
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 6
[82/0109]
Viertes Kapitel: Diplomat.
ſtießen. Orden zu tragen iſt für mich, außer in Petersburg und
Paris, niemals ein Bedürfniß geweſen; an beiden Orten muß man
auf der Straße irgend ein Band am Rock zeigen, wenn man
polizeilich und bürgerlich mit der wünſchenswerthen Höflichkeit be¬
handelt werden will. Sonſt habe ich in jedem Falle nur die durch
die Gelegenheit gebotenen Decorationen angelegt; es iſt mir immer
als eine Chinoiſerie erſchienen, wenn ich wahrnahm, wie krankhaft
der Sammlertrieb in Bezug auf Orden bei meinen Collegen und
Mitarbeitern in der Bürokratie entwickelt war, wie Geheime Räthe,
welche ſchon die ihnen aus der Bruſt quellende Ordenscascade nicht
mehr gut beherrſchen konnten, den Abſchluß irgend eines kleinen
Vertrages anbahnten, weil ſie zur Vervollſtändigung ihrer Samm¬
lung noch des Ordens des mitcontrahirenden Staates bedurften.
Die Mitglieder der Kammern, welche 1849/50 die octroyirte
Verfaſſung zu revidiren hatten, entwickelten eine ſehr anſtrengende
Thätigkeit; es gab von 8 bis 10 Uhr Commiſſionsſitzungen, von
10 bis 4 Plenarſitzungen, die zuweilen auch noch in ſpäter Abend¬
ſtunde wiederholt wurden und mit den langdauernden Fractions¬
ſitzungen abwechſelten. Ich konnte daher mein Bewegungsbedürf¬
niß nur des Nachts befriedigen und erinnere mich, manche Nacht
zwiſchen dem Opernhauſe und dem Brandenburger Thore in der
Mitte der Linden auf- und abgewandelt zu ſein. Durch einen Zufall
wurde ich damals auf den geſundheitlichen Nutzen des Tanzens auf¬
merkſam, das ich mit 27 Jahren aufgegeben hatte in dem Gefühle,
daß dieſes Vergnügen nur „der Jugend“ anſtehe. Auf einem der
Hofbälle bat mich eine mir befreundete Dame, ihren abhanden
gekommnen Tänzer für den Cotillon zu ſuchen und, da ich ihn nicht
fand, zu erſetzen. Nachdem ich die erſte Schwindelbeſorgniß auf dem
glatten Parket des Weißen Saales überwunden hatte, tanzte ich mit
Vergnügen und fand nachher einen ſo geſunden Schlaf, wie ich ihn
lange nicht genoſſen hatte. In Frankfurt tanzte alle Welt, voran
der 65jährige franzöſiſche Geſandte Monſieur Marquis de Tallenay,
nach Proclamirung des Kaiſerthums in Frankreich: Monſieur le
[83/0110]
Ordensjäger. Tanzluſt Frankfurter Diplomaten. Wiener Miſſion.
Marquis de Tallenay, und ich fand mich leicht in dieſe Gewohn¬
heit, obſchon es mir am Bunde nicht an Zeit zum Gehn und
Reiten fehlte. Auch in Berlin, als ich Miniſter geworden war,
verſagte ich mich nicht, wenn ich von befreundeten Damen aufge¬
fordert oder von Prinzeſſinnen zu einem Tanze befohlen wurde,
bekam aber ſtets ſarkaſtiſche Bemerkungen des Königs darüber zu
hören, der mir zum Beiſpiel ſagte: „Man macht es mir zum Vor¬
wurf, einen leichtſinnigen Miniſter gewählt zu haben. Sie ſollten
den Eindruck nicht dadurch verſtärken, daß Sie tanzen.“ Den
Prinzeſſinnen wurde dann unterſagt, mich zum Tänzer zu wählen.
Auch die andauernde Tanzfähigkeit des Herrn von Keudell hat mir,
wenn es ſich um ſeine Beförderung handelte, bei Seiner Majeſtät
Schwierigkeit gemacht. Es entſprach das der beſcheidenen Natur
des Kaiſers, der ſeine Würde auch durch Vermeiden unnöthiger
Aeußerlichkeiten, welche die Kritik herausfordern könnten, zu wahren
gewöhnt war. Ein tanzender Staatsmann fand in ſeinen Vor¬
ſtellungen nur in fürſtlichen Ehrenquadrillen Platz; im raſchen
Walzer verlor er bei ihm an Vertrauen auf die Weisheit ſeiner
Rathſchläge.
Nachdem ich mich auf dem Frankfurter Terrain zu Hauſe
gemacht hatte, nicht ohne harte Zuſammenſtöße mit dem öſtreichi¬
ſchen Vertreter, zunächſt in der Flottenangelegenheit, in welcher er
Preußen autoritativ und finanziell zu verkürzen und für die Zu¬
kunft lahm zu legen ſuchte, beſchied der König mich nach Potsdam
und eröffnete mir am 28. Mai 1852, daß er ſich entſchloſſen habe,
mich nunmehr auf die hohe Schule der Diplomatie nach Wien zu
ſchicken, zunächſt als Vertreter, demnächſt als Nachfolger des ſchwer
erkrankten Grafen Arnim 1). Zu dem Zwecke übergab er mir das
nachſtehende Einführungsſchreiben an Se. Majeſtät den Kaiſer Franz
Joſeph vom 5. Juni:
1)
Heinrich Friedrich Graf von Arnim-Heinrichsdorf-Werbelow, geb.
geſt. 1859.
[84/0111]
Viertes Kapitel: Diplomat.
„Eure Kaiſerliche Majeſtät wollen es mir gütig geſtatten,
daß ich den Ueberbringer dieſes Blattes mit einigen eigenhändigen
Schriftzügen an Ihrem Hoflager introduzire. Es iſt der Herr von
Bismarck-Schönhauſen. Er gehört einem Rittergeſchlecht an, welches
länger als mein Haus in unſern Marken ſeßhaft, von jeher und
beſonders in ihm ſeine alten Tugenden bewährt hat. Die Erhal¬
tung und Stärkung der erfreulichen Zuſtände unſres platten Landes
verdanken wir mit ſeinem furchtloſen und energiſchen Mühen in
den böſen Tagen der jüngſt verfloſſenen Jahre. Ew. Majeſtät wiſſen,
daß Herr von Bismarck die Stellung meines Bundesgeſandten be¬
kleidet. Da jetzt der Geſundheitszuſtand meines Geſandten an
Ew. Majeſtät kaiſerlichem Hofe, des Grafen von Arnim, deſſen zeit¬
weilige Abweſenheit nöthig gemacht hat, das Verhältniß unſrer
Höfe aber eine ſubalterne Vertretung nicht zuläßt (meiner Auf¬
faſſung zufolge), ſo habe ich Herrn von Bismarck auserſehen, die
Vices für Graf Arnim während deſſen Abweſenheit zu verſehen. Es
iſt mir ein befriedigender Gedanke, daß Ew. Majeſtät einen Mann
kennen lernen, der bei uns im Lande wegen ſeines ritterlich-freien
Gehorſams und ſeiner Unverſöhnlichkeit gegen die Revolution bis
in ihre Wurzeln hinein von Vielen verehrt, von Manchen gehaßt
wird. Er iſt mein Freund und treuer Diener und kommt mit
dem friſchen lebendigen ſympathiſchen Eindruck meiner Grundſätze,
meiner Handlungsweiſe, meines Willens und ich ſetze hinzu meiner
Liebe zu Oeſtreich und zu Ew. Majeſtät nach Wien. Er kann,
wenn es der Mühe werth gefunden wird, Ew. Majeſtät und Ihren
höchſten Räthen über viele Gegenſtände Rede und Antwort geben,
wie es wohl Wenige im Stande ſind; denn wenn nicht unerhörte,
langvorbereitete Mißverſtändniſſe zu tief eingewurzelt ſind, was
Gott in Gnaden verhüte, kann die kurze Zeit ſeiner Amtsführung
in Wien wahrhaft ſegensreich werden. Herr von Bismarck kommt
aus Frankfurt, wo das, was die rheinbundſchwangeren Mittel¬
ſtaaten mit Entzücken die Differenzen Oeſtreichs und Preußens
nennen, jederzeit ſeinen ſtärkſten Wiederhall und oft ſeine Quelle
[85/0112]
Einführungsſchreiben des Königs. Aufnahme in Wien.
gehabt hat, und er hat dieſe Dinge und das Treiben daſelbſt mit
ſcharfem und richtigem Blick betrachtet. Ich habe ihm befohlen,
jede darauf gerichtete Frage Ew. Majeſtät und Ihrer Miniſter ſo
zu beantworten, als hätte ich ſie ſelbſt an ihn gerichtet. Sollte es
Ew. Majeſtät gefallen, von ihm Aufklärung über meine Auffaſſung
und meine Behandlung der Zollvereins-Angelegenheit zu verlangen,
ſo lebe ich der Gewißheit, daß mein Betragen in dieſen Dingen,
wenn auch vielleicht nicht das Glück Ihres Beifalls, doch ſicher
Ihrer Achtung erringen wird. Die Anweſenheit des theuren herr¬
lichen Kaiſers Nicolaus iſt mir eine wahre Herzſtärkung geweſen.
Die gewiſſe Beſtätigung meiner alten und ſtarken Hoffnung, daß
Ew. Majeſtät und ich vollkommen einig in der Wahrheit ſind: daß
unſre dreifache, unerſchütterliche, gläubige und thatkräftige Ein¬
tracht allein Europa und das unartige und doch ſo geliebte
Teutſche Vaterland aus der jetzigen Kriſe retten könne, erfüllt mich
mit Dank gegen Gott und ſteigert meine alte treue Liebe zu
Ew. Majeſtät. Bewahren auch Sie, mein theuerſter Freund, mir
Ihre Liebe aus den fabelhaften Tagen von Tegernſee, und ſtärken
Sie Ihr Vertrauen und Ihre ſo wichtige und ſo mächtige, dem
gemeinſamen Vaterlande ſo unentbehrliche Freundſchaft zu mir!
Dieſer Freundſchaft empfehle ich mich aus der Tiefe meines Herzens,
allertheuerſter Freund, als Ew. Kaiſerlichen Majeſtät treu und innigſt
ergebenſter Onkel, Bruder und Freund.“
Ich fand in Wien das „einſylbige“ Miniſterium Buol, Bach,
Bruck ꝛc., keine Preußenfreunde, aber liebenswürdig für mich, in
dem Glauben an meine Empfänglichkeit für hohes Wohlwollen
und meine Gegenleiſtung dafür auf geſchäftlichem Gebiete. Ich
wurde äußerlich ehrenvoller, als ich erwarten konnte, aufgenommen;
aber geſchäftlich, d. h. bezüglich der Zollſachen, blieb meine Miſ¬
ſion erfolglos. Oeſtreich hatte ſchon damals die Zolleinigung mit
uns im Auge, und ich hielt es weder damals noch ſpäter für
rathſam, dieſem Streben entgegenzukommen. Zu den nothwen¬
digen Unterlagen einer Zollgemeinſchaft gehört ein gewiſſer Grad
[86/0113]
Viertes Kapitel: Diplomat.
von Gleichartigkeit des Verbrauchs; ſchon die Unterſchiede der
Intereſſen innerhalb des deutſchen Zollvereins zwiſchen Nord und
Süd, Oſt und Weſt ſind ſchwer und nur mit dem guten Willen
zu überwinden, der der nationalen Zuſammengehörigkeit entſpringt;
zwiſchen Ungarn und Galizien einerſeits und dem Zollverein andrer¬
ſeits iſt die Verſchiedenheit des Verbrauchs zollpflichtiger Waaren
zu ſtark, um eine Zollgemeinſchaft durchführbar erſcheinen zu laſſen.
Der Vertheilungsmaßſtab für die Zollverträge würde ſtets für
Deutſchland nachtheilig bleiben, auch wenn die Ziffern es für
Oeſtreich zu ſein ſchienen. Letztres lebt in Cis- und mehr noch
in Trans-Leithanien vorwiegend von eignen, nicht von importirten
Erzeugniſſen. Außerdem hatte ich damals allgemein und habe ich
auch heut noch ſporadiſch nicht das nöthige Vertrauen zu undeut¬
ſchen Unterbeamten im Oſten.
Unſer einziger Legationsſekretär in Wien empfing mich mit
Verſtimmung darüber, daß er nicht Geſchäftsträger wurde, und
ſuchte in Berlin Urlaub nach. Derſelbe wurde von dem Miniſter
verweigert, von mir aber demnächſt bewilligt. So kam es, daß
ich mich auf den mir von früher her befreundeten hanöverſchen
Geſandten Graf Adolf Platen behufs der Vorſtellung bei den
Miniſtern und der Einführung in die diplomatiſche Geſellſchaft an¬
gewieſen fand.
In vertraulichem Geſpräch fragte er mich gelegentlich, ob auch
ich glaubte, daß ich zu Manteuffel's Nachfolger beſtimmt ſei.
Ich erwiderte, das läge einſtweilen nicht in meinen Wünſchen.
Ich glaubte allerdings, daß der König mich in ſpätrer Zeit ein¬
mal zu ſeinem Miniſter zu machen gedenke und mich dazu er¬
ziehn wolle, in dieſer Abſicht auch mir die mission extra¬
ordinaire nach Oeſtreich übertragen habe. Mein Wunſch aber
wäre, noch etwa zehn Jahre lang in Frankfurt oder an verſchiednen
Höfen als Geſandter die Welt zu ſehn und dann gern etwa zehn
Jahre lang, womöglich mit Ruhm, Miniſter zu ſein, dann auf
dem Lande über das Erlebte nachzudenken und wie mein alter Onkel
[87/0114]
Schwierigkeiten einer Zolleinigung mit Oeſtreich. Verdächtigungen.
in Templin bei Potsdam Obſtbäume zu pfropfen 1). Dieſes ſcherzende
Geſpräch war von Platen nach Hanover berichtet worden und dort
zur Kenntniß des General-Steuerdirectors Klentze gekommen, der mit
Manteuffel über Zollſachen verhandelte und in mir den Junker im
Sinne der liberalen Bürokraten haßte. Er hatte nichts Eiligeres
zu thun, als entſtellte Angaben aus Platen's Bericht an Manteuffel
mitzutheilen in dem Sinne, als ob ich an deſſen Sturze arbeitete.
Bei meiner Rückkehr von Wien nach Berlin (8. Juli) hatte ich an
Aeußerlichem die Wirkung dieſer Einbläſerei wahrzunehmen. Sie
beſtand in einer Abkühlung meiner Beziehungen zu meinem Chef,
und ich wurde nicht mehr wie bis dahin gebeten, bei ihm zu
wohnen, wenn ich nach Berlin kam. Verdacht wurden mir dabei
auch meine freundſchaftlichen Beziehungen zu dem General von
Gerlach.
Die Geneſung des Grafen Arnim geſtattete mir, meinem
Wiener Aufenthalte ein Ende zu machen, und vereitelte einſtweilen
die Abſicht des Königs, mich zum Nachfolger Arnim's zu ernennen.
Aber auch wenn dieſe Geneſung nicht eingetreten wäre, würde ich
den dortigen Poſten nicht gern übernommen haben, weil ich ſchon
damals das Gefühl hatte, durch mein Auftreten in Frankfurt
persona ingrata in Wien geworden zu ſein. Ich hatte die Be¬
fürchtung, daß man dort fortfahren würde, mich als gegneriſches
Element zu behandeln, mir den Dienſt zu erſchweren und mich am
Berliner Hofe zu discreditiren, was durch Hofcorreſpondenz, wenn
ich in Wien fungirte, noch leichter geweſen wäre als über Frankfurt.
Aus ſpätrer Zeit ſind mir Unterredungen erinnerlich, welche ich
auf langen Eiſenbahnfahrten unter vier Augen mit dem Könige über
Wien hatte. Ich nahm dann die Stellung, zu ſagen „Wenn Eure
Majeſtät befehlen, ſo gehe ich dahin, aber freiwillig nicht, ich habe
mir die Abneigung des öſtreichiſchen Hofes in Frankfurt im Dienſte
1)
Vgl. den Brief Bismarck's an Manteuffel vom 23. Juli 1852 in
Preußen im Bundestage IV 99 ff.
[88/0115]
Viertes Kapitel: Diplomat.
Eurer Majeſtät zugezogen, und ich werde das Gefühl haben, meinen
Gegnern ausgeliefert zu ſein, wenn ich Geſandter in Wien werden
ſollte. Jede Regirung kann jeden Geſandten, der bei ihr beglaubigt
iſt, mit Leichtigkeit ſchädigen und durch Mittel, wie ſie die öſt¬
reichiſche Politik in Deutſchland anwendet, ſeine Stellung verderben.“
Die Erwiderung des Königs pflegte zu ſein: „Befehlen will ich
nicht. Sie ſollen freiwillig hingehn und mich darum bitten; es iſt
das eine hohe Schule für Ihre diplomatiſche Ausbildung, und Sie
ſollten mir dankbar ſein, wenn ich dieſe Ausbildung, weil es bei
Ihnen der Mühe lohnt, übernehme.“
Auch die Miniſterſtellung lag damals außerhalb meiner Wünſche.
Ich war überzeugt, daß ich dem Könige gegenüber als Miniſter eine
für mich haltbare Stellung nicht erlangen würde. Er ſah in
mir ein Ei, was er ſelbſt gelegt hatte und ausbrütete, und würde
bei Meinungsverſchiedenheiten immer die Vorſtellung gehabt haben,
daß das Ei klüger ſein wolle als die Henne. Daß die Ziele der
preußiſchen auswärtigen Politik, welche mir vorſchwebten, ſich mit
denen des Königs nicht vollſtändig deckten, war mir klar, ebenſo die
Schwierigkeit, welche ein verantwortlicher Miniſter dieſes Herrn zu
überwinden hatte bei deſſen ſelbſtherrlichen Anwandlungen mit oft
jähem Wechſel der Anſichten, bei der Unregelmäßigkeit in Geſchäften
und bei der Zugänglichkeit für unberufene Hintertreppen-Einflüſſe
von politiſchen Intriganten, wie ſie von den Adepten unſrer Kur¬
fürſten bis auf neuere Zeiten in dem regirenden Hauſe, ſogar bei
dem ſtrengen und hausbacknen Friedrich Wilhelm I. Zutritt ge¬
funden haben — pharmacopolae, balatrones, hoc genus omne 1).
Die Schwierigkeit, gleichzeitig gehorſamer und verantwortlicher
Miniſter zu ſein, war damals größer als unter Wilhelm I.
Im September 1853 wurde mir in Hanover die Ausſicht,
Miniſter zu werden, eröffnet. Nach Beendigung meiner Badekur in
Norderney wurde ich von dem eben aus dem Miniſterium Schele
1
) Horat. Sat. I 2, 1 f.
[89/0116]
Abneigung gegen den Wiener Poſten und die Miniſterſtellung. Bei Georg V.
ausgetretenen Miniſter Bacmeiſter ſondirt, ob ich Miniſter des
Königs Georg werden wolle. Ich ſprach mich dahin aus, daß ich
in der auswärtigen Politik Hanover nur dienen könne, wenn der
König vollſtändig Hand in Hand mit Preußen gehn wolle; ich könnte
mein Preußenthum nicht ausziehn wie einen Rock. Auf dem Wege
zu den Meinigen nach Villeneuve am Genfer See, den ich von
Norderney über Hanover nahm, hatte ich mehre Conferenzen mit
dem Könige. Eine derſelben fand ſtatt in einem, zwiſchen ſeinem
Schlafzimmer und dem der Königin gelegnen Cabinet im Erd¬
geſchoß des Schloſſes. Der König wollte, daß die Thatſache unſrer
Beſprechung nicht bekannt werde, hatte mich aber um fünf Uhr zur
Tafel befohlen. Er kam auf die Frage, ob ich ſein Miniſter werden
wolle, nicht zurück, ſondern verlangte nur von mir als Sachkundigem
in bundestäglichen Geſchäften einen Vortrag über die Art und
Weiſe, wie die Verfaſſung von 1848 mit Hülfe von Bundes¬
beſchlüſſen revidirt werden könne. Nachdem ich meine Anſicht ent¬
wickelt hatte, verlangte er eine ſchriftliche Redaction derſelben und
zwar auf der Stelle. Ich ſchrieb alſo in der ungeduldigen Nach¬
barſchaft des an demſelben Tiſche ſitzenden Königs die Hauptzüge
des Operationsplans nieder unter den erſchwerenden Umſtänden,
die ein ſelten gebrauchtes Schreibzeug bereitete: Tinte dick, Feder
ſchlecht, Papier rauh, Löſchblatt nicht vorhanden; die von mir ge¬
lieferte vier Seiten lange Staatsſchrift mit ihren Tintenflecken war
nicht als ein kanzleimäßiges Mundum anzuſehn. Der König ſchrieb
überhaupt nur ſeine Unterſchrift, und auch dieſe ſchwerlich in dem
Gemach, in welchem er des Geheimniſſes wegen mich empfangen
hatte. Das Geheimniß wurde freilich dadurch durchbrochen, daß
es darüber ſechs Uhr geworden war und der auf fünf befohlenen
Tiſchgeſellſchaft die Urſache der Verſpätung nicht entgehn konnte.
Als die hinter dem Könige ſtehende Uhr ſchlug, ſprang er auf und
ging wortlos und mit einer bei ſeiner Blindheit überraſchenden
Schnelligkeit und Sicherheit durch das mit Möbeln beſetzte Gemach
in das benachbarte Schlaf- oder Ankleidezimmer. Ich blieb allein,
[90/0117]
Viertes Kapitel: Diplomat.
ohne Direction, ohne Kenntniß der Localität des Schloſſes, nur
durch eine Aeußerung des Königs unterrichtet, daß die eine der
drei Thüren in das Schlafzimmer der an den Maſern krank liegenden
Königin führte. Nachdem ich mir hatte ſagen müſſen, daß Niemand
kommen werde, mich zu geleiten, trat ich durch die dritte Thür
hinaus und fand mich einem Lakaien gegenüber, der mich nicht
kannte und über mein Erſcheinen in dieſem Theile den Schloſſes
erſchrocken und aufgeregt war, ſich jedoch beruhigte, als ich dem
Accente ſeiner mißtrauiſchen Frage entſprechend engliſch antwortete
und zu der königlichen Tafel geführt zu werden verlangte.
Am Abende, ich weiß nicht, ob deſſelben oder des folgenden
Tages, hatte ich wieder eine lange Audienz ohne Zeugen. Während
derſelben nahm ich mit Erſtaunen wahr, wie nachläſſig der blinde
Herr bedient war. Die ganze Beleuchtung den großen Zimmers
beſtand in einem Doppelleuchter mit zwei Wachskerzen, an denen
ſchwere, metallene Lichtſchirme angeklemmt waren. Der eine fiel
in Folge Niederbrennens der Kerze mit einem Geräuſch, wie der
Schlag auf ein Gong, zu Boden; es erſchien aber Niemand, befand
ſich auch Niemand im Nebenzimmer, und ich mußte mir von dem
hohen Herrn die Stelle der Klingel bezeichnen laſſen, die ich zu
ziehn hatte. Dieſe Verlaſſenheit den Königs war mir um ſo auf¬
fälliger, als der Tiſch, an dem wir ſaßen, mit allen möglichen
amtlichen oder privaten Papieren ſo bedeckt war, daß einzelne bei
Bewegungen des Königs herunterfielen und von mir aufgehoben
werden mußten. Nicht weniger auffällig war es, daß der blinde
Herr mit einem fremden Diplomaten, wie ich, ohne jede miniſterielle
Kenntnißnahme Stunden lang verhandelte.
Die Erwähnung meinen damaligen Aufenthalts in Hanover
erinnert mich an einen Vorgang, der mir nie klar geworden iſt.
Dem preußiſchen Commiſſarius, der in Hanover über die ſchweben¬
den Zollangelegenheiten zu verhandeln hatte, war von Berlin aus
ein Conſul Spiegelthal zur Aushülfe beigeordnet worden. Als ich
deſſelben als eines preußiſchen Beamten im Geſpräche mit dem mir
[91/0118]
Verlaſſenheit Georgs V. Ein preuß. Conſul als öſtr. Agent.
befreundeten Miniſter von Schele erwähnte, gab dieſer lachend ſein
Erſtaunen zu erkennen: „Er hätte den Mann nach ſeiner Thätigkeit
für einen öſtreichiſchen Agenten gehalten.“ Ich telegraphirte chiffrirt
an den Miniſter von Manteuffel und rieth, das Gepäck des Spiegel¬
thal, der in den nächſten Tagen nach Berlin zurückreiſen wollte,
bei der Zollreviſion an der Grenze unterſuchen und ſeine Papiere
in Beſchlag nehmen zu laſſen. Meine Erwartung, in den folgenden
Tagen davon zu leſen oder zu hören, erfüllte ſich nicht. Während
ich die letzten Octobertage in Berlin und Potsdam zubrachte, erzählte
der General von Gerlach mir u. A.: „Manteuffel habe zuweilen
ganz ſonderbare Einfälle; ſo habe er vor Kurzem verlangt, daß der
Conſul Spiegelthal zur königlichen Tafel gezogen werde, und unter
Stellung der Cabinetsfrage ſein Verlangen durchgeſetzt.“
[[92]/0119]
Fünftes Kapitel.
Wochenblattspartei. Krimkrieg.
I.
Für die deutſche Sache behielt man in den dem Königthum
widerſtrebenden Kreiſen eine kleine Hoffnung auf Hebelkräfte im
Sinne des Herzogs von Coburg, auf engliſchen und ſelbſt fran¬
zöſiſchen Beiſtand, in erſter Linie aber auf liberale Sympathien
des deutſchen Volks. Die praktiſch wirkſame Bethätigung dieſer
Hoffnungen beſchränkte ſich auf den kleinen Kreis der Hof-Oppoſition,
die unter dem Namen der Fraction Bethmann-Hollweg den
Prinzen von Preußen für ſich und ihre Beſtrebungen zu gewinnen
ſuchte. Es war dies eine Fraction, die an dem Volke garkeinen
und an der damals als „Gothaer“ bezeichneten nationalliberalen
Richtung geringen Anhalt hatte. Ich habe dieſe Herrn nicht grade
für nationaldeutſche Schwärmer gehalten, im Gegentheil. Der
einflußreiche, noch heut (1891) lebende langjährige Adjutant des
Kaiſers Wilhelm, Graf Karl von der Goltz, der einen ſtets offnen
Zugang für ſeinen Bruder und deſſen Freunde abgab, war ur¬
ſprünglich ein eleganter und geſcheidter Garde-Offizier, Stockpreuße
und Hofmann, der an dem außerpreußiſchen Deutſchland nur ſo viel
Intereſſe nahm, als ſeine Hofſtellung es mit ſich brachte. Er war
ein Lebemann, Jagdreiter, ſah gut aus, hatte Glück bei Damen
und wußte ſich auf dem Hofparket geſchickt zu benehmen; aber die
Politik ſtand bei ihm nicht in erſter Linie, ſondern galt ihm erſt,
[93/0120]
Fraction Bethmann-Hollweg und der Prinz v. Preußen. R. Goltz.
wenn er ihrer bei Hofe bedurfte. Daß die Erinnerung an
Olmütz das Mittel war, den Prinzen zum Bundesgenoſſen für den
Kampf gegen Manteuffel zu gewinnen, das konnte Niemand beſſer
wiſſen als er, und dieſen Stachel für die Empfindung des
Prinzen in Wirkſamkeit zu erhalten, hatte er auf Reiſen und zu
Hauſe ſtets gute Gelegenheit.
Die ſpäter nach Bethmann-Hollweg benannte Partei, richtiger
Coterie, ſtützte ſich urſprünglich auf den Grafen Robert von der Goltz,
einen Mann von ungewöhnlicher Befähigung und Thätigkeit. Herr
von Manteuffel hatte das Ungeſchick gehabt, dieſe ſtrebſame Capacität
ſchlecht zu behandeln; der dadurch ſtellungslos gewordene Graf
wurde der Impreſario für die Truppe, welche zuerſt als höfiſche
Fraction und ſpäter als Miniſterium des Regenten auf der Bühne
erſchien. Sie begann in der Preſſe, beſonders durch das von ihr
gegründete „Preußiſche Wochenblatt“, und durch perſönliche Wer¬
bungen in politiſchen und Hofkreiſen ſich Geltung zu ſchaffen. Die
„Finanzirung“, wie die Börſe ſich ausdrückt, wurde durch die großen
Vermögen Bethmann-Hollweg's und der Grafen Fürſtenberg-Stamm¬
heim und Albert Pourtalès, und die politiſche Aufgabe, als deren
Ziel zunächſt der Sturz Manteuffel's geſtellt war, von den geſchickten
Händen der Grafen Goltz und Pourtalès beſorgt. Beide ſchrieben
ein elegantes Franzöſiſch in geſchickter Diction, während Herr
von Manteuffel in der Herſtellung diplomatiſcher Aktenſtücke haupt¬
ſächlich auf die hausbackne Tradition ſeiner Beamten von der
franzöſiſchen Kolonie in Berlin angewieſen war. Auch Graf
Pourtalès war von dem Miniſterpräſidenten im Dienſte verſtimmt
und von dem Könige als Rival Manteuffel's ermuthigt worden.
Goltz wollte ohne Zweifel, wenn nicht der unmittelbare Nach¬
folger Manteuffel's, doch früher oder ſpäter Miniſter werden. Er
hatte auch das Zeug dazu, viel mehr als Harry von Arnim, weil
er weniger Eitelkeit und mehr Patriotismus und Charakter beſaß;
freilich auch mehr Zorn und Galle, die ſich vermöge der ihm inne¬
wohnenden Energie als Subtrahenda von ſeiner praktiſchen Leiſtung
[94/0121]
Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.
geltend machten. Ich habe zu ſeiner Ernennung nach Petersburg,
ſpäter nach Paris mitgewirkt und Harry von Arnim aus der un¬
wichtigen Stellung, in welcher ich ihn fand, ſchnell und nicht ohne
Widerſpruch in dem Cabinete befördert, aber an dieſen beiden
befähigtſten unter meinen diplomatiſchen Mitarbeitern daſſelbe erlebt,
wie Yglano an Anſelmo in dem Chamiſſoſchen Gedichte 1).
Auch Rudolf von Auerswald hatte ſich der Fraction zurück¬
haltend angeſchloſſen, kam aber im Juni 1854 zu mir nach Frank¬
furt, um mir zu ſagen, daß er ſeinen Feldzug der letzten Jahre
für verloren halte, ſich herauszuziehn wünſche und, wenn er den
Geſandten-Poſten in Braſilien erhielte, verſprechen wolle, ſich um
innere Politik nicht mehr zu kümmern 2). Obwohl ich Manteuffel
empfahl, in ſeinem Intereſſe darauf einzugehn und einen ſo feinen
Kopf, erfahrnen und achtbaren Mann und Freund des Prinzen
von Preußen auf dieſe ehrliche Weiſe zu neutraliſiren, ſo war ſein
und des Generals von Gerlach Mißtrauen oder Abneigung gegen
Auerswald doch ſo ſtark, daß der Miniſter ſeine Ernennung ab¬
lehnte. Manteuffel und Gerlach waren überhaupt, obſchon nicht
untereinander, doch gegen die Partei Bethmann-Hollweg einig.
Auerswald blieb im Lande und einer der Hauptträger der Be¬
ziehungen zwiſchen dieſen anti-Manteuffel'ſchen Elementen und dem
Prinzen.
Graf Robert Goltz, mit dem ich aus der Jugend her befreundet
war, verſuchte in Frankfurt auch mich für die Fraction zu gewinnen.
Ich lehnte den Beitritt, ſoweit Mitwirkung zum Sturze Manteuffel's
von mir gefordert würde, mit der Motivirung ab, daß ich, wie
damals der Fall war, mit vollem Vertrauen Manteuffel's den Poſten
in Frankfurt angetreten hätte und es nicht für ehrlich halten würde,
meine Stellung zum Könige zum Sturze Manteuffel's zu benutzen,
ſolange Letztrer mich nicht in die Nothwendigkeit verſetzte, mit ihm
1)
Vetter Anſelmo.
2)
S. Brief an Leopold v. Gerlach vom 6. Juni 1854, Ausgabe von
H. Kohl, S. 156.
[95/0122]
R. Goltz. R. v. Auerswald. Olmütz im Empfinden des Prinzen.
zu brechen, und daß ich in dem Falle ihm die Fehde und den
Grund derſelben vorher offen anſagen würde. Graf Goltz wollte
ſich damals verheirathen und bezeichnete mir als ſein nächſtes Ver¬
langen den Geſandſchaftspoſten in Athen. „Man ſoll mir,“ ſetzte
er mit Bitterkeit hinzu, „ſchon einen Poſten geben und einen guten;
davor iſt mir nicht bange.“
Die ſcharfe Kritik der Politik Olmütz, die in der That nicht
ſo ſehr die Schuld des preußiſchen Unterhändlers als der, um das
Wenigſte zu ſagen, ungeſchickten Leitung der preußiſchen Politik bis
zu ſeiner Zuſammenkunft mit dem Fürſten Schwarzenberg war,
und die Schilderung ihrer Folgen, das war die erſte Waffe, mit
welcher Manteuffel von Goltz angegriffen und die Sympathie des
Prinzen von Preußen gewonnen wurde. In dem ſoldatiſchen Ge¬
fühle des Letztern war Olmütz ein wunder Punkt, in Bezug auf
welchen nur die militäriſche und royaliſtiſche Diſciplin dem Könige
gegenüber die Empfindung der Kränkung und des Schmerzes be¬
herrſchte. Trotz ſeiner großen Liebe zu ſeinen ruſſiſchen Ver¬
wandten, die zuletzt in der innigen Freundſchaft mit Alexander II.
zum Ausdrucke kam, behielt er das Gefühl einer Demüthigung, die
Preußen durch den Kaiſer Nicolaus erlitten hatte, und dieſe
Empfindung wurde um ſo ſtärker, je mehr ſeine Mißbilligung
der Manteuffel'ſchen Politik und der öſtreichiſchen Einflüſſe ihn
der ihm früher ferner liegenden deutſchen Aufgabe Preußens
näher rückte.
Im Sommer 1853 ſchien es, daß Goltz ſich ſeinem Ziele
nähern, zwar nicht Manteuffel verdrängen, aber doch Miniſter
werden werde. Der General Gerlach ſchrieb mir am 6. Juli:
„Von Manteuffel hörte ich, daß Goltz ihm erklärt hat, nur
dann in das Miniſterium eintreten zu können, wenn die Umgebung
des Königs geändert, d. h. ich fortgeſchickt würde. Ich glaube
übrigens, ja ich könnte ſagen, ich weiß es, daß Manteuffel Goltz
als Rath in das Auswärtige Miniſterium hat haben wollen, um
gegen andre Perſonen dort, wie Le Coq (wohl eher gegen Gerlach
[96/0123]
Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.
und deſſen Freunde am Hofe) u. ſ. w. ein Gegengewicht zu haben,
was nun, Gott ſei Dank, durch Goltzens Trotz vereitelt iſt. — Ich
denke mir, daß ein Plan im Werke iſt — ob in allen zum Mit¬
handeln beſtimmten Perſonen bewußt oder unbewußt, halb oder ganz,
laſſe ich dahingeſtellt ſein — ein Miniſterium unter den Auſpicien
des Prinzen von Preußen zu formiren, in dem — nach Entfernung
von Raumer, Weſtphalen, Bodelſchwingh — Manteuffel als Präſes,
Ladenberg als Cultus, Goltz als Auswärtiger functioniren ſoll
und welches ſich die Kammermajorität verſchafft, was ich nicht für
ſehr ſchwierig halte. Damit ſitzt der arme König zwiſchen der
Kammermajorität und ſeinem Nachfolger und kann ſich nicht rühren.
Alles was Weſtphalen und Raumer zu Stande gebracht, und ſie
ſind die einzigen Menſchen, die etwas gethan, würde wieder ver¬
loren gehn, von den übrigen Folgen zu ſchweigen. Manteuffel
als doppelter Novembermann wäre wie ſchon jetzt inévitable.“
Der Gegenſatz der verſchiedenen Elemente, welche die Ent¬
ſchließungen des Königs zu beſtimmen ſuchten, ſteigerte ſich, der
Angriff der Bethmann-Hollweg'ſchen Fraction auf Manteuffel be¬
lebte ſich während des Krimkrieges. Der Miniſterpräſident hat
ſeine Abneigung gegen den Bruch mit Oeſtreich und gegen eine
Politik, wie ſie nach den böhmiſchen Schlachtfeldern führte, am
nachdrücklichſten in allen für unſre Freundſchaft mit Oeſtreich kri¬
tiſchen Momenten bethätigt. In der Zeit des Fürſten Schwarzen¬
berg, demnächſt des Krimkrieges und der Ausbeutung Preußens
für die öſtreichiſche Orientpolitik erinnerte unſer Verhältniß zu
Oeſtreich an das zwiſchen Leporello und Don Juan. In Frank¬
furt, wo zur Zeit des Krimkriegs die übrigen Bundesſtaaten
außer Oeſtreich verſuchsweiſe verlangten, daß Preußen ſie der öſt¬
reichiſch-weſtmächtlichen Vergewaltigung gegenüber vertrete, konnte
ich als Träger der preußiſchen Politik mich einer Beſchämung und
Erbitterung nicht erwehren, wenn ich ſah, wie wir gegenüber den
nicht einmal in höflichen Formen vorgebrachten Zumuthungen Oeſt¬
reichs jede eigne Politik und jede ſelbſtändige Anſicht opferten, von
[97/0124]
Das Bündniß mit Oeſtreich vom 20. April 1854.
Poſten zu Poſten zurückwichen, und unter dem Druck der In¬
feriorität, in Furcht vor Frankreich und in Demuth vor England,
im Schlepptau Oeſtreichs Deckung ſuchten. Der König war nicht
unempfänglich für dieſen meinen Eindruck, aber nicht geneigt, ihn
durch eine Politik im großen Stile abzuſchütteln.
Nachdem England und Frankreich am 28. März 1854 Ru߬
land den Krieg erklärt hatten, waren wir mit Oeſtreich das Schutz-
und Trutzbündniß vom 20. April eingegangen, das Preußen ver¬
pflichtete, unter Umſtänden 100000 Mann in Zeit von 36 Tagen
zu concentriren, ein Drittel in Oſtpreußen, die beiden andern zu
Poſen oder zu Breslau, und ſein Heer, wenn die Umſtände es
erheiſchten, auf 200000 Mann zu bringen und ſich behufs alles
deſſen mit Oeſtreich zu verſtändigen.
Unter dem 3. Mai ſchrieb mir Manteuffel folgenden pikirten
Brief:
„General von Gerlach theilt mir ſoeben mit, daß des Königs
Majeſtät Euer Hochwohlgeboren behufs Beſprechung über die Be¬
handlung des öſtreichiſch-preußiſchen Bündniſſes am Bunde hier an¬
weſend zu ſehen befohlen und daß der Herr General in dieſem
Sinne Euer Hochwohlgeboren bereits geſchrieben habe 1). In Ge¬
mäßheit dieſes Allerhöchſten Befehls, von dem mir übrigens vorher
nichts bekannt geweſen, darf ich keinen Anſtand nehmen. Euer Hoch¬
wohlgeboren ganz ergebenſt zu veranlaſſen, ſich unverzüglich hierher
zu verfügen. Mit Rückſicht auf die beim Bundestage bevorſtehenden
Verhandlungen dürfte Ihr Aufenthalt hierſelbſt nicht von langer
Dauer ſein können.“
Bei Beſprechung des Vertrages vom 20. April ſchlug ich
dem Könige vor, dieſe Gelegenheit zu benutzen, um uns und die
preußiſche Politik aus der ſecundären und, wie mir ſchien, un¬
würdigen Lage herauszuheben und eine Stellung einzunehmen,
1)
Dieſer Brief iſt veröffentlicht im Briefwechſel des Generals Leopold
v. Gerlach mit dem Bundestagsgeſandten Otto v. Bismarck S. 166.
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 7
[98/0125]
Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.
welche uns die Sympathie und die Leitung der deutſchen Staaten
gewonnen hätte, die mit uns und durch uns in unabhängiger
Neutralität zu verbleiben wünſchten. Ich hielte dies für erreich¬
bar, wenn wir, ſobald Oeſtreich die Truppenaufſtellung verlangte,
freundlich und bereitwillig darauf eingingen, aber die Aufſtellung
der 66000 und factiſch mehr Mann nicht bei Liſſa, ſondern in
Oberſchleſien machten, ſo daß unſre Truppen in der Lage ſeien,
die ruſſiſche oder die öſtreichiſche Grenze mit gleicher Leichtigkeit
zu überſchreiten, namentlich wenn wir uns nicht genirten, die
Ziffer 100000 uneingeſtanden zu überſchreiten. Mit 200000 Mann
würde Se. Majeſtät in dieſem Augenblick Herr der geſammten
europäiſchen Situation werden, den Frieden dictiren und in Deutſch¬
land eine Preußens würdige Stellung gewinnen können 1). Frank¬
reich war nicht im Stande, neben der Leiſtung, mit der es in der
Krim beſchäftigt war, bedrohlich an unſrer Weſtgrenze aufzutreten.
Oeſtreich hatte ſeine diſponiblen Kräfte in Oſt-Galizien ſtehn, wo
ſie von Krankheiten mehr Verluſte erlitten als auf den Schlacht¬
feldern. Sie waren feſtgenagelt durch die, auf dem Papier
wenigſtens, 200000 Mann ſtarke ruſſiſche Armee in Polen, deren
Marſch nach der Krim die dortige Situation entſchieden haben
würde, wenn die öſtreichiſche Grenzaufſtellung ihn hätte zuläſſig
erſcheinen laſſen. Es gab ſchon damals Diplomaten, welche die
Herſtellung Polens unter öſtreichiſchem Patronat in ihr Programm
aufgenommen hatten. Jene beiden Armeen ſtanden einander gegen¬
über feſt, und es war für Preußen möglich, durch ſeinen Beiſtand
einer von ihnen die Oberhand zu gewähren. Die Wirkung einer
engliſchen Blokade, welche unſre Küſte hätte treffen können, würde
nicht gefährlicher geweſen ſein als die wenige Jahre früher mehr¬
mals ausgeſtandene, uns ebenſo vollſtändig abſchließende däniſche,
und aufgewogen worden ſein durch die Erlangung unſrer und der
deutſchen Unabhängigkeit von dem Drucke und der Drohung einer
1) Vgl. die Aeußerung Bismarck's in der Reichstagsrede vom 6. Febr.
1888, Politiſche Reden XII 459.
[99/0126]
Preußens günſtige Lage im Krimkriege. „Liebeken, das is ſehr ſchöne!“
öſtreichiſch-franzöſiſchen Allianz und Vergewaltigung der zwiſchen¬
liegenden Mittelſtaaten. Während des Krimkrieges ſagte mir der
alte König Wilhelm von Würtemberg in vertraulicher Audienz am
Kamin in Stuttgart: „Wir deutſchen Südſtaaten können nicht gleich¬
zeitig die Feindſchaft Oeſtreichs und Frankreichs auf uns nehmen,
wir ſind zu nahe unter der Ausfallpforte Straßburg und vom
Weſten her occupirt, bevor uns von Berlin Hülfe kommen kann.
Würtemberg wird überfallen, und wenn ich ehrlich mich in das
preußiſche Lager zurückziehe, ſo werden die Klagen meiner vom
Feinde bedrückten Unterthanen mich zurückrufen; das würtember¬
giſche Hemd iſt mir näher als der Rock des Bundes“ 1).
Die nicht unbegründete Hoffnungsloſigkeit, welche in dieſer
Aeußerung den geſcheidten alten Herrn lag, und die mehr oder
weniger zornige Empfindung in andern Bundesſtaaten — nur
nicht in Darmſtadt, wo Herr von Dalwigk-Coehorn ſicher auf
Frankreich baute — dieſe Stimmungen würden ſich wohl geändert
haben, wenn ein nachdrückliches Auftreten Preußens in Oberſchleſien
den Beweis lieferte, daß weder Oeſtreich noch Frankreich uns
damals überlegnen Widerſtand zu leiſten vermochten, wenn wir
ihre entblößte und gefährdete Situation entſchloſſen benutzten. Der
König war nicht unempfänglich für die überzeugte Stimmung, in
welcher ich ihm die Sachlage und die Eventualitäten darſtellte; er
lächelte wohlgefällig und ſagte im Berliner Dialekt: „Liebeken,
das is ſehr ſchöne, aber es is mich zu theuer. Solche Gewalt¬
ſtreiche kann ein Mann von der Sorte Napoleon wohl machen,
ich aber nicht.“
II.
Der zögernde Beitritt der deutſchen Mittelſtaaten, die ſich in
Bamberg berathen hatten, zu dem Vertrage vom 20. April, die
1)
Vgl. die Aeußerungen Bismarck's in den Reden vom 22. Januar 1864
und 2. Mai 1871, Politiſche Reden II 276, V 52.
[100/0127]
Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.
Bemühungen des Grafen Buol, einen Kriegsfall zu ſchaffen, die
durch die Räumung der Wallachei und Moldau ſeitens der Ruſſen
vereitelt wurden, die von ihm beantragte und im Geheimniß vor
Preußen abgeſchloſſene Allianz mit den Weſtmächten vom 2. December,
die vier Punkte der Wiener Conferenz und der weitre Verlauf
bis zu dem Pariſer Frieden vom 30. März 1856 ſind von Sybel
aus den Archiven dargeſtellt, und meine amtliche Stellungnahme
zu allen dieſen Fragen ergiebt ſich aus dem Werke „Preußen im
Bundestage“, Ueber das, was in dem Cabinet vorging, über die
Erwägungen und Einflüſſe, die den König in den wechſelnden
Phaſen beſtimmten, erhielt ich von dem General von Gerlach Mit¬
theilungen, von denen ich die intereſſanteren einflechte. Wir hatten
für dieſe Correſpondenz ſeit Herbſt 1855 eine Art von Chiffre ver¬
abredet, in welchem die Staaten durch die Namen uns bekannter
Dörfer, die Perſonen nicht ohne Humor durch Figuren aus Shake¬
ſpeare bezeichnet waren 1).
„Berlin, den 24. April 1854.
Manteuffel hat ſeinen Abſchluß mit (dem Feldzeugmeiſter)
Heß zu Stande gebracht und zwar auf eine Art, die ich nicht
anders als eine verlorne Bataille bezeichnen kann. Alle meine
militäriſchen Berechnungen, alle Ihre Briefe, die entſchieden be¬
wieſen, daß Oeſterreich nie wagen würde, ohne uns zu einem be¬
ſtimmten Abſchluß mit den Weſtmächten zu kommen, haben nichts
geholfen; man hat ſich von den Furchtſamen furchtſam machen
laſſen, und ſo weit muß ich Manteuffel Recht geben, daß es gar
nicht unmöglich iſt, daß eben aus Furcht Oeſterreich den kühnen
Sprung nach Weſten hätte machen können.
Doch dem ſei wie ihm wolle, dieſer Abſchluß iſt ein fait
1)
S. den Schlüſſel in den Briefen Bismarck's an General L. v. Gerlach,
herausg. von H. Kohl S. 351 f. (doch iſt S. 352 Z. 4 zu leſen: Fortinbras,
Z. 8: Trinkulo). — Zum erſten Male bediente ſich der Chiffre Bismarck im
Briefe vom 21. December 1855, Gerlach im Briefe vom 15. Januar 1856
(Bismarck-Jahrbuch II 212 ff.).
[101/0128]
Auszüge aus Briefen des Generals L. v. Gerlach.
accompli, und man muß jetzt wie nach einer verlorenen Schlacht
die zerſtreuten Kräfte ſammeln, um dem Gegner ſich wieder ent¬
gegen ſtellen zu können, und da iſt denn das Nächſte, daß in dem
Vertrage alles auf gegenſeitiges Einverſtändniß geſtellt iſt. Aber
eben deshalb wird die nächſte und auch ſehr üble Folge ſein, daß
wir, ſobald wir die uns richtig ſcheinende Auslegung geltend
machen, der Doppelzüngigkeit und Wortbrüchigkeit angeklagt werden.
Dagegen müſſen wir uns zunächſt dickfellig machen, dann aber
dergleichen zuvorkommen, indem wir unſre Auslegung des Ver¬
trages ſofort ausſprechen, ſowohl in Wien als in Frankfurt, noch
bevor eine Colliſion eingetreten iſt. Denn die Dinge ſtehen ſo,
daß noch immer einem kräftigen, muthigen auswärtigen Miniſter
die Hände nicht gebunden ſind. Wir machen alle Schritte in
Petersburg ſelbſtſtändig, können alſo in der Conſequenz bleiben
und können ſtets noch die Einigung erlangen und bei derſelben
Reciprocität und Alles, was in dem Vertrage fehlt, geltend machen.
Budberg habe ich nach Kräften zu beſchwichtigen geſucht; Niebuhr
iſt ſehr thätig und eifrig auf dieſem Felde und hat ſich wie immer
geſchickt und vortrefflich benommen. Was hilft aber dieſe Flickerei,
die zuletzt doch eine undankbare Arbeit iſt. Es liegt in der Natur
des Menſchen, alſo auch unſres Herrn, daß wenn er mit einem
Diener einen Bock oder vielmehr eine Ricke geſchoſſen hat, er
dieſen zunächſt hält und die beſonnenen und treuen Freunde
ſchlecht behandelt. In der Lage bin ich jetzt, und ſie iſt wahrlich
nicht beneidenswerth 1). ...
Sansſouci, den 1. Juli 1854.
... Die Dinge haben ſich einmal wieder furchtbar verwickelt,
ſtehen aber doch wieder ſo, daß man, wenn alles klappt, ein gutes
Ende für möglich halten kann. ... Wenn wir Oeſterreich nicht
ſo lange als möglich feſthalten, ſo laden wir eine ſchwere Schuld
auf uns, rufen die Trias ins Leben, welche der Anfang des Rhein¬
1)
Vgl. Briefwechſel Gerlach-Bismarck S. 163 f.
[102/0129]
Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.
bundes iſt und den franzöſiſchen Einfluß bis unter die Thore von
Berlin bringt. Jetzt haben die Bamberger es verſucht, ſich unter
dem Protectorate von Rußland als Trias zu conſtituiren, wohl
wiſſend, daß es ein leichtes iſt, ein Protectorat zu wechſeln, um ſo
mehr, da die ruſſiſch-franzöſiſche Allianz doch das Ende vom Liede
iſt, wenn England nicht bald die Augen aufgehen über die Thor¬
heit des Krieges und des Bündniſſes mit Frankreich 1). ...
Sansſouci, den 22. Juli 1854.
Für die deutſche Diplomatie, in ſo weit ſie jetzt von Preußen
ausgeht, öffnet ſich ein glänzendes Schlachtfeld, denn leider ſcheint
es, daß Prokeſch nicht Unrecht hat, wenn er für ſeinen Kaiſer die
Kriegstrompete bläſt. Die Wiener Nachrichten ſind gar nicht be¬
ſonders, obſchon ich es doch noch nicht aufgebe, daß in der elften
Stunde Buol und der Kaiſer auseinander gehen werden. ... Es wäre
der größeſte Fehler, den man machen könnte, wenn man den mir noch
nicht ganz verſtändlichen antifranzöſiſchen Enthuſiasmus von Bayern,
Würtemberg, Sachſen und Hannover, ſo ganz ungenutzt vorüber¬
gehen ließe. Sobald man mit Oeſterreich im Klaren iſt, d. h. ſowie
deſſen weſtmächtliche Sympathien klar hervortreten, müſſen die leb¬
hafteſten Verhandlungen mit den deutſchen Mächten beginnen, und
wir müſſen einen Fürſtenbund ſchließen, ganz anders und feſter
als der von Friedrich II. war 2). ...
Charlottenburg, den 9. Auguſt 1854.
... Manteuffel iſt bis jetzt ganz vernünftig, aber wie Sie wiſſen,
unzuverläſſig. Ich glaube, daß Sie die Aufgabe haben, nach zwei
Seiten hin für den richtigen Weg zu wirken. Einmal, daß Sie
Ihrem Freunde Prokeſch die richtige Politik über dem Kopfe weg¬
nehmen und ihm zu verſtehen geben, daß jetzt jeder Vorwand weg¬
1)
Vgl. a. a. O. S. 174 f.
2)
a. a. O. 178 f.
[103/0130]
Auszüge aus Briefen des Generals v. Gerlach. Brief Niebuhrs.
fällt, Oeſterreich in ſeinem Kriegsgelüſte gegen Rußland nachzu¬
gehen, und dann, daß Sie den deutſchen Mächten den Weg weiſen,
den ſie zu gehen haben. ... Es iſt ein eigen Unglück, daß der
Aufenthalt (des Königs Friedrich Wilhelm) in München wieder an
gewiſſer Stelle germanomaniſchen Enthuſiasmus erregt hat. Eine
deutſche Reſervearmee, er an der Spitze, iſt der confuſe Gedanke,
der eine nicht gute Einwirkung auf die Politik macht. Ludwig XIV.
ſagte l'état c'est moi. Mit viel mehr Recht kann Se. Majeſtät
ſagen l'Allemagne c'est moi. L. v. G.“ 1)
Daneben gewährte der nachſtehende Brief des Cabinetsraths
Niebuhr an mich einen weitern Einblick in die Stimmungen am
Hofe.
„Puttbus, den 22. Auguſt 1854.
Ich verkenne gewiß nicht gute Intentionen, wenn ſie auch
meiner Ueberzeugung nach nicht an der (richtigen) Stelle und noch
weniger richtig ausgeführt ſind, und ebenſowenig das Recht von
Intereſſen, wenn ſie auch demjenigen, was ich für richtig halten muß,
ſchnurſtracks widerſprechen. Aber ich verlange Wahrheit und Klar¬
heit, und deren Mangel kann mich zur Deſperation bringen. Mangel
an Wahrheit nach außen kann ich unſrer Politik nun nicht
zum Vorwurf machen: wohl aber Unwahrheit gegen uns ſelbſt.
Wir würden ganz anders daſtehen, und Vieles unterlaſſen haben,
wenn wir uns die eigentlichen Motive dazu eingeſtanden hätten,
ſtatt uns beſtändig vorzuſpiegeln, daß die einzelnen Acte unſrer
Politik Conſequenzen der richtigen Grundgedanken derſelben ſeien.
Die fortgeſetzte Theilnahme an den Wiener Conferenzen nach dem
Einlaufen der engliſch-franzöſiſchen Flotte in die Dardanellen und
jetzt zuletzt die Unterſtützung der weſtmächtlich-öſterreichiſchen For¬
derungen in Petersburg, haben ihren wahren Grund in der kin¬
diſchen Furcht, ,aus dem Concert européen hinausgedrängt zu
1)
Briefwechſel S. 181 f.
[104/0131]
Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.
werden‘ und ,die Stellung als Großmacht zu verlieren‘. Die
größten Albernheiten, die zu denken ſind: denn von einem Concert
européen zu ſprechen, wenn zwei Mächte mit einer dritten im
Kriege ſind, iſt doch geradezu ein hölzernes Eiſen, und unſre
Stellung als Großmacht verdanken wir doch wahrhaftig nicht der
Gefälligkeit von London, Paris und Wien, ſondern unſrem guten
Schwerte. Ueberdem aber ſpielt überall eine Empfindlichkeit gegen
Rußland mit, die ich vollkommen begreife, und auch theile, der man
aber jetzt nicht nachgeben kann, ohne zugleich uns ſelbſt zu züchtigen.
Wo man nicht wahr gegen ſich ſelbſt iſt, iſt man allemal auch
nicht klar. Und ſo leben und handeln wir zwar nicht in ſolcher
Unklarheit, wie in Wien, wo man wie ein Schlaftrunkener alle
Augenblicke handelt, als ob man ſchon im Kriege mit Rußland
wäre: aber wie man neutral und Friedensvermittler ſein, und zu¬
gleich Propoſitionen, wie die letzten der Seemächte empfehlen kann,
verſtehe ich mit meinen ſchwachen Verſtandeskräften nicht.“
Die folgenden Brieffragmente ſind wieder von Gerlach.
„Sansſouci, 13. October 1854.
... Seitdem ich alles geleſen und nach Kräften gegen einander
abgewogen habe, halte ich es für ſehr wahrſcheinlich, daß die
zwei Drittel Stimmen Oeſterreich nicht entgehen werden. Hannover
ſpielt ein falſches Spiel, Braunſchweig iſt weſtmächtlich, die Thü¬
ringer ebenſo, Bayern iſt in allen Zuſtänden und des Königs
Majeſtät iſt ein ſchwankendes Rohr. Selbſt über Beuſt gehen zweifel¬
hafte Nachrichten ein. Hierzu kommt, daß man in Wien zum Kriege
entſchloſſen ſcheint. Man ſieht ein, daß die expectative bewaffnete
Stellung nicht länger durchzuführen iſt, ſchon finanziell nicht, und
hält das Umkehren für gefährlicher als das Vorwärtsgehen. Leicht
iſt das Umkehren auch wirklich nicht, und ich ſehe auch nicht ein,
woher dem Kaiſer dazu die Entſchloſſenheit kommen ſoll. Oeſter¬
reich kann ſich für das Erſte und oberflächlich leichter mit den
revolutionären Plänen der Weſtmächte verſtändigen als Preußen,
[105/0132]
Ein Brief Niebuhrs. Auszüge aus Gerlachs Briefen.
z. B. mit einer Reſtauration von Polen, einem rückſichtsloſen Ver¬
fahren gegen Rußland u. ſ. w., ſowie es keinem Zweifel unter¬
liegt, daß Frankreich und England ihm auf der andern Seite noch
leichter als uns Verlegenheiten bereiten können, ſowohl in Ungarn
als in Italien. Der Kaiſer iſt in den Händen ſeiner Polizei und
was das heißt, habe ich in den letzten Jahren gelernt *), hat ſich
vorlügen laſſen, Rußland habe Koſſuth aufgehetzt u. ſ. w. Er hat
damit ſein Gewiſſen beſchwichtigt, und was die Polizei nicht ver¬
mag, das leiſtet der Ultramontanismus, die Wuth gegen die ortho¬
doxe Kirche und gegen das protéſtantiſche Preußen. Daher iſt auch
ſchon jetzt von einem Königreich Polen unter einem öſterreichiſchen
Erzherzoge die Rede. ... Aus allem dieſem folgt, daß man ſehr
auf ſeiner Hut ſein und auf alles, ſelbſt auf einen Krieg gegen
die mit Oeſterreich verbündeten Weſtmächte gefaßt ſein muß, daß
den deutſchen Fürſten nicht zu trauen iſt u. ſ. w. Der Herr möge
uns geben, daß wir nicht ſchwach befunden werden, aber ich müßte
eine Unwahrheit ſagen, wenn ich den Leitern unſrer Geſchicke feſt
vertraute. Halten wir daher eng zuſammen. Anno 1850 hatte
Radowitz uns etwa auf denſelben Punkt gebracht wie Buol jetzt
paſſiv von drüben her 1). ...
Sansſouci, den 15. November 1854.
... Was Oeſterreich anbetrifft ſo iſt mir durch die letzten Ver¬
handlungen endlich die dortige Politik klar geworden. In meinem
Alter iſt man von ſchweren Begriffen. Die öſterreichiſche Politik
*)
Gerlach hat dabei wohl an Ohm und Hantge gedacht, auch an die Be¬
richte, welche der phantaſiereiche und gut bezahlte Oeſtreicher Tauſenau aus
London über gefährliche Anſchläge der deutſchen Flüchtlinge erſtattete. Der
König muß über die Zuverläſſigkeit dieſer Meldungen zweifelhaft geworden
ſein; er beauftragte direct aus ſeinem Cabinet den Geſandten Bunſen, von der
engliſchen Polizei Erkundigung einzuziehn, die dahin ausfiel, daß die deutſchen
Flüchtlinge in London zu viel mit dem Erwerb ihres Lebensunterhaltes zu thun
hätten, um an Attentate zu denken.
1)
Briefwechſel S. 191 ff.
[106/0133]
Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.
iſt keine ultramontane der Hauptſache nach, wie es ſich Se. Majeſtät
conſtruirt, obſchon ſie den Ultramontanismus nach den Umſtänden
gebraucht; ſie hat keine großen Pläne von Eroberungen im Orient,
obſchon ſie auch davon etwas mitnimmt; ſie denkt auch nicht an
die deutſche Kaiſerkrone. Alles das iſt viel zu erhaben und wird nur
hin und wieder als Mittelchen zum Zweck benutzt. Die öſter¬
reichiſche Politik iſt eine Politik der Furcht, baſirt auf die ſchwie¬
rige innere und äußere Lage in Italien, Ungarn, in den Finanzen,
in dem zerſtörten Recht, in der Furcht vor Bonaparte, in der Angſt
vor ruſſiſcher Rache, auch in der Furcht vor Preußen, dem man
viel mehr Böſes zutraut, als irgend Jemand je hier gedacht hat.
Meyendorff ſagt: ‚Mein Schwager Buol iſt ein politiſcher Hunds¬
fott; er fürchtet jeden Krieg, aber allerdings mehr einen Krieg mit
Frankreich als mit Rußland.‘ Dieſes Urtheil iſt ganz richtig, und
dieſe Furcht iſt das, was Oeſterreich beſtimmt. ...
Ich glaube, wenn man betrachtet, daß es immer ein gefähr¬
liches Ding iſt, allein zu ſtehen, daß die Dinge hier im Lande ſo
ſind, daß es auch gefährlich iſt, ſie auf die Spitze zu treiben; da
weder Manteuffel noch — zuverläſſig ſind, ſo ſcheint es mir der
Klugheit angemeſſen, Oeſterreich ſo weit als irgend möglich nach¬
zugehen. Ueber dieſe Möglichkeit hinaus liegt aber jede Allianz mit
Frankreich, die wir weder moraliſch, noch finanziell, noch militäriſch
vertragen können. Sie wäre unſer Tod, wir verlören unſern Ruhm
von 1813–1815, von dem wir leben, wir würden den mit Recht
mistrauiſchen Alliirten Feſtungen einräumen, wir würden ſie er¬
nähren müſſen. Bonaparte l'élu de sept millions würde bald
einen König von Polen finden, der auf demſelben Rechtstitel ſtände
und dem man mit Leichtigkeit die Wähler in beliebiger Anzahl
finden würde 1). ...
Potsdam, den 4. Januar 1855.
... Ich glaube, daß wir einig ſein würden, wenn Sie hier
wären, das heißt in dem was zu thun iſt, wenn auch nicht im
1)
a. a. O. 203 ff.
[107/0134]
Auszüge aus Briefen des Generals v. Gerlach.
Princip, denn ich halte mich an die heilige Schrift, daß man nicht
Böſes thun darf, daß Gutes daraus werde, weil derer, die das thun,
Verdammniß ganz recht iſt. Mit Bonaparte und dem Liberalismus
buhlen iſt aber böſe, im gegebenen Falle aber außerdem auch meines
Erachtens unweiſe. Sie vergeſſen (ein Fehler, in den Jeder fällt,
der eine Weile von hier fort iſt) die Perſönlichkeiten, welche doch
das Entſcheidende ſind. Wie können Sie ſolche indirecten Finaſſe¬
rien mit einem völlig principienloſen, unzuverläſſigen Miniſter, der
in den falſchen Weg unwillkürlich hineingezogen wird, und mit
einem, um nicht mehr zu ſagen, unberechenbar eigenthümlichen
Herrn machen. Bedenken Sie doch, daß Manteuffel principaliter
Bonapartiſt iſt, denken Sie an ſein Benehmen bei dem coup d'état,
an die von ihm damals patroniſirte Quehl'ſche Schrift, und wenn
Sie etwas Neueres haben wollen, ſo kann ich Ihnen ſagen, daß
er jetzt an Werther (damals Geſandter in Petersburg) die thörichte
Anſicht geſchrieben hat, daß wenn man Rußland nützen wolle,
man dem Vertrage vom 2. December beitreten müſſe, um bei den
Verhandlungen mitzuſprechen.
Nehmen die Verhandlungen in Wien einen Charakter an, ſo
daß man auf einen Erfolg rechnen könnte, ſo wird man uns ſchon
zuziehen und uns mit unſern 300000 Mann nicht ignoriren. Schon
jetzt wäre das nicht möglich, wenn man ſich nicht durch Hinken,
nicht wie das oft geſchehen nach zwei, ſondern, was ſelten ge¬
ſchehen, nach drei Seiten, um alles Vertrauen und alle Einflößung
von Furcht gebracht hätte.
Ich wünſche ſehr, daß Sie, wenn auch nur auf einige Tage,
herkämen, um ſich zu orientiren. Ich weiß aus eigner Erfahrung,
wie ſchnell man bei einer irgend längeren Abweſenheit desorientirt
iſt. Denn eben wegen ihrer personalissimen Eigenſchaft iſt es
ſo ſchwer, unſre Zuſtände durch Schreiben verſtändlich zu machen,
beſonders wenn unzuverläſſige principienloſe Charaktere im Spiele
ſind. Mir iſt immer ſehr unheimlich, wenn Se. Majeſtät mit
Manteuffel Geheimniſſe haben, denn wenn der König ſeiner Sache
[108/0135]
Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.
vor Gott und ſeinem Gewiſſen gewiß iſt, ſo iſt er gegen Viele,
nicht etwa blos gegen mich, offener als gegen Manteuffel. Bei
jenen Heimlichkeiten aber entſteht ein Gebräu von Schwäche und
Finaſſerie auf der einen und von animoſem Servilismus auf der
andern Seite, was in der Regel etwas ſehr Unglückliches zur Welt
bringt 1).
Berlin, den 23. Januar 1855.
... Was mich ganz niederſchlägt, iſt der allgemein verbreitete
Bonapartismus und die Indifferenz und der Leichtſinn, womit
man dieſe größte aller Gefahren auf ſich zukommen ſieht. Iſt es
denn ſo ſchwer zu erkennen, wohin dieſer Menſch will? ... Und
wie ſtehen hier die Sachen? The king can do no wrong. Von
dem ſchweige ich; Manteuffel iſt völlig Bonapartiſt. Bunſen mit¬
ſammt Uſedom ſind keine Preußen. Hatzfeld in Paris hat eine
bonapartiſtiſche Frau und iſt ſo eingeſeift, daß ſein hieſiger Schwager
den alten Bonaparte im Vergleich mit dem jetzigen für einen
Eſel hält. Was ſoll daraus werden, und wie darf man dem
Könige Vorwürfe machen, wenn er ſo bedient iſt. Von den irregu¬
lären Rathgebern zu ſchweigen. L. v. G.“ 2)
Bei Manteuffel hatte eine active und unternehmende anti¬
öſtreichiſche Politik noch weniger Ausſicht auf Anklang als bei
dem Könige. Mein damaliger Chef machte mir in der Diſcuſſion
der Frage unter vier Augen wohl den Eindruck, als theile er
meine boruſſiſche Entrüſtung über die geringſchätzige und verletzende
Art der Behandlung, die wir von der Politik Buol-Prokeſch er¬
fuhren. War aber die Situation bis zum Handeln gediehn, kam
es darauf an, einen wirkſamen diplomatiſchen Schritt in anti¬
öſtreichiſcher Richtung zu thun oder auch nur die Fühlung mit
1)
Vgl. Briefwechſel 216 ff.
2)
a. a. O. 222 ff. — Die weiteren Briefe Gerlach's aus den Jahren
1855–1860 ſind veröffentlicht im Bismarck-Jahrbuch II 191 ff., IV 158 ff.,
VI 83 ff.
[109/0136]
Auszüge aus Gerlachs Briefen. Miniſterkriſen.
Rußland ſo weit feſtzuhalten, daß wir dieſem bis dahin befreundeten
Nachbar gegenüber nicht direct feindlich auftraten, dann ſpitzte
ſich die Sache in der Regel dahin zu, daß eine Cabinetskriſis
zwiſchen dem Könige und dem Miniſterpräſidenten entſtand und
der erſtre dem letztern gelegentlich mit mir oder auch mit dem
Grafen Alvensleben drohte, in einem Falle auch, im Winter 1854,
mit dem Grafen Albert Pourtalès aus der Bethmann-Hollwegſchen
Coterie, obſchon deſſen Auffaſſung der auswärtigen Politik die
entgegengeſetzte von der meinigen und auch mit der des Grafen
Alvensleben ſchwerlich verträglich war.
Das Ende der Kriſis führte den König und den Miniſter ſtets
wieder zuſammen. Von den drei Gegencandidaten hatte Graf Alvens¬
leben ziemlich öffentlich erklärt, er würde unter dieſem Monarchen
nie wieder ein Amt annehmen. Der König wollte mich zu ihm
nach Erxleben ſchicken; ich rieth davon ab, weil Alvensleben mir
vor kurzem obige Erklärung mit Bitterkeit in Frankfurt wiederholt
hatte. Als wir uns ſpäter wiederſahen, war ſeine Verſtimmung
gehoben, er war geneigt, einer Aufforderung Sr. Majeſtät ent¬
gegen zu kommen, und wünſchte, daß ich in dem Falle mit ihm
eintreten möge. Der König iſt aber mir gegenüber nicht auf
Alvensleben zurückgekommen, vielleicht weil in der Zeit nach mei¬
nem Beſuche in Paris (Auguſt 1855) eine Erkältung am Hofe,
und namentlich bei Ihrer Majeſtät der Königin mir gegenüber ein¬
getreten war. Graf Pourtalès war dem Könige wegen ſeines Reich¬
thums „zu unabhängig“ 1). Der König war der Meinung, daß arme
und auf Gehalt angewieſene Miniſter gehorſamer wären. Ich
ſelbſt entzog mich der verantwortlichen Stellung unter dieſem Herrn,
wie ich konnte, und ſöhnte ihn immer wieder mit Manteuffel aus,
den ich zu dieſem Zwecke auf dem Lande (Drahnsdorf) beſuchte 2).
1)
S. u. S. 138.
2)
Vgl. die Aeußerung in der Reichstagsrede vom 6. Febr. 1888, Poli¬
tiſche Reden XII 448 f.
[110/0137]
Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.
III.
In dieſer Situation trieb die Wochenblattspartei, wie ſie auch
genannt wurde, ein merkwürdiges Doppelſpiel. Ich erinnere mich
der umfangreichen Denkſchriften, welche die Herrn unter ſich aus¬
tauſchten und durch deren Mittheilung ſie mitunter auch mich für
ihre Sache zu gewinnen ſuchten. Darin war als ein Ziel auf¬
geſtellt, nach dem Preußen als Vorkämpfer Europas zu ſtreben
hätte, die Zerſtückelung Rußlands, der Verluſt der Oſtſeeprovinzen
mit Einſchluß von Petersburg an Preußen und Schweden, des
Geſammtgebiets der Republik Polen in ihrer größten Ausdehnung
und die Zerſetzung des Ueberreſtes durch Theilung zwiſchen Groß-
und Klein-Ruſſen, abgeſehn davon, daß faſt die Mehrheit der
Klein-Ruſſen ſchon dem Maximalgebiet der Republik Polen gehört
hatte. Zur Rechtfertigung dieſes Programms wurde mit Vor¬
liebe die Theorie des Freiherrn von Haxthauſen-Abbenburg (Studien
über die inneren Zuſtände, das Volksleben und insbeſondere die
ländlichen Einrichtungen Rußlands) benutzt, daß die drei Zonen
mit ihren einander ergänzenden Producten den hundert Millionen
Ruſſen, wenn ſie vereinigt blieben, das Uebergewicht über Europa
ſichern müßten.
Aus dieſer Theorie wurde die Nothwendigkeit der Pflege des
natürlichen Bündniſſes mit England entwickelt, mit dunkeln An¬
deutungen, daß England, wenn Preußen ihm mit ſeiner Armee
gegen Rußland diene, ſeinerſeits die preußiſche Politik in dem
Sinne, den man damals den „Gothaer“ nannte, fördern würde.
Von der angeblichen öffentlichen Meinung des engliſchen Volkes
im Bunde bald mit dem Prinzen Albert, welcher dem Könige und
dem Prinzen von Preußen unerbetene Lectionen ertheilte, bald mit
Lord Palmerſton, der im November 1851 gegen eine Deputation
radicaler Vorſtädter England als den einſichtigen Sekundanten
(judicious bottleholder) jedes für ſeine Freiheit kämpfenden Volkes
[111/0138]
Doppelſpiel der Wochenblattspartei.
bezeichnete und ſpäter in Flugſchriften den Prinzen Albert als den
gefährlichſten Gegner ſeiner befreienden Anſtrengungen denunciren
ließ, von dieſen Hülfen wurde die Geſtaltung der deutſchen Zu¬
ſtände mit Sicherheit vorhergeſagt, welche ſpäter von der Armee
des Königs Wilhelm auf den Schlachtfeldern erkämpft worden iſt.
Die Frage, ob Palmerſton oder ein andrer engliſcher Miniſter
geneigt ſein würde, Arm in Arm mit dem gothaiſirenden Liberalis¬
mus und mit der Fronde am preußiſchen Hofe Europa zu einem
ungleichen Kampfe herauszufordern und engliſche Intereſſen auf
dem Altar der deutſchen Einheitsbeſtrebungen zu opfern, — die
weitere Frage, ob England dazu ohne andern continentalen Bei¬
ſtand als den einer in coburgiſche Wege geleiteten preußiſchen
Politik im Stande ſein würde — dieſe Fragen bis an's Ende
durchzudenken, fühlte niemand den Beruf, am allerwenigſten die
Fürſprecher derartiger Experimente. Die Phraſe und die Bereit¬
willigkeit, im Partei-Intereſſe jede Dummheit hinzunehmen, deckten
alle Lücken in dem windigen Bau der damaligen weſtmächtlichen
Hofnebenpolitik. Mit dieſen kindiſchen Utopien ſpielten ſich die
zweifellos klugen Köpfe der Bethmann-Hollwegſchen Partei als
Staatsmänner aus, hielten es für möglich, den Körper von ſechzig
Millionen Groß-Ruſſen in der europäiſchen Zukunft als ein caput
mortuum zu behandeln, das man nach Belieben mißhandeln
könne, ohne daraus einen ſichern Bundesgenoſſen jedes zukünftigen
Feindes von Preußen zu machen und ohne Preußen in jedem fran¬
zöſiſchen Kriege zur Rückendeckung gegen Polen zu nöthigen, da
eine Polen befriedigende Auseinanderſetzung in den Provinzen
Preußen und Poſen und ſelbſt noch in Schleſien unmöglich iſt,
ohne den Beſtand Preußens aufzulöſen. Dieſe Politiker hielten
ſich damals nicht nur für weiſe, ſondern wurden in der liberalen
Preſſe als ſolche verehrt.
Von den Leiſtungen des Preußiſchen Wochenblatts iſt mir unter
andern eine in der Erinnerung geblieben, ein Memoire, das an¬
geblich unter dem Kaiſer Nicolaus in dem Auswärtigen Amte in
[112/0139]
Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.
Petersburg behufs Unterweiſung des Thronfolgers ausgearbeitet
war, die in dem apokryphen, ungefähr um das Jahr 1810 in
Paris entſtandenen, Teſtamente Peters des Großen niedergelegten
Grundzüge der ruſſiſchen Politik auf die Gegenwart anwendet und
Rußland mit einer gegen alle Staaten gerichteten Minirarbeit zum
Zwecke der Weltherrſchaft beſchäftigt erſcheinen läßt. Es iſt mir
ſpäter mitgetheilt worden, daß dieſes in die ausländiſche, nament¬
lich die engliſche Preſſe übergegangene Elaborat von Conſtantin
Frantz geliefert war.
Während Goltz und ſeine Berliner Genoſſen ihre Sache mit
einem gewiſſen Geſchick betrieben, von welchem der erwähnte Artikel
eine Probe iſt, war Bunſen, Geſandter in London, ſo unvorſichtig,
im April 1854 dem Miniſter Manteuffel eine lange Denkſchrift
einzuſenden, welche die Herſtellung Polens, die Ausdehnung Oeſt¬
reichs bis in die Krim, die Verſetzung der Erneſtiniſchen Linie auf
den ſächſiſchen Königsthron und dergleichen mehr forderte und die
Mitwirkung Preußens für dieſes Programm empfahl. Gleichzeitig
hatte er nach Berlin gemeldet, die engliſche Regirung würde mit
der Erwerbung der Elbherzogthümer durch Preußen einverſtanden
ſein, wenn letztres ſich den Weſtmächten anſchließen wolle, und in
London hatte er zu verſtehn gegeben, daß die preußiſche Regirung
dazu unter der bezeichneten Gegenleiſtung bereit ſei 1). Zu beiden Er¬
klärungen war er nicht ermächtigt. Das war denn doch dem Könige,
als er dahinter kam, zu viel, ſo ſehr er Bunſen liebte. Er ließ ihn
durch Manteuffel anweiſen, einen langen Urlaub zu nehmen, der
dann in den Ruheſtand überging. In der von der Familie heraus¬
gegebenen Biographie Bunſen's iſt jene Denkſchrift, mit Weglaſſung
der ärgſten Stellen, aber ohne Andeutung von Lücken, abgedruckt
und die amtliche Correſpondenz, die mit der Beurlaubung endigte,
in einſeitiger Färbung wiedergegeben. Ein im Jahre 1882 in die
Preſſe gelangter Brief des Prinzen Albert an den Freiherrn von Stock¬
1)
Vgl. Sybel, Die Begründung des Deutſchen Reichs II 181.
[113/0140]
Ein gefälſchtes Memoire. Denkſchrift Bunſens.
mar, in welchem „der Sturz Bunſens“ aus einer ruſſiſchen Intrigue
erklärt und das Verhalten des Königs ſehr abfällig beurtheilt wird,
gab Veranlaſſung, den vollſtändigen Text der Denkſchrift und, immer
noch mit Schonung, den wahren Hergang der Sache nach den
Akten zu veröffentlichen („Deutſche Revue“ 1882, S. 152 ff.).
In die Pläne der Ausſchlachtung Rußlands hatte man den
Prinzen von Preußen nicht eingeweiht. Wie es gelungen, ihn für
eine Wendung gegen Rußland zu gewinnen, ihn, der vor 1848
ſeine Bedenken gegen die liberale und nationale Politik des Königs
nur in den Schranken brüderlicher Rückſicht und Unterordnung
geltend gemacht hatte, zu einer ziemlich activen Oppoſition gegen
die Regirungspolitik zu bewegen, trat in einer Unterredung her¬
vor, die ich mit ihm in einer der Kriſen hatte, in welchen mich
der König zum Beiſtande gegen Manteuffel nach Berlin berufen
hatte. Ich wurde gleich nach meiner Ankunft zu dem Prinzen be¬
fohlen, der mir in einer durch ſeine Umgebung erzeugten Gemüths¬
erregung den Wunſch ausſprach, ich ſolle dem Könige im weſt¬
mächtlichen und antiruſſiſchen Sinne zureden. Er ſagte: „Sie
ſehn ſich hier zwei ſtreitenden Syſtemen gegenüber, von denen das
eine durch Manteuffel, das andre, ruſſenfreundliche, durch Gerlach
und den Grafen Münſter in Petersburg vertreten iſt. Sie kommen
friſch hierher, ſind von dem Könige gewiſſermaßen als Schiedsmann
berufen. Ihre Meinung wird daher den Ausſchlag geben, und ich
beſchwöre Sie, ſprechen Sie ſich ſo aus, wie es nicht nur die
europäiſche Situation, ſondern auch ein richtiges Freundesintereſſe
für Rußland erfordert. Rußland ruft ganz Europa gegen ſich auf
und wird ſchließlich unterliegen. Alle dieſe prächtigen Truppen,“ —
es war dies nach den für die Ruſſen nachtheiligen Schlachten vor
Sebaſtopol — „alle unſre Freunde, die dort geblieben ſind,“ —
er nannte mehre — „würden noch leben, wenn wir richtig ein¬
gegriffen und Rußland zum Frieden gezwungen hätten.“ Es würde
damit enden, daß Rußland, unſer alter Freund und Bundesgenoſſe,
vernichtet oder in gefährlicher Weiſe geſchädigt würde. Unſre, von
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 8
[114/0141]
Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.
der Vorſehung gegebene Aufgabe ſei es, den Frieden dictatoriſch
herbeizuführen und unſern Freund auch gegen ſeinen Willen zu
retten.
In dieſer Form etwa hatten Goltz, Albert Pourtalès und
Uſedom in ihrer auf den Sturz Manteuffel's berechneten Politik die
Preußen gegen Rußland zugedachte Rolle dem Prinzen annehmbar
gemacht, wobei die Abneigung der Prinzeſſin, ſeiner Gemalin, gegen
Rußland ihnen behülflich geweſen ſein wird.
Um ihn aus dieſem Gedankenkreiſe loszumachen, ſtellte ich ihm
vor, daß wir abſolut keinen eignen Kriegsgrund gegen Rußland
hätten und kein Intereſſe an der orientaliſchen Frage, das einen
Krieg mit Rußland oder auch nur das Opfer unſrer langjährigen
guten Beziehungen zu Rußland rechtfertigen könnte; im Gegentheil,
jeder ſiegreiche Krieg gegen Rußland unter unſrer nachbarlichen
Betheiligung belade uns nicht nur mit dem dauernden Revanche¬
gefühl Rußlands, das wir ohne eignen Kriegsgrund angefallen,
ſondern zugleich mit einer ſehr bedenklichen Aufgabe, nämlich die
polniſche Frage in einer für Preußen erträglichen Form zu löſen.
Wenn eigne Intereſſen keinenfalls für, eher gegen einen Bruch
mit Rußland ſprächen, ſo würden wir den bisherigen Freund und
immerwährenden Nachbar, ohne daß wir provocirt wären, ent¬
weder aus Furcht vor Frankreich oder im Liebesdienſte Englands
und Oeſtreichs angreifen. Wir würden die Rolle eines indiſchen
Vaſallenfürſten übernehmen, der im engliſchen Patronat engliſche
Kriege zu führen hat, oder die des York'ſchen Corps beim Aus¬
marſch zum Kriege 1812, wo die damals berechtigte Furcht vor
Frankreich uns zu deſſen gehorſamen Bundesgenoſſen zwangsweis
gemacht hatte.
Den Prinzen verletzte mein Ausdruck, mit zorniger Röthe unter¬
brach er mich mit den Worten: „Von Vaſallen und Furcht iſt
hier garkeine Rede.“ Er brach aber die Unterredung nicht ab.
Wer einmal ſein Vertrauen hatte und in ſeiner Gnade ſtand,
konnte ihm gegenüber ſehr frei von der Leber ſprechen, ſogar heftig
[115/0142]
Unterredung mit dem Prinzen v. Preußen. Depeſchendiebſtahl.
werden. Ich nahm an, daß es mir nicht gelungen ſei, die Auf¬
faſſung, der ſich der Prinz unter häuslichem, engliſchem und
Bethmann-Hollwegſchem Einfluß ehrlich überlaſſen hatte, zu er¬
ſchüttern. Gegen den Einfluß der letztern Partei wäre ich auch
bei ihm wohl durchgedrungen, aber gegen den der Frau Prinzeſſin
konnte ich nicht aufkommen.
Während des Krimkrieges und, wenn ich mich recht erinnere,
aus Anlaß deſſelben wurde ein lange betriebener Depeſchendiebſtahl
ruchbar. Ein verarmter Polizeiagent 1), der vor Jahren ſeine Ge¬
ſchicklichkeit dadurch bewieſen hatte, daß er, während der Graf
Breſſon franzöſiſcher Geſandter in Berlin war, Nachts durch die
Spree geſchwommen, in die Villa des Grafen in Moabit ein¬
gebrochen war und ſeine Papiere abgeſchrieben hatte, wurde von
dem Miniſter Manteuffel dazu angeſtellt, ſich durch beſtochne Diener
Zugang zu den Mappen zu verſchaffen, in denen die eingegangnen
Depeſchen und die durch deren Leſung veranlaßte Correſpondenz zwi¬
ſchen dem Könige, Gerlach und Niebuhr hin und her ging, und
von dem Inhalte derſelben Abſchrift zu nehmen. Von Manteuffel
mit preußiſcher Sparſamkeit bezahlt, ſuchte er nach weitrer Ver¬
werthung ſeiner Bemühungen und fand eine ſolche durch Vermitt¬
lung des Agenten Haſſenkrug zunächſt bei dem franzöſiſchen Ge¬
ſandten Mouſtier, dann auch bei andern Leuten 2).
Zu den Kunden des Agenten gehörte auch der Polizeipräſident
von Hinckeldey. Dieſer kam eines Tages zu dem General von
Gerlach mit der Abſchrift eines Briefes, in welchem dieſer an
Jemanden, wahrſcheinlich an Niebuhr, geſchrieben hatte: „Nun der
König mit hohem Beſuch in Stolzenfels ſei, hätten ſich die und die,
darunter Hinckeldey, dorthin begeben; die Bibel ſage, wo das Aas
iſt, da ſammeln ſich die Adler; jetzt könne man ſagen, wo der
Adler iſt, da ſammelt ſich das Aas.“ Hinckeldey ſtellte den General
1)
Tächen.
2)
Vgl. Gerlach's Denkwürdigkeiten II 346 ff.
[116/0143]
Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.
zur Rede und antwortete auf des Generals Frage, wie er zu
dieſem Briefe komme: „Der Brief koſtet mich 30 Thaler.“ — „Wie
verſchwenderiſch!“ erwiderte Gerlach, „für 30 Thaler hätte ich
Ihnen zehn ſolche Briefe geſchrieben!“
IV.
Meine amtlichen Aeußerungen über die Theilnahme Preußens
an den Friedensverhandlungen in Paris (Preußen im Bundestage
Theil II, S. 312–317, 337–339, 350) werden ergänzt durch
folgendes Schreiben an Gerlach.
„Frankfurt, 11. Februar 1856.
Ich hatte immer noch gehofft, daß wir eine feſtere Stellung
annehmen würden, bis man ſich entſchlöſſe, uns zu den Conferenzen
einzuladen, und daß wir in einer ſolchen verharren würden, wenn
die Einladung garnicht erfolgt. Es war dieß meines Erachtens
das einzige Mittel, unſre Zuziehung durchzuſetzen. Nach den mir
geſtern zugegangnen Inſtructionen wollen wir aber d'emblée auf
eine Faſſung mit mehr oder weniger Vorbehalt eingehn, die uns
und den Bund zur Aufrechterhaltung der Präliminarien verpflichtet.
Hat man das erſt von uns in Händen, nachdem ſogar die Weſt¬
mächte und Oeſtreich bisher nur ein ‚projet‘ von Präliminarien
unterzeichnet haben, warum ſoll man ſich dann noch auf den
Conferenzen mit uns bemühn; man wird viel lieber unſre und der
übrigen Mittelſtaaten am Bunde gegebne Adhäſion in unſrer
Abweſenheit nach Bedürfniß und Belieben ausbeuten und benutzen
in dem Bewußtſein, daß man nur zu fordern braucht, und wir
geben uns. Wir ſind zu gut für dieſe Welt. Es kommt mir nicht
zu, die Entſchlüſſe Sr. Majeſtät und meines Chefs zu kritiſiren,
nachdem ſie gefaßt ſind; (12. Febr.) aber die Kritik vollzieht ſich
in mir ohne mein Zuthun; ich habe die erſten 24 Stunden nach
[117/0144]
Ein Brief an L. v. Gerlach.
Empfang jener Chamade ſchlagenden Inſtruction unter fortwähren¬
den Anfällen gallichten Erbrechens gelitten, und ein mäßiges Fieber
verläßt mich keinen Augenblick. Ich finde nur in der Erinnerung
an den Frühling 1848 das Analogon meiner körperlichen und
geiſtigen Stimmung, und je mehr ich mir die Situation klar mache,
um ſo weniger entdecke ich etwas, woran mein Preußiſches Ehr¬
gefühl ſich aufrichten könnte. Vor acht Tagen ſchien mir noch alles
nied- und nagelfeſt, und ich ſelbſt bat Manteuffel, Oeſtreich die
Auswahl zwiſchen zwei für uns annehmbaren Vorſchlägen zu
laſſen, ließ mir aber nicht träumen, daß Graf Buol ſie beide
verwerfen und uns auf ſeine eigne Vorlage auch die Antwort
vorſchreiben werde, die wir zu geben haben. Ich hatte gehofft,
daß wir, wie auch ſchließlich unſre Antwort ausfallen möge, uns
doch nicht gefangen geben würden, bevor unſre Zuziehung zu den
Conferenzen geſichert wäre. Wie ſtellt ſich aber unſre Lage jetzt
heraus? Viermal hat Oeſtreich in zwei Jahren das Spiel gegen
uns durchgeführt, daß es den ganzen Grund, auf dem wir ſtanden,
von uns forderte und wir nach einigem Sperren die Hälfte oder
ſo etwas abtraten. Jetzt geht es aber um den letzten Quadrat¬
fuß, auf dem noch eine Preußiſche Aufſtellung möglich blieb.
Durch ſeine Erfolge übermüthig gemacht, fordert Oeſtreich nicht
nur, daß wir, die wir uns eine Großmacht nennen und auf dua¬
liſtiſche Gleichberechtigung Anſpruch machen, ihm dieſen letzten Reſt
von unabhängiger Stellung opfern, ſondern ſchreibt uns auch den
Ausdruck vor, in dem wir unſre Abdication unterzeichnen ſollen,
gebietet uns eine unanſtändige nach Stunden bemeſſene Eile und
verſagt uns jedes Aequivalent, welches ein Pflaſter für unſre
Wunden abgeben könnte. Nicht einmal ein Amendement in der
Erklärung, die Preußen und Deutſchland geben ſollen, getrauen wir
uns entſchieden aufzuſtellen. Pfordten macht die Sache mit Oeſt¬
reich ab, indem er glaubt, Preußens Einverſtändniß vorausſetzen
zu dürfen, und wenn Baiern geſprochen hat, ſo iſt es für Preußen
res judicata. Bei ähnlichen Gelegenheiten der letzten beiden Jahre
[118/0145]
Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.
ſtellten wir, wenigſtens von Hauſe aus, bei den deutſchen Höfen
ein Preußiſches Programm auf, und keiner von ihnen entſchied
ſich, bevor wir uns nicht mit Oeſtreich verſtändigt hatten. Jetzt
verſtändigt ſich Baiern mit Wien, und wir fügen uns im Rummel
mit Darmſtadt und Oldenburg. Damit geben wir das letzte her,
was man einſtweilen von uns braucht, und hat man den Bundes¬
beſchluß einſchließlich des Preußiſchen Votums erſt in der Taſche,
ſo werden wir bald ſehn, wie Buol mit achſelzuckendem Bedauern
von der Unmöglichkeit ſpricht, den Widerſpruch der Weſtmächte
gegen unſre Zulaſſung zu überwinden. Auf Rußlands Unterſtützung
können wir dabei, meinem Gefühl nach, nicht rechnen, denn den
Ruſſen wird die Verſtimmung ganz lieb ſein, die bei uns folgen
muß, wenn wir den letzten Reſt unſrer Politik für ein Entree-
Billet zu den Conferenzen hergegeben haben. Außerdem fürchten
die Ruſſen ſich offenbar mehr vor unſrer „vermittelnden“ Unter¬
ſtützung der gegneriſchen Politik, als daß ſie irgend einen Bei¬
ſtand von uns auf den Conferenzen erwarteten. Meine Geſpräche
mit Brunnow und Petersburger Briefe, die ich geſehn, laſſen mir
darüber, trotz aller diplomatiſchen Schlauheit des erſtern, keinen
Zweifel.
Das einzige Mittel, unſre Theilnahme an den Conferenzen
durchzuſetzen, iſt und bleibt die Zurückhaltung unſrer Erklärung
über die öſtreichiſche Vorlage hier. Was ſoll man noch mit einem
preußiſchen Quärulanten auf den Conferenzen, wenn man den
Bundesbeſchluß und damit uns, erſt in der Taſche hat? Oeſtreich
wird ihn ſchon auszulegen wiſſen, wenn nur nicht da ſind. Aus
der öſtreichiſchen Regirungspreſſe und aus dem Verhalten Rech¬
berg's geht klar hervor, daß ſie ſchon jetzt den dürftigen Vorbehalt
in dem Oeſtreichiſch-Bairiſchen Entwurf ausdrücklich auf Artikel V *)
*)
Les puissances belligérantes réservent le droit qui leur appartient
de produire dans un intérêt européen des conditions particulières en sus
des quatre conditions.
[119/0146]
Brief an L. v. Gerlach.
einſchränken. Ueber die conditions particulières, welche von den
kriegführenden Mächten werden aufgeſtellt werden, bleibt uns
und dem Bunde das freie Urtheil vorbehalten, in Betreff der von
Oeſtreich aufzuſtellenden aber nicht, und was die Interpretation der
4 Punkte anbelangt, ſo iſt die Annahme, daß darüber Preußen
und Deutſchland ſich im Voraus der Auffaſſung ihrer ſie ver¬
tretenden Schutzmacht Oeſtreich anſchließen, dadurch gerechtfertigt,
daß unſer früher deßhalb begehrter Vorbehalt von Baiern und
Oeſtreich abgelehnt iſt, und nur uns dabei beruhigt haben.
Dieſe ganze Berechnung zerreißen wir, wenn wir hier jetzt
ablehnen, uns auszuſprechen, bis unſrer Anſicht nach die Zeit dazu
gekommen ſein wird. So lange wir dieſe Haltung annehmen,
bedarf man unſer noch und wird um uns werben. Man wird
hier auch ſchwerlich den Verſuch machen, uns zu majoriſiren; ſelbſt
Sachſen und Baiern ſtehn nur in der ,Vorausſeßung‘ unſres Ein¬
verſtändniſſes zu dem dermaligen öſtreichiſchen Entwurfe; ſie haben
ſich daran gewöhnt, daß wir ſchließlich nachlaſſen, und deßhalb er¬
lauben ſie ſich ſolche Vorausſetzungen. Wenn wir aber den Muth
unſrer Meinung haben, wird man es auch der Mühe werth finden,
bei Entſcheidungen über deutſche Politik die Erklärung Preußens
abzuwarten. Wenn wir feſt auf Aufſchub des Beſchluſſes ver¬
harren und das den deutſchen Höfen erklären, ſo ſteht uns noch
heut eine gute Majorität zur Seite, ſelbſt wenn, was nicht der
Fall ſein wird, Sachſen und Baiern ſich ſchon mit Kopf und
Kragen an Buol verkauft hätten.
Wollen wir es darauf nicht ankommen laſſen, ſo müſſen wir
uns auch darauf gefaßt machen, daß Sardinien und die Türkei
in Paris ſelbſtändig über die Wahrung der deutſchen Intereſſen
in den beiden vom Bunde angeeigneten Punkten berathen, während
wir durch Oeſtreich dabei vertreten werden. Und wir werden nicht
einmal die erſten in dem Schweife Oeſtreichs ſein, denn Graf Buol
wird ſich bei Erfüllung ſeines präſumtiven Mandats für Deutſch¬
land noch eher bei Pfordten und Beuſt Rath holen, als bei Man¬
[120/0147]
Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.
teuffel, den er perſönlich haßt, und wenn er Sachſen und Baiern
für ſich hat, ſo wird er auf Widerſpruch Preußens nach dem
Bundesbeſchluß noch weniger rechnen als vorher.
Wäre es ſolchen Eventualitäten nicht bei weitem vorzuziehn,
daß wir als europäiſche Macht direct mit Frankreich und England
über unſern Beitritt unterhandelt hätten, als daß wir es wie einer,
der nicht sui juris iſt, unter Oeſtreichs Vormundſchaft thun und
nur noch als Pfeil in Buol's Köcher auf der Conferenz in Rech¬
nung kommen? 1)... v. B.“
Der Eindruck, daß wir in den Formen wie in der Sache von
Oeſtreich geringſchätzig behandelt wurden, wie er ſich in vorſtehen¬
dem Schreiben ausſpricht, und daß wir uns dieſe geringſchätzige
Behandlung nicht gefallen laſſen dürften, iſt nicht ohne Folgen
geblieben für die ſpätere Geſtaltung der preußiſch-öſtreichiſchen Be¬
ziehungen.
1)
Fortſetzung ſ. in Horſt Kohl, Bismarcks Briefe an den General Leo
pold v. Gerlach S. 281 f.
[[121]/0148]
Sechſtes Kapitel.
Sansſouci und Coblenz.
Daß die Denkſchriften, welche die Goltzſche Fraction als
Kampfmittel gegen Manteuffel bei dem Könige und dem Prinzen
von Preußen verwerthen und dann in der Preſſe und durch fremde
Diplomaten ausnutzen ließ, nicht ohne Eindruck auf den Prinzen
geblieben waren, erkannte ich unter Anderm daran, daß ich bei ihm
auf die Haxthauſenſche Theorie von den drei Zonen 1)ſtieß.
Wirkſamer noch als durch die politiſchen Argumentationen der
Bethmann-Hollwegſchen Coterie wurde der Prinz von ſeiner Ge¬
malin im weſtmächtlichen Sinne beeinflußt und in eine Art von
Oppoſitionsſtellung gegen den Bruder gebracht, die ſeinen mili¬
täriſchen Inſtincten fern lag. Die Prinzeſſin Auguſta hat aus
ihrer weimariſchen Jugendzeit bis an ihr Lebensende den Eindruck
bewahrt, daß franzöſiſche und noch mehr engliſche Autoritäten und
Perſonen den einheimiſchen überlegen ſeien. Sie war darin echt
deutſchen Blutes, daß ſich an ihr unſre nationale Art bewährte,
welche in der Redensart ihren ſchärfſten Ausdruck findet: „Das
iſt nicht weit her, taugt alſo nichts.“ Trotz Goethe, Schiller und
allen andern Größen in den elyſeiſchen Gefilden von Weimar war
doch dieſe geiſtig hervorragende Reſidenz nicht frei von dem Alp,
der bis zur Gegenwart auf unſerm Nationalgefühl gelaſtet hat:
daß ein Franzoſe und vollends ein Engländer durch ſeine Natio¬
1)
S. o. S. 110.
[122/0149]
Sechſtes Kapitel: Sansſouci und Coblenz.
nalität und Geburt ein vornehmeres Weſen ſei als der Deutſche,
und daß der Beifall der öffentlichen Meinung von Paris und
London ein authentiſcheres Zeugniß des eignen Werthes bilde, als
unſer eignes Bewußtſein. Die Kaiſerin Auguſta iſt trotz ihrer
geiſtigen Begabung und trotz der Anerkennung, welche die Bethäti¬
gung ihres Pflichtgefühls auf verſchiednen Gebieten bei uns ge¬
funden hat, doch von dem Druck dieſes Alps niemals vollſtändig
frei geworden; ein ſichrer Franzoſe mit geläufigem Franzöſiſch *)
imponirte ihr, und ein Engländer hatte bis zum Gegenbeweiſe die
Vermuthung für ſich, daß er in Deutſchland als vornehmer Mann
zu behandeln ſei. So ward es in Weimar vor 70 Jahren gehalten,
und der Nachgeſchmack davon hat ſich mir in meiner amtlichen
Thätigkeit oft genug fühlbar gemacht. Wahrſcheinlich hat in der
Zeit, von der die Rede iſt, auch das Streben nach der engliſchen
Heirath ihres Sohnes die Prinzeſſin von Preußen in der Richtung
beſtärkt, in welche Goltz und ſeine Freunde ihren Gemal zu ziehn
ſuchten.
Der Krimkrieg brachte die von Kind auf gewurzelte, früher
äußerlich nicht hervorgetretene Abneigung der Prinzeſſin gegen alles
Ruſſiſche zur Erſcheinung. Auf den Bällen Friedrich Wilhelm's III.,
wo ich ſie als junge und ſchöne Frau zuerſt geſehn habe, pflegte
ſie in der Wahl der Tänzer Diplomaten, wohl auch ruſſiſche, zu
begünſtigen und unter ihnen ſolche, welche mehr für die Unter¬
haltung als für den Tanz begabt waren, die Glätte des Parkets
verſuchen zu laſſen. Ihre ſpäter ſichtbar und wirkſam gewordene
Abneigung gegen Rußland iſt pſychologiſch ſchwer zu erklären. Die
Erinnerung an die Ermordung ihres Großvaters, des Kaiſers Paul,
hatte ſchwerlich ſo nachhaltig gewirkt. Näher liegt die Vermuthung
der Nachwirkung eines Diſſenſes zwiſchen der hochbegabten, ſocial
und politiſch ruſſiſchen Mutter, der Großherzogin von Weimar,
und ihren ruſſiſchen Beſuchern und dem lebhaften Temperament
*)
Ihr Vorleſer (Gérard) galt als franzöſiſcher Spion!
[123/0150]
Prinzeſſin Auguſta, Sympathien und Antipathien.
einer erwachſenen und zur Uebernahme der Führung in ihrem Kreiſe
geneigten Tochter; vielleicht auch die Vermuthung einer Idioſynkraſie
gegen die präpotente Perſönlichkeit des Kaiſers Nicolaus. Gewiß
iſt, daß der antiruſſiſche Einfluß dieſer hohen Frau auch in den
Zeiten, wo ſie Königin und Kaiſerin war, mir die Durchführung
der von mir für nothwendig erkannten Politik bei Sr. Majeſtät
häufig erſchwert hat.
Weſentliche Hülfe leiſtete der Bethmann-Hollwegſchen Fraction
Herr von Schleinitz, der Specialpolitiker der Prinzeſſin, der auch
ſeinerſeits zum Kampfe gegen Manteuffel dadurch veranlaßt war,
daß er aus dem gutſituirten, aber nicht ſehr fleißig beſorgten Poſten
von Hanover aus dienſtlichen Gründen unter Umſtänden der Art
entlaſſen war, daß ihm das Wartegeld als Geſandter erſt, nachdem
er Miniſter geworden, nachträglich ausgezahlt wurde. Als Sohn
eines braunſchweigiſchen Miniſters und als gewerbsmäßiger Diplo¬
mat an das Hofleben und die äußern Vorzüge des auswärtigen
Dienſtes gewöhnt, ohne Vermögen, dienſtlich verſtimmt, bei der
Prinzeſſin aber in Gnaden ſtehend, wurde er natürlich von den
Gegnern Manteuffel's geſucht und ſchloß ſich ihnen bereitwillig an.
Er wurde der erſte auswärtige Miniſter der neuen Aera und ſtarb
als Hausminiſter der Kaiſerin Auguſta.
Beim Frühſtück — und dieſe Gewohnheit des Prinzen wurde
auch vom Kaiſer Wilhelm beibehalten — hielt die Prinzeſſin ihrem
Gemal Vortrag unter Vorlegung von Briefen und Zeitungsartikeln,
die zuweilen ad hoc redigirt worden waren. Andeutungen, die ich
mir gelegentlich geſtattete, daß gewiſſe Briefe auf Veranſtaltung
der Königin durch Herrn von Schleinitz hergeſtellt und beſchafft
ſein könnten, trugen mir eine ſehr ſcharfe Zurückweiſung zu. Der
König trat mit ſeinem ritterlichen Sinne unbedingt für ſeine Ge¬
malin ein, auch wenn der Anſchein einleuchtend gegen ſie war.
Er wollte gewiſſermaßen verbieten, dergleichen zu glauben, auch
wenn es wahr wäre.
Ich habe es nie für die Aufgabe eines Geſandten bei befreun¬
[124/0151]
Sechſtes Kapitel: Sansſouci und Coblenz.
deten Höfen gehalten, jedes verſtimmende Detail nach Hauſe zu
melden; namentlich als ich in Petersburg mit einem Vertrauen
beehrt wurde, welches ich fremden Diplomaten in Berlin zu ge¬
währen für bedenklich gehalten haben würde. Jede zur Erregung
von Verſtimmung zwiſchen uns und Rußland geeignete Meldung
würde bei der damals und in der Regel antiruſſiſchen Politik der
Königin zur Lockerung unſrer ruſſiſchen Beziehungen ausgenutzt
worden ſein, ſei es aus Abneigung gegen Rußland und aus vor¬
übergehenden Popularitätsrückſichten, ſei es aus Wohlwollen für
England und in der Vorausſetzung, daß Wohlwollen für England
und ſelbſt für Frankreich einen höhern Grad von Civiliſation und
Bildung anzeige als Wohlwollen für Rußland.
Nachdem der Prinz von Preußen im Jahre 1849 als Gouver¬
neur der Rheinprovinz ſeine Reſidenz dauernd nach Coblenz verlegt
hatte, conſolidirte ſich allmählich die gegenſeitige Stellung der beiden
Höfe von Sansſouci und Coblenz zu einer occulten Gegnerſchaft,
in welcher auch auf der königlichen Seite das weibliche Element
mitſpielte, jedoch in geringerem Maße als auf der prinzlichen. Der
Einfluß der Königin Eliſabeth zu Gunſten Oeſtreichs, Baierns,
Sachſens war ein unbefangner und unverhehlter, ein Ergebniß der
Solidarität, welche die Uebereinſtimmung der Anſchauungen und
die verwandſchaftlichen Familienſympathien naturgemäß hervor¬
brachten. Zwiſchen der Königin und dem Miniſter von Manteuffel
beſtand keine perſönliche Sympathie, wie ſchon die Verſchiedenheit
der Temperamente es mit ſich brachte; gleichwohl ging die Ein¬
wirkung Beider auf den König nicht ſelten und namentlich in
kritiſchen Momenten gleichmäßig in der Richtung des öſtreichiſchen
Intereſſes, doch von Seiten der Königin in entſcheidenden Augen¬
blicken nur bis zu gewiſſen Grenzen, welche die eheliche und fürſt¬
liche Empfindung im Intereſſe der Krone des Gemals ihr zogen.
Die Sorge für des Königs Anſehn trat namentlich in kritiſchen
Momenten hervor, wenn auch weniger in der Geſtalt einer Ermuthi¬
gung zum Handeln, als in der einer weiblichen Scheu vor den
[125/0152]
Gegnerſchaft der Höef von Sansſouci und Coblenz.
Conſequenzen der eignen Anſchauungen und daraus hervorgehender
Enthaltſamkeit von fernerer Einwirkung.
In der Prinzeſſin entwickelte ſich während der Coblenzer Zeit
noch eine Neigung, welche bei ihrer politiſchen Thätigkeit mitwirkte
und ſich bis an ihr Lebensende erhielt.
Der für den norddeutſchen und namentlich für den Gedanken¬
kreis einer kleinen Stadt in Mitten rein proteſtantiſcher Bevölkerung
fremdartige Katholicismus hatte etwas Anziehendes für eine Fürſtin,
die überhaupt das Fremde mehr intereſſirte, als das Näherliegende,
Alltägliche, Hausbackne. Ein katholiſcher Biſchof erſchien vornehmer
als ein General-Superintendent. Ein gewiſſes Wohlwollen für die
katholiſche Sache, welches ihr ſchon früher eigen und z. B. in der
Wahl ihrer männlichen Umgebung und Dienerſchaft erkennbar war,
wurde durch ihren Aufenthalt in Coblenz vollends entwickelt. Sie
gewöhnte ſich daran, die localen Intereſſen des alten Krummſtab-
Landes und ſeiner Geiſtlichkeit als ihrer Fürſorge beſonders zu¬
gewieſen anzuſehn und zu vertreten. Das moderne confeſſionelle
Selbſtgefühl auf dem Grunde geſchichtlicher Tradition, das in dem
Prinzen die proteſtantiſche Sympathie nicht ſelten mit Schärfe
hervortreten ließ, war ſeiner Gemalin fremd. Welchen Erfolg ihr
Bemühn um Popularität im Rheinlande gehabt hatte, zeigte ſich
u. A. darin, daß der Graf v. d. Recke-Volmerſtein mir am 9. Oc¬
tober 1863 ſchrieb, wohlgeſinnte Leute am Rhein riethen, der König
möge nicht zum Dombaufeſt kommen, ſondern lieber I. Majeſtät
ſchicken, „die mit Enthuſiasmus würde empfangen werden“. Ein
Beiſpiel der wirkſamen Energie, mit der ſie die Wünſche der Geiſt¬
lichkeit vertrat, lieferte die Modification, zu welcher der Bau der
ſogenannten Metzer Eiſenbahn genöthigt wurde, weil die Geiſt¬
lichkeit ſich eines katholiſchen Kirchhofs, der berührt werden ſollte,
angenommen hatte und darin von der Kaiſerin ſo erfolgreich unter¬
ſtützt wurde, daß die Richtung geändert und ſchwierige Bauten
ad hoc hergeſtellt wurden.
Unter dem 27. October 1877 ſchrieb mir der Staatsſekretär
[126/0153]
Sechſtes Kapitel: Sansſouci und Coblenz.
von Bülow, die Kaiſerin habe von dem Miniſter Falk eine Reiſe¬
unterſtützung für einen ultramontanen Maler verlangen laſſen, der
nicht nur ſelbſt nicht darum bitten wolle, ſondern mit Gemälden
zur Verherrlichung von Marpingen beſchäftigt ſei. Unter dem
25. Januar 1878 berichtete er mir: „Vor ſeiner Abreiſe (nach
Italien) hat der Kronprinz eine ſehr heftige Scene mit der Kaiſerin
gehabt, welche verlangte, daß er, der künftige Herrſcher über acht
Millionen Katholiken, den alten ehrwürdigen Papſt beſuchen ſolle.
Als der Kronprinz nach der Rückkehr ſich beim Kaiſer meldete, war
auch die Kaiſerin (aus ihren Zimmern) hinuntergekommen. Als
das Geſpräch eine Wendung nahm, die ihr nicht gefiel, betreffend
die Stellung des Königs Humbert, und dann ſtockte, iſt ſie mit
den Worten aufgeſtanden: ,Il paraît que je suis de trop ici‘,
und der Kaiſer hatte dann ganz wehmüthig zum Kronprinzen ge¬
ſagt: ,Ueber dieſe Dinge iſt Deine Mutter in dieſer Zeit wieder
unzurechnungsfähig.‘“
Zu den Nebenwirkungen, durch welche dieſe höfiſchen Kämpfe
complicirt wurden, gehörte auch das Mißverhältniß, in das die
Prinzeſſin mit dem Oberpräſidenten von Kleiſt-Retzow gerieth, der
das Erdgeſchoß des Schloſſes unter der prinzlichen Wohnung inne
hatte und an ſich, als äußre Erſcheinung, als Redner der äußerſten
Rechten und durch ſeine ländliche Gewohnheit, häusliche Andachten
mit Geſang täglich mit ſeinen Hausgenoſſen abzuhalten, der Prin¬
zeſſin läſtig fiel. Mehr an amtliche als an höfiſche Beziehungen
gewöhnt, betrachtete der Oberpräſident ſeine Exiſtenz im Schloſſe
und im Schloßgarten als eine Vertretung der königlichen Prärogative
im Gegenhalt zu angeblichen Uebergriffen des prinzlichen Haushalts
und glaubte ehrlich, dem Könige, ſeinem Herrn, etwas zu ver¬
geben, wenn er der Gemalin des Thronerben gegenüber in Betreff
der wirthſchaftlichen Nutzung häuslicher Locale die oberpräſidialen
Anſprüche gegen die des prinzlichen Hofes nicht energiſch vertrat.
Der Chef des Generalſtabs von Sansſouci war, nachdem der
General von Rauch geſtorben, Leopold von Gerlach, und ſeine Bei¬
[127/0154]
Gegnerſchaft der Höfe von Sansſouci und Coblenz.
ſtände, aber nicht immer, mitunter auch ſeine Rivalen, waren der
Cabinetsrath Niebuhr und Edwin von Manteuffel, während des
Krimkrieges auch der Graf Münſter. Zu der Camarilla waren
außerdem zu rechnen der Graf Anton Stolberg, der Graf Friedrich
zu Dohna und der Graf von der Gröben.
An dem prinzlichen Hofe hatte das ſtaatliche Intereſſe in der
Abwehr von Schädigungen durch weibliche Einflüſſe einen feſten
und klugen Vertreter an Guſtav von Alvensleben, der an dem
Frieden zwiſchen beiden Höfen nach Kräften arbeitete, ohne mit
den politiſchen Maßregeln der Regirung einverſtanden zu ſein.
Er theilte meine Anſicht von der Nothwendigkeit, die Frage der
preußiſch-öſtreichiſchen Rivalität auf dem Schlachtfelde zu ent¬
ſcheiden, weil ſie in andrer Weiſe unlösbar ſei. Er, der das
vierte Corps bei Beaumont und Sedan führte, und ſein Bruder
Conſtantin, deſſen ſelbſtändig gefaßten Entſchlüſſe bei Vionville
und Mars la Tour die franzöſiſche Rheinarmee vor Metz zum Stehn
brachten, waren Muſterbilder von Generalen. Wenn ich ihn ge¬
legentlich nach ſeiner Meinung über den Ausgang einer erſten
Hauptſchlacht zwiſchen uns und den Oeſtreichern fragte, ſo ant¬
wortete er: „Wir laufen ſie über, daß ſie die Beine gen Himmel
kehren.“ Und ſeine Zuverſicht hat dazu beigetragen, mir in den
ſchwierigen Entſchließungen von 1864 und 1866 den Muth zu
ſtärken. Der Antagonismus, in dem ſein lediglich durch ſtaat¬
liche und patriotiſche Erwägungen beſtimmter Einfluß auf den
Prinzen mit dem der Prinzeſſin ſtand, brachte ihn zuweilen in eine
Erregung, der er in Worten Luft machte, die ich nicht wieder¬
holen will, die aber die ganze Entrüſtung des patriotiſchen Sol¬
daten über politiſirende Damen in einer die Strafgeſetze ſtreifenden
Sprache zum Ausdruck brachten. Daß der Prinz dieſen ſeinen Ad¬
jutanten ſeiner Gemalin gegenüber hielt, war ein Ergebniß der
Eigenſchaft, die er auch als König und Kaiſer bewährte, daß er
für treue Diener ein treuer Herr war.
[[128]/0155]
Siebentes Kapitel.
Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.
I.
Die Entfremdung die zwiſchen dem Miniſter Manteuffel und
mir nach meiner Wiener Miſſion und infolge der Zuträgerei von
Klentze und Andern entſtanden war, hatte die Folge, daß der König
mich immer häufiger zur „Territion“ kommen ließ, wenn der Miniſter
ihm nicht zu Willen ſein wollte. Ich habe auf den Reiſen zwiſchen
Frankfurt und Berlin über Guntershauſen in einem Jahre 2000 Meilen
gemacht, damals ſtets die neue Cigarre an der vorhergehenden ent¬
zündend oder gut ſchlafend. Der König erforderte nicht nur meine
Anſicht über Fragen der deutſchen und der auswärtigen Politik,
ſondern beauftragte mich auch gelegentlich, wenn ihm Entwürfe
des Auswärtigen Amtes vorlagen, mit der Ausarbeitung von Gegen¬
projecten. Ich beſprach dieſe Aufträge und meine entſprechenden
Redactionen dann mit Manteuffel, der es in der Regel ablehnte,
Aenderungen daran vorzunehmen, wenn auch unſre politiſchen An¬
ſichten auseinander gingen. Er hatte mehr Entgegenkommen für
die Weſtmächte und die öſtreichiſchen Wünſche, während ich, ohne
ruſſiſche Politik zu vertreten, keinen Grund ſah, unſern langjährigen
Frieden mit Rußland für andre als preußiſche Intereſſen in Frage
zu ſtellen, und ein etwaiges Eintreten Preußens gegen Rußland
für Intereſſen, die uns fern lagen, als das Ergebniß unſrer Furcht
vor den Weſtmächten und unſres beſcheidenen Reſpects vor Eng¬
[129/0156]
Manteuffels Stellung zum Könige. Marquis Mouſtier.
land betrachtete. Manteuffel vermied es, durch ſchärferes Vertreten
ſeiner Auffaſſung den König noch mehr zu verſtimmen oder durch
Eintreten für meine angeblich ruſſiſche Auffaſſung die Weſtmächte
und Oeſtreich zu reizen, er effacirte ſich lieber. Marquis Mouſtier
kannte dieſe Stellung, und mein Chef überließ ihm gelegentlich die
Aufgabe, mich zur weſtmächtlichen Politik und zur Vertretung der¬
ſelben beim Könige zu bekehren. Bei einem Beſuche, den ich Mouſtier
machte, riß ihn die Lebhaftigkeit ſeines Temperaments zu der be¬
drohlichen Aeußerung hin: „La politique que vous faites, va vous
conduire à Jéna.“ Worauf ich antwortete: „Pourquoi pas à Leipzig
ou à Rossbach?“ Mouſtier war eine ſo unabhängige Sprache in
Berlin nicht gewohnt und wurde ſtumm und bleich vor Zorn. Nach
einigem Schweigen ſetzte ich hinzu: „Enfin toute nation a perdu
et gagné des batailles. Je ne suis pas venu pour faire avec
vous un cours d'histoire.“ Die Unterhaltung kam nicht wieder in
Fluß. Mouſtier beſchwerte ſich über mich bei Manteuffel, der die
Beſchwerde an den König brachte. Dieſer aber lobte mich Man¬
teuffel gegenüber, ſpäter auch direct, wegen der richtigen Antwort,
die ich dem Franzoſen gegeben hatte.
Die leiſtungsfähigen Kräfte der Bethmann-Hollwegſchen Partei,
Goltz, Pourtalès, zuweilen Uſedom, wurden durch den Prinzen von
Preußen auch bei dem Könige zu einer gewiſſen Geltung gebracht.
Es kam vor, daß nothwendige Depeſchen nicht von Manteuffel,
ſondern von dem Grafen Albert Pourtalès entworfen wurden, daß
der König mir deſſen Entwürfe zur Reviſion gab, daß ich über
die Amendirung wieder mit Manteuffel Fühlung nahm, daß der
den Unterſtaatsſekretär Le Coq zuzog, daß dieſer die Faſſung aber
lediglich von dem Standpunkte franzöſiſcher Stiliſtik prüfte und
eine Tage lange Verzögerung mit der Anführung rechtfertigte, er
habe den genau angemeſſenen franzöſiſchen Ausdruck noch nicht ge¬
funden, der zwiſchen dunkel, unklar, zweifelhaft und bedenklich die
richtige Mitte hielte, — als ob es auf ſolche Lappalien damals
angekommen wäre.
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 9
[130/0157]
Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.
II.
Ich ſuchte mich der Rolle, welche der König mich ſpielen ließ,
in ſchicklicher Weiſe zu entziehn und die Verſtändigung zwiſchen
ihm und Manteuffel nach Möglichkeit anzubahnen; ſo in den
ernſten Zerwürfniſſen, welche über Rhino Quehl entſtanden. Nach¬
dem durch Wiederherſtellung des Bundestages nationale Sonder¬
beſtrebungen Preußens einſtweilen behindert waren, ging man in
Berlin an eine Reſtauration der innern Zuſtände, mit welcher
der König gezögert hatte, ſo lange er darauf bedacht war, ſich die
Liberalen in den übrigen deutſchen Staaten nicht zu entfremden.
Ueber das Ziel und die Gangart der Reſtauration zeigte ſich aber
ſofort zwiſchen dem Miniſter Manteuffel und der „kleinen aber
mächtigen Partei“ eine Meinungsverſchiedenheit, die ſich merk¬
würdigerweiſe in einen Streit über Halten oder Fallenlaſſen einer
verhältnißmäßig untergeordneten Perſönlichkeit zuſpitzte und zu
einem ſcharfen, öffentlichen Ausbruch führte. In demſelben Briefe
vom 11. Juli 1851, durch welchen er mich von meiner Ernennung
zum Bundestagsgeſandten benachrichtigte, ſchrieb Manteuffel:
„Was unſre inneren Verhältniſſe, namentlich die ſtändiſchen
Dinge betrifft, ſo würde die Sache ganz leidlich gehen, wenn man
darin mit etwas mehr Maß und Geſchick verführe. Weſtphalen
iſt in der Sache vortrefflich, ich ſchätze ihn ſehr hoch und wir ſind
im Weſentlichen einverſtanden; die Fehde von Klützow 1)ſcheint mir
keine recht glückliche zu ſein, und es ſind in der Form wohl manche
nicht nothwendige Verſtöße vorgekommen. Weit ſchlimmer aber
noch iſt die Attitude, welche dabei die Kreuzzeitung einnimmt. Nicht
allein triumphirt ſie in ungeſchickter und aufregender Weiſe, ſondern
ſie will auch zu Extremen drängen, die ihr wahrſcheinlich ſelber
nicht behagen würden. Wenn es z. B. möglich wäre und gelänge,
1)
Es handelte ſich um Meinungsverſchiedenheiten in der Frage über die
Bildung der erſten Kammer.
[131/0158]
Streit über Rhino Quehl.
den Vereinigten Landtag mit allen ſeinen Conſequenzen pure wieder
herzuſtellen — und weiter könnte man doch nicht gehen — was
wäre damit wohl gewonnen? Ich finde die Poſition der Regierung
viel günſtiger, wenn ſie, bis eine gründliche organiſche Umgeſtaltung
ſich als nothwendig ergeben hat, die Sache gewiſſermaßen in der
Schwebe hält. Ich hoffe und wünſche, daß man dann auch von
den Provinzialſtänden bis etwa auf Communalſtände nach alten
hiſtoriſchen Begrenzungen, die auch in der Rheinprovinz noch nicht
verwiſcht und in allen alten Provinzen noch ſehr erkennbar ſind,
zurückkommen und aus dieſen die Landesvertretung hervorgehen
laſſen wird. Das ſind aber Dinge, die man nicht im Sprunge
machen kann, wenigſtens nicht ohne große Stöße, die man doch
zu vermeiden Anlaß hat. Die Kreuzzeitung hat mir nun förmlich
Fehde ankündigen und als Preis und Zeichen der Unterwerfung
die Entlaſſung des ꝛc. Quehl fordern laſſen, ohne zu bedenken,
daß ſelbſt, wenn ich einen fleißigen und aufopfernden Menſchen
preisgeben wollte, was nicht meine Abſicht iſt, ich es unter ſolchen
Verhältniſſen gar nicht könnte.“
Rhino Quehl war ein Journaliſt, durch den Manteuffel ſchon
während des Erfurter Parlaments ſeine Politik in der Preſſe hatte
vertreten laſſen, voller Ideen und Anregungen, richtigen und falſchen,
eine ſehr geſchickte Feder führend, aber mit einer zu ſtarken Hypothek
von Eitelkeit belaſtet. Die weitre Entwicklung des Conflicts
zwiſchen Manteuffel und Quehl auf der einen, der Kreuzzeitung
und der Camarilla auf der andern Seite, und die ganze innere
Situation wird aus den nachſtehenden brieflichen Aeußerungen von
Gerlach erſichtlich:
„Potsdam, 17. Mai 1852.
Ich halte Manteuffel für einen braven Mann, aber ein ſonder¬
bares politiſches Leben iſt das ſeinige doch. Er hat die December¬
verfaſſung unterzeichnet, ſich zur Unionspolitik bekannt, Gemeinde¬
ordnung und Ablöſungsgeſetz mit Rückſichtsloſigkeit durchgeſetzt, den
Bonapartismus amneſtirt u. ſ. w. Daß er in dieſen Dingen nicht
[132/0159]
Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.
conſequent geweſen, gereicht ihm zum Ruhme, aber wenn auch
Se. Majeſtät einmal ſagten, die Conſequenz ſei die elendeſte
aller Tugenden, ſo iſt die Manteuffel'ſche Inconſequenz doch etwas
ſtark. Man ſpricht gegen die Kammern und gegen den Con¬
ſtitutionalismus. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bis jetzt
aber ſind alle Regierungen revolutionär geweſen, außer England
bis zur Reform und Preußen in geringen Unterbrechungen, 1823
und 1847. Die Kreuzzeitung hat in ihren kleinen Apologien der
Kammern in Wahrheit nicht Unrecht, und doch ſehnt ſich unſer
Premier nach dem Bonapartismus, der doch ganz gewiß keine
Zukunft hat.
Manteuffel ſagte übrigens geſtern, er wolle Sie herbeſcheiden,
wenn Sie nur noch zur rechten Zeit kämen, um den Kaiſer und
den Grafen Neſſelrode kennen zu lernen. Wichtiger als alles das
iſt, daß Sie Manteuffel von Quehl befreien, denn er iſt jetzt noch
unentbehrlich und mit Quehl nicht zu halten. Es wird ihn nichts
koſten zu behaupten, er wiſſe nichts von dem Artitel der ‚Zeit‘,
ja, daß dieſes Blatt ihn nichts anginge, aber damit kann man
ſich nicht abfertigen laſſen, da Thile, der Redacteur, durch Quehl
und Manteuffel angeſtellt iſt. Ich fürchte auch die abſolutiſtiſchen
Velleitäten von Manteuffel jun. 1).
19. Mai 1852.
Infolge des Zeitungsartikels, von dem Ihr letztes Schreiben 2)
an mich handelt, iſt wiederum von mehreren Seiten in Manteuffel
eingeredet worden, um ihn zu bewegen, ſich von Quehl zu trennen.
Ich hatte mich hierbei nicht betheiligt, weil ich ſchon einmal über
dieſen Mann mit ihm aneinander geweſen war und wir damals
gewiſſermaßen einen Vertrag geſchloſſen hatten, dieſes Thema nicht
zu berühren. Geſtern fing jedoch Manteuffel ſelbſt mit mir davon
an, vertheidigte Quehl auf das Entſchiedenſte, erklärte lieber ab¬
1)
Vgl. Briefwechſel 32 ff. (mit falſchem Datum).
2)
Bismarck's Briefe an L. v. Gerlach, S. 30 f.
[133/0160]
Streit über Rhino Quehl.
treten, als ſich von ihm trennen zu wollen, ſprach ſeinen Haß
gegen die Kreuzzeitung unverholen aus und machte auch einige
bedenkliche Aeußerungen über den Gang des Miniſteriums des
Innern und über einige uns gleichwerthige Perſönlichkeiten.
Sans-Souci, 21. Juli 1852.
Soeben erhalte ich Ihren Brief Ofen-Frankfurt vom 25. Juni
und 19. Juli 1), deſſen Anfang ſo intereſſant iſt wie das Ende. Aber
von mir verlangen Sie das Unmögliche. Ich ſoll Ihnen die
hieſige Lage der Dinge erklären, die ſo verwickelt und durcheinander
iſt, daß man ſie an Ort und Stelle nicht verſteht. Wagener's
Auftreten gegen Manteuffel iſt nicht zu rechtfertigen, wenn er ſich
nicht ganz von der Partei iſoliren will. Ein Blatt, wie die Kreuz¬
zeitung, darf nur dann gegen einen Premierminiſter auftreten,
wenn die ganze Partei in die Oppoſition geworfen iſt, wie das
bei Radowitz der Fall war. ... Ein ſolches bellum omnium contra
omnes kann nicht bleiben. Wagener wird nolens volens müſſen
mit dem Preußiſchen Wochenblatt Chorus machen, was ein großes
Uebel iſt; Hinckeldey und der kleine Manteuffel, ſonſt entſchiedene
Feinde, alliiren ſich über die Kreuzzeitung, wie Herodes und Pilatus.
Das Traurigſte iſt mir der Miniſter Manteuffel, der kaum zu
halten iſt und doch gehalten werden muß, denn ſeine präſumtiven
Nachfolger ſind ſchrecklich. Alles ſchreit, er ſoll Quehl entlaſſen.
Ich glaube, damit wird wenig gewonnen ſein, Quehl's etwaiger
Nachfolger Fr. 2)iſt vielleicht noch ſchlimmer. Wenn Manteuffel ſich
nicht zu Allianzen mit honetten Leuten entſchließt, iſt ihm nicht
zu helfen 3). ...
Sans-Souci, 8. October 1852.
... Ich habe Manteuffel's ſonderbares Benehmen mit ſeinen
Creaturen, ich habe die Anſtellung von Radowitz benutzt, um offen
1)
Bismarck's Briefe an L. v. Gerlach, S. 32 ff.
2)
Conſtantin Frantz.
3)
Vgl. Briefwechſel ꝛc., S. 37 f. (mit falſchem Datum und entſtellenden
Leſefehlern).
[134/0161]
Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.
mit ihm zu reden, es iſt aber nichts dabei herausgekommen. Ich
habe ihm geſagt, daß ich nicht zu denen gehöre, welche Quehl in
das Elend ſchicken wollten, aber er möge ſich doch mit ordentlichen
Leuten in Verbindung ſetzen und ſich in der Gemeinſchaft mit
ihnen ſtärken. Aber vergebens. Jetzt treibt er wieder ſein Weſen
mit dem Bonapartiſten Frantz. Ich will das, was Wagener thut,
nicht rechtfertigen, beſonders nicht ſein eigenſinniges Widerſtreben
gegen jeden Rath und jede Warnung, die ihm zukommt, aber darin
hat er Recht, daß Manteuffel die conſervative Partei gründlich
zerſtört und ihn, Wagener, auf das Aeußerſte reizt. Es iſt doch
eine merkwürdige Erſcheinung, daß die Kreuzzeitung die einzige
Zeitung in Deutſchland iſt, die verfolgt und confiſcirt wird. Von
dem, was mich bei dem Allem am meiſten afficirt, von der
Wirkung dieſer Lage der Dinge auf S. M., will ich gar nicht
reden. Sinnen Sie doch auf Mittel, Menſchen heranzuziehen, die
das Miniſterium ſtärken. Kommen Sie doch einmal wieder her
und ſehen Sie ſich ſelbſt die Dinge an 1). ...
Charlottenburg, 25. Februar 1853.
Ich habe letzt S. M. darauf aufmerkſam gemacht, wie es
doch nicht gut wäre, daß Wagener, der Alles für die gute Sache
gewagt habe, nächſtens im Gefängniß ſitzen, während ſein Gegner
Quehl durch die bloße vis inertiae Geheimer Rath würde. Nie¬
buhren iſt es denn auch gelungen, den König mit Wagener aus¬
zuſöhnen, obſchon letzterer dabei bleibt, die Redaction der Kreuz¬
zeitung niederlegen zu wollen. ... Manteuffel hat eine Tendenz
nach unten, via Quehl, Levinſtein u. ſ. w., weil er an den
Wahrheiten, die von oben kommen, zweifelt, ſtatt daran zu glauben.
Er ſagt mit Pilatus: Was iſt Wahrheit? und ſucht ſie bei Quehl
und Conſorten. Er läßt ſich ja ſchon jetzt bei jeder Gelegenheit
durch Quehl zu einer ſehr üblen heimlichen und paſſiven Oppoſition
1)
Vgl. Briefwechſel ꝛc., S. 43.
[135/0162]
Streit über Rhino Quehl.
gegen Weſtphalen und deſſen Maßregeln, die doch das Muthigſte
und Beſte enthalten, was in unſrer Adminiſtration ſeit 1848
geſchehen iſt, bewegen. Er leidet, daß Quehl die Preſſe auf das
Schamloſeſte gegen Weſtphalen, Raumer u. ſ. w. benutzt und wie
man mich verſichert, ſich dafür bezahlen läßt. So kann es faſt
nicht ausbleiben, daß Quehl und Conſorten zuletzt Manteuffel's
Sturz bewirken, den ich ſchon aus dem einfachen Grunde für ein
Unglück halte, daß ich durchaus keinen möglichen Nachfolger weiß 1).
Potsdam, 28. Februar 1853.
... Ich thue mein Mögliches, die Kreuzzeitung zu erhalten oder
zunächſt vielmehr Wagenern der Kreuzzeitung zu erhalten. Er ſagt,
er könne dieſe Sache den Intriguen von Quehl gegenüber nicht fort¬
führen. Von den königlichen Geldern, über welche dieſer Menſch
durch das Vertrauen Manteuffel's disponirt, gibt er den Mitarbeitern
Wagener's bedeutende Remunerationen und entzieht ſie der Kreuz¬
zeitung; ja er ſoll die Geſandten auffordern laſſen, die auswärtigen
Correſpondenten der Kreuzzeitung zu ermitteln, um ſie ihr abſpenſtig
zu machen 2)....
20. Juni 1853.
Die innern Verhältniſſe mißfallen mir ſehr. Ich fürchte,
Quehl ſiegt über Weſtphalen und Raumer ganz einfach dadurch,
daß Mauteuffel ſich bei dem Könige als unentbehrlich geltend
macht, eine Anſicht, die S. M. aus richtigen und unrichtigen
Gründen anerkennt....
Charlottenburg, 30. Juni 1853.
... Wenn ich die verſchiedenen Nachrichten über die Quehl'ſchen
Intriguen miteinander vergleiche, wenn ich auf die Notiz etwas
1)
Vgl. Briefwechſel ꝛc., S. 72 ff. (ungenau in der Wiedergabe des
Wortlauts).
2)
Vgl. Briefwechſel ꝛc., S. 74 ff. (auch hier iſt der Text willkürlich
geändert).
[136/0163]
Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.
gebe, daß Quehl eine Art von Vertrag mit der Hollweg'ſchen
Partei geſchloſſen, wonach Manteuffel geſchont, die andern mi߬
liebigen Miniſter Raumer, Weſtphalen, Bodelſchwingh, rückſichtslos
angegriffen würden, wenn ich ferner beachte, daß Manteuffel über
ſein Verhältniß zum Prinzen von Preußen ein böſes Gewiſſen
gegen mich hat, daß er jetzt Niebuhr dichter an ſein Herz ſchließt
als mich, während er ſich ſonſt gegen mich oft über Niebuhr be¬
klagte, wenn ich endlich beachte, daß Quehl geradezu den Prinzen
von Preußen und ſeinen Herrn Sohn als mit ſich und mit Man¬
teuffel übereinſtimmend [darſtellt] und ſich demgemäß äußert, was ich
aus der zuverläſſigſten Quelle weiß, wenn dies Alles auf Radowitz
ſieht (sic), ſo fühle ich den Boden mir unter den Füßen ſchwanken,
obſchon der König ſchwerlich für dieſe Wirthſchaft zu gewinnen iſt
und mir perſönlich dies Alles Gott ſei Dank ziemlich gleichgültig iſt.
Sie aber, mein verehrter Freund, der Sie noch jung ſind, müſſen
ſich rüſten und ſtärken, dies Lügengewebe zur paſſenden Zeit zur
Rettung des Landes zu zerreißen 1). ...
Sans-Souci, 17. Juli 1853.
... Q. wird jetzt ſchon der Hof gemacht und er hat Excellenzen
in ſeinem Vorzimmer und auf ſeinem Sopha. Auf der andern Seite
halte ich es nicht für unmöglich, daß Manteuffel eines Tags Quehl
darangibt, denn Dankbarkeit iſt keine charakteriſtiſche Eigenſchaft
dieſes zweifelnden und daher oft deſperirenden Staatsmannes.
Was ſoll aber werden, wenn Manteuffel geht? Es wäre ein Mini¬
ſterium zu finden, aber ſchwerlich eines, was auch nur 4 Wochen
mit S. M. ſich hielte. Aus dieſen Gründen und bei meiner auf¬
richtigen Achtung und Liebe, die ich für Manteuffel habe, möchte
ich es nicht auf mein Gewiſſen nehmen, ſeinen Sturz veranlaßt
zu haben. Denken Sie einmal über dieſe Dinge nach und ſchreiben
Sie mir“ 2). .
1)
Vgl. Briefwechſel S. 91 ff.
2)
a. a. O. S. 99 ff.
[137/0164]
Streit über Quehl. — Graf Alvensleben als „Schreckbild“.
Bald nach dem Datum des letzten Briefes war die Verſtim¬
mung zwiſchen dem Könige und Manteuffel ſo acut geworden, daß
der letztere ſich ſchmollend auf ſein Gut Drahnsdorf zurückzog.
Um ihn zu einem „gehorſamen Miniſter“ zu machen, benutzte der
König diesmal nicht meine Miniſtercandidatur als Schreckbild,
ſondern beauftragte mich, den Grafen Albrecht von Alvensleben,
den „alten Lerchenfreſſer“, wie er ihn nannte, in Erxleben auf¬
zuſuchen und zu fragen, ob er den Vorſitz in einem neuen Mini¬
ſterium übernehmen wolle, in dem ich das auswärtige Reſſort
erhalten ſolle. Der Graf hatte kurz vorher mir unter ſehr abfälligen
Aeußerungen über den König erklärt, daß er während der Regirung
Sr. Majeſtät unter keinen Umſtänden in irgend ein Cabinet treten
werde 1). Ich ſagte dies dem Könige, und meine Reiſe unterblieb.
Später aber, als dieſelbe Combination wieder auftauchte, hat er
ſich doch bereit erklärt, ſie zu acceptiren; der König vertrug ſich
dann aber mit Manteuffel, der inzwiſchen „Gehorſam“ gelobt
hatte. Statt der Sendung nach Erxleben reiſte ich aus eignem
Antriebe zu Manteuffel auf's Land und redete ihm zu, ſich von Quehl
zu trennen und ſtillſchweigend ohne Explication mit Sr. Majeſtät
ſeine amtliche Function wieder aufzunehmen. Er erwiderte in
dem Sinne ſeines Briefes vom 11. Juli 1851, daß er den fähigen,
ihm mit Hingebung dienenden Mann nicht fallen laſſen könne.
Da ich heraus zu hören glaubte, daß Manteuffel wohl noch andre
Gründe habe, Quehl zu ſchonen, ſo ſagte ich: „Vertrauen Sie
mir die Vollmacht an, Sie von Quehl zu erlöſen, ohne daß es zu
einem Bruche zwiſchen Ihnen beiden kommt; wenn mir das ge¬
lingt, ſo bringen Sie dem Könige die Nachricht von Quehl's Ab¬
gange und führen die Geſchäfte fort, als wenn kein Diſſenſus
zwiſchen Sr. Majeſtät und Ihnen vorgekommen wäre.“ Er ging
auf dieſen Gedanken ein, und wir verabredeten, daß er Quehl, der
ſich grade auf einer Reiſe in Frankreich befand, veranlaſſen werde,
1)
S. o. S. 109.
[138/0165]
Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.
auf der Rückkehr mich in Frankfurt aufzuſuchen, was geſchah. Ich
benutzte die Pläne des Königs mit Alvensleben, um Quehl zu
überzeugen, daß er, wenn er nicht abginge, Schuld an dem Sturze
ſeines Gönners ſein werde, und empfahl ihm, die Macht deſſelben,
ſo lange es noch Zeit ſei, zu benutzen. Ich ſagte ihm: „Schneiden
Sie Ihre Pfeifen, wo Sie noch im Rohr ſitzen, es dauert nicht
lange mehr“, und ich brachte ihn dahin, ſeine Wünſche zu präciſiren:
das Generalconſulat in Kopenhagen mit einer ſtarken Gehalts¬
erhöhung. Ich benachrichtigte Manteuffel, und die Sache ſchien
erledigt, zog ſich aber bis zur endlichen Löſung noch einige Zeit
hin, weil man in Berlin ſo ungeſchickt geweſen war, die Sicherung
der Stellung Manteuffel's früher zu verlautbaren als das Aus¬
ſcheiden Quehl's. Letztrer hatte in Berlin ſeine und Manteuffel's
Stellung nicht ſo unſicher gefunden, wie ich ſie geſchildert hatte,
und machte dann einige Schwierigkeiten, die verbeſſernd auf ſeine
Stellung in Kopenhagen wirkten 1).
Aehnliche Verhandlungen drängten ſich mir auf mit Agenten,
welche bei dem Depeſchendiebſtahl in der franzöſiſchen Geſandſchaft
benutzt worden waren, unter Andern mit Haſſenkrug, der zur Zeit
des Proceſſes über dieſen Diebſtahl, anſcheinend mit ſeiner eignen
Zuſtimmung, in Frankreich polizeilich verhaftet und Jahr und Tag
ſequeſtrirt wurde, bis die Sache vergeſſen war.
Der König haßte damals Manteuffel, er behandelte ihn nicht mit
der ihm ſonſt eignen Höflichkeit und that beißende Aeußerungen
über ihn. Wie er überhaupt die Stellung eines Miniſters auffaßte,
zeigt ein Wort über den Grafen Albert Pourtalès, den er auch
gelegentlich als Schreckbild für Manteuffel benutzte 2): „Der wäre
ein Miniſter für mich, wenn er nicht 30000 Reichsthaler Ein¬
kommen zu viel hätte; darin ſteckt die Quelle des Ungehorſams.“
Wenn ich ſein Miniſter geworden wäre, ſo würde ich mehr als Andre
1)
Vgl. Bismarck's Briefe an L. v. Gerlach vom 6. und 13. Aug. 1853
(Ausgabe von H. Kohl S. 96, 97).
2)
S. o. S. 109.
[139/0166]
Beilegung des Conflicts mit Manteuffel.
dieſer Auffaſſung ausgeſetzt geweſen ſein, weil er mich als ſeinen
Zögling betrachtete und in meinem Royalismus als weſentlichſtes
Element den unbedingten „Gehorſam“ ſah. Jede ſelbſtändige
Meinung von mir würde ihn befremdet haben, war ihm doch ſchon
mein Sträuben gegen definitive Uebernahme des Wiener Poſtens
als eine Art von Felonie erſchienen. Eine lange nachwirkende Er¬
fahrung der Art hatte ich zwei Jahre ſpäter zu machen.
III.
Meine Berufungen nach Berlin wurden nicht immer durch
die äußere Politik veranlaßt, mitunter auch durch Vorgänge im
Landtage, in den ich bei der durch meine Ernennung zum Geſandten
nothwendig gewordenen Neuwahl am 13 October 1851 wieder¬
gewählt worden war.
Als es ſich um die Verwandlung der Erſten Kammer in das
Herrenhaus handelte, erhielt ich folgende, vom 20. April 1852
datirte Mittheilung Manteuffel's:
„Bunſen hetzt den König immer mehr in die Pairie hinein.
Er behauptet, die größten Staatsmänner in England glaubten,
daß in wenigen Jahren der Continent in zwei Theile zerfallen
würde: a) proteſtantiſche Staaten mit conſtitutionellem Syſtem,
getragen von den Säulen der Pairie, d) katholiſch-jeſuitiſch-demo¬
kratiſch-abſolutiſtiſche Staaten. In die letzte Kategorie ſtellt er
Oeſterreich, Frankreich und Rußland. Ich halte das für ganz falſch.
Solche Kategorien gibt es gar nicht. Jeder Staat hat ſeinen eignen
Entwicklungsgang. Friedrich Wilhelm I. war weder katholiſch noch
demokratiſch, nur abſolut. Aber dergleichen Dinge machen großen
Eindruck auf S. M. Das conſtitutionelle Syſtem, welches die
Majoritätenherrſchaft proclamirt, halte ich für nichts weniger als
proteſtantiſch.“
Am folgenden Tage, 21. April, ſchrieb mir der König:
[140/0167]
Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.
„Charlottenburg, 21. April 1852.
Ich erinnere Sie daran, theuerſter Bismarck, daß ich auf
Sie und Ihre Hülfe zähle bey der nahen Verhandlung in
IIr Kammer über die Geſtaltung der Erſten. Ich thue dies um
ſo mehr, als ich leider aus allerſicherſter Quelle Kenntniß von den
ſchmutzigen Intriguen habe, die in bewußtem (?) oder unbewußtem (?)
Verein reudiger Schafe aus der Rechten und ſtänkriger Böcke
aus der Linken angeſtellt werden, um meine Abſichten zu zerſtöhren.
Es iſt dies ein trauriger Anblick unter allen Verhältniſſen, einer
,zum Haar Ausraufen‘ aber auf dem Felde der theuer angeſchafften
Lügenmaſchine des franzöſiſchen Constituzionalismus. Gott beſſ'r
es! Amen.
Friedrich Wilhelm.“
Ich ſchrieb dem General Gerlach 1), ich ſei eins der jüngſten
Mitglieder unter dieſen Leuten. Wenn ich die Wünſche Sr. Majeſtät
früher gekannt hätte, hätte ich vielleicht einen Einfluß gewinnen
können; aber der Befehl des Königs, von mir in Berlin ausgeführt
und in der conſervativen Partei beider Häuſer vertreten, würde meine
parlamentariſche Stellung, die für den König und ſeine Regirung
in andern Fragen von Nutzen ſein könnte, zerſtören, wenn ich rein
als königlicher Beauftragter, ohne eigne Gedanken zu vertreten,
meinen Einfluß in der kurzen Friſt von zwei Tagen verwerthen ſollte.
Ich fragte daher an, ob ich nicht den vom Könige erhaltenen Auf¬
trag, mit dem Prinzen von Auguſtenburg zu verhandeln, als Grund
für mein Wegbleiben von dem Landtage geltend machen dürfte.
Ich erhielt durch den Telegraphen die Antwort, mich auf das
Auguſtenburger Geſchäft nicht zu berufen, ſondern ſofort nach Berlin
zu kommen, reiſte alſo am 26. April ab. Inzwiſchen war in Berlin
auf Betrieb der conſervativen Partei ein Beſchluß gefaßt worden, der
1)
Am 23. April 1852; der Brief iſt bisher im Wortlaut noch nicht ver¬
öffentlicht; doch vgl. die Aeußerung in dem Briefe vom 23. April an Man¬
teuffel (Preußen im Bundestage IV 72).
[141/0168]
Streit über Bildung der Erſten Kammer.
den Abſichten des Königs zuwiderlief, und der von Sr. Majeſtät unter¬
nommne Feldzug ſchien damit verloren zu ſein. Als ich mich am 27.
bei dem General von Gerlach in dem Flügel des Charlottenburger
Schloſſes neben der Wache meldete, vernahm ich, daß der König un¬
gehalten über mich ſei, weil ich nicht ſofort abgereiſt ſei; wenn ich gleich
erſchienen wäre, ſo würde ich den Beſchluß haben verhindern können 1).
Gerlach ging, um mich zu melden, zum Könige und kam nach ziem¬
lich langer Zeit zurück mit der Antwort: Se. Majeſtät wolle mich nicht
ſehn, ich ſolle aber warten. Dieſer in ſich widerſprechende Beſcheid
iſt charakteriſtiſch für den König; er zürnte mir und wollte das
durch Verſagung der Audienz zu erkennen geben, aber doch auch
zugleich die Wiederannahme zu Gnaden in kurzer Friſt ſicher ſtellen.
Es war das eine Art von Erziehungsmethode, wie man in der
Schule gelegentlich aus der Klaſſe gewieſen, aber wieder hinein¬
gelaſſen wurde. Ich war gewiſſermaßen im Charlottenburger Schloſſe
internirt, ein Zuſtand, der mir durch ein gutes und elegant ſervirtes
Frühſtück erleichtert wurde. Die Einrichtung des Königlichen Haus¬
halts außerhalb Berlins, vorzugsweiſe in Potsdam und Charlotten¬
burg, war die eines Grand Seigneur auf dem Lande. Man wurde
bei jeder Anweſenheit zu den üblichen Zeiten nach Bedarf verpflegt,
und wenn man zwiſchen dieſen Zeiten einen Wunſch hatte, auch
dann. Die Wirthſchaftsführung war allerdings nicht auf ruſſiſchem
Fuße, aber doch durchaus vornehm und reichlich nach unſern Be¬
griffen, ohne in Verſchwendung auszuarten.
Nach etwa einer Stunde wurde ich durch den Adjutanten vom
Dienſt zum Könige berufen und etwas kühler als ſonſt, aber doch
nicht ſo ungnädig empfangen, wie ich befürchtet hatte. Se. Majeſtät
hatte erwartet, daß ich auf die erſte Anregung erſcheinen würde, und
darauf gerechnet, daß ich im Stande ſein würde, in den 24 Stunden
bis zur Abſtimmung die conſervative Fraction wie auf militäriſches
Commando Kehrt machen und in des Königs Richtung einſchwenken
1)
Vgl. Gerlach's Denkwürdigkeiten I 754. 756.
[142/0169]
Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.
zu laſſen. Ich ſetzte auseinander, daß damit mein Einfluß auf
die Fraction über- und die Unabhängigkeit derſelben unterſchätzt
werde. Ich hätte in dieſer Frage perſönlich keine Ueberzeugung,
die der des Königs entgegenſtände, und ſei bereit, die letztre bei
meinen Fractionsgenoſſen zu vertreten, wenn er mir Zeit dazu laſſen
wolle und geneigt ſei, ſeine Wünſche in neuer Geſtalt nochmals
geltend zu machen. Der König, ſichtlich verſöhnt, ging darauf ein
und entließ mich mit dem Auftrage, Propaganda für ſeinen Plan
zu machen. Letztres geſchah mit mehr Erfolg, als ich ſelbſt er¬
wartet hatte; der Widerſpruch gegen die Umgeſtaltung der Körper¬
ſchaft hatte nur die Führer der Fraction zu Trägern, und ſeine
Nachhaltigkeit beruhte nicht auf der Ueberzeugung der Geſammtheit,
ſondern auf der Autorität, welche in jeder Fraction die anerkannten
Leiter zu haben pflegen — und nicht mit Unrecht, da ſie in der
Regel die beſten Redner und gewöhnlich die einzigen arbeitſamen
Geſchäftsleute ſind und den Uebrigen die Mühe abnehmen, die
vorkommenden Fragen zu ſtudiren. Ein Opponent in der Fraction,
der nicht das gleiche Anſehn hat, wird von dem Fractionsführer,
welcher gewöhnlich der ſchlagfertigere Redner iſt, ſehr leicht in einer
Weiſe abgeführt, welche ihm für die Zukunft die Luſt zur Auf¬
lehnung benimmt, wenn er nicht mit einem Mangel an Schüchtern¬
heit begabt iſt, der bei uns grade in den Klaſſen, denen die Con¬
ſervativen meiſtens angehören, nicht häufig iſt.
Ich fand unſre damals zahlreiche, ich glaube über 100 Köpfe
ſtarke Fraction unter dem Banne der von den Führern feſtgelegten
politiſchen Sätze. Ich ſelbſt hatte mich, ſeit ich mich in Frankfurt
auf der Defenſive gegen Oeſtreich, alſo auf einem von der Fractions¬
leitung nicht gebilligten Wege befand, von derſelben einigermaßen
emancipirt, und obſchon in dieſer Frage unſer Verhältniß zu Oeſt¬
reich nicht im Spiele war, ſo hatte die Meinungsverſchiedenheit
über dieſes Verhältniß meinen Glauben an die Fractionsleitung
überhaupt erſchüttert. Indeſſen überraſchte mich doch die ſofortige
Wirkung, welche mein Plaidoyer nicht ſowohl für die vorliegende
[143/0170]
Streit über Bildung der Erſten Kammer. Als Vertrauensmann des Königs.
Auffaſſung des Königs, als für das Zuſammenhalten mit ihm hatte.
Die Fractionsleitung blieb bei der Abſtimmung iſolirt; faſt die
geſammte Fraction war bereit, dem Könige auf ſeinem Wege zu
folgen.
Wenn ich heut auf dieſe Vorgänge zurückblicke, ſo ſcheint es
mir, daß die drei oder ſechs Führer, gegen welche ich die conſerva¬
tive Fraction aufwiegelte, im Grunde dem Könige gegenüber Recht
hatten. Die Erſte Kammer war zur Löſung der Aufgaben, welche
einer ſolchen im conſtitutionellen Leben zufallen, befähigter als das
heutige Herrenhaus. Sie genoß in der Bevölkerung eines An¬
ſehns, welches das Herrenhaus ſich bisher nicht erworben hat. Das
letztre hat zu einer hervorragenden politiſchen Leiſtung nur in der
Conflictszeit Gelegenheit gehabt und ſich damals durch die furcht¬
loſe Treue, mit der es zur Monarchie ſtand, auf dem defenſiven
Gebiete der Aufgabe eines Oberhauſes völlig gewachſen gezeigt.
Es iſt wahrſcheinlich, daß es in kritiſchen Lagen der Monarchie
dieſelbe tapfere Feſtigkeit beweiſen wird. Ob es aber für Ver¬
hütung ſolcher Kriſen in den ſcheinbar friedlichen Zeiten, in
denen ſie ſich vorbereiten können, denſelben Einfluß ausüben wird,
wie jene Erſte Kammer gethan hat, iſt mir zweifelhaft. Es ver¬
räth einen Fehler in der Conſtitution, wenn ein Oberhaus in der
Einſchätzung der öffentlichen Meinung ein Organ der Regirungs¬
politik oder ſelbſt der königlichen Politik wird. Nach der preußiſchen
Verfaſſung hat der König mit ſeiner Regirung an und für ſich
einen gleichwerthigen Antheil an der Geſetzgebung, wie jedes der
beiden Häuſer; er hat nicht nur ſein volles Veto, ſondern die ganze
vollziehende Gewalt, vermöge deren die Initiative in der Geſetz¬
gebung factiſch und die Ausführung der Geſetze auch rechtlich der
Krone zufällt. Das Königthum iſt, wenn es ſich ſeiner Stärke
bewußt iſt und den Muth hat, ſie anzuwenden, mächtig genug
für eine verfaſſungsmäßige Monarchie, ohne eines ihm gehorſamen
Herrenhauſes als einer Krücke zu bedürfen. Auch wenn das Herren¬
haus in der Conflictszeit ſich für die ihm zugehenden Etatsgeſetze
[144/0171]
Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.
die Beſchlüſſe des Abgeordnetenhauſes angeeignet hätte, ſo wäre
immer, um ein Statsgeſetz nach Art. 99 zu Stande zu bringen,
die Zuſtimmung des dritten Factors, des Königs, unentbehrlich ge¬
weſen, um dem Etat Geſetzeskraft zu geben. Nach meiner Ueber¬
zeugung würde König Wilhelm ſeine Zuſtimmung auch dann
verſagt haben, wenn das Herrenhaus in ſeinen Beſchlüſſen mit
dem Abgeordnetenhauſe übereingeſtimmt hätte. Daß die „Erſte
Kammer“ das gethan haben würde, glaube ich nicht, vermuthe im
Gegentheil, daß ihre durch Sachlichkeit und Leidenſchaftsloſigkeit
überlegnen Debatten ſchon viel früher auf das Abgeordnetenhaus
mäßigend eingewirkt und deſſen Ausſchreitungen zum Theil ver¬
hindert haben würden. Das Herrenhaus hatte nicht daſſelbe Schwer¬
gewicht in der öffentlichen Meinung, man war geneigt, in ihm eine
Doublüre der Regirungsgewalt und eine parallele Ausdrucksform
des königlichen Willens zu ſehn.
Ich war ſchon damals ſolchen Erwägungen nicht unzugänglich,
hatte im Gegentheil dem Könige gegenüber, als er ſeinen Plan
wiederholt mit mir beſprach, lebhaft befürwortet, neben einer ge¬
wiſſen Anzahl erblicher Mitglieder den Hauptbeſtand des Herren¬
hauſes aus Wahlcorporationen hervorgehn zu laſſen, deren Unter¬
lage die 12000 oder 13000 Rittergüter, vervollſtändigt durch
gleichwerthigen Grundbeſitz, durch die Magiſtrate bedeutender Städte
und die Höchſtbeſteuerten ohne Grundbeſitz nach einem hohen Cenſus
abgeben ſollten, und daß der nichterbliche Theil der Mitglieder
ebenſo wie die des Abgeordnetenhauſes der Wahlperiode und der
Auflöſung unterliegen ſollte. Der König wies dieſe Anſichten ſo
weit und geringſchätzig von ſich, daß ich jede Hoffnung auf ein¬
gehende Erörterung derſelben aufgeben mußte. Auf dem mir neuen
Gebiete der Geſetzgebung hatte ich damals nicht die Sicherheit des
Glaubens an die Richtigkeit eigner Auffaſſungen, welche erforderlich
geweſen wäre, um mich in den mir gleichfalls neuen unmittel¬
baren Beziehungen zu dem Könige und in den Rückſichten auf meine
amtliche Stellung zum Feſthalten an abweichenden eignen Anſichten
[145/0172]
Erſte Kammer oder Herrenhaus? Gegenſtrömungen.
in Verfaſſungsfragen zu ermuthigen. Um mich dazu unter Um¬
ſtänden berechtigt und verpflichtet zu fühlen, hätte ich einer längern
Erfahrung in Staatsgeſchäften bedurft, als ich damals beſaß. Wenn
es ſich 20 Jahre ſpäter um die Beibehaltung der Erſten Kammer
oder Verwandlung derſelben in das Herrenhaus gehandelt hätte,
ſo würde ich aus der erſten Alternative eine Cabinetsfrage ge¬
macht haben.
IV.
Die Haltung, welche ich in der conſervativen Fraction an¬
genommen hatte, griff ſtörend in die Pläne ein, die der König
mit mir hatte oder zu haben behauptete. Als er zu Anfang des
Jahres 1854 das Ziel, mich zum Miniſter zu machen, directer in's
Auge zu faſſen begann, wurde ſeine Abſicht nicht nur von Man¬
teuffel bekämpft, ſondern auch von der Camarilla, deren Haupt¬
perſonen der General Gerlach und Niebuhr waren. Dieſe, ebenſo
wie Manteuffel, waren nicht geneigt, den Einfluß auf den König
mit mir zu theilen, und glaubten ſich mit mir im täglichen Zu¬
ſammenleben nicht ſo gut wie in der Entfernung zu vertragen.
Gerlach wurde in dieſer Vorausſetzung beſtärkt durch ſeinen Bruder,
den Präſidenten, der die Gewohnheit hatte, mich als einen Pilatus-
Charakter zu bezeichnen auf der Baſis: Was iſt Wahrheit? alſo
als einen unſichern Fractionsgenoſſen. Dieſes Urtheil über mich
kam auch in den Kämpfen innerhalb der conſervativen Fraction
und ihres intimern Comités mit Schärfe zum Ausdruck, als ich,
auf Grund meiner Stellung als Bundestagsgeſandter und weil ich
im Beſitz des Vortrags bei dem Könige über die deutſchen An¬
gelegenheiten ſei, einen größern Einfluß auf die Haltung der Frac¬
tion in der deutſchen und der auswärtigen Politik verlangte, während
der Präſident Gerlach und Stahl die abſolute Geſammtleitung nach
allen Seiten hin in Anſpruch nahmen. Ich befand mich im Wider¬
ſpruche mit Beiden, mehr aber mit Gerlach als mit Stahl, und
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 10
[146/0173]
Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.
der Erſtere erklärte ſchon damals, vorauszuſehn, daß unſre Wege
ſich trennen und wir als Gegner enden würden. — In Ueberein¬
ſtimmung habe ich mich in den wechſelnden Phaſen der conſervativen
Fraction ſtets mit Below-Hohendorf und Alvensleben-Erxleben be¬
funden.
Im Winter 1853 zu 1854 ließ mich der König wiederholt
kommen und hielt mich oft lang feſt; ich verfiel dadurch äußer¬
lich in die Kategorie der Streber, die am Sturze Manteuffel's
arbeiteten, den Prinzen von Preußen gegen ſeinen Bruder einzu¬
nehmen, für ſich Stellen oder wenigſtens Aufträge herauszuſchlagen
ſuchten und dann und wann von dem Könige als Rivalen Man¬
teuffels cum spe succedendi behandelt wurden. Nachdem ich mehr¬
mals von dem Könige gegen Manteuffel in der Weiſe ausgeſpielt
worden war, daß ich Gegenentwürfe von Depeſchen zu machen
hatte, bat ich Gerlach, den ich in einem kleinen Vorzimmer neben
dem Cabinet des Königs in dem längs der Spree hinlaufenden
Flügel des Schloſſes fand, mir die Erlaubniß zur Rückkehr nach
Frankfurt zu erwirken. Gerlach trat in das Cabinet und ſprach,
der König rief: „Er ſoll in des Teufels Namen warten, bis ich
ihm befehle abzureiſen!“ Als Gerlach herauskam, ſagte ich lachend,
ich hätte den Beſcheid ſchon. Ich blieb alſo noch eine Zeit lang
in Berlin. Als es endlich zur Abreiſe kam, hinterließ ich den
Entwurf eines eigenhändigen, von dem Könige an den Kaiſer Franz
Joſeph zu richtenden Schreibens, den ich auf Befehl Seiner Majeſtät
ausgearbeitet und den Manteuffel dem Könige vorzulegen über¬
nommen hatte, nachdem er ſich mit mir über den Inhalt ver¬
ſtändigt haben würde. Der Schwerpunkt lag in dem Schlußſatze,
aber auch ohne dieſen bildete der Entwurf ein abgerundetes Akten¬
ſtück, freilich von weſentlich modificirter Tragweite. Ich bat den
Flügeladjutanten vom Dienſt unter Mittheilung einer Abſchrift
des Concepts, den König darauf aufmerkſam zu machen, daß
der Schlußſatz das entſcheidende Stück des Erlaſſes ſei. Dieſe
Vorſichtsmaßregel war im Auswärtigen Amte nicht bekannt;
[147/0174]
Als Redactor diplomatiſcher Depeſchen.
die Collationirung im Schloſſe ergab, daß, wie ich befürchtet
hatte, das Concept geändert und der öſtreichiſchen Politik näher
gerückt war. Während des Krimkrieges und der vorangegangnen
Verhandlungen drehten ſich die Kämpfe in den Regirungskreiſen
häufig um eine weſtmächtlich-öſtreichiſche oder eine ruſſiſche Phraſe,
die, kaum geſchrieben, keine praktiſche Bedeutung mehr hatte.
Um eine ernſtere, in den Verlauf der Dinge eingreifende
Frage der Redaction handelte es ſich im Auguſt 1854. Der König
befand ſich in Rügen; ich war auf dem Wege von Frankfurt nach
Reinfeld, wo meine Frau krank lag, als am 29. Auguſt in Stettin
ein höherer Poſtbeamter, der angewieſen war, auf mich zu fahnden,
mir eine Einladung des Königs nach Putbus ausrichtete. Ich hätte
mich gern gedrückt, der Poſtbeamte aber begriff nicht, wie ein
Mann von altem preußiſchen Schlage ſich einer ſolchen Aufforderung
entziehn wolle. Ich ging nach Rügen, nicht ohne Sorge vor neuen
Zumuthungen, Miniſter zu werden und dadurch in unhaltbare Be¬
ziehungen zum Könige zu gerathen. Der König empfing mich am
30. Auguſt gnädig und ſetzte mich von einer vorliegenden Meinungs¬
verſchiedenheit über die durch den Rückzug der Ruſſen aus den
Donaufürſtenthümern entſtandene Situation in Kenntniß. Es han¬
delte ſich um die Depeſche des Grafen Buol vom 10. Auguſt und
einen von Manteuffel vorgelegten Entwurf einer Antwort, den der
König zu öſtreichiſch fand. Auf Befehl machte ich einen andern
Entwurf, der von Sr. Majeſtät genehmigt und nach Berlin geſchickt
wurde, um im Widerſpruch mit dem leitenden Miniſter zunächſt
an den Grafen Arnim in Wien geſandt und dann den deutſchen
Regirungen mitgetheilt zu werden 1). Die durch Annahme meines
Entwurfs bekundete Stimmung des Königs zeigte ſich auch in dem
Empfang des Grafen Benckendorf, der mit Briefen und mündlichen
Aufträgen in Putbus eintraf, und den ich mit der Nachricht hatte
empfangen können, daß die Engländer und Franzoſen in der Krim
1)
Vgl. Sybel II 204 ff.
[148/0175]
Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.
gelandet ſeien. „Freut mich,“ erwiderte er, „da ſind wir ſehr
ſtark.“ Es wurde ruſſiſche Strömung. Ich glaubte, politiſch meine
Schuldigkeit gethan zu haben, hatte ſchlechte Nachrichten von meiner
Frau und bat um die Erlaubniß abzureiſen. Sie wurde mir
indirect dadurch verweigert, daß ich auf das Gefolge übertragen
wurde, ein hoher Gunſtbeweis. Gerlach warnte mich, ihn nicht
zu überſchätzen. „Bilden Sie ſich nur nicht ein,“ ſagte er, „daß
Sie politiſch geſchickter geweſen ſind als wir. Sie ſind augen¬
blicklich in Gunſt, und der König ſchenkt Ihnen dieſe Depeſche,
wie er einer Dame ein Bouquet ſchenken würde.“
Wie wahr das war, erfuhr ich ſofort, aber in vollem Um¬
fange erſt ſpäter nach und nach. Als ich darauf beſtand, abzureiſen,
und in der That am 1. September abreiſte, erfolgte eine ernſte
Ungnade des Königs; mir wäre meine Häuslichkeit doch mehr werth
als das ganze Reich, hatte er zu Gerlach geſagt. Aber wie tief
die Verſtimmung gegangen war, wurde mir erſt während und
nach meiner Pariſer Reiſe klar. Mein beifällig aufgenommener
Depeſchen-Entwurf wurde telegraphiſch angehalten und dann ge¬
ändert.
[[149]/0176]
Achtes Kapitel.
Beſuch in Paris.
I.
Im Sommer 1855 lud unſer Geſandter in Paris, Graf Hatz¬
feldt, mich zum Beſuche der Induſtrie-Ausſtellung ein 1); er theilte
noch den damals in diplomatiſchen Kreiſen verbreiteten Glauben,
daß ich eheſtens der Nachfolger Manteuffel's im Auswärtigen Amt
werden würde. Wenn der König ſich mit einem ſolchen Gedanken
abwechſelnd getragen hatte, ſo wußte man in intimen Hofkreiſen
doch damals ſchon, daß eine Wandelung vorgegangen ſei. Der
Graf Wilhelm Redern, den ich in Paris traf, ſagte mir, die Ge¬
ſandten glaubten noch immer, daß ich zum Miniſter beſtimmt ſei,
er ſelbſt habe das auch geglaubt; aber die Stimmung des Königs
ſei umgeſchlagen, Näheres wiſſe er nicht. Wohl ſeit Rügen.
Der 15. Auguſt, Napoleonstag, wurde u. A. dadurch gefeiert,
daß man ruſſiſche Gefangene durch die Straßen führte. Am 19.
traf die Königin von England ein, der zu Ehren am 25. Auguſt
ein großes Ballfeſt in Verſailles ſtattfand, auf dem ich ihr und
dem Prinzen Albert vorgeſtellt wurde.
Der Prinz in ſeiner ſchwarzen Uniform, ſchön und kühl, ſprach
höflich mit mir, aber in ſeiner Haltung lag eine gewiſſe übel¬
wollende Neugier, aus der ich abnahm, daß ihm meine antiweſt¬
1)
S. Bismarck-Jahrbuch III 86 f.
[150/0177]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
mächtliche Einwirkung auf den König nicht unbekannt war. Nach
der ihm eignen Sinnesweiſe ſuchte er die Beweggründe meines
Verhaltens nicht da, wo ſie lagen, nämlich in dem Intereſſe an
der Unabhängigkeit meines Vaterlandes von fremden Einflüſſen,
Einflüſſen, die in unſrer kleinſtädtiſchen Verehrung für England
und Furcht vor Frankreich einen empfänglichen Boden fanden, ſo¬
wie in dem Wunſche, uns von einem Kriege freizuhalten, den wir
nicht in unſerm Intereſſe, ſondern in Abhängigkeit von öſtreichiſcher
und engliſcher Politik geführt haben würden. In den Augen des
Prinzen war ich, was ich natürlich nicht dem momentanen Eindruck
bei meiner Vorſtellung, ſondern anderweitiger Sach- und Akten¬
kunde entnahm, ein reactionärer Parteimann, der ſich auf die Seite
Rußlands ſtellte, um eine abſolutiſtiſche und Junker-Politik zu för¬
dern. Es konnte nicht befremden, daß dieſe Anſicht des Prinzen
und der damaligen Parteigenoſſen des Herzogs von Coburg ſich
auf die Tochter des Erſtern, welche demnächſt unſre Kronprinzeſſin
wurde, übertragen hatte.
Schon bald nach ihrer Ankunft in Deutſchland, im Februar
1858, konnte ich durch Mitglieder des königlichen Hauſes und aus
eignen Wahrnehmungen die Ueberzeugung gewinnen, daß die Prin¬
zeſſin gegen mich perſönlich voreingenommen war. Ueberraſchend
war mir dabei nicht die Thatſache, wohl aber die Form, wie ihr
damaliges Vorurtheil gegen mich im engen Familienkreiſe zum Aus¬
druck gekommen war: ſie traue mir nicht. Auf Abneigung wegen
meiner angeblich anti-engliſchen Geſinnung und wegen Ungehorſams
gegen engliſche Einflüſſe war ich gefaßt; daß die Frau Prinzeſſin
ſich aber in der Folgezeit bei der Beurtheilung meiner Perſön¬
lichkeit von weitergehenden Verleumdungen beeinfluſſen ließ, mußte
ich vermuthen, als ſie in einem Geſpräche, das ſie mit mir, ihrem
Tiſchnachbar, nach dem 1866er Kriege führte, in halb ſcherzen¬
dem Tone ſagte: ich hätte den Ehrgeiz, König zu werden oder
wenigſtens Präſident einer Republik. Ich antwortete in demſelben
halb ſcherzenden Tone, ich ſei für meine Perſon zum Republikaner
[151/0178]
Begegnung mit Prinz Albert und Königin Victoria. Prinzeſſin Victoria.
verdorben, in den royaliſtiſchen Traditionen der Familie aufgewachſen
und bedürfe zu meinem irdiſchen Behagen einer monarchiſchen Ein¬
richtung, dankte aber Gott, daß ich nicht dazu berufen ſei, wie ein
König auf dem Präſentirteller zu leben, ſondern bis an mein Ende
ein getreuer Unterthan des Königs zu ſein. Daß dieſe meine
Ueberzeugung aber allgemein erblich ſein würde, ließe ſich nicht
verbürgen, nicht weil die Royaliſten ausgehn würden, ſondern
vielleicht die Könige. Pour faire un civet, il faut un lièvre, et
pour une monarchie, il faut un roi. Ich könnte nicht dafür gut
ſagen, daß in Ermanglung eines ſolchen die nächſte Generation
nicht republikaniſch werden könne. Indem ich mich ſo äußerte, war
ich nicht frei von Sorge in dem Gedanken an einen Thronwechſel
ohne Uebergang der monarchiſchen Traditionen auf den Nachfolger.
Die Prinzeſſin vermied indeſſen jede ernſthafte Wendung und blieb
in dem ſcherzenden Tone, liebenswürdig und unterhaltend wie
immer; ſie machte mir mehr den Eindruck, daß ſie einen poli¬
tiſchen Gegner necken wollte.
In den erſten Jahren meines Miniſteriums habe ich noch öfter
bei ähnlichen Tiſchgeſprächen beobachtet, daß es der Prinzeſſin Ver¬
gnügen machte, meine patriotiſche Empfindlichkeit durch ſcherzhafte
Kritik von Perſonen und Zuſtänden zu reizen.
Die Königin Victoria ſprach auf jenem Balle in Verſailles
mit mir deutſch. Ich hatte von ihr den Eindruck, daß ſie in mir
eine merkwürdige, aber unſympathiſche Perſönlichkeit ſah, doch war
ihre Tonart ohne den Anflug von ironiſcher Ueberlegenheit, den ich
bei dem Prinzen Albert durchzufühlen glaubte. Sie blieb freund¬
lich und höflich wie Jemand, der einen wunderlichen Kauz nicht
unfreundlich behandeln will.
Bei dem Souper war mir im Vergleich mit Berlin die Ein¬
richtung merkwürdig, daß die Geſellſchaft in drei Klaſſen mit Ab¬
ſtufungen in dem Menu ſpeiſte und denjenigen Gäſten, die über¬
haupt ſpeiſen ſollten, die Zuſicherung durch Ueberreichung einer
Karte mit der Nummer beim Eintreten gegeben wurde. Die Karten
[152/0179]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
der erſten Klaſſe enthielten auch den Namen der an dem betreffenden
Tiſche vorſitzenden Dame. Dieſe Tiſche waren auf 15 bis 20
Perſonen eingerichtet. Ich erhielt beim Eintreten eine ſolche Karte
zu dem Tiſche der Gräfin Walewska und ſpäter im Saale noch zwei
von zwei andern Patronesses-Damen der Diplomatie und des
Hofes. Es war alſo kein genauer Plan für die Placirung der
Gäſte gemacht worden. Ich wählte den Tiſch der Gräfin Walewska,
zu deren Departement ich als auswärtiger Diplomat gehörte. Auf
dem Wege zu dem betreffenden Saale ſtieß ich auf einen preu¬
ßiſchen Offizier in der Uniform eines Garde-Infanterie-Regiments,
der eine franzöſiſche Dame führte und ſich in lebhaftem Streit
mit einem der kaiſerlichen Haushofmeiſter befand, der beide, weil
ſie mit Karten nicht verſehn waren, nicht paſſiren laſſen wollte.
Nachdem mir der Offizier auf mein Befragen die Sachlage erklärt
und mir die Dame als eine Herzogin mit italieniſchem Titel aus
dem erſten Empire bezeichnet hatte, ſagte ich dem Hofbeamten, ich
hätte die Karte des Herrn, und gab ihm eine der meinigen. Der
Beamte wollte nun aber die Dame nicht paſſiren laſſen, ich gab
daher dem Offizier meine zweite Karte für ſeine Herzogin. Der Be¬
amte bedeutete mich, „mais vous ne passerez pas sans carte“;
als ich ihm die dritte vorgezeigt hatte, machte er ein verwundertes
Geſicht und ließ uns alle drei durch. Ich empfahl meinen beiden
Schützlingen, ſich nicht an die Tiſche zu ſetzen, die auf den Karten
angegeben waren, ſondern zu ſehn, wo ſie ſonſt unterkämen, habe
auch keine Reclamation über meine Kartenvertheilung zu hören be¬
kommen. Die Unregelmäßigkeit war ſo groß, daß unſer Tiſch nicht
voll beſetzt wurde, was ſich aus dem Mangel einer Verabredung
der dames patronesses erklärt. Der alte Fürſt Pückler hatte ent¬
weder keine Karte erhalten oder ſeinen Tiſch nicht finden können;
nachdem er ſich an mein ihm bekanntes Geſicht gewandt hatte,
wurde er von der Gräfin Walewska auf einen der leer gebliebenen
Plätze eingeladen. Das Souper war trotz der Dreitheilung weder
nach dem Material, noch nach der Zubereitung auf der Höhe deſſen,
[153/0180]
Pariſer Hofſitten, ein Souper in Verſailles.
was in Berlin bei ähnlichen Maſſenfeſten geleiſtet wird; nur die
Bedienung war ausreichend und prompt.
Am auffallendſten war mir der Unterſchied in den Anordnungen
für die Circulation. Das Verſailler Schloß bietet dafür eine viel
größere Leichtigkeit, als das Berliner vermöge der größern Zahl
und, abgeſehn von dem Weißen Saale, der größern Ausdehnung
der Räume. Hier war den Soupirenden Nro. 1 für ihren Rückzug
derſelbe Weg angewieſen, wie den Hungrigen Nro. 2, deren ſtürmiſcher
Anmarſch ſchon eine weniger höfiſche geſellſchaftliche Gewöhnung
verrieth. Es kamen körperliche Zuſammenſtöße der geſtickten und
bebänderten Herrn und reich eleganten Damen vor, die in Hand¬
greiflichkeiten und Verbalinjurien übergingen, wie ſie bei uns im
Schloſſe unmöglich wären. Ich zog mich mit dem befriedigenden
Eindruck zurück, daß trotz alles Glanzes des kaiſerlichen Hofes der
Hofdienſt, die Erziehung und die Manieren der Hofgeſellſchaft bei
uns, wie in Petersburg und Wien höher ſtanden als in Paris,
und daß die Zeiten hinter uns lagen, da man in Frankreich und
am Pariſer Hofe eine Schule der Höflichkeit und des guten Be¬
nehmens durchmachen konnte. Selbſt die, namentlich im Vergleich
mit Petersburg, veraltete Etikette kleiner deutſcher Höfe war würde¬
voller als die imperialiſtiſche Praxis. Freilich habe ich dieſen Ein¬
druck ſchon unter Louis Philipp gehabt, während deſſen Regirung
es in Frankreich gradezu Mode wurde, ſich in der Richtung über¬
triebener Ungenirtheit und des Verzichtes auf Höflichkeit beſonders
gegen Damen hervorzuthun. War es nun auch in dieſer Beziehung
während des zweiten Kaiſerreichs beſſer geworden, ſo blieben doch
der Ton in der amtlichen und höfiſchen Geſellſchaft und die Haltung
des Hofes ſelbſt gegen die drei öſtlichen großen Höfe zurück. Nur
in den der amtlichen Welt fremden legitimiſtiſchen Kreiſen war es
zur Zeit Louis Philipp's ſowohl, wie Louis Napoleon's anders, der
Ton tadellos, höflich und gaſtlich, mit gelegentlichen Ausnahmen
der jüngern, mehr verpariſerten Herrn, die ihre Gewohnheiten
nicht der Familie, ſondern dem Club entnahmen.
[154/0181]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
Der Kaiſer, den ich bei meiner damaligen Anweſenheit in
Paris zum erſten Male ſah, hat mir bei verſchiedenen Beſprechungen
damals nur in allgemeinen Worten ſeinen Wunſch und ſeine Abſicht
im Sinne einer franzöſiſch-preußiſchen Intimität zu erkennen ge¬
geben. Er ſprach davon, daß dieſe beiden benachbarten Staaten,
die vermöge ihrer Bildung und ihrer Einrichtungen an der Spitze
der Civiliſation ſtänden, auf einander angewieſen ſeien. Eine
Neigung, Beſchwerden, die durch unſre Verweigerung des An¬
ſchluſſes an die Weſtmächte hervorgerufen wären, mir gegenüber
zum Ausdruck zu bringen, ſtand nicht im Vordergrunde. Ich hatte
das Gefühl, daß der Druck, den England und Oeſtreich in
Berlin und Frankfurt ausübten, um uns zu Kriegsdienſten im weſt¬
mächtlichen Lager zu nöthigen, ſehr viel ſtärker, man könnte ſagen,
leidenſchaftlicher und gröber war, als die in wohlwollender Form
mir kund gegebenen Wünſche und Verſprechungen, mit denen der
Kaiſer unſre Verſtändigung ſpeciell mit Frankreich befürwortete.
Er war für unſre Sünden gegen die weſtmächtliche Politik viel
nachſichtiger, als England und Oeſtreich. Er ſprach nie Deutſch
mit mir, auch ſpäter nicht.
Daß mein Beſuch in Paris am heimathlichen Hofe mißfallen
und die gegen mich bereits vorhandene Verſtimmung beſonders bei
der Königin Eliſabeth geſteigert hatte, konnte ich Ende September
deſſelben Jahres wahrnehmen. Während der König die Rheinreiſe
zum Dombaufeſt nach Köln machte, meldete ich mich in Coblenz
und wurde mit meiner Frau von dem Könige zur Mitfahrt nach
Köln auf dem Dampfſchiff eingeladen, meine Frau aber von der
Königin an Bord und in Remagen ignorirt 1). Der Prinz von
Preußen, der das bemerkt hatte, gab meiner Frau den Arm und
führte ſie zu Tiſch. Nach Aufhebung der Tafel bat ich um die
Erlaubniß, nach Frankfurt zurückzukehren, die ich erhielt.
Erſt im folgenden Winter, während deſſen der König ſich mir
1)
Vgl. Bismarck's Brief an Gerlach vom 7. October 1855, S. 248 f.
[155/0182]
Unterredung mit Napoleon III. Verſtimmung des Königs.
wieder genähert hatte, fragte er mich einmal bei Tafel quer über
den Tiſch nach meiner Meinung über Louis Napoleon; ſein Ton
war ironiſch. Ich antwortete: „Ich habe den Eindruck, daß der
Kaiſer Napoleon ein geſcheidter und liebenswürdiger Mann, aber
ſo klug nicht iſt, wie die Welt ihn ſchätzt, die Alles, was vorgeht,
auf ſeine Rechnung ſchreibt, und wenn es in Oſtaſien zur unrechten
Zeit regnet, das aus einer übelwollenden Machination des Kaiſers
erklären will. Man hat ſich beſonders bei uns daran gewöhnt,
ihn als eine Art génie du mal zu betrachten, das immer nur
darüber nachdenke, wie es in der Welt Unfug anrichten könne 1).
Ich glaube, daß er froh iſt, wenn er etwas Gutes in Ruhe genießen
kann; ſein Verſtand wird auf Koſten ſeines Herzens überſchätzt; er
iſt im Grunde gutmüthig und es iſt ihm ein ungewöhnliches Maß
von Dankbarkeit für jeden geleiſteten Dienſt eigen.“
Der König lachte dazu in einer Weiſe, die mich verdroß und zu
der Frage veranlaßte, ob ich mir geſtatten dürfe, die augenblicklichen
Gedanken Sr. Majeſtät zu errathen. Der König bejahte und ich ſagte:
„General von Canitz hielt den jungen Offizieren in der Kriegs¬
akademie Vorträge über Napoleon's Feldzüge. Ein ſtrebſamer Zu¬
hörer fragte ihn, warum Napoleon dieſe oder jene Bewegung unter¬
laſſen haben könne. Canitz antwortete: ,Ja, ſehn Sie, wie dieſer
Napoleon eben war, ein ſeelensguter Kerl, aber dumm, dumm‘ —
was natürlich die große Heiterkeit der Kriegsſchüler erregte. Ich
fürchte, daß Eurer Majeſtät Gedanken über mich denen des Generals
von Canitz über Napoleon ähnlich ſind.“
Der König ſagte lachend: „Sie mögen Recht haben; aber ich
kenne den jetzigen Napoleon nicht hinreichend, um Ihren Eindruck
beſtreiten zu können, daß ſein Herz beſſer ſei, als ſein Kopf.“ Daß
die Königin mit meiner Anſicht unzufrieden war, konnte ich aus
den kleinen Aeußerlichkeiten entnehmen, durch welche ſich bei Hofe
die Eindrücke kenntlich machen.
1)
Vgl. die Aeußerung Bismarck's in der Reichstagsrede vom 8. Januar
1885, Politiſche Reden X 373.
[156/0183]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
II.
Das Mißvergnügen über meinen Verkehr mit Napoleon ent¬
ſprang aus dem Begriffe oder genauer geſprochen dem Worte
Legitimität, das in dem modernen Sinne von Talleyrand ge¬
prägt und 1814 und 1815 mit großem Erfolge und zum Vortheil
der Bourbonen als eine täuſchende Zauberformel benutzt worden iſt.
Ich ſchalte hier einige Stücke aus meiner Correſpondenz mit
Gerlach ein, die etwas ſpäter fallen, deren Anlaß aber ſchon in
den oben mitgetheilten Bruchſtücken ſeiner Briefe zu erkennen iſt.
„Frankfurt, den 2. Mai 1857 1).
... So einſtimmig wir in Betreff der innern Politik ſind, ſo
wenig kann ich mich in Ihre Auffaſſung der äußern hineinleben,
der ich im Allgemeinen den Vorwurf mache, daß ſie die Reali¬
täten ignorirt. Sie gehn davon aus, daß ich einem vereinzelten
Manne, der mir imponire, das Prinzip opfre. Ich lehne mich gegen
Vorder- und Nachſatz auf. Der Mann imponirt mir durchaus
nicht. Die Fähigkeit, Menſchen zu bewundern, iſt in mir nur
mäßig ausgebildet, und [es iſt] vielmehr ein Fehler meines Auges,
daß es ſchärfer für Schwächen als für Vorzüge iſt. Wenn mein
letzter Brief etwa ein lebhafteres Colorit hat, ſo bitte ich das mehr
als rhetoriſches Hülfsmittel zu betrachten, mit dem ich auf Sie
habe wirken wollen. Was aber das von mir geopferte Prinzip
betrifft, ſo kann ich mir das, was Sie damit meinen, concret nicht
recht formuliren und bitte Sie, dieſen Punkt in einer Antwort
wieder aufzunehmen, da ich das Bedürfniß habe, mit Ihnen prin¬
zipiell nicht auseinander zu gehn. Meinen Sie damit ein auf
Frankreich und ſeine Legitimität anzuwendendes Prinzip, ſo
geſtehe ich allerdings, daß ich dieſes meinem ſpecifiſch Preußi¬
ſchen Patriotismus vollſtändig unterordne; Frankreich inter¬
1)
Briefe Bismarck's an Gerlach, S. 314 ff.
[157/0184]
Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
eſſirt mich nur inſoweit, als es auf die Lage meines Vaterlandes
reagirt, und wir können Politik nur mit dem Frankreich treiben,
welches vorhanden iſt, dieſes aber aus den Combinationen
nicht ausſchließen. Ein legitimer Monarch wie Ludwig XIV.
iſt ein ebenſo feindſeliges Element wie Napoleon I., und wenn
deſſen jetziger Nachfolger heut auf den Gedanken käme zu abdiciren,
um ſich in die Muße des Privatlebens zurückzuziehn, ſo würde er
uns garkeinen Gefallen damit thun, und Heinrich V. würde nicht
ſein Nachfolger ſein; auch wenn man ihn auf den vacanten und
unverwehrten Thron hinaufſetzte, würde er ſich nicht darauf be¬
haupten. Ich kann als Romantiker eine Thräne für ſein Geſchick
haben, als Diplomat würde ich ſein Diener ſein, wenn ich Franzoſe
wäre, ſo aber zählt mir Frankreich, ohne Rückſicht auf die jeweilige
Perſon an ſeiner Spitze, nur als ein Stein und zwar ein unver¬
meidlicher in dem Schachſpiel der Politik, ein Spiel, in welchem
ich nur meinem Könige und meinem Lande zu dienen Beruf habe.
Sympathien und Antipathien in Betreff auswärtiger Mächte und
Perſonen vermag ich vor meinem Pflichtgefühl im auswärtigen
Dienſte meines Landes nicht zu rechtfertigen, weder an mir noch
an Andern; es iſt darin der Embryo der Untreue gegen den Herrn
oder das Land, dem man dient. Insbeſondre aber, wenn man
ſeine ſtehenden diplomatiſchen Beziehungen und die Unterhaltung
des Einvernehmens im Frieden danach zuſchneiden will, ſo hört
man m. E. auf, Politik zu treiben und handelt nach perſönlicher
Willkür. Die Intereſſen des Vaterlandes dem eignen Gefühl von
Liebe oder Haß gegen Fremde unterzuordnen, dazu hat meiner
Anſicht nach ſelbſt der König nicht das Recht, hat es aber vor Gott
und nicht vor mir zu verantworten, wenn er es thut, und darum
ſchweige ich über dieſen Punkt.
Oder finden Sie das Prinzip, welches ich geopfert habe, in
der Formel, daß ein Preuße ſtets ein Gegner Frankreichs
ſein müſſe? Aus dem Obigen geht ſchon hervor, daß ich den Ma߬
ſtab für mein Verhalten gegen fremde Regirungen nicht aus ſtag¬
[158/0185]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
nirenden Antipathien, ſondern nur aus der Schädlichkeit oder
Nützlichkeit für Preußen, welche ich ihnen beilege, entnehme. In
der Gefühlspolitik iſt garkeine Reciprocität, ſie iſt eine ausſchließlich
Preußiſche Eigenthümlichkeit; jede andre Regirung nimmt lediglich
ihre Intereſſen zum Maßſtabe ihrer Handlungen, wie ſie dieſelben
auch mit rechtlichen oder gefühlvollen Deductionen drapiren mag.
Man acceptirt unſre Gefühle, beutet ſie aus, rechnet darauf, daß
ſie uns nicht geſtatten, uns dieſer Ausbeutung zu entziehn und be¬
handelt uns danach, d. h. man dankt uns nicht einmal dafür und
reſpectirt uns nur als brauchbare dupe.
Ich glaube, Sie werden mir Recht geben, wenn ich behaupte,
daß unſer Anſehn in Europa heut nicht daſſelbe iſt wie vor 1848;
ich meine ſogar, es war größer zu jeder Zeit zwiſchen 1763 und
1848, mit Ausnahme natürlich der Zeit von 7 bis 13. Ich räume
ein, daß unſer Machtverhältniß zu andern Großmächten, namentlich
aggreſſiv, vor 1806 ein ſtärkeres war als jetzt, von 15 bis 48
aber nicht; damals waren ziemlich Alle, was ſie jetzt noch ſind,
und doch müſſen wir ſagen wie der Schäfer in Goethe's Gedicht:
,Ich bin heruntergekommen und weiß doch ſelber nicht wie.‘ Ich
will auch nicht behaupten, daß ich es weiß, aber viel liegt ohne
Zweifel in dem Umſtande: wir haben keine Bündniſſe und treiben
keine auswärtige Politik, das heißt, keine active, ſondern wir be¬
ſchränken uns darauf, die Steine, die in unſern Garten fallen,
aufzuſammeln und den Schmutz, der uns anfliegt, abzubürſten, wie
wir können. Wenn ich von Bündniſſen rede, ſo meine ich damit
keine Schutz- und Trutzbündniſſe, denn der Frieden iſt noch nicht
bedroht; aber alle die Nuancen von Möglichkeit, Wahrſcheinlichkeit
oder Abſicht, für den Fall eines Krieges dieſes oder jenes Bündniß
ſchließen, zu dieſer oder jener Gruppe gehören zu können, bleiben
doch die Baſis des Einfluſſes, den ein Staat heut zu Tage in Friedens¬
zeiten üben kann. Wer ſich in der für den Kriegsfall ſchwächern
Combination befindet, iſt nachgiebiger geſtimmt; wer ſich ganz
iſolirt, verzichtet auf Einfluß, beſonders wenn es die ſchwächſte
[159/0186]
Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
unter den Großmächten iſt. Bündniſſe ſind der Ausdruck gemein¬
ſamer Intereſſen und Abſichten. Ob wir Abſichten und bewußte
Ziele unſrer Politik überhaupt jetzt haben, weiß ich nicht; aber daß
wir Intereſſen haben, daran werden uns Andre ſchon erinnern.
Wir aber haben die Wahrſcheinlichkeit eines Bündniſſes bisher nur
mit denen, deren Intereſſen ſich mit den unſrigen am mannig¬
fachſten kreuzen und ihnen widerſprechen, nämlich mit den deutſchen
Staaten und Oeſtreich. Wollen wir damit unſre auswärtige Politik
abgeſchloſſen betrachten, ſo müſſen wir uns auch mit dem Gedanken
vertraut machen, in Friedenszeiten unſern europäiſchen Einfluß auf
ein Siebzehntel der Stimmen des engern Rathes im Bunde reducirt
zu ſehn und im Kriegsfalle mit der Bundesverfaſſung in der Hand
allein im Taxis'ſchen Palais übrig zu bleiben. Ich frage Sie, ob
es in Europa ein Cabinet gibt, welches mehr als das Wiener ein
gebornes und natürliches Intereſſe daran hat, Preußen nicht ſtärker
werden zu laſſen, ſondern ſeinen Einfluß in Deutſchland zu min¬
dern; ob es ein Cabinet gibt, welches dieſen Zweck eifriger und
geſchickter verfolgt, welches überhaupt kühler und cyniſcher nur
ſeine eignen Intereſſen zur Richtſchnur ſeiner Politik nimmt, und
welches uns, den Ruſſen und den Weſtmächten mehr und ſchlagen¬
dere Beweiſe von Perfidie und Unzuverläſſigkeit für Bundesgenoſſen
gegeben hat? Genirt ſich denn Oeſtreich etwa mit dem Auslande
jede ſeinem Vortheil entſprechende Verbindung einzugehn und ſogar
die Theilnehmer des Deutſchen Bundes vermöge ſolcher Verbindungen
offen zu bedrohen? Halten Sie den Kaiſer Franz Joſeph für eine
aufopfernde, hingebende Natur überhaupt und insbeſondre für außer¬
öſtreichiſche Intereſſen? Finden Sie zwiſchen ſeiner Buol-Bach'ſchen
Regirungsweiſe und der Napoleoniſchen vom Standpunkte des
,Prinzips' einen Unterſchied? Der Träger der letztern ſagte mir
in Paris, es ſei für ihn ,qui fais tous les efforts pour sortir
de ce système de centralisation trop tendue qui en dernier lieu
a pour pivot un gend'arme-sécrétaire et que je considère comme
une des causes principales des malheurs de la France‘ ſehr
[160/0187]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
merkwürdig zu ſehn, wie Oeſtreich die ſtärkſten Anſtrengungen
mache, um hinein zu gerathen. Ich frage noch weiter und bitte
Sie, mich in Antwort nicht mit einer ausweichenden Wendung ab¬
zufinden: gibt es nächſt Oeſtreich Regirungen, die weniger den
Beruf fühlen, etwas für Preußen zu thun, als die deutſchen
Mittelſtaaten? Im Frieden haben ſie das Bedürfniß, am Bunde
und im Zollverein Rollen zu ſpielen, ihre Souveränetät an unſern
Gränzen geltend zu machen, ſich mit von der Heydt zu zanken, und
im Kriege wird ihr Verhalten durch Furcht oder Mißtrauen für
oder gegen uns bedingt, und das Mißtrauen wird ihnen kein Engel
ausreden können, ſo lange es noch Landkarten gibt, auf die ſie
einen Blick werfen können. Und nun noch eine Frage: Glauben
Sie denn und glaubt Se. Majeſtät der König wirklich noch an
den Deutſchen Bund und ſeine Armee für den Kriegsfall? ich meine
nicht für den Fall eines franzöſiſchen Revolutionskrieges gegen
Deutſchland im Bunde mit Rußland, ſondern in einem Intereſſen¬
kriege, bei dem Deutſchland mit Preußen und Oeſtreich auf ihren
alleinigen Füßen zu ſtehn angewieſen wären. Glauben Sie daran,
ſo kann ich allerdings nicht weiter diſcutiren, denn unſre Prämiſſen
wären zu verſchieden. Was könnte Sie aber berechtigen, daran
zu glauben, daß die Großherzöge von Baden und Darmſtadt, der
König von Würtemberg oder Baiern den Leonidas für Preußen
und Oeſtreich machen ſollten, wenn die Uebermacht nicht auf deren
Seite iſt und niemand an Einheit und Vertrauen zwiſchen beiden,
Preußen und Oeſtreich nämlich, auch nur den mäßigſten Grund
hat zu glauben? Schwerlich wird der König Max in Fontainebleau
dem Napoleon ſagen, daß er nur über ſeine Leiche die Gränze
Deutſchlands oder Oeſtreichs paſſiren werde.
Ganz erſtaunt bin ich, in Ihrem Briefe zu leſen, daß die
Oeſtreicher behaupten, ſie hätten uns in Neuenburg mehr verſchafft
als die Franzoſen. So unverſchämt im Lügen iſt doch nur Oeſt¬
reich; wenn ſie gewollt hätten, ſo hätten ſie es nicht gekonnt und
mit Frankreich und England wahrlich keine Händel um unſert¬
[161/0188]
Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
willen angefangen. Aber ſie haben im Gegentheil uns in der
Durchmarſchfrage genirt, ſo viel ſie konnten, uns verleumdet, uns
Baden abwendig gemacht, und jetzt in Paris ſind ſie mit England
unſre Gegner geweſen. Ich weiß von den Franzoſen und von
Kiſſeleff, daß in allen Beſprechungen, wo Hübner ohne Hatzfeldt
geweſen iſt, und das waren grade die entſcheidenden, er ſtets der
Erſte war, ſich dem engliſchen Widerſpruch gegen uns anzuſchließen;
dann iſt Frankreich gefolgt, dann Rußland. Warum ſollte aber
überhaupt Jemand etwas für uns in Neuenburg thun und ſich
für unſre Intereſſen einſetzen? hatte denn Jemand von uns etwas
dafür zu hoffen oder zu fürchten, wenn er uns den Gefallen that
oder nicht? Daß man in der Politik aus Gefälligkeit oder aus
allgemeinem Rechtsgefühl handelt, das dürfen Andre von uns,
wir aber nicht von ihnen erwarten.
Wollen wir ſo iſolirt, unbeachtet und gelegentlich ſchlecht be¬
handelt weiter leben, ſo habe ich freilich keine Macht, es zu ändern;
wollen wir aber wieder zu Anſehn gelangen, ſo erreichen wir
es unmöglich damit, daß wir unſer Fundament lediglich auf den
Sand des Deutſchen Bundes bauen und den Einſturz in Ruhe
abwarten. So lange Jeder von uns die Ueberzeugung hat, daß
ein Theil des europäiſchen Schachbretts uns nach unſerm eignen
Willen verſchloſſen bleibt oder daß wir uns einen Arm prinzipiell
feſtbinden, während jeder Andre beide zu unſerm Nachtheil be¬
nutzt, wird man dieſe unſre Gemüthlichkeit ohne Furcht und ohne
Dank benutzen. Ich verlange ja garnicht, daß wir mit Frankreich
ein Bündniß ſchließen und gegen Deutſchland conſpiriren ſollen;
aber iſt es nicht vernünftiger, mit den Franzoſen, ſo lange ſie uns
in Ruhe laſſen, auf freundlichem als auf kühlem Fuße zu ſtehn?
Ich will nichts weiter als andern Leuten den Glauben benehmen,
ſie könnten ſich verbrüdern, mit wem ſie wollten, aber wir würden
eher Riemen aus unſrer Haut ſchneiden laſſen, als dieſelbe mit
franzöſiſcher Hülfe vertheidigen. Höflichkeit iſt eine wohlfeile Münze;
und wenn ſie auch nur dahin führt, daß die Andern nicht mehr
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 11
[162/0189]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
glauben, Frankreichs ſeien ſie gegen uns immer ſicher und wir
jeder Zeit hülfsbedürftig gegen Frankreich, ſo iſt das für Friedens¬
diplomatie ein großer Gewinn; wenn wir dieſe Hülfsmittel ver¬
ſchmähn, ſogar das Gegentheil thun, ſo weiß ich nicht, warum wir
nicht lieber die Koſten der Diplomatie ſparen oder reduciren, denn
dieſe Kaſte vermag mit allen Arbeiten nicht zu Wege zu bringen,
was der König mit geringer Mühe kann, nämlich Preußen eine
angeſehne Stellung im Frieden durch den Anſchein von freund¬
lichen Beziehungen und möglichen Verbindungen wiederzugeben.
Nicht minder vermag Se. Majeſtät durch ein [Zur]ſchautragen
kühler Verhältniſſe leicht alle Arbeit der Diplomaten zu lähmen;
denn was ſoll ich hier oder einer unſrer andern Geſandten durch¬
ſetzen, wenn wir den Eindruck machen, ohne Freunde zu ſein oder
auf Oeſtreichs Freundſchaft zu rechnen. Man muß nach Berlin
kommen, um nicht ausgelacht zu werden, wenn man von Oeſtreichs
Unterſtützung in irgend einer für uns erheblichen Frage ſprechen
will. Und ſelbſt in Berlin kenne ich doch nachgrade nur einen
ſehr kleinen Kreis, bei dem das Gefühl der Bitterkeit nicht durch¬
bräche, ſobald von unſrer auswärtigen Politik die Rede iſt. Unſer
Recept für alle Uebel iſt, uns an die Bruſt des Grafen Buol zu
werfen und ihm unſer brüderliches Herz auszuſchütten. Ich erlebte
in Paris, daß ein Graf So und So gegen ſeine Frau auf Schei¬
dung klagte, nachdem er ſie, eine ehemalige Kunſtreiterin, zum
24. Male im flagranten Ehebruch betroffen hatte; er wurde als
ein Muſter von galantem und nachſichtigem Ehemann von ſeinem
Advocaten vor Gericht gerühmt, aber gegen unſern Edelmuth mit
Oeſtreich kann er ſich doch nicht meſſen.
Unſre innern Verhältniſſe leiden unter ihren eignen Fehlern
kaum mehr, als unter dem peinlichen und allgemeinen Gefühl
unſres Verluſtes an Anſehn im Auslande und der gänzlich paſſiven
Rolle unſrer Politik. Wir ſind eine eitle Nation, es iſt uns
ſchon empfindlich, wenn wir nicht renommiren können, und einer
Regirung, die uns nach außen hin Bedeutung gibt, halten wir
[163/0190]
Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
vieles zu Gute und laſſen uns viel gefallen dafür, ſelbſt im Beutel.
Aber wenn wir uns für's Innre ſagen müſſen, daß wir mehr
durch unſre guten Säfte die Krankheiten ausſtoßen, welche unſre
miniſteriellen Aerzte uns einimpfen, als daß wir von ihnen geheilt
und zu geſunder Diät angeleitet würden, ſo ſucht man im Aus¬
wärtigen vergebens nach einem Troſt dafür. Sie ſind doch, ver¬
ehrteſter Freund, au fait von unſrer Politik; können Sie mir nun
ein Ziel nennen, welches dieſelbe ſich etwa vorgeſteckt hat, auch
nur einen Plan auf einige Monate hinaus; grade rebus sic stan¬
tibus weiß man da, was man eigentlich will? weiß das irgend
Jemand in Berlin und glauben Sie, daß bei den Leitern eines
andern Staates dieſelbe Leere an poſitiven Zwecken und Ideen vor¬
handen iſt? Können Sie mir ferner einen Verbündeten nennen,
auf welchen Preußen zählen könnte, wenn es heut grade zum Kriege
käme, oder der für uns ſpräche bei einem Anliegen, wie etwa das
Neuenburger, oder der für uns irgend etwas thäte, weil er auf
unſern Beiſtand rechnet oder unſre Feindſchaft fürchtet? Wir ſind
die gutmüthigſten, ungefährlichſten Politiker, und doch traut uns
eigentlich niemand; wir gelten wie unſichre Genoſſen und unge¬
fährliche Feinde, ganz als hätten wir uns im Aeußern ſo betragen
und wären im Innern ſo krank wie Oeſtreich. Ich ſpreche nicht
von der Gegenwart; aber können Sie mir einen poſitiven Plan
(abwehrende genug) oder eine Abſicht nennen, die wir ſeit dem
Radowitziſchen Dreikönigsbündniß in auswärtiger Politik gehabt
haben? Doch, den Jahdebuſen; der bleibt aber bisher ein todtes
Waſſerloch, und den Zollverein werden wir uns von Oeſtreich ganz
freundlich ausziehn laſſen, weil wir nicht den Entſchluß haben, ein¬
fach Nein zu ſagen. Ich wundre mich, wenn es bei uns noch
Diplomaten gibt, denen der Muth, einen Gedanken zu haben, denen
die ſachliche Ambition, etwas leiſten zu wollen, nicht ſchon erſtorben
iſt, und ich werde mich ebenſo gut wie meine Collegen darin finden,
einfältig meine Inſtruction zu vollziehn, den Sitzungen beizuwohnen
und mich der Theilnahme für den allgemeinen Gang unſrer Politik
[164/0191]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
zu entſchlagen; man bleibt geſünder dabei und verbraucht weniger
Tinte.
Sie werden wahrſcheinlich ſagen, daß ich aus dépit, weil
Sie nicht meiner Meinung ſind, ſchwarz ſehe und raiſonnire wie
ein Rohrſpatz; aber ich würde wahrlich ebenſogern meine Be¬
mühungen an die Durchführung fremder Ideen wie eigner ſetzen,
wenn ich nur überhaupt welche fände. So weiter zu vegetiren,
dazu bedürfen wir eigentlich des ganzen Apparates unſrer Diplo¬
matie nicht. Die Tauben, die uns gebraten anfliegen, entgehn uns
ohnehin nicht; oder doch, denn wir werden den Mund ſchwerlich
dazu aufmachen, falls wir nicht grade gähnen. Mein Streben
geht ja nur dahin, daß wir ſolche Dinge zulaſſen und nicht von
uns weiſen, welche geeignet ſind, bei den Cabinetten in Friedens¬
zeit den Eindruck zu machen, daß wir uns mit Frankreich nicht
ſchlecht ſtehn, daß man auf unſre Beiſtandsbedürftigkeit gegen
Frankreich nicht zählen und uns deßhalb drücken darf, und daß
uns, wenn man unwürdig mit uns umgehn will, alle Bündniſſe
offen ſtehn. Wenn ich nun melde, daß dieſe Vortheile gegen Höf¬
lichkeit und gegen den Schein der Reciprocität zu haben ſind, ſo
erwarte ich, daß man mir entweder nachweiſt, es ſeien keine Vor¬
theile, es entſpreche vielmehr unſern Intereſſen beſſer, wenn fremde
und deutſche Höfe berechtigt ſind, von der Annahme auszugehn,
daß wir gegen Weſten unter allen Umſtänden feindlich gerüſtet ſein
müſſen und Bündniſſe, eventuell Hülfe, dagegen bedürfen, und wenn
ſie dieſe Annahme als Baſis ihrer gegen uns gerichteten politiſchen
Operationen ausbeuten. Oder ich erwarte, daß man andre Pläne
und Abſichten hat, in deren Combination der Anſchein eines guten
Vernehmens mit Frankreich nicht paßt. Ich weiß nicht, ob die
Regirung einen Plan hat (den ich nicht kenne), ich glaube es nicht;
wenn man aber diplomatiſche Annäherungen einer großen Macht
nur deßhalb von ſich abhält und die politiſchen Beziehungen zweier
großen Mächte nur danach regelt, ob man Antipathien oder Sym¬
pathien für Zuſtände und Perſonen hat, die man doch nicht ändern
[165/0192]
Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
kann und will, ſo drücke ich mich mit Zurückhaltung aus, wenn
ich ſage: Ich habe dafür kein Verſtändniß als Diplomat und finde
mit der Annahme eines ſolchen Syſtems in auswärtigen Be¬
ziehungen das ganze Gewerbe der Diplomatie bis auf das Con¬
ſularweſen hinunter überflüſſig und thatſächlich caſſirt. Sie ſagen
mir, ‚der Mann iſt unſer natürlicher Feind, und daß er es iſt und
bleiben muß, wird ſich bald zeigen‘; ich könnte das beſtreiten oder
mit demſelben Rechte ſagen: ‚Oeſtreich, England ſind unſre Feinde,
und daß ſie es ſind, zeigt ſich ſchon längſt, bei Oeſtreich natür¬
licher, bei England unnatürlicher Weiſe.‘ Aber ich will das auf
ſich beruhn laſſen und annehmen, Ihr Satz wäre richtig, ſo kann
ich es auch dann noch nicht für politiſch halten, unſre Befürch¬
tungen ſchon im Frieden von andern und von Frankreich ſelbſt
erkennen zu laſſen, ſondern finde es, bis der von Ihnen vorher¬
geſehne Bruch wirklich eintritt, immer noch nützlich, die Leute
glauben zu laſſen, daß ein Krieg gegen Frankreich uns nicht noth¬
wendig über kurz oder lang bevorſteht, daß er wenigſtens nichts
von Preußens Lage Unzertrennliches, daß die Spannung gegen
Frankreich nicht ein organiſcher Fehler, eine angeborne ſchwache
Seite unſrer Natur iſt, auf die jeder Andre mit Sicherheit
ſpeculiren kann. Sobald man uns für kühl mit Frankreich hält,
wird auch der Bundescollege hier kühl für mich. ...
v. B.“
Gerlach antwortete wie folgt:
„Berlin, 6. Mai 1857.
Ihr Brief vom 2. hat auf der einen Seite mir eine große
Freude gemacht, da ich daraus ſehe, daß es Ihnen am Herzen
liegt, mit mir in Einigkeit zu bleiben oder zu kommen, woraus
ſich die meiſten Menſchen wenig machen, auf der andern Seite
aber auch zum Widerſpruch und zur eignen Rechtfertigung auf¬
gefordert.
Zunächſt bilde ich mir ein, doch immer noch im innerſten
Grunde mit Ihnen einig zu ſein. Wäre das nicht der Fall, ſo
[166/0193]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
würde ich mich auf eine gründliche Widerlegung nicht einlaſſen,
indem eine ſolche doch zu nichts führen könnte. Haben Sie das
Bedürfniß, mit mir principiell nicht auseinander zu gehen, ſo liegt
es uns doch zunächſt ob, dieſes Princip aufzuſuchen und ſich nicht
an Negationen zu halten, wie z. B. ‚Ignoriren von Realitäten‘,
‚Ausſchließen von Frankreich aus den politiſchen Combinationen‘.
Ebenſowenig dürften wir das gemeinſchaftliche Princip in dem
,preußiſchen Patriotismus‘, ‚in der Schädlichkeit und Nützlichkeit
für Preußen‘, ‚in dem ausſchließlichen Dienſt des Königs und des
Landes‘ finden, denn das ſind Dinge, die ſich von ſelbſt verſtehen
und bei denen Sie doch auf die Antwort gefaßt ſein müſſen, daß
ich dieſe Dinge in meiner Politik noch beſſer und mehr als in der
Ihrigen und in jeder andern zu finden glaube. Mir iſt aber
das Aufſuchen des Princips gerade deshalb von der größten
Wichtigkeit, weil ich, ohne ein ſolches gefunden zu haben, alle
politiſchen Combinationen für fehlerhaft, unſicher und in hohem
Grade gefährlich halte, wovon ich mich in den letzten zehn Jahren
und gerade durch den Erfolg überzeugt habe.
Jetzt muß ich etwas weit ausholen und zwar bis zu Karl dem
Großen, alſo über 1000 Jahre. Damals war das Princip der
europäiſchen Politik die Ausbreitung der chriſtlichen Kirche. Karl
der Große huldigte demſelben in ſeinen Kriegen mit den Sarazenen,
Sachſen, Avaren u. ſ. w., und ſeine Politik war wahrlich nicht
unpraktiſch. Seine Nachfolger ſtritten ſich principienlos unter ein¬
ander, und wieder waren es die großen Fürſten des Mittelalters,
welche dem alten Princip treu blieben. Die preußiſche Macht
wurde gegründet durch die Kämpfe der brandenburgiſchen Mark¬
grafen und des deutſchen Ordens gegen diejenigen Völker, welche
ſich dem Kaiſer, dem Vicarius der Kirche, nicht unterwerfen wollten,
und das dauerte, bis daß der Verfall der Kirche zu dem Territorialis¬
mus, zum Verfall des Reiches, zur Spaltung in der Kirche führte.
Seitdem war nicht mehr ein allgemeines Princip in der Chriſten¬
heit. Von dem urſprünglichen Princip war noch allein der Wider¬
[167/0194]
Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
ſtand gegen die gefährliche Macht der Türken übrig, und Oeſterreich
ſowie ſpäter Rußland waren wahrlich nicht unpraktiſch, als ſie
dieſem Principe gemäß die Türken bekämpften. Die Türkenkriege
begründeten die Macht dieſer Reiche, und wäre man dieſem Princip,
das türkiſche Reich zu bekämpfen, treu geblieben: Europa oder die
Chriſtenheit wären nach menſchlichen Begriffen dem Orient gegen¬
über in einer beſſeren Lage als jetzt, wo uns von dort die größten
Gefahren drohen. Vor der franzöſiſchen Revolution, dem ſchroffen und
ſehr praktiſchen Abfall von der Kirche Chriſti zunächſt in der Politik,
war eine Politik ‚der Intereſſen‛, des ſogenannten Patriotismus,
und wohin dieſe führte, haben wir geſehen. Etwas Elenderes als
die Politik Preußens von 1778 bis zur franzöſiſchen Revolution hat
es nie gegeben; ich erinnere an die Subſidien, die Friedrich II. an
Rußland zahlte, die einem Tribut gleichkamen, an den Haß gegen
England. Bei Holland hielt 1787 noch das alte Anſehen Friedrichs II.;
die Reichenbacher Convention war aber ſchon eine durch Abweichung
von dem Princip veranlaßte Blamage. Die Kriege des Großen
Kurfürſten waren im proteſtantiſchen Intereſſe, und die Kriege
Friedrich Wilhelms III. gegen Frankreich waren recht eigentlich
Kriege gegen die Revolution. Den proteſtantiſchen Charakter hatten
weſentlich auch die drei ſchleſiſchen Kriege 1740-1763, wenn auch
bei allem dieſen die Intereſſen des Territorialismus und das
Gleichgewicht mitſpielten.
Das Princip, was durch die Revolution, welche die Tour
durch Europa machte, der europäiſchen Politik gegeben wurde, iſt
das nach meiner Meinung bis heute gültige. Es war wahrlich
nicht unpraktiſch, dieſer Auffaſſung treu zu bleiben. England, was
dem Kampfe gegen die Revolution bis 1815 treu blieb und ſich
durch den alten Bonaparte nicht beirren ließ, ſtieg zur höchſten
Macht; Oeſterreich kam nach vielen unglücklichen Kriegen dennoch
gut aus der Fechtſchule; Preußen hat ſchwer an den Folgen des
Baſeler Friedens gelitten und nur durch 1813-1815 ſich rehabilitirt,
noch viel mehr Spanien, was daran zu Grunde gegangen; und
[168/0195]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
nach Ihrer eignen Anſicht ſind die deutſchen Mittelſtaaten leider
im Wiener Congreß aus Halbheit und Eiferſucht octroyirte und ge¬
ſchützte Producte der Revolution und des ihr folgenden Bonapartismus,
der Materia peccans, in Deutſchland. Hätte man principienmäßig
in Wien Belgien an Oeſterreich und die fränkiſchen Fürſtenthümer
an Preußen zurückgegeben: Deutſchland wäre in einer andern Lage
als jetzt, beſonders wenn man gleichzeitig die Mißgeburten Bayern,
Würtemberg, Darmſtadt auf ihre natürliche Größe zurückgeführt
hätte; damals aber zog man Arrondirung u. ſ. w., lauter mechaniſche
Intereſſen dem Principe vor.
Sie haben ſich aber gewiß bei meiner weitläufigen Deduction
ſchon gelangweilt, ich will daher der neueſten Zeit entgegengehen.
Finden Sie es denn eine glückliche Lage der Dinge, daß jetzt, wo
Preußen und Oeſterreich ſich feindlich entgegenſtehen, Bonaparte bis
Deſſau hin regiert und Nichts in Deutſchland geſchieht ohne bei ihm
anzufragen? Kann uns ein Bündniß mit Frankreich den Zuſtand
der Dinge erſetzen, welcher von 1815—1848 beſtanden hat, wo
ſich keine fremde Macht in die deutſchen Angelegenheiten miſchte?
Daß Oeſterreich und die deutſchen Mittelſtaaten nichts für uns thun
werden, davon bin ich wie Sie überzeugt. Ich glaube nur außer¬
dem noch, daß Frankreich, das heißt Bonaparte, auch nichts für uns
thun wird. Daß man unfreundlich und unhöflich gegen ihn iſt,
billige ich ſo wenig als Sie; daß man Frankreich aus den politiſchen
Combinationen ausſchließt, iſt Wahnſinn. Daraus folgt aber noch
nicht, daß man Bonapartes Urſprung vergißt, ihn nach Berlin ein¬
ladet und dadurch im In- und Auslande alle Begriffe verwirrt.
In der Neuſchâteler Sache hat er ſich inſofern gut benommen, daß
er den Krieg verhindert und offen geſagt hat, daß er nicht mehr
thun würde. Ob es aber nicht beſſer um dieſe Angelegenheit ſtände,
wenn wir uns nicht von einer ‚Gefühlspolitik‘ hätten leiten laſſen,
ſondern die Sache an die europäiſchen Mächte, die das Londoner
Protokoll unterzeichnet, gebracht hätten, ohne uns vorher unter die
Flügel Bonapartes geduckt zu haben, das iſt doch noch ſehr fraglich,
[169/0196]
Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
und das hatte Oeſterreich denn doch wirklich gewollt. Den Ge¬
fangenen, für die man ſich verwenden konnte, wäre doch kein Leid
geſchehen.
Dann klagen Sie unſre Politik der Iſolirtheit an. Dieſelbe
Anklage erhob der Freimaurer Uſedom, als er uns in den Vertrag
vom 2. December hineintreiben wollte, und Manteuffel, jetzt Uſedoms
entſchiedener Feind, war ſehr von dieſem Gedanken imponirt, Sie
damals aber Gott ſei Dank nicht. Oeſterreich ſchloß damals den
Decembervertrag mit, was hat es ihm genutzt? Es taumelt umher
nach Bündniſſen. Eine Quaſi-Allianz ſchloß es gleich nach dem
Pariſer Frieden, jetzt ſoll es eine geheime mit England geſchloſſen
haben. Ich ſehe dabei keinen Gewinn, ſondern nur Verlegenheiten.
Letztere Allianz kann nur für den Fall gültig werden, daß die
franzöſiſch-engliſche auseinandergeht, und auch nur bis dahin wird
Palmerſton ſich nicht abhalten laſſen, mit Sardinien und Italien
zu coquettiren.
Mein politiſches Princip iſt und bleibt der Kampf gegen die
Revolution. Sie werden Bonaparte nicht davon überzeugen, daß er
nicht auf der Seite der Revolution ſteht. Er will auch nirgends
anders ſtehen, denn er hat davon ſeine entſchiedenen Vortheile.
Es iſt hier alſo weder von Sympathie noch von Antipathie die
Rede. Dieſe Stellung Bonapartes iſt eine ,Realität‘, die Sie
nicht ‚ignoriren‘ können. Daraus folgt aber keineswegs, daß man
nicht höflich und nachgiebig, anerkennend und rückſichtsvoll gegen
ihn ſein, nicht daß man ſich zu beſtimmten Dingen mit ihm ver¬
binden kann. Wenn aber mein Princip wie das des Gegenſatzes
gegen die Revolution ein richtiges iſt, und ich glaube, daß Sie es
auch als ein ſolches anerkennen, ſo muß man es auch in der
Praxis ſtets feſthalten, damit wenn die Zeit kommt, wo es praktiſch
wird, und dieſe Zeit muß kommen, wenn das Princip richtig iſt,
diejenigen, die wie vielleicht bald Oeſterreich und auch England es
anerkennen müſſen, dann wiſſen, was ſie von uns zu halten haben.
Sie ſagen ſelbſt, daß man ſich auf uns nicht verlaſſen kann, und
[170/0197]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
es iſt doch nicht zu verkennen, daß nur der zuverläſſig iſt, welcher
nach beſtimmten Grundſätzen und nicht nach ſchwankenden Begriffen
von Intereſſen u. ſ. w. handelt. England und in ſeiner Art auch
Oeſterreich waren von 1793 bis 1813 völlig zuverläſſig und fanden
daher immer Verbündete trotz aller Niederlagen, welche die Fran¬
zoſen ihnen beibrachten.
Was nun unſre deutſche Politik anbetrifft, ſo glaube ich,
daß es doch unſer Beruf iſt, den kleinen Staaten die preußiſche
Ueberlegenheit zu zeigen und ſich nicht Alles gefallen zu laſſen, ſo
in den Zollvereins-Verhältniſſen und bei vielen andern Gelegen¬
heiten, bis zu den Jagdeinladungen, bis zu den Prinzen, die in
unſre Dienſte treten u. ſ. w. Hier, d. h. in Deutſchland, iſt auch
der Ort, wo man Oeſterreich, wie es mir ſcheint, entgegentreten
muß; gleichzeitig wäre aber auch jede Blöße gegen Oeſterreich zu
vermeiden. Dies wäre meine Erwiderung auf Ihren Brief.
Wenn ich aber noch über unſre außerdeutſche Politik reden
ſoll, ſo kann ich es nicht auffallend und auch nicht ängſtlich finden,
wenn wir da in einer Zeit iſolirt ſtehen, wo alle Verhältniſſe auf
den Kopf geſtellt ſind, England und Frankreich für jetzt noch ſo
eng verbunden ſind, daß Frankreich nicht den Muth hat, an Sicher¬
heiten gegen die ſchweizer Radikalen zu denken, weil England es
übel nehmen könnte, unterdeſſen aber daſſelbe England in Furcht
mit ſeinen Landungsvorbereitungen ſetzt und entſchiedene Schritte
zu einer ruſſiſchen Allianz macht; Oeſterreich in einem Bunde mit
England, was dennoch fortwährend Italien aufwiegelt u. ſ. w.
Wohin ſollen wir uns da wenden nach Ihrer Anſicht, etwa wie es
der hier anweſende Plonplon angedeutet haben ſoll, zu einer Allianz
mit Frankreich und Rußland gegen Oeſterreich und England? Aus
einer ſolchen Allianz folgt aber unmittelbar ein überwiegender Ein¬
fluß Frankreichs in Italien, die gänzliche Revolutionirung dieſes
Landes und ebenfalls ein überwiegender Einfluß von Bonaparte in
Deutſchland. An dieſem Einfluß würde man uns in den unter¬
geordneten Sphären einigen Antheil laſſen, aber keinen großen und
[171/0198]
Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
keinen langen. Wir haben ja ſchon einmal Deutſchland unter ruſſiſch¬
franzöſiſchem Einfluſſe geſehen 1801-1803, wo die Bisthümer
ſäculariſirt und nach Pariſer und Petersburger Vorſchriften ver¬
theilt wurden; Preußen, was ſich damals gut mit den beiden Staaten
und ſchlecht mit Oeſterreich und England ſtand, erhielt auch etwas
ab bei der Theilung, aber nicht viel und ſein Einfluß war ge¬
ringer als je. L. v. G.“
Ohne näher auf ſeinen Brief einzugehn, ſchrieb ich dem Ge¬
neral am 11. Mai:
„... Berliner Nachrichten ſagen mir, daß man mich am Hofe
als Bonapartiſten bezeichnet. Man thut mir Unrecht damit. Im
Jahre 50 wurde ich von unſern Gegnern verrätheriſcher Hin¬
neigung zu Oeſtreich angeklagt, und man nannte uns die Wiener
in Berlin; ſpäter fand man, daß wir nach Juchten rochen, und
nannte uns Spreekoſaken. Ich habe damals auf die Frage, ob
ich ruſſiſch oder weſtmächtlich ſei, ſtets geantwortet, ich bin Preußiſch,
und mein Ideal für auswärtige Politiker iſt die Vorurtheilsfrei¬
heit, die Unabhängigkeit der Entſchließungen von den Eindrücken
der Abneigung oder Vorliebe für fremde Staaten und deren Re¬
genten. Ich habe, was das Ausland anbelangt, in meinem Leben
nur für England und ſeine Bewohner Sympathie gehabt und bin
ſtundenweis noch nicht frei davon; aber die Leute wollen ſich ja von
uns nicht lieben laſſen, und ich würde, ſobald man mir nachweiſt,
daß es im Intereſſe einer geſunden und wohldurchdachten preußi¬
ſchen Politik liegt, unſre Truppen mit derſelben Genugthuung auf
die franzöſiſchen, ruſſiſchen, engliſchen oder öſtreichiſchen feuern
ſehen. In Friedenszeiten halte ich es für muthwillige Selbſt¬
ſchwächung, ſich Verſtimmungen zuzuziehn oder ſolche zu unter¬
halten, ohne daß man einen praktiſchen politiſchen Zweck damit
verbindet, und die Freiheit ſeiner künftigen Entſchließungen und
Verbindungen vagen und unerwiderten Sympathien zu opfern,
Conceſſionen, wie ſie Oeſtreich jetzt in Betreff Raſtatts von uns
[172/0199]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
erwartet, lediglich aus Gutmüthigkeit und love of approbation
zu machen. Können wir jetzt kein Aequivalent für eine Gefällig¬
keit der Art erwarten, ſo ſollten wir auch unſre Conceſſion zurück¬
halten; die Gelegenheit, ſie als Ausgleichungsobject zu verwerthen,
kommt vielleicht ſpäter einmal. Die Nützlichkeit für den Bund kann
doch nicht die ausſchließliche Richtſchnur Preußiſcher Politik ſein,
denn das Allernützlichſte für den Bund wäre ohne Zweifel, wenn
wir uns und alle deutſchen Regirungen Oeſtreich militäriſch, poli¬
tiſch und commerciell im Zollverein unterordneten; unter einheit¬
licher Leitung würde der Bund in Krieg und Frieden ganz andre
Dinge leiſten, auch wirklich haltbar werden für Kriegsfälle...“ 1).
Gerlach antwortete mir unter dem 21. Mai:
„Als ich Ihren Brief vom 11. d. M. erhielt, dachte ich ſchon,
es wäre eine Antwort auf meine verſuchte Widerlegung Ihres
ausführlichen Schreibens vom 2. d. M. Ich war daher ſehr ge¬
ſpannt, da es mir ſehr ſchwer wird, mit Ihnen verſchiedener
Meinung zu ſein, und ich auf eine Verſtändigung hoffte. Ihre
Apologie gegen den Ihnen gemachten Vorwurf des Bonapartismus
zeigt mir aber, daß wir noch weit aus einander ſind. ... Daß
Sie kein Bonapartiſt ſind, weiß ich ebenſo gewiß, als daß die
meiſten Staatsmänner, nicht allein bei uns, ſondern auch in andern
Ländern, es in Wahrheit ſind, z. B. Palmerſton, Bach, Buol u. ſ. w.;
auch weiß ich a priori, daß Sie in Frankfurt und in Deutſchland,
bald hätte ich geſagt im Rheinbund, viele Exemplare dieſer Sorte
bemerkt haben werden. Schon die Art, wie Sie die Oppoſition
des letzten Landtags anſahn, rechtfertigt Sie gegen den Vorwurf
des Bonapartismus. Aber eben deswegen iſt es mir unerklärlich,
wie Sie unſre äußere Politik anſehn.
Daß man nicht mißtrauiſch, ſteifſtellig, widerwillig gegen
Bonaparte ſein ſoll, finde ich auch, man ſoll die beſten procédés
1)
Bismarck's Briefe an L. v. Gerlach S. 324 ff.
[173/0200]
Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
gegen ihn haben, nur nicht ihn hierher einladen, wie Sie wollen,
weil man ſich etwas dadurch vergiebt, den guten Sinn, wo er
noch vorhanden, irre macht, Mistrauen erregt und ſeine Ehre ver¬
liert. Darum billige ich vieles in Ihrem Memoire 1); die hiſto¬
riſche Einleitung, Fol. 1–5, iſt höchſt belehrend und von dem
andern das Meiſte ſehr anwendbar; aber verzeihen Sie, es fehlt
hier Kopf und Schwanz, Princip und Ziel der Politik.
1. Können Sie leugnen, daß Napoleon III. wie Napoleon I.
den Conſequenzen ſeiner Stellung eines auf Volksſouveränität ge¬
gründeten Abſolutismus (l'élu de 7 millions) unterliegt, was er
ſo gut als der alte fühlt ...?
2. Frankreich, Rußland, Preußen eine triple alliance, in die
Preußen nur eintritt, ‚ich ſei, gewährt mir die Bitte, in eurem
Bunde der Dritte‘, und der ſchwächſte bleibt, der Oeſtreich und
England abwehrend und mistrauiſch gegenüberſteht, bewirkt un¬
mittelbar den Sieg der ‚franzöſiſchen Intereſſen‘, d. h. die
Herrſchaft in Italien zunächſt und dann in Deutſchland. 1801 bis
1804 vertheilten Rußland und Frankreich Deutſchland und gaben
Preußen ein Weniges ab.
3. Worin unterſcheidet ſich die von Ihnen empfohlene Politik
von der von Haugwitz von 1794–1805? Da war auch nur von
einem ,Defenſiv-Syſtem‘ die Rede. Thugut, Cobenzl, Lehr¬
bach waren um nichts beſſer als Buol und Bach, Perfidien fielen
Seitens Oeſtreichs auch vor, Rußland war noch unzuverläſſiger
als jetzt, dafür aber freilich England zuverläſſiger. Der König
war auch in ſeinem Herzen dieſer Politik abgeneigt. ...
Bei meiner Differenz mit Ihnen kommt mir oft der Gedanke,
daß ich mit meinen Anſichten veraltet bin, und daß, wenn ich
auch meine Politik nicht unrichtig finden kann, es doch viel¬
leicht nöthig iſt, es mit einer andern zu verſuchen, die zunächſt
durchgemacht und überwunden werden muß. 1792 war Maſſenbach
1)
An Manteuffel vom 18. Mai, ſ. Preußen im Bundestage IV 262 ff.
264 ff., einen Nachtrag dazu ſ. ebendort S. 272 ff.
[174/0201]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
für die franzöſiſche Allianz und ſchrieb darüber mitten im Kriege
eine Abhandlung, von 1794 war Haugwitz für das Defenſiv-Syſtem
oder für die Neutralität u. ſ. w. Der revolutionäre Abſolutismus
iſt ſeinem Weſen nach erobernd, da er ſich im Innern nur halten
kann, wenn rundum alles ſo wie bei ihm iſt. Palmerſton mußte
die Demonſtration gegen die Belgiſche Preſſe unterſtützen u. ſ. w.
Gegen den Schweizer Radicalismus, obſchon er Bonaparte ein¬
geſtandenermaßen ſehr unbequem iſt, war Napoleon III. ſehr ſchwach.
Nun noch eine Parallele. 1812 waren Gneiſenau, Scharnhorſt
und wenige andre gegen die franzöſiſche Allianz, die bekanntlich
durchgeſetzt und durch ein Hilfscorps zur Realität wurde. Der
Erfolg ſprach für die, welche die Allianz gewollt hatten. Ich
würde doch ſehr gern bei Gneiſenau und Scharnhorſt geſtanden
haben. 1813 war Kneſebeck für den Waffenſtillſtand, Gneiſenau
dagegen, ich damals als 22jähriger Offizier entſchieden dagegen
und getraue mir, des Erfolges ungeachtet, zu beweiſen, daß ich
Recht hatte. Victrix causa diis placuit, victa Catoni hat auch
eine Bedeutung. ...
Die Politik des Defenſiv-Syſtems in der Allianz mit Frank¬
reich und Rußland durchzuſetzen — ehemals nannte man das
Neutralitätspolitik, bei der orientaliſchen Frage wollte England
eine ſolche nicht dulden — wird Ihnen nicht ſchwer fallen, die
Manteuffels und noch viele Andre ſtehen auf Ihrer Seite (S. Maj.
im Herzen zwar nicht, aber doch mit der Paſſivität), und zwar
dieſe alle, ſolange wie der Bonapartismus hält. Was kann aber
unterdeſſen noch Alles geſchehn? Ich würde mich aber ſehr gefreut
haben, wenn Sie dann völlig unvermiſcht mit demſelben das Heft
hätten ergreifen können. Der alte Bonaparte regierte 15 Jahr,
Louis Philipp 18, glauben Sie, daß das jetzige Weſen länger halten
wird? L. v. G.“ 1)
Ich erwiderte in folgendem Briefe:
1)
Vgl. Bismarck-Jahrbuch II 242 ff.
[175/0202]
Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
„Frankfurt, 30. Mai 1857.
Bei Beantwortung Ihrer beiden letzten Briefe bin ich unter
dem Drucke des Gefühls der Unvollkommenheit des menſchlichen
Ausdrucks, beſonders des ſchriftlichen; jeder Verſuch ſich klar zu
machen, iſt der Vater neuer Mißverſtändniſſe; es iſt uns nicht ge¬
geben, den ganzen Menſchen zu Papier oder über die Zunge zu
bringen, und die Bruchſtücke, welche wir zu Tage fördern, können
wir Andre nicht grade ſo wahrnehmen laſſen, wie wir ſie ſelbſt
empfunden haben, theils wegen der Inferiorität der Sprache gegen
den Gedanken, theils weil die äußern Thatſachen, auf die wir Be¬
zug nehmen, ſich ſelten zwei Perſonen unter gleichem Lichte dar¬
ſtellen, ſobald der Eine nicht die Anſchauung des Andern auf
Glauben und ohne eignes Urtheil annimmt.
Den Abhaltungen, die in Geſchäften, Beſuchen, ſchönem Wetter,
Faulheit, Kinderkrankheit und eigner Krankheit lagen, kam jenes
Gefühl zu Hülfe und entmuthigte mich, Ihrer Kritik mit fernern
Argumenten gegenüber zu treten, von denen jedes ſeine Halbheiten
und Blößen an ſich tragen wird. Nehmen Sie bei der Beurthei¬
lung Rückſicht darauf, daß ich Reconvaleſcent bin und heut den
erſten Marienbader getrunken habe, und wenn meine Anſichten
von den Ihrigen abweichen, ſo ſuchen Sie die Verſchiedenheit
im Blättertrieb und nicht in der Wurzel, für welche ich vielmehr
meinen Ueberzeugungen die Gemeinſchaft mit den Ihrigen ſtets
vindicire.
Das Prinzip des Kampfes gegen die Revolution erkenne auch
ich als das meinige an, aber ich halte es nicht für richtig, Louis
Napoleon als den alleinigen oder auch nur κατ’ ἐξοχήν als den
Repräſentanten der Revolution hinzuſtellen, und halte es nicht für
möglich, das Prinzip in der Politik als ein ſolches durchzuführen,
daß die entfernteſten Conſequenzen deſſelben noch jede andre Rück¬
ſicht durchbrechen, daß es gewiſſermaßen den alleinigen Trumpf
im Spiele bildet, von dem die niedrigſte Karte noch die höchſte
jeder andern Farbe ſticht.
[176/0203]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
Wie viele Exiſtenzen giebt es noch in der heutigen politiſchen
Welt, die nicht in revolutionärem Boden wurzeln? Nehmen Sie
Spanien, Portugal, Braſilien, alle amerikaniſchen Republiken,
Belgien, Holland, die Schweiz, Griechenland, Schweden, das noch
heut mit Bewußtſein in der glorious revolution von 1688 fußende
England; ſelbſt für das Terrain, welches die heutigen deutſchen
Fürſten theils Kaiſer und Reich, theils ihren Mitſtänden, den
Standesherrn, theils ihren eignen Landſtänden abgewonnen haben,
läßt ſich kein vollſtändig legitimer Beſitztitel nachweiſen, und in
unſerm eignen ſtaatlichen Leben können wir der Benutzung revo¬
lutionärer Unterlagen nicht entgehn. Viele der berührten Zuſtände
ſind eingealtert, und wir haben uns an ſie gewöhnt; es geht uns
damit, wie mit allen den Wundern, welche uns täglich 24 Stunden
lang umgeben, deßhalb aufhören, uns wunderbar zu erſcheinen, und
niemand abhalten, den Begriff des ‚Wunders‘ auf Erſcheinungen
einzuſchränken, welche durchaus nicht wunderbarer ſind als die eigne
Geburt und das tägliche Leben des Menſchen.
Wenn ich aber ein Prinzip als oberſtes und allgemein durch¬
greifendes anerkenne, ſo kann ich das nur inſoweit, als es ſich
unter allen Umſtänden und zu allen Zeiten bewahrheitet, und der
Grundſatz quod ab initio vitiosum, lapsu temporis convalescere
nequit bleibt der Doctrin gegenüber richtig. Aber ſelbſt dann,
wenn die revolutionären Erſcheinungen der Vergangenheit noch
nicht den Grad von Verjährung hatten, daß man von ihnen
ſagen konnte, wie die Hexe im Fauſt von ihrem Höllentrank: „Hier
hab' ich eine Flaſche, aus der ich ſelbſt zuweilen naſche, die auch
nicht mehr im mind'ſten ſtinkt', hatte man nicht immer die Keuſch¬
heit, ſich liebender Berührungen zu enthalten; Cromwell wurde
von ſehr antirevolutionären Potentaten ‚Herr Bruder‘ genannt
und ſeine Freundſchaft geſucht, wenn ſie nützlich erſchien; mit den
Generalſtaaten waren ſehr ehrbare Fürſten im Bündniß, bevor ſie
von Spanien anerkannt wurden. Wilhelm von Oranien und ſeine
Nachfolger in England galten, auch während die Stuarts noch
[177/0204]
Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
prätendirten, unſern Vorfahren für durchaus koſcher, und den Ver¬
einigten Staaten von Nordamerika haben wir ſchon in dem Haager
Vertrage von 1785 ihren revolutionären Urſprung verziehn. Der
jetzige König von Portugal hat uns in Berlin beſucht, und mit
dem Hauſe Bernadotte hätten wir uns verſchwägert, wenn nicht
zufällige Hinderniſſe eintraten. Wann und nach welchen Kenn¬
zeichen haben alle dieſe Mächte aufgehört, revolutionär zu ſein?
Es ſcheint, daß man ihnen die illegitime Geburt verzeiht, ſobald
wir keine Gefahr von ihnen beſorgen, und daß man ſich alsdann
auch nicht prinzipiell daran ſtößt, wenn ſie fortfahren, ohne Buße,
ja mit Rühmen ſich zu ihrer Wurzel im Unrecht zu bekennen. Ich
ſehe nicht, daß vor der franzöſiſchen Revolution ein Staatsmann,
ſei er auch der chriſtlichſte und gewiſſenhafteſte, auf den Gedanken
gekommen wäre, ſein geſammtes politiſches Streben, ſein Verhalten
zur äußern wie zur innern Politik dem Prinzipe des ,Kampfes
gegen die Revolution‘ unterzuordnen und die Beziehungen ſeines
Landes zu andern lediglich an dieſem Probirſtein zu prüfen; und
doch waren die Grundſätze der amerikaniſchen Revolution und der
engliſchen Revolution, abgeſehn von dem Maße des Blutvergießens
und dem nach dem Nationalcharakter ſich verſchieden geſtaltenden
Unfug mit der Religion, ziemlich dieſelben, wie diejenigen, welche
in Frankreich die Unterbrechung der Continuität des Rechtes herbei¬
führten. Ich kann nicht annehmen, daß es vor 1789 nicht einige
ebenſo chriſtliche und conſervative Politiker, ebenſo richtige Erkenner
des Böſen gegeben hätte, wie wir ſind, und daß die Wahrheit
eines von uns als Grundlage aller Politik hinzuſtellenden Prin¬
zips ihnen entgangen ſein ſollte. Ich finde auch nicht, daß wir
auf alle revolutionäre Erſcheinungen nach 1789 das Prinzip ebenſo
rigoros anwenden wie auf Frankreich. Die analogen Rechtszuſtände
in Oeſtreich, das Proſperiren der Revolution in Portugal, Spanien,
Belgien und in dem durch und durch revolutionären heutigen Däne¬
mark, das offne Bekennen und Propagiren der revolutionären
Grundideen von Seiten der engliſchen Regirung und das Be¬
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 12
[178/0205]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
thätigen derſelben noch in dem Neuenburger Conflict, das alles
hält uns nicht ab, die Beziehungen unſres Königs zu den Monarchen
dieſer Länder milder zu beurtheilen als diejenigen zu Napoleon III.
Was ſteckt denn Beſondres in dem Letzten und in der franzö¬
ſiſchen Revolution überhaupt? Die unfürſtliche Herkunft der
Bonaparte thut viel, aber ſie findet in Schweden auch ſtatt, ohne
dieſelbe Conſequenz. Liegt dieſes ‚Beſondre‘ grade in der Familie
Bonaparte? Dieſelbe hat weder die Revolution in die Welt ge¬
bracht, noch würde die Revolution beſeitigt oder auch nur un¬
ſchädlich gemacht, wenn man dieſe Familie ausrottete. Die Revo¬
lution iſt viel älter als die Bonapartes und viel breiter in der
Grundlage als Frankreich. Wenn man ihr einen irdiſchen Urſprung
anweiſen will, ſo wäre auch der nicht in Frankreich, ſondern eher
in England zu ſuchen, wenn nicht noch früher in Deutſchland oder
in Rom, je nachdem man die Auswüchſe der Reformation oder
die der römiſchen Kirche und die Einführung des römiſchen Rechtes
in die germaniſche Welt als ſchuldig anſehn will.
Der erſte Napoleon hat damit begonnen, die Revolution in
Frankreich für ſeinen Ehrgeiz mit Erfolg zu benutzen und ſie ſpäter
ohne Erfolg und mit falſchen Mitteln zu bekämpfen geſucht; er
wäre ſie recht gern aus ſeiner Vergangenheit los geweſen, nachdem
er die Frucht davon gepflückt und in der Taſche hatte; gefördert
wenigſtens hat er ſie nicht in dem Grade, wie die drei Louis vor
ihm durch Einführung des Abſolutismus unter Louis XIV., durch
die Unwürdigkeiten der Regentſchaft und des Louis XV., durch die
Schwäche von Louis XVI., der am 14. September 1791 bei An¬
nahme der Verfaſſung die Revolution als beendigt proclamirte;
fertig war ſie allerdings. Das Haus Bourbon hat mehr für die Re¬
volution gethan als alle Bonaparten, auch wenn man ihm Philippe
Egalité nicht zur Laſt ſchreibt. Der Bonapartismus iſt nicht der Vater
der Revolution, er iſt nur wie jeder Abſolutismus ein fruchtbares
Feld für die Saat derſelben. Ich will ihn damit durchaus nicht
außerhalb des Gebietes der revolutionären Erſcheinungen ſtellen, ſon¬
[179/0206]
Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
dern ihn nur frei von den Zuthaten zur Anſchauung bringen, welche
ſeinem Weſen nicht nothwendig eigen ſind. Zu ſolchen rechne ich
ferner die ungerechten Kriege und Eroberungen. Dieſe ſind kein
eigenthümliches Attribut der Familie Bonaparte oder des nach ihr
benannten Regirungsſyſtems. Legitime Erben alter Throne können
das auch. Ludwig XIV. hat nach ſeinen Kräften nicht weniger
heidniſch in Deutſchland gewirthſchaftet als Napoleon, und wenn
letztrer mit ſeinen Anlagen und Neigungen als Sohn Ludwigs XVI.
geboren wäre, ſo hätte er uns vermuthlich auch das Leben ſauer
genug gemacht.
Der Trieb zum Erobern iſt England, Nordamerika, Rußland
und andern nicht minder eigen als dem Napoleoniſchen Frankreich,
und ſobald Macht und Gelegenheit dazu ſich finden, iſt es auch
bei der legitimſten Monarchie ſchwerlich die Beſcheidenheit oder die
Gerechtigkeitsliebe, welche ihm Schranken ſetzt. Bei Napoleon III.
ſcheint er als Inſtinct nicht zu dominiren; derſelbe iſt kein Feld¬
herr, und im großen Kriege, mit großen Erfolgen oder Gefahren
könnte es kaum fehlen, daß die Blicke der franzöſiſchen Armee, der
Trägerin ſeiner Herrſchaft, ſich mehr auf einen glücklichen General
als auf den Kaiſer richteten. Er wird daher den Krieg nur dann
ſuchen, wenn er ſich durch innre Gefahren dazu genöthigt glaubt.
Eine ſolche Nöthigung würde aber für den legitimen König von
Frankreich, wenn er jetzt zur Regirung käme, von Hauſe aus vor¬
handen ſein.
Weder die Erinnerung an die Eroberungsſucht des Onkels,
noch die Thatſache des ungerechten Urſprungs ſeiner Macht be¬
rechtigt mich alſo, den gegenwärtigen Kaiſer der Franzoſen als den
ausſchließlichen Repräſentanten der Revolution, als vorzugsweiſes
Object des Kampfes gegen dieſelbe zu betrachten. Den zweiten
Makel theilt er mit vielen beſtehenden Gewalten, und des erſtern
iſt er bisher nicht verdächtiger als Andre. Sie, verehrteſter Freund,
werfen ihm vor, daß er ſich nicht halten könne, wenn nicht ringsum
alles ſo ſei, wie bei ihm; wenn ich das für richtig erkännte, ſo
[180/0207]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
würde es hinreichen, meine Anſicht zu erſchüttern. Aber der Bona¬
partismus unterſcheidet ſich dadurch von der Republik, daß er nicht
das Bedürfniß hat, ſeine Regirungsgrundſätze gewaltſam zu propa¬
giren. Selbſt der erſte Napoleon hat den Ländern, welche nicht
direct oder indirect zu Frankreich geſchlagen wurden, ſeine Re¬
girungsform nicht aufzudrängen verſucht; man ahmte ſie im Wett¬
eifer freiwillig nach. Fremde Staaten mit Hülfe der Revolution
zu bedrohn, iſt heut zu Tage ſeit einer ziemlichen Reihe von Jahren
das Gewerbe Englands, und wenn Louis Napoleon ſo gewollt
hätte wie Palmerſton, ſo würden wir in Neapel ſchon vor Jahr
und Tag einen Ausbruch erlebt haben. Der franzöſiſche Kaiſer
würde durch Ausbreitung revolutionärer Inſtitutionen bei ſeinen
Nachbarn Gefahren für ſich ſelbſt ſchaffen; er wird vielmehr, im
Intereſſe der Erhaltung ſeiner Herrſchaft und Dynaſtie, und bei
ſeiner Ueberzeugung von der Fehlerhaftigkeit der heutigen Inſtitu¬
tionen Frankreichs für ſich ſelbſt feſtere Grundlagen als die der
Revolution zu gewinnen ſuchen. Ob er das kann, iſt freilich eine
andre Frage, aber er iſt keineswegs blind für die Mangelhaftigkeit
und die Gefahren des bonapartiſchen Regirungsſyſtems, denn er
ſpricht ſich ſelbſt darüber aus und beklagt ſie. Die jetzige Re¬
girungsform iſt für Frankreich nichts Willkürliches, was Louis Napo¬
leon einrichten oder ändern könnte; ſie war für ihn ein Gegebenes
und iſt wahrſcheinlich die einzige Methode, nach der Frankreich auf
lange Zeit hin regirt werden kann; für alles andre fehlt die Grund¬
lage entweder von Hauſe aus im National-Charakter, oder ſie iſt
zerſchlagen und verloren gegangen; und wenn Heinrich V. jetzt
auf den Thron gelangte, er würde, wenn überhaupt, auch nicht
anders regiren können. Louis Napoleon hat die revolutionären
Zuſtände des Landes nicht geſchaffen, die Herrſchaft auch nicht in
Auflehnung gegen eine rechtmäßig beſtehende Autorität gewonnen,
ſondern ſie als herrenloſes Gut aus dem Strudel der Anarchie
herausgefiſcht. Wenn er ſie jetzt niederlegen wollte, ſo würde er
Europa in Verlegenheit ſetzen, und man würde ihn ziemlich ein¬
[181/0208]
Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
ſtimmig bitten, zu bleiben; und wenn er ſie an den Herzog von
Bordeaux cedirte, ſo würde dieſer ſie ſich ebenſowenig erhalten
können, als er ſie zu erwerben vermochte. Wenn Louis Napoleon
ſich den élu de ſept millions nennt, ſo erwähnt er damit einer That¬
ſache, die er nicht wegleugnen kann; er vermag ſich keinen andern
Urſprung zu geben, als er hat; daß er aber, nachdem er im Beſitz
der Herrſchaft iſt, dem Prinzip der Volksſouveränetät practiſch zu
huldigen fortführe und von dem Willen der Maſſen das Geſetz
empfinge, wie das jetzt mehr und mehr in England einreißt, kann
man von ihm nicht ſagen.
Es iſt menſchlich natürlich, daß die Unterdrückung und ſchänd¬
liche Behandlung unſres Landes durch den erſten Napoleon in Allen,
die es erlebt haben, einen unauslöſchlichen Eindruck hinterlaſſen hat,
und daß in deren Augen das böſe Prinzip, welches wir in Ge¬
ſtalt der Revolution bekämpfen, ſich allein mit der Perſon und
dem Geſchlechte deſſen identificirt, den man l'heureux soldat héri¬
tier de la révolution nannte; aber mir ſcheint, daß Sie dem
jetzigen Napoleon zu viel aufbürden, wenn Sie grade in ihm und
nur in ihm die zu bekämpfende Revolution perſonificiren und aus
dieſem Grunde die Proſcription über ihn ausſprechen, ſo daß es
wider die Ehre ſei, mit ihm umzugehn. Jedes Kennzeichen der
Revolution, welches er an ſich trägt, finden Sie auch an andern
Stellen wieder, ohne daß Sie Ihren Haß mit derſelben Strenge
der Doctrin auch dahin richteten. Das bonapartiſtiſche Regiment im
Innern mit ſeiner rohen Centraliſation, ſeiner Vernichtung der
Selbſtändigkeiten, ſeiner Nichtachtung von Recht und Freiheit, ſeiner
offiziellen Lüge, ſeiner Corruption in Staat und Börſe, ſeinen
gefügigen und überzeugungsloſen Schreibern blüht in dem von
Ihnen mit unverdienter Vorliebe betrachteten Oeſtreich ebenſo wie
in Frankreich und wird an der Donau aus freier Machtvollkommen¬
heit mit Bewußtſein in's Leben gerufen, während Louis Napoleon
es in Frankreich als vorhandenes, ihm ſelbſt unwillkommnes, aber
nicht leicht zu änderndes Reſultat der Geſchichte vorfand.
[182/0209]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
Ich finde das ‚Beſondre‘, welches uns heut zu Tage beſtimmt,
grade die franzöſiſche Revolution vorzugsweiſe als Revolution
zu bezeichnen, nicht in der Familie Bonaparte, ſondern in der ört¬
lichen und zeitlichen Nähe der Ereigniſſe und in der Größe und
Macht des Landes, auf deſſen Boden ſie ſich zutragen. Deßhalb
ſind ſie gefährlicher, aber ich finde es deßhalb noch nicht ſchlechter,
mit Bonaparte in Beziehung zu ſtehn, als mit andern von der
Revolution erzeugten Exiſtenzen, oder mit Regirungen, welche ſich
freiwillig mit ihr identificiren, wie Oeſtreich, und für die Aus¬
breitung revolutionärer Grundſätze thätig ſind, wie England. Ich
will mit dieſem allen keine Apologie der Perſonen und Zuſtände
in Frankreich geben; ich habe für die erſtern keine Vorliebe und
halte die letztern für ein Unglück jenes Landes; ich will nur er¬
klären, wie ich dazu komme, daß es mir weder ſündlich noch ehren¬
rührig erſcheint, mit dem von uns anerkannten Souverän eines
wichtigen Landes in nähere Verbindung zu treten, wenn es der
Gang der Politik mit ſich bringt. Daß dieſe Verbindung an ſich
etwas Wünſchenswerthes ſei, ſage ich nicht, ſondern nur, daß alle
andern Chancen ſchlechter ſind, und daß wir, um ſie zu beſſern,
durch die Wirklichkeit oder den Schein intimerer Beziehungen zu
Frankreich hindurch müſſen. Nur durch dieſes Mittel können wir
Oeſtreich ſo weit zur Vernunft und zur Verzichtleiſtung auf ſeinen
überſpannten Schwarzenbergiſchen Ehrgeiz bringen, daß es die
Verſtändigung mit uns ſtatt unſrer Uebervortheilung ſucht, und
nur durch dieſes Mittel können wir die weitre Entwicklung der
directen Beziehungen der deutſchen Mittelſtaaten zu Frankreich
hemmen. Auch England wird anfangen zu erkennen, wie wichtig
ihm die Allianz Preußens iſt, wenn es erſt fürchtet, ſie an Frank¬
reich zu verlieren. Alſo auch wenn ich mich auf Ihren Stand¬
punkt der Neigung für Oeſtreich und England ſtellte, müſſen wir
bei Frankreich anfangen, um jene zur Erkenntniß zu bringen.
Sie ſehn in Ihrem Schreiben voraus, verehrteſter Freund, daß
wir in einer preußiſch-franzöſiſch-ruſſiſchen Allianz eine geringe Rolle
[183/0210]
Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
ſpielen werden. Ich habe eine ſolche Allianz auch nie als etwas
von uns zu Erſtrebendes hingeſtellt, ſondern als eine Thatſache,
die wahrſcheinlich früher oder ſpäter aus dem jetzigen décousu
hervorgehn wird, ohne daß wir ſie hindern können, mit der man
alſo rechnen, über deren Wirkungen wir uns klar machen müſſen.
Ich habe hinzugefügt, daß wir ſie, nachdem Frankreich um unſre
Freundſchaft wirbt, durch unſer Eingehn auf dieſe Werbung viel¬
leicht hindern, oder doch in der Wirkung modificiren, jedenfalls
vermeiden können, als ‚der Dritte‘ in dieſelbe zu treten. Ver¬
hältnißmäßig ſchwach werden wir in jeder Verbindung mit andern
Großmächten erſcheinen, ſo lange wir eben nicht ſtärker ſind, als wir
jetzt ſind. Oeſtreich und England werden, wenn wir mit ihnen
im Bunde ſind, ihre Ueberlegenheit auch nicht grade in unſerm
Intereſſe geltend machen, das haben wir auf dem Wiener Con¬
greß zu unſerm Schaden erlebt. Oeſtreich kann uns keine Be¬
deutung in Deutſchland gönnen, England keine Chancen maritimer
Entwicklung in Handel oder Flotte, und iſt neidiſch auf unſre
Induſtrie.
Sie paralleliſiren mich mit Haugwitz und der damaligen
‚Defenſiv-Politik‘. Die Verhältniſſe damals waren aber andre.
Frankreich war ſchon im Beſitz der drohendſten Uebermacht, an
ſeiner Spitze ein notoriſch gefährlicher Eroberer, und auf England
war dagegen ſicher zu rechnen. Ich habe den Muth, den Baſeler
Frieden nicht zu tadeln; mit dem damaligen Oeſtreich und ſeinen
Thugut, Lehrbach und Cobenzl war ebenſowenig ein Bündniß
auszuhalten, wie mit dem heutigen, und daß wir 1815 nur ſchlecht
fortkamen, kann ich nicht auf den Baſeler Frieden ſchieben, ſondern
wir konnten gegen die uns entgegenſtehenden Intereſſen von Eng¬
land und Oeſtreich nicht aufkommen, weil unſre phyſiſche Schwäche
im Vergleich mit den andern Großmächten nicht gefürchtet wurde.
Die Rheinbundſtaaten hatten noch ganz anders ‚gebaſelt‘ wie wir
und kamen doch in Wien vorzüglich gut fort. Daß wir aber
1805 nicht die Gelegenheit ergriffen, um Frankreichs Uebermacht
[184/0211]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
brechen zu helfen, war eine ausgezeichnete Dummheit; ſchnell, nach¬
drücklich und bis zum letzten Hauch hätten wir gegen Napoleon
eingreifen ſollen. Stillzuſitzen war noch unverſtändiger, als für
Frankreich Partei zu nehmen; nachdem wir aber dieſe Gelegenheit
hatten vorbeigehn laſſen, ſo mußten wir auch 1806 à tout prix
Friede halten und eine beſſere abwarten.
Ich bin garnicht für ‚Defenſiv-Politik‘, ich ſage nur, daß
wir ohne aggreſſive Abſichten und Verpflichtungen uns auf die
Annäherungsverſuche Frankreichs einlaſſen können, daß dieſes Ver¬
halten grade den Vortheil bietet, uns jede Thür offen, jede Wen¬
dung frei zu erhalten, bis die Lage der Dinge feſter und durch¬
ſichtiger wird, daß ich die empfohlene Richtung nicht als conſpirirend
gegen Andre, ſondern nur als vorſorglich für unſre Nothwehr
auffaſſe.
Sie ſagen, ‚Frankreich wird auch nicht mehr für uns thun
als Oeſtreich und die Mittelſtaaten‘; ich glaube, daß niemand
etwas für uns thut, der nicht zugleich ſein Intereſſe dabei findet.
Die Richtung aber, in welcher Oeſtreich und die Mittelſtaaten gegen¬
wärtig ihre Intereſſen verfolgen, iſt mit den Aufgaben, welche
für Preußen Lebensfragen ſind, ganz incompatibel, und eine
Gemeinſchaftlichkeit der Politik garnicht möglich, bevor Oeſtreich
nicht ein beſcheidneres Syſtem uns gegenüber adoptirt, wozu bisher
wenig Ausſicht. Sie ſtimmen mit mir darin überein, daß wir ,den
kleinen Staaten die Ueberlegenheit Preußens zeigen müſſen‘; aber
welche Mittel haben wir dazu innerhalb der Bundesacte? Eine
Stimme unter ſiebzehn und Oeſtreich gegen uns, damit iſt nicht
viel auszurichten.
Der Beſuch L. Napoleons bei uns würde aus den anderweit
von mir vorgetragnen Gründen unſrer Stimme an und für ſich
ſchon ein durchſchlagenderes Gewicht geben. Sie werden rückſicht¬
voll und ſelbſt anhänglich für uns ſein im genauen Verhältniß
ihrer Furcht vor uns; Vertrauen werden ſie nie zu uns haben;
jeder Blick auf die Karte benimmt es ihnen, und ſie wiſſen, daß ihre
[185/0212]
Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
Intereſſen und Sondergelüſte der Geſammtrichtung der preußiſchen
Politik im Wege ſtehn, daß darin eine Gefahr für ſie liegt, gegen
welche nur die Uneigennützigkeit unſres allergnädigſten Herrn eine
Sicherheit für die Gegenwart bietet. Der Beſuch des Franzoſen
bei uns würde kein Mißtrauen weiter hervorrufen, daſſelbe iſt
im Großen und Ganzen gegen Preußen ſchon vorhanden, und
die Geſinnungen des Königs, welche es entkräften könnten, werden
Sr. Majeſtät nicht gedankt, ſondern nur benutzt und ausgebeutet.
Das etwa vorhandene ,Vertrauen‘ wird im Fall der Noth nicht
Einen Mann für uns in's Feld bringen, die Furcht, wenn wir ſie
einzuflößen wiſſen, ſtellt den ganzen Bund zu unſrer Diſpoſition.
Dieſe Furcht würde durch oſtenſible Zeichen unſrer guten Be¬
ziehungen zu Frankreich eingeflößt werden. Geſchieht nichts der
Art, ſo dürfte es ſchwer ſein, diejenigen wohlwollenden Beziehungen
mit Frankreich lange durchzuführen, welche auch Sie für wünſchens¬
werth anſehn. Denn man wirbt von dort um uns, man hat das
Bedürfniß, ſich ein Relief mit uns zu geben, man hofft auf eine
Zuſammenkunft, und ein Korb von uns müßte eine auch für andre
Höfe erkennbare Abkühlung bewirken, weil ſich der ,parvenu‘ an
der empfindlichſten Seite davon betroffen fühlen würde.
Schlagen Sie mir eine andre Politik vor, und ich will ſie
ehrlich und vorurtheilsfrei mit Ihnen diſcutiren; aber eine paſſive
Planloſigkeit, die froh iſt, wenn ſie in Ruhe gelaſſen wird, können
wir in der Mitte von Europa nicht durchführen; ſie kann uns heut
ebenſo gefährlich werden, wie ſie 1805 war, und wir werden
Ambos, wenn wir nichts thun, um Hammer zu werden. Den Troſt
des ,victa causa Catoni placuit' kann ich Ihnen nicht zugeſtehn,
wenn Sie dabei Gefahr laufen, unſer gemeinſames Vaterland in
eine victa causa hineinzuziehn. ...
Wenn meine Auffaſſung keine Gnade vor Ihnen findet, ſo
brechen Sie wenigſtens nicht den Stab über meinen ganzen Men¬
ſchen, ſondern erinnern Sie ſich, daß wir Jahre lang in ſchweren
Zeiten nicht nur denſelben Boden hatten, ſondern auch dieſelben
[186/0213]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
Pflanzen darauf zogen, und daß ich ein Mann bin, der mit ſich
reden läßt und Unrecht abthut, wenn ihm die Erkenntniß davon
wird. ... v. B.“ 1)
Gerlach erwiderte:
„Sansſouci, den 5. Junius 1857.
... Zunächſt will ich gern die practiſche Seite Ihrer Anſicht
anerkennen. Neſſelrode ſagte hier mit Recht, ebenſo wie Sie, daß,
ſo lange Buol regiere (Sie nennen richtig Bach zugleich mit), es
nicht möglich wäre, ſich mit Oeſtreich zu ſtellen. Oeſtreich hätte
mit lauter Freundſchafts-Verſicherungen Europa gegen ſie (d. i.
die Ruſſen) gehetzt, ihnen das Stück Beſſarabien entriſſen und thäte
ihnen noch jetzt das gebrannte Herzeleid an. Aehnlich benimmt
es ſich mit uns und hat ſich während des orientaliſchen Krieges
ſcheuslich perfide benommen. Wenn Sie alſo ſagen, man kann
nicht mit Oeſtreich gehen, ſo hat das eine relative Wahrheit,
und würden wir in casu concreto ſchwerlich uns hierüber ver¬
uneinigen. Vergeſſen Sie aber nicht, daß die Sünde ſtets wieder
die Sünde gebiert, und daß Oeſtreich uns auch ein Sündenregiſter
ſchlimmer Art vorhalten kann, z. B. die Abwehr des Einmarſches
1849 in den Badiſchen Seekreis, was den eigentlichen Verluſt von
Neuenburg, das damals durch den Prinzen von Preußen zu er¬
obern war, bewirkt hat, dann die Radowitziſche Politik, dann die
hochmüthige Behandlung des Interim, bei dem ſelbſt Schwarzen¬
berg guten Willen hatte, und endlich eine Menge unbedeutenderer
Einzelnheiten: alles Repetitionen der Politik von 1793-1805.
Die Anſchauung aber, daß unſer ſchlechtes Verhältniß zu Oeſtreich
nur ein relatives ſein darf, wird bei jeder Gelegenheit practiſch,
indem ſie einmal die Rache von unſrer Seite, weil ſie nur zu
Unglück führen kann, verhindert und dann den Willen zur Ver¬
ſöhnung und Annäherung feſthält und daher das, was eine ſolche
Annäherung unmöglich macht, vermeidet. Beides fehlt bei uns, und
warum? weil unſre Staatsmänner donnent dans le Bonapartisme.
1)
Bismarcks Briefe an den General L. v. Gerlach S. 326 ff.
[187/0214]
Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
Dieſen aber zu beurtheilen, haben die Alten einen Vorzug
vor den Jungen. Die Alten auf der Bühne ſind hier aber der
König und meine Wenigkeit, die Jungen Fra Diavolo (Manteuffel)
u. ſ. w., denn F. D. war 1806 bis 1814 im Rheinbund und Sie
noch nicht geboren. Wir haben aber den Bonapartismus 10 Jahre
practiſch ſtudirt, uns iſt er eingebläut worden. Unſre ganze Diffe¬
renz liegt auch daher, da wir in der Wurzel einig ſind, allein in
der verſchiedenen Anſicht des Weſens dieſer Erſcheinung. Sie
ſagen, Ludwig XIV. war auch Eroberer, das Oeſtreichiſche Viribus
unitis ſei auch revolutionär, die Bourbons haben mehr Schuld an
der Revolution als die Bonapartes u. ſ. w. Sie erklären quod
ab initio vitiosum, lapsu temporis convalescere nequit für einen
nur doctrinär richtigen Satz (ich nicht einmal dafür, denn aus jedem
Unrecht kann Recht werden und wird es im Lauf der Zeiten;
aus dem wider Gottes Willen eingeſetzten Königthum in Iſrael
ging der Heiland hervor, die ſo ſehr anerkannte Erſtgeburt wird
bei Ruben, Abſalom u. ſ. w. durchbrochen, der mit der Ehe¬
brecherin Bathſeba erzeugte Salomo iſt der Geſegnete des Herrn
u. ſ. w. u. ſ. w.), aber es iſt ein völliges Verkennen des Weſens
des Bonapartismus, wenn Sie denſelben mit jenen Dingen in
einen Topf werfen. Bonaparte, ſowohl Napoleon I. als Napo¬
leon III., haben nicht blos einen revolutionären unrechtmäßigen
Urſprung, wie Wilhelm III. vielleicht, wie der König Oscar u. ſ. w.,
ſie ſind ſelbſt die incarnirte Revolution. Beide, No. I und No. III,
haben das als ein Uebel erkannt und empfunden, beide haben aber
nicht davon losgekonnt. Leſen Sie ein jetzt vergeſſenes Buch,
Relations et Correspondances de Nap. Bonaparte avec Jean
Fievée, da finden Sie tiefe Blicke des alten Napoleon in das
Weſen der Staaten, wie denn auch der jetzige Bonaparte mir mit
ſolchen Gedanken imponirt, z. B. mit der Feſtſtellung der Adels¬
titel, Reſtauration der Majorate, Erkenntniß der Gefahr der Cen¬
traliſation, Kampf gegen den Börſenſchwindel, Wunſch, die alten
Provinzen zu reſtauriren u. ſ. w. Das ändert aber das Weſen
[188/0215]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
ſeiner Herrſchaft nicht, ebenſowenig wie das Weſen des Hauſes
Habsburg-Lothringen durch den liberalen, ja revolutionären K.
Joſeph II. oder durch Franz Joſeph mit ſeinem hochadligen Schwarzen¬
berg und Barrikadenheld Bach geändert wird. Naturam expellas
furca, ſie kommt doch wieder. So kann ſich kein Bonaparte von
der Volksſouveränität losſagen, und er thut es auch nicht. Na¬
poleon I. gab ſeine Beſtrebungen, den revolutionären Urſprung
loszuwerden, auf, wie das oben citirte Buch beweiſet, z. B. als er
den duc d'Enghien erſchießen ließ; Napoleon III. wird es auch
thun und hat es ſchon gethan, z. B. bei den Neuenburger Ver¬
handlungen, wo ihm die beſte, unter andern Umſtänden willkommne
Gelegenheit gegeben war, die Schweiz zu reſtauriren. Er aber
fürchtete ſich vor Lord Palmerſton und der Engliſchen Preſſe, was
Walewski ehrlich eingeſtanden, Rußland fürchtet ſich vor ihm, Oeſt¬
reich vor ihm und vor England, und ſo kam dieſe ſchändliche Trans¬
action zu Stande. — Wie merkwürdig: wir aber haben Augen
und ſehn nicht, haben Ohren und hören nicht, daß unmittelbar
auf die Neuenburger Verhandlungen die Belgiſche Geſchichte folgt,
der Sieg der Liberalen über die Clericalen, die ſiegreiche Allianz
der parlamentariſchen Minorität und des Straßenaufruhrs über
die parlamentariſche Majorität. Hier darf von Seiten der legi¬
timen Mächte nicht intervenirt werden, das würde Bonaparte ge¬
wiß nicht leiden, es wird aber, wenn es nicht noch einmal be¬
ſchwichtigt wird, Seitens des Bonapartismus intervenirt werden,
ſchwerlich aber zu Gunſten der Clericalen oder der Verfaſſung,
ſondern zu Gunſten des ſouveränen Volkes.
Der Bonapartismus iſt nicht Abſolutismus, nicht einmal
Cäſarismus; erſterer kann ſich auf ein jus divinum gründen, wie
in Rußland und im Orient, er afficirt daher nicht die, welche
dieſes jus divinum nicht anerkennen, für die es nicht iſt, es ſei
denn, daß es ſolchem Autokraten einfällt, ſich wie Attila, Mahomet
oder Timur für eine Geißel Gottes zu halten, was doch eine Aus¬
nahme iſt. Der Cäſarismus iſt die Anmaßung eines Imperiums
[189/0216]
Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.
in einer rechtmäßigen Republik und rechtfertigt ſich durch den Noth¬
ſtand; für einen Bonaparte iſt aber, er mag wollen oder nicht,
die Revolution, d. h. die Volksſouveränität, innerlicher, und bei
jedem Conflict oder Bedürfniß auch äußerlicher Rechtstitel. Aus
dieſem Grunde kann mich Ihr Vergleich Bonapartes mit den Bour¬
bons, mit dem abſolutiſtiſchen Oeſtreich ebenſowenig als Na¬
poleons III. Individualität, die mir in vieler Hinſicht auch im¬
ponirt, beruhigen. Wenn er nicht erobert, ſo muß es ſein Nachfolger
thun, obſchon der prince impérial nicht viel mehr Ausſicht auf
den Thron hat als viele andre, und gewiß weniger als Heinrich V.
In dieſem Sinne iſt Napoleon III. ebenſo unſer natürlicher Feind,
als es Napoleon I. war, und ich verlange nur, daß Sie das im
Auge behalten, nicht aber, daß wir mit ihm ſchmollen, ihn taqui¬
niren, reizen, ſein Werben um uns abweiſen ſollen, aber wir ſind
unſrer Ehre und dem Recht eine reſervirte Stellung ihm gegen¬
über ſchuldig. Er muß wiſſen, daß wir nicht an ſeinem Sturz
arbeiten, daß wir ihm nicht feindlich ſind, es ehrlich mit ihm
meinen, aber auch, daß wir ſeinen Urſprung für gefährlich halten
(er thut es ja auch), und daß, wenn er denſelben geltend machen
will, wir uns ihm widerſetzen werden. Das muß, ohne daß wir
es zu ſagen brauchen, er uns zutrauen und das übrige Europa
auch, ſonſt legt er uns einen Kappzaum an und ſchleppt uns hin,
wohin er will. Das iſt eben das Weſen einer guten Politik, daß
man ohne Streit anzufangen, denen, mit denen man wirklich einig
iſt, Vertrauen einflößt. Dazu gehört aber, daß man offen mit den
Leuten ſpricht, und nicht wie F. D. ſie durch Schweigen und
Tückſchen erbittert. Preußen hat die ſchwere Sünde auf ſich, von
den drei Mächten der heil. Allianz Louis Philippe zuerſt anerkannt
und die andern bewogen zu haben, daſſelbe zu thun. L. Philippe
regierte vielleicht noch, wenn man aufrichtig mit ihm geweſen wäre,
ihm öfter die Zähne gewieſen und ihn dadurch an ſeine Uſur¬
pation denken gemacht hätte.
Man ſpricht von der iſolirten preußiſchen Stellung; wie kann
[190/0217]
Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
man aber feſte Allianzen ſuchen, si, wie 1809 Kaiſer Franz auf
dem Ungariſchen Reichstage ſagte, totus mundus stultiziat? Eng¬
lands Politik ging von 1800—1813 dahin. Bonaparte auf dem
Continent zu beſchäftigen, um ihn zu verhindern, in England zu
landen, was er 1805 ernſthaft wollte. Jetzt rüſtet Napoleon in
allen ſeinen Häfen, um einſt eine Landung möglich zu machen,
und der leichtſinnige Palmerſton verfeindet ſich mit allen Con¬
tinentalmächten. Oeſtreich fürchtet mit Recht für ſein Italien und
verfeindet ſich mit Preußen und Rußland, den einzigen Mächten,
die es ihm gönnen; es nähert ſich Frankreich, was ſeit dem XIV. Jahr¬
hundert lüſtern nach Italien ſieht, es treibt Sardinien auf das
Aeußerſte, was die Thüren und Eingänge Italiens in Händen
hat, es liebäugelt mit Palmerſton, der emſig bemüht iſt, den Auf¬
ruhr dort zu erregen und zu erhalten. Rußland fängt an, im
Innern zu liberaliſiren und macht Frankreich den Hof. Mit wem
ſoll man ſich verbünden? Iſt da etwas andres als abwarten
möglich?
In Deutſchland iſt der preußiſche Einfluß ſo gering, weil der
König ſich niemals entſchließen kann, den Fürſten ſeinen Unwillen
zu zeigen. Wenn ſie ſich noch ſo nichtsnutzig betragen, ſo ſind ſie
bei Jagden und in Sansſouci gern geſehn. 1806 fing Preußen
den Krieg mit Frankreich unter ſehr ungünſtigen Auſpicien an,
und doch folgten ihm Sachſen, Kurheſſen, Braunſchweig, Weimar,
während Oeſterreich ſchon 1805 ohne allen Anhang war. ...
L. v. G.“ 1)
Ich hatte keinen Grund, durch eine Replik die an ſich ziel¬
loſe Correſpondenz fortzuſetzen.
1)
Vgl. Bismarck-Jahrbuch II 245 ff.
[[191]/0218]
Neuntes Kapitel.
Reiſen. Regentſchaft.
I.
Im folgenden Jahre, 1856, begann der König ſich mir wieder
zu nähern; Manteuffel (vielleicht auch Andre) fürchteten, ich könnte
auf ſeine und ihre Koſten Einfluß gewinnen. Unter dieſen Ver¬
hältniſſen machte mir Manteuffel den Vorſchlag, ich ſolle das
Finanzminiſterium übernehmen, er werde das Präſidium und das
auswärtige Reſſort behalten, ſpäter aber mit mir tauſchen, ſo daß
er als Vorſitzender Finanzminiſter, ich Auswärtiger würde. Er
that, als ginge der Vorſchlag von ihm aus. Obwohl mir derſelbe
ſonderbar erſchien, lehnte ich nicht grade ab, ſondern erinnerte
nur daran, daß die Zeitungen, als ich zum Bundesgeſandten er¬
nannt war, den Scherz des witzigen Dechanten von Weſtminſter
über Lord John Ruſſell auf mich angewandt hatten: der Menſch
würde auch das Commando einer Fregatte oder eine Steinoperation
übernehmen. Wenn ich Finanzminiſter würde, ſo könnten der¬
gleichen Urtheile mit mehr Geltung auftreten, obſchon ich die unter¬
ſchreibende Thätigkeit Bodelſchwingh's als Finanzminiſter allenfalls
auch würde leiſten können. Es komme alles darauf an, wie lange
das Interimiſticum dauern ſolle. In der That war der Vorſchlag
vom Könige ausgegangen; und als der Manteuffeln fragte, was
er ausgerichtet hätte, antwortete derſelbe: „Er hat mich gradezu
ausgelacht.“
[192/0219]
Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.
Wenn der König mir wiederholt mündlich das Portefeuille
Manteuffel's nicht anbot, ſondern zu übernehmen befahl mit Worten,
wie: „Wenn Sie ſich an der Erde winden, es hilft Ihnen nichts,
Sie müſſen Miniſter werden,“ ſo behielt ich doch immer den Ein¬
druck im Hintergrunde, daß dieſe Kundgebungen dem Bedürfniß
entſprangen, Manteuffel zur Unterwerfung, zum „Gehorſam“ zu
bringen. Auch wenn es dem Könige Ernſt geweſen wäre, ſo würde
ich doch das Gefühl gehabt haben, daß ich ihm gegenüber eine
annehmbare Miniſterſtellung nicht dauernd würde haben können 1).
Im März 1857 waren in Paris die Conferenzen zur Schlich¬
tung des zwiſchen Preußen und der Schweiz ausgebrochenen Streites
eröffnet worden. Der Kaiſer, über die Vorgänge in Berliner Hof-
und Regirungskreiſen ſtets wohl unterrichtet, wußte offenbar, daß
der König mit mir auf vertrauterem Fuße ſtand, als mit andern
Geſandten und mich wiederholt als Miniſtercandidaten in's Auge
gefaßt hatte. Nachdem er in den Händeln mit der Schweiz eine
für Preußen äußerlich, und namentlich im Vergleich mit der Oeſt¬
reichs, wohlwollende Haltung beobachtet hatte, ſchien er voraus¬
zuſetzen, daß er dafür auf ein Entgegenkommen Preußens in andern
Dingen zu rechnen habe; er ſetzte mir auseinander, daß es unge¬
recht ſei, ihn zu beſchuldigen, daß er nach der Rheingrenze ſtrebe.
Das linksrheiniſche deutſche Ufer mit etwa 3 Millionen Einwohnern
würde für Frankreich Europa gegenüber eine unhaltbare Grenze
ſein; die Natur der Dinge würde Frankreich dann dahin treiben,
auch Luxemburg, Belgien und Holland zu erwerben oder doch in
eine ſichre Abhängigkeit zu bringen. Das Unternehmen hinſichtlich
der Rheingrenze würde daher Frankreich früher oder ſpäter zu einer
Vermehrung von 10 bis 11 Millionen thätiger, wohlhabender Ein¬
wohner führen. Eine ſolche Verſtärkung der franzöſiſchen Macht
würde von Europa unerträglich befunden werden, — „devrait
engendrer la coalition“, würde ſchwerer zu behalten, als zu nehmen
1)
S. o. S. 88. 138.
[193/0220]
Unterredung mit Napoleon III. über franzöſiſche Zukunftspläne.
ſein, — „un dépôt que l'Europe coalisée un jour viendrait
reprendre“; eine ſolche an Napoleon I. erinnernde Prätenſion ſei
für die gegenwärtigen Verhältniſſe zu hoch; man würde ſagen,
Frankreichs Hand ſei gegen Jedermann, und deshalb würde Jeder¬
manns Hand gegen Frankreich ſein. Vielleicht werde er unter
Umſtänden zur Befriedigung des Nationalſtolzes „une petite recti¬
fication des frontières“ verlangen, könne aber ohne ſolche leben.
Wenn er wieder eines Krieges bedürfen ſollte, würde er denſelben
eher in der Richtung nach Italien ſuchen. Einerſeits habe dieſes
Land doch immer eine große Affinität mit Frankreich, andrerſeits
ſei das letztre an Landmacht und an Siegen zu Lande reich genug.
Eine viel pikantere Befriedigung würden die Franzoſen in einer
Ausdehnung ihrer Seemacht finden. Er denke nicht daran, das
Mittelmeer grade zu einem franzöſiſchen See zu machen, „mais
à peu près“. Der Franzoſe ſei kein Seemann von Natur, ſondern
ein guter Landſoldat, und eben deshalb ſeien Erfolge zur See ihm
viel ſchmeichelhafter. Dies allein ſei das Motiv, welches ihn hätte
veranlaſſen können, zur Zerſtörung der ruſſiſchen Flotte im Schwarzen
Meere zu helfen, da Rußland, wenn dereinſt im Beſitz eines ſo
vortrefflichen Materials, wie die griechiſchen Matroſen, ein zu ge¬
fährlicher Rival im Mittelmeer werden würde. Ich hatte den Ein¬
druck, daß der Kaiſer in dieſem Punkte nicht ganz aufrichtig war,
daß ihm die Zerſtörung der ruſſiſchen Flotte eher leid that, und
daß er ſich nachträglich eine Rechtfertigung für das Ergebniß des
Krieges zurecht machte, in den England unter ſeiner Mitwirkung
nach dem Ausdruck ſeines Auswärtigen Miniſters wie ein ſteuer¬
loſes Schiff hineingetrieben war — we are drifting into war.
Als Ergebniß eines nächſten Krieges denke er ſich ein Ver¬
hältniß der Intimität und Abhängigkeit Italiens zu Frankreich,
vielleicht die Erwerbung einiger Küſtenpunkte. Zu dieſem Pro¬
gramm gehöre, daß Preußen ihm nicht entgegen ſei. Frankreich
und Preußen ſeien aufeinander angewieſen; er halte es für einen
Fehler, daß Preußen 1806 nicht wie andre deutſche Mächte zu
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 13
[194/0221]
Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.
Napoleon gehalten hätte. Es ſei wünſchenswerth, unſer Gebiet durch
die Erwerbung Hanovers und der Elbherzogthümer zu conſoli¬
diren, um damit die Unterlage einer ſtärkern preußiſchen See¬
macht zu gewinnen. Es fehle an Seemächten zweiten Ranges, die
durch Vereinigung ihrer Streitkräfte mit der franzöſiſchen das jetzt
erdrückende Uebergewicht Englands aufhöben. Eine Gefahr für ſie
ſelbſt und für das übrige Europa könne darin nicht liegen, weil
ſie ſich ja zu einſeitig egoiſtiſch-franzöſiſchen Unternehmungen nicht
einigen würden, nur für die Freiheit der Meere von der eng¬
liſchen Uebermacht. Zunächſt wünſche er ſich der Neutralität
Preußens zu verſichern für den Fall, daß er wegen Italien mit
Oeſtreich in Krieg geriethe. Ich möge den König über dieſes Alles
ſondiren.
Ich antwortete, ich ſei doppelt erfreut, daß der Kaiſer dieſe
Andeutungen grade mir gemacht habe, erſtens, weil ich darin einen
Beweis ſeines Vertrauens ſehn dürfe, und zweitens, weil ich viel¬
leicht der einzige preußiſche Diplomat ſei, der es über ſich nehmen
würde, dieſe ganze Eröffnung zu Hauſe und auch ſeinem Souverän
gegenüber zu verſchweigen 1). Ich bäte ihn dringend, ſich dieſer
Gedanken zu entſchlagen; es läge außer aller Möglichkeit für den
König Friedrich Wilhelm IV., auf dergleichen einzugehn; eine ab¬
lehnende Antwort ſei unzweifelhaft, wenn ihm die Eröffnung ge¬
macht würde. Dabei bleibe im letztern Falle die große Gefahr
einer Indiscretion im mündlichen Verkehr der Fürſten, einer An¬
deutung darüber, welchen Verſuchungen der König widerſtanden
habe. Wenn eine andre deutſche Regirung in die Lage verſetzt
würde, über dergleichen Indiscretionen nach Paris zu berichten, ſo
werde das für Preußen ſo werthvolle gute Benehmen mit Frank¬
1)
Thatſächlich finden ſich in den Berichten an Manteuffel vom 11. und
24. April, ſowie vom 1. Mai 1857 (Preußen im Bundestage IV 257 f., III
91 ff. 94 ff.) keinerlei Mittheilungen über dieſe Unterredung, ebenſowenig in
dem Briefe an Gerlach vom 11. April 1857, Briefe Bismarck's ꝛc. S. 311 ff.;
das, er dem letztern davon erzählt hat, geht aus Gerlach's Denkwürdigkeiten
II 521 hervor.
[195/0222]
Unterredung mit Napoleon III. In Kopenhagen.
reich geſtört werden. „Mais ce ne serait plus une indiscrétion,
ce serait une trahision,“ unterbrach er mich etwas beunruhigt.
„Vous vous embourberiez!“ fuhr ich fort.
Der Kaiſer fand dieſen Ausdruck ſchlagend und anſchaulich
und wiederholte ihn. Die Unterredung ſchloß damit, daß er mir
für dieſe Offenheit ſeinen Dank ausſprach und ich ihm Schweigen
über ſeine Eröffnung zuſagte.
II.
In demſelben Jahre benutzte ich die Ferien des Bundestages
zu einem Jagdausfluge nach Dänemark und Schweden 1). In Kopen¬
hagen hatte ich am 6. Auguſt eine Audienz bei dem Könige
Friedrich VII. Er empfing mich in Uniform, den Helm auf dem
Kopfe, und unterhielt mich mit übertriebenen Schilderungen ſeiner
Erlebniſſe bei verſchiedenen Gefechten und Belagerungen, bei denen
er garnicht zugegen geweſen war. Auf meine Sondirung, ob er
glaube, daß die (zweite gemeinſchaftliche vom 2. October 1855 da¬
tirte) Verfaſſung halten werde, erwiderte er, er habe ſeinem Vater
auf dem Todtenbette zugeſchworen, ſie zu halten, wobei er vergaß,
daß dieſe Verfaſſung beim Tode ſeines Vaters (1848) noch nicht
vorhanden war. Während der Unterhaltung ſah ich in einer an¬
ſtoßenden ſonnigen Gallerie einen weiblichen Schatten an der Wand;
der König hatte nicht für mich, ſondern für die Gräfin Danner
geredet, über deren Verkehrsformen mit Sr. Majeſtät ich ſonder¬
bare Anekdoten hörte. Auch mit angeſehnen Schleswig-Holſteinern
hatte ich Gelegenheit, mich zu beſprechen. Sie wollten von einem
deutſchen Kleinſtaate nichts wiſſen; „da ſei ihnen das Bischen
Europäerthum in Kopenhagen noch lieber“.
In Schweden ſtürzte ich bei der Jagd am 17. Auguſt auf eine
1)
Vgl. die Briefe vom 6., 9., 16.–19. Aug. in den Bismarckbriefen
(7. Aufl.) S. 222 ff.
[196/0223]
Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.
Felskante und erlitt eine ernſte Verletzung des Schienbeins, die ich
leider vernachläſſigte, um nach Kurland auf die Elchjagd zu gehn.
Auf der Rückreiſe von Kopenhagen traf ich am 26. Auguſt in
Berlin ein, machte am 3. September eine große Revue mit, auf
der ich zum erſten Male die eben eingeführte weiße Uniform des
damaligen „ſchweren Reiter“-Regiments trug, und reiſte dann nach
Kurland *).
Am 8. Juli hatte der König dem Kaiſer von Oeſtreich von
Marienbad aus einen Beſuch in Schönbrunn gemacht. Auf dem
Rückwege war er am 13. Juli zum Beſuch des Königs von
Sachſen in Pillnitz eingetroffen, wo er an demſelben Tage von
„einem Unwohlſein“ befallen wurde, das in den Bulletins der
Leibärzte aus der bei großer Hitze zurückgelegten Reiſe erklärt wurde
und die Abreiſe um mehre Tage verzögerte. Nachdem der König
am 17. nach Sansſouci zurückgekehrt war, bemerkte ſeine Umgebung
Symptome einer geiſtigen Ermüdung, namentlich Edwin Manteuffel,
der ängſtlich bemüht war, jede Unterhaltung des Königs mit Andern
zu hindern oder zu unterbrechen. Die politiſchen Eindrücke, die der
König bei ſeinen Verwandten in Schönbrunn und Pillnitz erfahren,
hatten auf ſein Gemüth deprimirend, die Diſcuſſionen angreifend
eingewirkt. Bei dem Exerciren am 27. Juli neben ihm reitend,
hatte ich im Geſpräch den Eindruck des Verſiegens der Gedanken
und Anlaß, in die Lenkung ſeines Pferdes im Schritt einzu¬
greifen.
Der Zuſtand wurde dadurch verſchlimmert, daß der König am
6. October den Kaiſer von Rußland, einen ſtarken Raucher, nach
dem Niederſchleſiſch-Märkiſchen Bahnhofe in dem kaiſerlichen ge¬
ſchloſſenen Salonwagen begleitet hatte, in Tabaksdampf, der ihm
ebenſo unerträglich war wie der Geruch des Siegellacks 1).
Es folgte, wie bekannt, ein Schlaganfall. In hohen militäri¬
*)
Daß auch ſeine eigenhändigen Schreiben nicht in ſeiner Gegenwart
geſiegelt wurden, hatte ſeine ſehr bedenkliche Seite.
1)
Vgl. Brief aus Königsberg vom 12. Sept. 1857, Bismarckbriefe S. 226.
[197/0224]
In Schweden und Kurland. Erkrankung des Königs.
ſchen Kreiſen war die Vorſtellung verbreitet, daß ein ähnlicher Zu¬
ſtand ihn ſchon in der Nacht vom 18. zum 19. März 1848 be¬
fallen habe. Die Aerzte beriethen, ob ſie einen Aderlaß machen
ſollten oder nicht, wovon ſie im erſten Falle Störungen im Gehirn,
im zweiten Tod befürchteten, und entſchieden ſich erſt nach mehren
Tagen für den Aderlaß, der den König wieder zum Bewußtſein
brachte.
Während dieſer Tage, alſo mit der Möglichkeit eines ſofortigen
Regirungsantritts vor Augen — am 19. October —, machte der
Prinz von Preußen mit mir einen langen Spaziergang durch die
neuen Anlagen und ſprach mit mir darüber, ob er, wenn er zur
Regirung komme, die Verfaſſung unverändert annehmen oder zuvor
eine Reviſion derſelben fordern ſolle. Ich ſagte, die Ablehnung
der Verfaſſung würde ſich rechtfertigen laſſen, wenn das Lehnrecht
anwendbar wäre, nach welchem ein Erbe zwar an Verfügungen
des Vaters, aber nicht des Bruders gebunden ſei. Aus Gründen
der Politik aber riethe ich, nicht an der Sache zu rühren, nicht
die mit einer, wenn auch bedingten Ablehnung verbundene Un¬
ſicherheit unſrer ſtaatlichen Zuſtände herbeizuführen. Man dürfe
nicht die Befürchtung der Möglichkeit des Syſtemwechſels bei jedem
Thronwechſel hervorrufen. Preußens Anſehn in Deutſchland und
ſeine europäiſche Actionsfähigkeit würden durch einen Zwiſt zwiſchen
der Krone und dem Landtage gemindert werden, die Parteinahme
gegen den beabſichtigten Schritt in dem liberalen Deutſchland
eine allgemeine ſein. Bei meiner Schilderung der zu befürchtenden
Folgen ging ich von demſelben Gedanken aus, den ich ihm 1866,
als es ſich um die Indemnität handelte, zu entwickeln hatte: daß
Verfaſſungsfragen den Bedürfniſſen des Landes und ſeiner politi¬
ſchen Lage in Deutſchland untergeordnet wären, ein zwingendes
Bedürfniß an der unſrigen zu rühren, jetzt nicht vorliege; daß für
jetzt die Machtfrage und innere Geſchloſſenheit die Hauptſache ſei.
Als ich nach Sansſouci zurückkam, fand ich Edwin Manteuffel
beſorglich erregt über meine lange Unterhaltung mit dem Prinzen
[198/0225]
Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.
und die Möglichkeit weitrer Einmiſchung meinerſeits. Er fragte
mich, weshalb ich nicht auf meinen Poſten ginge, wo ich in der
gegenwärtigen Situation ſehr nöthig ſein würde. Ich erwiderte:
„Ich bin hier viel nöthiger“ 1).
Durch Allerhöchſten Erlaß vom 23. October wurde der Prinz
von Preußen zunächſt auf drei Monate mit der Stellvertretung
des Königs beauftragt, die dann noch dreimal auf je drei Monate
verlängert wurde und ohne nochmalige Verlängerung im October
1858 abgelaufen wäre. Im Sommer 1858 war ein ernſter Verſuch
im Werke, die Königin zu veranlaſſen, die Unterſchrift des Königs
zu einem Briefe an ſeinen Bruder zu beſchaffen, in dem zu ſagen
ſei, daß er ſich wieder wohl genug fühle, um die Regirung zu
übernehmen, und dem Prinzen für die geführte Stellvertretung
danke. Die letztre war durch einen Brief des Königs eingeleitet
worden, konnte alſo, ſo argumentirte man, durch einen ſolchen
wieder aufgehoben werden. Die Regirung würde dann, unter
Controlle der königlichen Unterſchrift durch Ihre Majeſtät die
Königin, von den dazu berufenen oder ſich darbietenden Herren
vom Hofe geführt werden. Zu dieſem Plan wurde mündlich auch
meine Mitwirkung in Anſpruch genommen, die ich in der Form
ablehnte, das würde eine Haremsregirung werden. Ich wurde
von Frankfurt nach Baden-Baden gerufen und ſetzte dort 2)den
Prinzen von dem Plane in Kenntniß, ohne die Urheber zu nennen.
„Dann nehme ich meinen Abſchied!“ rief der Prinz. Ich ſtellle
ihm vor, daß das Ausſcheiden aus ſeinen militäriſchen Aemtern
nichts helfen, ſondern die Sache ſchlimmer machen würde. Der
Plan ſei nur ausführbar, wenn das Staatsminiſterium dazu ſtille
hielte. Ich rieth daher, den Miniſter Manteuffel, der auf ſeinem
Gute den Erfolg des ihm bekannten Plans abwartete, telegraphiſch
zu citiren und durch geeignete Weiſungen den Faden der Intrigue
1)
Vgl. Bismarck's Brief an Gerlach vom 19. Dec. 1857, Ausg. von
H. Kohl S. 337 ff. und Gerlachs Antwort, Bismarck-Jahrbuch II 250 ff.
2)
Am 15. Juli 1858.
[199/0226]
Stellvertretung des Prinzen v. Preußen. Seine Regentſchaft.
zu zerſchneiden. Der Prinz ging darauf ein. Nach Frankfurt
zurückgekehrt, erhielt ich folgenden Brief Manteuffels:
„Berlin, den 20. Juli 1858.
Ew. Hochwohlgeboren benachrichtige ich ergebenſt, daß es
meine Abſicht iſt, nächſten Donnerſtag, den 22. ds. M., Morgens
früh 7 Uhr von hier nach Frankfurt zu gehen und am folgenden
Morgen ſo zeitig als möglich nach Baden-Baden mich zu begeben.
Es würde mir angenehm ſein, wenn es Ew. Hochwohlgeboren con¬
venirte, mich zu begleiten. Wahrſcheinlich werden mich meine Frau
und mein Sohn begleiten, welche zur Zeit noch auf dem Lande
ſind, aber morgen hier ankommen.
Ich wünſche nicht, daß in Frankfurt von meiner Durchreiſe
vorher geſprochen werde, wollte mir aber doch erlauben, Ew. Hoch¬
wohlgeboren durch dieſe Zeilen ein kleines Aviſo zu geben.“
Der weitre Verlauf der Stellvertretungsfrage erhellt aus fol¬
gendem Briefe Manteuffels:
„Berlin, den 12. October 1858.
Unſre große Haupt- und Staatsaction iſt inmittelſt wenigſtens
im erſten Akt erledigt. Die Sache hat mir viel Sorge, Unan¬
nehmlichkeit und unverdienten Verdruß gemacht. Noch geſtern
habe ich darüber von Gerlach einen ganz empfindlichen Brief er¬
halten. Er glaubt, daß damit die Souveränetät halb zum Fenſter
hinausgeworfen ſei. Ich kann das beim beſten Willen nicht er¬
kennen, meine Vorſtellung von der Sache iſt folgende:
Wir haben einen diſpoſitionsfähigen, aber regierungsunfähigen
König; derſelbe ſagt ſich ſelbſt und muß ſich ſagen, daß er ſeit
länger als Jahresfriſt nicht hat regieren können, daß die Aerzte
und er ſelbſt anerkennen müſſen, der Zeitpunkt, wo er wieder ſelbſt
werde regieren können, laſſe ſich auch entfernt nicht angeben, daß
eine unnatürliche Verlängerung der bisherigen Vollmachtsertheilung
nicht am Orte und dem Staate eine ſich ſelbſt allein verantwort¬
[200/0227]
Neuntes Kapitel: Reiſen, Regentſchaft.
liche Spitze nothwendig ſei; aus allen dieſen Erwägungen gibt der
König dem zunächſt zur Krone Berufenen den Befehl, das zu thun,
was für ſolchen Fall in der Landesverfaſſung vorgeſchrieben iſt.
Die Beſtimmungen der letzteren, welche gerade in dieſem Punkte
correct und monarchiſch abgefaßt ſind, werden demnächſt zur An¬
wendung gebracht und das, wenn auch nach der Erklärung des
Königs überflüſſige, immerhin aber in der Verfaſſung mit gutem
Grunde vorgeſchriebene Landtagsvotum wird eingeholt, aber ſtreng
auf Beantwortung der Frage beſchränkt: Iſt die Einſetzung einer
Regentſchaft nothwendig? mit andern Worten: Iſt der König mit
genügendem Grund von den Geſchäften entfernt? Wie man dieſe
Frage verneinen will, iſt mir nicht erſichtlich; immerhin wird es
noch manche, namentlich formale Schwierigkeit zu überwinden geben.
Namentlich fehlt es für die in der Verfaſſung vorgeſehene gemein¬
ſchaftliche Sitzung an einer Geſchäftsordnung. Dieſe wird man
improviſiren müſſen, indeſſen hoffe ich doch, daß man in etwa
fünf Tagen mit der Beſchlußfaſſung zu Stande ſein wird, ſo daß
dann der Prinz den Eid leiſten und die Verſammlung ſchließen
können wird. Andre Vorlagen, namentlich ſolche, welche auf
Geldbewilligungen ſich beziehen, werden natürlich für dieſe Sitzung
gar nicht beabſichtigt. Wenn Ihre Geſchäfte es erlauben, ſo würde
ich wünſchen, daß Sie Sich zum Landtage hier einfinden und wo¬
möglich vor deſſen Eröffnung hier ſind. Ich höre von wunder¬
baren Anträgen der äußerſten Rechten, die man vielleicht im
allgemeinen Intereſſe, ſowie in demjenigen dieſer Herren ver¬
hindern könnte.
Weſtphalens Entlaſſung gerade im gegenwärtigen Momente
iſt nur ſehr unerwünſcht geweſen. Einmal ſchon hatte ich, als er
ſelbige verlangte, ſie gehindert. Jetzt wollte der Prinz ſie ihm aus
ganz freier Entſchließung und ohne ſeinen Antrag ertheilen und
ſchickte mir ein darauf bezügliches Privatſchreiben an Weſtphalen
mit dem Befehle, ſofort die Ausfertigung vorzulegen. Ich that
letzteres indeß nicht, und ſandte auch das eigenhändige Schreiben
[201/0228]
Uebernahme der Regentſchaft. Entlaſſung Manteuffels.
nicht ab, ſondern machte bei dem Prinzen Gegenvorſtellungen bezüg¬
lich der Opportunität des Momentes, Gegenvorſtellungen, welche
nach nicht geringer Mühe auch durchſchlugen. Ich ward ermächtigt,
die Maßregel wenigſtens aufzuhalten und den Brief bei mir liegen
zu laſſen. Da ſchrieb Weſtphalen am 8. d. Mts. an den Prinzen
ſowohl wie an mich ein ganz wunderbares Schreiben, worin er mit
Zurücknahme früherer Erklärungen ſeine Contraſignatur der zu
erlaſſenden und bereits feſtgeſtellten Ordres davon abhängig machte,
daß auch noch die vom Prinzen zu erlaſſenden Ordres ſpeciell dem
Könige zur Genehmigung vorgelegt würden, ein Verlangen, welches
in der That mit Rückſicht auf den in den letzten Tagen verſchlim¬
merten geiſtigen Zuſtand des Königs an Widerſinnigkeit grenzt.
Da verlor der Prinz die Geduld und machte mir Vorwürfe, nicht
ſogleich ſein Schreiben abgeſchickt zu haben, und die Sache war
nun nicht mehr zu halten. Flottwells Wahl iſt ohne all' mein
Zuthun aus dem Prinzen ſelbſtſtändig hervorgegangen, ſie hat, wie
Manches gegen ſich, ſo auch Manches für ſich.“
Ich ſtellte mich zu dem Landtage ein und trat in einer Fractions¬
ſitzung gegen die Herrn, von welchen der Verſuch ausging, ſich der
verfaſſungsmäßigen Votirung der Regentſchaft zu widerſetzen, mit
Entſchiedenheit für die Annahme der Regentſchaft ein, die denn
auch ſtattfand.
Nachdem am 26. October der Prinz von Preußen die Regent¬
ſchaft übernommen hatte, fragte Manteuffel mich, was er thun
ſolle, um eine unfreiwillige Verabſchiedung zu vermeiden, und gab
mir auf mein Verlangen ſeine letzte Correſpondenz mit dem Regenten
zu leſen. Meine Antwort, es ſei ganz klar, daß der Prinz ihm
den Abſchied geben wolle, hielt er für unaufrichtig, vielleicht für
ehrgeizig. Am 6. November wurde er entlaſſen. Es folgte ihm
der Fürſt von Hohenzollern mit dem Miniſterium der „Neuen Aera“.
[202/0229]
Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.
III.
Im Januar 1859 machte mir auf einem Balle bei Mouſtier
oder Karolyi der Graf Stillfried ſcherzhafte Anſpielungen, aus
denen ich ſchloß, daß meine ſchon mehrmals geplante Verſetzung
von Frankfurt nach Petersburg erfolgen werde, und fügte dazu
die wohlwollende Bemerkung: Per aspera ad astra. Die Wiſſen¬
ſchaft des Grafen beruhte ohne Zweifel auf ſeinen intimen Be¬
ziehungen zu allen Katholiken im Haushalte der Prinzeſſin, vom
erſten Kammerherrn bis zum Kammerdiener. Meine Beziehungen
zu den Jeſuiten waren damals noch ungetrübt, und ich beſaß noch
Stillfrieds Wohlwollen. Ich verſtand die durchſichtige Anſpielung,
begab mich am folgenden Tage (26. Januar) zu dem Regenten und
ſagte offen, ich hörte, daß ich nach Petersburg verſetzt werden ſollte,
und bat um Erlaubniß, mein Bedauern darüber auszuſprechen, in
der Hoffnung, daß es noch rückgängig gemacht werden könnte. Die
erſte Gegenfrage war: „Wer hat Ihnen das geſagt?“ Ich erwiderte,
ich würde indiscret ſein, wenn ich die Perſon nennen wollte, ich hätte
es aus dem Jeſuitenlager gehört, mit dem ich alte Fühlung hätte,
und ich bedauerte es, weil ich glaubte, in Frankfurt, in dieſem
Fuchsbau des Bundestages, deſſen Ein- und Ausgänge ich bis auf
die Nothröhren kennen gelernt hätte, brauchbarere Dienſte leiſten zu
können als irgend einer meiner Nachfolger, der die ſehr complicirte
Stellung, die auf den Beziehungen zu vielen Höfen und Miniſtern
beruhe, erſt wieder kennen lernen müſſe, da ich meine achtjährige
Erfahrung auf dieſem Gebiete, die ich in bewegten Zuſtänden ge¬
macht, nicht vererben könnte. Mir wäre jeder deutſche Fürſt und
jeder deutſche Miniſter und die Höfe der bundesfürſtlichen Reſi¬
denzen perſönlich bekannt, und ich erfreute mich, ſo weit es für
Preußen erreichbar ſei, eines Einfluſſes in der Bundesverſammlung
und an den einzelnen Höfen. Dieſes erworbene und erkämpfte
Capital der preußiſchen Diplomatie würde zwecklos zerſtört durch
[203/0230]
Unterredung mit dem Prinzen über den Petersburger Poſten.
meine Abberufung von Frankfurt. Die Ernennung von Uſedom
werde das Vertrauen der deutſchen Höfe abſchwächen, weil er unklar
liberal und mehr anekdotenerzählender Höfling als Staatsmann ſei;
und Frau von Uſedom würde uns durch ihre Excentricität Verlegen¬
heit und unerwünſchte Eindrücke in Frankfurt zuziehn.
Worauf der Regent: „Das iſt es ja eben, daß die hohe Be¬
fähigung Uſedoms ſich nirgendwo anders verwerthen läßt, weil ſeine
Frau an jedem Hofe Verlegenheiten herbeiführen würde.“ Letztres
geſchah nicht bloß an Höfen, ſondern auch in dem duldſamen Frank¬
furt, und die Unannehmlichkeiten, welche ſie in Ueberſchätzung ihrer
geſandſchaftlichen Prärogative Privatleuten bereitete, arteten bis
zu öffentlichen Scandaloſen aus. Aber Frau von Uſedom war
geborne Engländerin und fand deshalb bei der Inferiorität des
deutſchen Selbſtgefühls bei Hofe eine Nachſicht, deren ſich keine
deutſche Frau zu erfreuen gehabt haben würde.
Meine Erwiderung dem Regenten gegenüber lautete ungefähr:
„Dann iſt es alſo ein Fehler, daß ich nicht auch eine taktloſe Frau
geheirathet habe, ſonſt würde ich auf den Poſten, auf dem ich mich
heimiſch fühle, denſelben Anſpruch haben, wie Graf Uſedom.“
Darauf der Regent: „Ich begreife nicht, wie Sie die Sache
ſo bitter auffaſſen können; Petersburg hat doch immer für den
oberſten Poſten der preußiſchen Diplomatie gegolten, und Sie ſollten
es als einen Beweis hohen Vertrauens aufnehmen, daß ich Sie
dahin ſchicke.“
Darauf ich: „Sobald Ew. Königliche Hoheit mir dieſes Zeug¬
niß geben, ſo muß ich natürlich ſchweigen, kann aber doch bei der
Freiheit des Wortes, die Ew. Königliche Hoheit mir jederzeit ge¬
ſtattet haben, nicht umhin, meine Sorge über die heimiſche Situation
und ihren Einfluß auf die deutſche Frage auszuſprechen. Uſedom
iſt ein brouillon, kein Geſchäftsmann. Seine Inſtruction wird er
von Berlin erhalten; wenn Graf Schlieffen Decernent für deutſche
Sachen bleibt, ſo werden die Inſtructionen gut ſein; an ihre ge¬
wiſſenhafte Ausführung glaube ich bei Uſedom nicht.“
[204/0231]
Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.
Gleichwohl wurde er nach Frankfurt ernannt. Daß ich ihm
mit meinem Urtheil nicht Unrecht gethan, bewies ſein ſpäteres Ver¬
halten in Turin und Florenz. Er poſirte gerne als Stratege, auch
als „verfluchter Kerl“ und tief eingeweihter Verſchwörer, hatte Ver¬
kehr mit Garibaldi und Mazzini und that ſich etwas darauf zu
Gute. In der Neigung zu unterirdiſchen Verbindungen nahm er
in Turin einen angeblichen Mazziniſten, in der That öſtreichiſchen
Spitzel, als Privatſekretär an, gab ihm die Akten zu leſen und
den Chiffre in die Hände. Er war Wochen und Monate von
ſeinem Poſten abweſend, hinterließ Blanquets, auf welche die
Legationsſekretäre Berichte ſchrieben; ſo gelangten an das Aus¬
wärtige Amt Berichte mit ſeiner Unterſchrift über Unterredungen,
die er mit den italieniſchen Miniſtern gehabt haben ſollte, ohne
daß er dieſe Herrn in der betreffenden Zeit geſehn hatte. Aber
er war ein hoher Freimaurer. Als ich im Februar 1869 die Ab¬
berufung eines ſo unbrauchbaren und bedenklichen Beamten ver¬
langte, ſtieß ich bei dem Könige, der die Pflichten gegen die Brüder
mit einer faſt religiöſen Treue erfüllte, auf einen Widerſtand, der
auch durch meine mehrtägige Enthaltung von amtlicher Thätigkeit
nicht zu überwinden war und mich zu der Abſicht brachte, meinen
Abſchied zu erbitten 1). Indem ich jetzt nach mehr als 20 Jahren
die betreffenden Papiere wieder leſe, befällt mich eine Reue darüber,
daß ich damals, zwiſchen meine Ueberzeugung von dem Staats¬
intereſſe und meine perſönliche Liebe zu dem Könige geſtellt, der
erſtern gefolgt bin und folgen mußte. Ich fühle mich heut beſchämt
von der Liebenswürdigkeit, mit welcher der König meine amtliche
Pedanterie ertrug. Ich hätte ihm und ſeinem Maurerglauben den
Dienſt in Florenz opfern ſollen. Am 22. Februar ſchrieb mir
S. M.: „Ueberbringer dieſer Zeilen [Cabinetsrath Wehrmann] hat
mir Mittheilung von dem Auftrage gemacht, den Sie ihm für Sich
gegeben haben. Wie können Sie nur daran denken, daß ich auf
1)
Vgl. Bismarck-Jahrbuch I 76 ff.
[205/0232]
Uſedomiana; das Abſchiedsgeſuch von 1869.
Ihren Gedanken eingehen könnte! Mein größtes Glück iſt es
ja, mit Ihnen zu leben und immer feſt einverſtanden zu ſein. Wie
können Sie Sich Hypochondrien darüber machen, daß meine einzige
Différenz Sie bis zum extremsten Schritt verleitet! Noch aus Varzin
ſchrieben Sie mir in der Différenz wegen der Deckung des Deficits,
daß Sie zwar andrer Meinung wie ich ſeien, daß Sie aber bei
Uebernahme Ihrer Stellung es Sich zur Pflicht gemacht hätten,
daß, wenn Sie pflichtmäßig Ihre Anſichten geäußert, Sie Sich meinen
Beſchlüſſen fügen würden. Was hat denn diesmal Ihre ſo edel
ausgeſprochene Abſicht von vor 3 Monaten ſo gänzlich verändert?
Es giebt nur eine einzige Différenz, ich wiederhole es, die in
F. a./M. 1). Die Usedomiana habe ich geſtern noch ganz eingehend
nach Ihrem Wunſch beſprochen ſchriftlich; die Hausangelegenheit
wird ſich ſchlichten; in der Stellen-Beſetzung waren wir einig, aber
die Individuen wollen nicht. Wo iſt da alſo Grund zum Extrême?
Ihr Name ſteht in Preußens Geſchichte ſchöner als der irgend
eines Preußiſchen Staatsmanns. Den ſoll ich laſſen? Niemals.
Ruhe und Gebeth wird alles ausgleichen. Ihr treuſter Freund
W.“
Von dem folgenden Tage iſt der nachſtehende Brief Roons:
„Berlin, den 23. Februar 1869.
Seit ich Sie geſtern Abend verließ, mein verehrter Freund,
bin ich unausgeſetzt mit Ihnen und Ihrer Entſchließung beſchäftigt.
Es läßt mir keine Ruhe. Ich muß Ihnen nochmals zurufen,
faſſen Sie Ihr Schreiben ſo, daß ein Einlenken möglich bleibt.
1)
Die Regierung hatte am 1. Februar 1869 im Landtage Geſetz¬
entwurf vorgelegt, betr. die Auseinanderſetzung zwiſchen Staat und Stadt
Frankfurt, die auf einem Gutachten der Kronſyndici beruhte, vom Miniſterium
berathen, vom Könige genehmigt worden war. Der Frankfurter Magiſtrat
erlangte, während die Verhandlungen über den Entwurf noch ſchwebten, vom
Könige die Zuſage, daß der Stadt Frankfurt zur vergleichsweiſen Erledigung
der von ihr erhobenen Anſprüche 2000000 Gulden aus der Staatscaſſe über¬
wieſen werden ſollten. Der Geſetzentwurf mußte entſprechend abgeändert werden.
[206/0233]
Neuntes Kapitel: Reiſen, Regentſchaft.
Vielleicht haben Sie es noch nicht abgeſchickt und können noch
daran ändern. Bedenken Sie, daß das geſtern empfangene faſt
zärtliche Billet den Anſpruch der Wahrhaftigkeit macht, ſei es auch
nicht mit voller Berechtigung. Es iſt ſo geſchrieben und mit dem
Anſpruch, nicht als falſche Münze betrachtet zu werden, ſondern
als gute und vollgültige, und erwägen Sie, daß das beigemiſchte
unächte Gut nichts andres iſt als das Kupfer der falſchen Scham,
die nicht eingeſtehen will und in Betracht der Stellung des
Schreibers auch vielleicht nicht kann: ‚Ich, ich habe ſehr Unrecht
gethan und will mich beſſern.‘
Es iſt ganz unzuläſſig, daß Sie die Schiffe verbrennen.
Sie dürfen das nicht, Sie würden Sich damit vor dem Lande
ruiniren, und Europa würde lachen. Die Motive, die Sie leiten,
würden nicht gewürdigt werden; man würde ſagen: er verzweifelte
ſein Werk zu vollenden; deshalb ging er. Ich mag mich nicht
ferner wiederholen, höchſtens noch in dem Ausdruck meiner un¬
wandelbaren und treuen Anhänglichkeit.
Ihr
von Roon.“
Nachdem ich meinen Antrag auf Verabſchiedung zurückge¬
nommen hatte, erhielt ich folgenden Brief:
„Berlin, den 26. Februar 1869.
Als ich Ihnen am 22. in meiner Beſtürzung über Wehrmanns
Mittheilung ein ſehr flüchtiges aber deſto eindringlicheres Billet
ſchrieb, um Sie von Ihrem Verderben drohenden Vorhaben ab¬
zuhalten, konnte ich annehmen, daß Ihre Antwort in Ihrem End¬
reſultat meinen Vorſtellungen Gehör geben würde — und ich habe
mich nicht geirrt. Dank, herzlichſten Dank, daß Sie meine Er¬
wartung nicht täuſchten!
Was nun die Hauptgründe betrifft, die Sie momentan an
Ihren Rücktritt denken ließen, ſo erkenne ich die Triftigkeit der¬
ſelben vollkommen an, und Sie werden Sich erinnern, in wie ein¬
[207/0234]
Uſedomiana; das Abſchiedsgeſuch von 1869.
dringlicher Art ich Sie im Dezember v. J. bei Wiederübernahme
der Geſchäfte aufforderte, Sich jede mögliche Erleichterung zu ver¬
ſchaffen, damit Sie nicht von Neuem der vorauszuſehenden Laſt
und Maſſe der Arbeit unterlägen. Leider ſcheint es, daß Sie
eine ſolche Erleichterung (nicht einmal die Abbürdung Lauenburgs)
nicht für angänglich gefunden haben und daß meine desfallſigen
Befürchtungen ſich in erhöhtem Maße bewahrheitet haben, und
zwar in einem ſolchen Grade, daß Sie zu unheilvollen Gedanken
und Beſchlüſſen gelangen ſollten. Wenn Ihrer Schilderung nach
nun noch Erſchwerniſſe in Bewältigung einzelner Geſchäftsmomente
eingetreten ſind, ſo bedauert das Niemand mehr wie ich. Eine
derſelben iſt die Stellung Sulzers 1). Schon vor längerer Zeit habe
ich die Hand zu deſſen anderweitigen Placirung gebothen, ſo daß
es meine Schuld nicht iſt, wenn dieſelbe nicht erfolgt iſt, nachdem
Eulenburg ſich ſelbſt auch von derſelben überzeugt hat. Wenn eine
ähnliche Geſchäftsvermehrung Ihnen die Uſedom'ſche Angelegenheit
verurſachte, ſo kann dies auch mir nicht zur Laſt gelegt werden,
da deſſen Vertheidigungsſchrift, die ich doch nicht veranlaſſen konnte,
eine Beleuchtung Ihrerſeits verlangte. Wenn ich nicht ſofort auf
die Erledigung des von Ihnen beantragten Gegenſtandes einging,
ſo mußten Sie wohl aus der Überraſchung, welche ich Ihrer Mit¬
theilung entgegenbrachte, als Sie mir Ihren bereits gethanen
Schritt gegen Uſedom anzeigten, darauf vorbereitet ſein. Es waren
Mitte Januar, als Sie mir dieſe Anzeige machten, kaum drei
Monate verfloſſen, ſeitdem die La Marmora'ſche Episode ſich an¬
fing zu beruhigen, ſo daß meine Ihnen im Sommer geſchriebene
Anſicht über Uſedoms Verbleiben in Turin noch dieſelbe war.
Die mir unter dem 14. Februar gemachten Mittheilungen über
Uſedoms Geſchäfts-Betrieb, der ſeine Enthebung vom Amte nun¬
mehr erfordere, wenn nicht eine disciplinar Unterſuchung gegen ihn
verhängt werden ſolle, ließ ich einige Tage ruhen, da mir in¬
1)
Unterſtaatsſekretär im Miniſterium des Innern.
[208/0235]
Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.
zwiſchen die Mittheilung geworden war, daß Keudell mit Ihrem
Vorwiſſen Uſedom aufgefordert, einen Schritt entgegen zu thun.
Und dennoch, ehe noch eine Antwort aus Turin anlangte, befragte
ich Sie ſchon am 21. Februar, wie Sie Sich die Wiederbeſetzung
dieſes Geſandtſchaftspoſtens dächten, womit ich alſo ausſprach, daß
ich auf die Vacantwerdung deſſelben einginge. Und dennoch thaten
Sie ſchon am 22. d. M. den entſcheidenden Schritt gegen Wehr¬
mann, zu welchem die Uſedomiade mit Veranlaſſung ſein ſollte.
Eine andre Veranlaſſung wollen Sie in dem Umſtande finden,
daß ich nach Empfang des Staatsminiſterialberichts in der An¬
gelegenheit Fa/M, vor Feſtſtellung meiner Anſicht, nicht noch Ein¬
mal Ihren Vortrag verlangt hätte. Da aber Ihre und der
Staatsminiſter Gründe ſo entſcheidend durch Vorlage des Geſetz¬
entwurfs und den Begleitungsbericht dargelegt waren, ja, meine
Unterſchrift in derſelben Stunde verlangt wurde, als mir dieſe
Vorlage gemacht ward, um ſie ſofort in die Kammer zu bringen,
ſo ſchien mir nochmaliger Vortrag nicht angezeigt, um meine An¬
ſicht und Abſicht feſtzuſtellen. Wäre mir, bevor im Staats-
Miniſterium dieſer in der Fa/M Frage einzuſchlagende Weg, der
ganz von meiner früheren Kundgebung abwich, feſtgeſtellt wurde,
Vortrag gehalten worden *), ſo würde durch Idéen Aus¬
tauſch ein Ausweg aus den verſchiedenen Auffaſſungen erzielt
worden ſein und die Divergenz und der Mangel des Zu¬
ſammenwirkens, das Umarbeiten ꝛc., was Sie mit Recht ſo ſehr
bedauern, zu vermeiden geweſen. Alles was Sie bei dieſer Ge¬
legenheit über die Schwierigkeit des Imgangehaltens der constitutio¬
nellen Staatsmaſchine ſagen u. ſ. w., unterſchreibe ich durchaus, nur
kann ich die Anſicht nicht gelten laſſen, daß mein ſo nöthiges
Vertrauen zu Ihnen und den anderen Räthen der Krone mangele.
Sie ſelbſt ſagen, daß es zum erſtenmal vorkomme ſeit 1862, daß
eine Différenz eingetreten ſei zwiſchen uns, und das ſollte genügen
*)
Dazu wäre Freiheit der Zeit erforderlich geweſen.
[209/0236]
Uſedomiana. Das Entlaſſungsgeſuch von 1869.
als Beweis, daß ich kein Vertrauen zu meinen Regierungs Organen
mehr hätte? Niemand ſchlägt das Glück höher an als ich, daß in
einer 6jährigen ſo bewegten Zeit dergleichen Différenzen nicht
eingetreten ſind; aber wir ſind dadurch verwöhnt worden — ſo
daß der jetzige Moment, mehr als gerechtfertigt iſt, ein Ebranle¬
ment erzeugt. Ja, kann ein Monarch ſeinem Premier ein größeres
Vertrauen beweiſen als ich, der Ihnen zu ſo verſchiedenen Malen
und nun auch jetzt zuletzt noch privat Briefe zuſendet, die über
momentan ſchwebende Fragen ſprechen, damit Sie ſich überzeugen,
daß ich nichts der Art hinter Ihrem Rücken betreibe? Wenn ich
Ihnen den Brief des Grls von Manteuffel in der Memeler
Angelegenheit *)ſendete, weil er mir ein Novum zu enthalten
ſchien und ich deshalb Ihre Anſicht hören wollte, wenn ich Ihnen
Grls von Boyen Brief mittheilte, ebenſo einige Zeitungsaus¬
ſchnitte, bemerkend, daß dieſe Piècen genau das wiedergäben,
was ich unverändert ſeit Jahr und Tag überall und offiziel
ausgeſprochen hätte — ſo ſollte ich glauben, daß ich mein Ver¬
trauen kaum ſteigern könnte. Daß ich aber überhaupt mein Ohr
den Stimmen verſchließen ſollte, die in gewiſſen gewichtigen Augen¬
blicken ſich vertrauensvoll an mich wenden, das werden Sie ſelbſt
nicht verlangen.
Wenn ich hier einige der Punkte heraushebe, die Ihr Schrei¬
ben als Gründe anführt, die Ihre jetzige Gemüthsſtimmung her¬
beiführten, während ich andere unerörtert ließ, ſo komme ich noch
auf Ihre eigne Aeußerung zurück, daß Sie Ihre Stimmung eine
krankhafte nennen; Sie fühlen ſich müde, erſchöpft, Sehnſucht nach
Ruhe beſchleicht Sie. Das alles verſtehe ich vollkommen, denn
ich fühle es Ihnen nach; kann und darf ich deshalb daran denken
mein Amt niederzulegen? Ebenſo wenig dürfen Sie es. Sie
gehören Sich nicht allein, Sich ſelbſt an; Ihre Existenz iſt mit der
*)
Es handelte ſich um die Eiſenbahn Memel-Tilſit. Der König war
durch einen Brief des Generals von Manteuffel beſtimmt worden, von einer
auf Vortrag der Reſſortminiſter getroffenen Entſcheidung wieder abzugehen.
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 14
[210/0237]
Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.
Geſchichte Preußens, Deutſchlands, Europas zu eng verbunden, als
daß Sie ſich von einem Schauplatz zurückziehen dürfen, den Sie
mit ſchaffen halfen. Aber damit Sie ſich dieſer Schöpfung auch
ganz widmen können, müſſen Sie ſich Erleichterung der Arbeit
verſchaffen und bitte ich Sie inſtändigſt mir dieſerhalb Vorſchläge
zu machen. So ſollten Sie ſich von den Staats-Miniſterial-
Sitzungen losmachen, wenn gewöhnliche Dinge verhandelt werden.
Delbrück ſteht Ihnen ſo getreu zur Seite, daß er Ihnen Manches
abnehmen könnte. Réduciren Sie Ihre Vorträge bei mir auf das
Wichtigſte u. ſ. w. Vor Allem aber zweifeln Sie nie an meinem
unveränderten Vertrauen und an meiner unauslöſchlichen Dank¬
barkeit!
Ihr
Wilhelm.“
Uſedom wurde zur Diſpoſition geſtellt. Se. Majeſtät überwand
in dieſem Falle die Tradition der Verwaltung des Königlichen Haus¬
vermögens ſo weit, daß er ihm die finanzielle Differenz zwiſchen
dem amtlichen Einkommen und dem Wartegelde aus der Privat¬
chatoulle regelmäßig zahlen ließ.
IV.
Ich kehre zu dem Geſpräche mit dem Regenten zurück. Nach¬
dem ich mich über den bundeſtäglichen Poſten geäußert, ging ich
auf die Geſammtſituation über und ſagte: „Ew. K. H. haben im
ganzen Miniſterium keine einzige ſtaatsmänniſche Capacität, nur
Mittelmäßigkeiten, beſchränkte Köpfe.“
Der Regent: „Halten Sie Bonin für einen beſchränkten Kopf?“
Ich: „Das nicht; aber er kann nicht ein Schubfach in Ordnung
halten, viel weniger ein Miniſterium. Und Schleinitz iſt ein Höf¬
ling, kein Staatsmann.“
Der Regent empfindlich: „Halten Sie mich etwa für eine
[211/0238]
Das Miniſterium der Neuen Aera.
Schlafmütze? Mein auswärtiger Miniſter und mein Kriegsminiſter
werde ich ſelbſt ſein; das verſtehe ich.“
Ich deprecirte und ſagte: „Heut zu Tage kann der fähigſte Land¬
rath ſeinen Kreis nicht verwalten ohne einen intelligenten Kreis¬
ſekretär und wird immer auf einen ſolchen halten; die preußiſche
Monarchie bedarf des Analogen in viel höherm Maße. Ohne
intelligente Miniſter werden Ew. K. H. in dem Ergebniß keine
Befriedigung finden. Das Innere berührt mich weniger; aber
wenn ich an Schwerin denke, ſo habe ich auch meine Sorgen. Er
iſt ehrlich und tapfer und würde, wenn er Soldat wäre, wie ſein
Vorfahr bei Prag fallen; aber ihm fehlt die Beſonnenheit. Sehn
Ew. K. H. ſein Profil an; dicht über den Augenbrauen ſpringt
die Schnelligkeit der Conception hervor, die Eigenſchaft, welche die
Franzoſen mit primesautier bezeichnen, aber darüber fehlt die
Stirn, in welcher die Phrenologen die Beſonnenheit ſuchen.
Schwerin iſt ein Staatsmann ohne Augenmaß und hat mehr
Fähigkeit einzureißen als aufzubauen.“
Die Beſchränktheit der Uebrigen gab mir der Prinz zu. Im
Ganzen blieb er bei dem Beſtreben, mir meine Miſſion nach Peters¬
burg im Lichte einer Auszeichnung erſcheinen zu laſſen, und machte
mir den Eindruck, als fühle er eine Erleichterung, daß auf dieſe
Weiſe die auch für ihn unerfreuliche Frage meiner Verſetzung durch
meine Initiative der Beſprechung erledigt war. Die Audienz endete
in gnädiger Form auf Seiten des Regenten und auf meiner Seite
mit dem Gefühl ungetrübter Anhänglichkeit an den Herrn und
geſteigerter Geringſchätzung gegen die Streber, deren von der
Prinzeſſin unterſtützten Einflüſſen er damals unterlag.
In der neuen Aera hatte die hohe Frau zunächſt ein Miniſterium
vor ſich, als deſſen Begründerin und Patronin ſie ſich anſehn
durfte. Aber auch unter dieſem Cabinet blieb ihr Einfluß nicht
dauernd gouvernemental, ſondern gewann bald die Natur einer
Begünſtigung derjenigen Miniſter, welche der oberſten Staatsleitung
unbequem waren. Am meiſten war dies vielleicht der Graf
[212/0239]
Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.
Schwerin, beeinflußt von dem nachmaligen Oberbürgermeiſter Winter
in Danzig und andern liberalen Beamten. Er trieb die miniſterielle
Unabhängigkeit gegen den Regenten ſo weit, daß er ſchriftliche Be¬
fehle ſchriftlich damit erledigend beantwortete, dieſelben ſeien nicht
contraſignirt. Als das Miniſterium den Regenten einmal zu einer
ihm widerwärtigen Unterſchrift genöthigt hatte, leiſtete er dieſelbe
in unlesbarer Geſtalt und zerſtampfte die Feder darauf. Graf
Schwerin ließ eine zweite Reinſchrift machen und beſtand auf einer
leſerlichen Unterſchrift. Der Regent unterſchrieb nun wie gewöhnlich,
knüllte aber das Blatt zuſammen und warf es in die Ecke, aus
der es hervorgeholt und, nachdem es geglättet, zu den Acten ge¬
nommen wurde. Auch an meinem Abſchiedsgeſuche von 1877 war
zu ſehn, daß der Kaiſer es zum Knäul geballt hatte, bevor er
darauf antwortete.
V.
Ich wurde am 29. Januar 1859 zum Geſandten in Peters¬
burg ernannt, verließ Frankfurt aber erſt am 6. März und ver¬
weilte bis zum 23. deſſelben Monats in Berlin. Während dieſer
Zeit hatte ich Gelegenheit, von der Verwendung der öſtreichiſchen
geheimen Fonds, der ich bis dahin nur in der Preſſe begegnet
war, einen praktiſchen Eindruck zu gewinnen. Der Bankier Levin¬
ſtein, welcher ſeit Jahrzehnten bei meinen Vorgeſetzten und in deren
vertraulichen Aufträgen in Wien und Paris mit den Leitern der
auswärtigen Politik und mit dem Kaiſer Napoleon in Perſon
verkehrt hatte, richtete am Morgen des Tages, auf den meine
Abreiſe feſtgeſetzt war, das nachſtehende Schreiben an mich:
„Ew. Excellenz erlaube ich mir noch hiemit ganz ergebenſt
gutes Glück zu Ihrer Reiſe und Ihrer Miſſion zu wünſchen, hoffend,
daß wir Sie bald wieder hier begrüßen werden, da Sie im Vater¬
lande wohl nützlicher zu wirken vermögen, als in der Ferne.
[213/0240]
Ernennung nach Petersburg. Levinſtein.
Unſre Zeit bedarf der Männer, bedarf Thatkraft, das wird
man hier vielleicht etwas zu ſpät einſehen. Aber die Ereigniſſe in
unſrer Zeit gehen raſch, und ich fürchte, daß für die Dauer doch
der Friede kaum zu erhalten ſein wird, wie man auch für einige
Monate kitten wird.
Ich habe heut eine kleine Operation gemacht, die, wie ich
hoffe, gute Früchte tragen ſoll, ich werde ſpäter die Ehre haben,
ſie Ihnen mitzutheilen. —
In Wien iſt man ſehr unbehaglich wegen Ihrer Peters¬
burger Miſſion, weil man Sie für principiellen Gegner hält.
Sehr gut wäre es, dort ausgeſöhnt zu ſein, weil doch früher
oder ſpäter jene Mächte ſich mit uns gut verſtehen werden.
Wollen Ew. Excellenz nur in einigen beliebigen Zeilen an
mich ſagen, daß Sie perſönlich nicht gegen Oeſterreich ein¬
genommen ſind, ſo würde das von unberechenbarem Nutzen ſein.
— Herr von Manteuffel ſagt immer, ich ſei zähe in der Ausführung
einer Idee und ruhe nicht, bis ich zum Ziele gekommen — doch fügte
er hinzu, ich wäre weder ehr- noch geldgeizig. Bis jetzt, Gott ſei
Dank, iſt es mein Stolz, daß noch Niemand aus einer Verbindung
mit mir irgend einen Nachtheil gehabt.
Für die Dauer Ihrer Abweſenheit biete ich Ihnen meine
Dienſte zur Beſorgung Ihrer Angelegenheiten, ſei es hier oder
ſonſt wo, mit Vergnügen an. Uneigennütziger und redlicher ſollen
Sie gewiß anderswo nicht bedient werden.
Mit aufrichtiger Hochachtung bin ich
Ew. Excellenz
ganz ergebenſter
B. 23./3. 59. Levinſtein.“
Ich ließ den Brief unbeantwortet und erhielt im Laufe des
Tages, vor meiner Abfahrt zum Bahnhofe, im Hôtel Royal, wo
ich logirte, den Beſuch des Herrn Levinſtein. Nachdem er ſich
durch Vorzeigung eines eigenhändigen Einführungsſchreibens des
[214/0241]
Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.
Grafen Buol legitimirt hatte, machte er mir den Vorſchlag zur
Betheiligung an einem Finanzgeſchäft, welches mir „jährlich
20000 Thaler mit Sicherheit“ abwerfen würde. Auf meine Er¬
widerung, daß ich keine Capitalien anzulegen hätte, erfolgte die
Antwort, daß Geldeinſchüſſe zu dem Geſchäft nicht erforderlich
ſeien, ſondern daß meine Einlage darin beſtehn würde, daß ich
mit der preußiſchen auch die öſtreichiſche Politik am ruſſiſchen
Hofe befürwortete, weil die fraglichen Geſchäfte nur gelingen
könnten, wenn die Beziehungen zwiſchen Rußland und Oeſtreich
günſtig wären. Mir war daran gelegen, irgendwelches ſchriftliche
Zeugniß über dieſes Anerbieten in die Hand zu bekommen, um
dadurch dem Regenten den Beweis zu liefern, wie gerechtfertigt
mein Mißtrauen gegen die Politik des Grafen Buol war. Ich
hielt deshalb dem Levinſtein vor, daß ich bei einem ſo bedenk¬
lichen Geſchäft doch eine ſtärkere Sicherheit haben müßte, als ſeine
mündliche Aeußerung, auf Grund der wenigen Zeilen von der
Hand des Grafen Buol, die er an ſich behalten habe. Er wollte
ſich nicht dazu verſtehn, mir eine ſchriftliche Zuſage zu beſchaffen,
erhöhte aber ſein Anerbieten auf 30000 Thaler jährlich. Nachdem
ich mich überzeugt hatte, daß ich ſchriftliches Beweis-Material nicht
erlangen würde, erſuchte ich Levinſtein, mich zu verlaſſen, und
ſchickte mich zum Ausgehn an. Er folgte mir auf die Treppe
unter beweglichen Redensarten über das Thema: „Sehn Sie ſich
vor, es iſt nicht angenehm, die ‚Kaiſerliche Regirung‘ zum Feinde
zu haben.“ Erſt als ich ihn auf die Steilheit der Treppe und auf
meine körperliche Ueberlegenheit aufmerkſam machte, ſtieg er vor
mir ſchnell die Treppe hinab und verließ mich.
Dieſer Unterhändler war mir perſönlich bekannt geworden
durch die Vertrauensſtellung, welche er ſeit Jahren im Auswärtigen
Miniſterium eingenommen, und durch die Aufträge, welche er
von dort für mich zur Zeit Manteuffels erhielt. Er pflegte ſeine
Beziehungen in den untern Stellen durch übermäßige Trink¬
gelder.
[215/0242]
Levinſtein als Vertrauensmann Manteuffels. Corruption.
Als ich Miniſter geworden war und das Verhältniß des Aus¬
wärtigen Amts zu Levinſtein abgebrochen hatte, wurden wiederholt
Verſuche gemacht, daſſelbe wieder in Gang zu bringen, namentlich
von dem Conſul Bamberg in Paris, der mehrmals zu mir kam
und mir Vorwürfe darüber machte, daß ich einen „ſo ausgezeichneten
Mann“, der eine ſolche Stellung an den europäiſchen Höfen habe,
wie Levinſtein, ſo ſchlecht behandeln könnte.
Ich fand auch ſonſt Anlaß, Gewohnheiten, die in dem Aus¬
wärtigen Miniſterium eingeriſſen waren, abzuſtellen. Der lang¬
jährige Portier des Dienſtgebäudes, ein alter Trunkenbold, konnte
als Beamter nicht ohne Weitres entlaſſen werden. Ich brachte
ihn dahin, den Abſchied zu nehmen, durch die Drohung, ihn dafür
zur Unterſuchung zu ziehn, daß er mich „für Geld zeige“, indem
er gegen Trinkgeld Jedermann zu mir laſſe. Seinen Proteſt brachte
ich mit der Bemerkung zum Schweigen: „Haben Sie mir, als ich
Geſandter war, nicht jederzeit Herrn von Manteuffel für einen
Thaler, und, wenn das Verbot beſonders ſtreng war, für zwei Thaler
gezeigt?“ Von meiner eignen Dienerſchaft wurde mir gelegentlich
gemeldet, welche unverhältnißmäßigen Trinkgelder Levinſtein an ſie
verſchwendete. Thätige Agenten und Geldempfänger auf dieſem
Gebiete waren einige von Manteuffel und Schleinitz übernommne
Canzleidiener, unter ihnen ein für ſeine ſubalterne Amtsſtellung
hervorragender Maurer. Graf Bernſtorff hatte während ſeiner
kurzen Amtszeit der Corruption im Auswärtigen Amte kein Ende
machen können, war auch wohl geſchäftlich und gräflich zu ſtark
präoccupirt, um dieſen Dingen nahe zu treten. Ich habe meine
Begegnung mit Levinſtein, meine Meinung über ihn, ſeine Be¬
ziehungen zu dem Auswärtigen Miniſterium ſpäter dem Regenten
mit allen Details zur Kenntniß gebracht, ſobald ich die Möglich¬
keit hatte, dies mündlich zu thun, was erſt Monate ſpäter der
Fall war. Von einer ſchriftlichen Berichterſtattung verſprach ich
mir keinen Erfolg, da die Protection Levinſteins durch Herrn
von Schleinitz nicht blos zum Regenten hinauf, ſondern an die Um¬
[216/0243]
Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.
gebung der Frau Prinzeſſin *)hinan reichte, welche bei ihren Dar¬
ſtellungen der Sachlage keinen Beruf fühlte, die Unterlagen objectiv
zu prüfen, ſondern geneigt war, die Anwaltſchaft für meine Gegner
zu übernehmen.
*)
Vgl. was in dem Proceß gegen den Hofrath Manché, October 1891,
zur Sprache gekommen iſt.
[[217]/0244]
Zehntes Kapitel.
Petersburg .
I.
Es iſt in der Geſchichte der europäiſchen Staaten wohl kaum
noch einmal vorgekommen, daß ein Souverän einer Großmacht
einem Nachbarn dieſelben Dienſte erwieſen hat, wie der Kaiſer
Nicolaus der öſtreichiſchen Monarchie. In der gefährdeten Lage,
in welcher dieſe ſich 1849 befand, kam er ihr mit 150000 Mann
zu Hülfe, unterwarf Ungarn, ſtellte dort die königliche Gewalt wieder
her und zog ſeine Truppen zurück, ohne einen Vortheil oder eine
Entſchädigung zu verlangen, ohne die orientaliſchen und polniſchen
Streitfragen beider Staaten zu erwähnen. Dieſer unintereſſirte
Freundſchaftsdienſt auf dem Gebiet der innern Politik Oeſtreich-
Ungarns wurde von dem Kaiſer Nicolaus in der auswärtigen Politik
in den Tagen von Olmütz auf Koſten Preußens unvermindert fort¬
geſetzt. Wenn er auch nicht durch Freundſchaft, ſondern durch die
Erwägungen kaiſerlich ruſſiſcher Politik beeinflußt war, ſo war es
immerhin mehr, als ein Souverän für einen andern zu thun pflegt,
und nur in einem ſo eigenmächtigen und übertrieben ritterlichen
Autokraten erklärlich. Nicolaus ſah damals auf den Kaiſer Franz
Joſeph als auf ſeinen Nachfolger und Erben in der Führung der
conſervativen Trias. Er betrachtete die letztre als ſolidariſch der
Revolution gegenüber und hatte bezüglich der Fortſetzung der Hege¬
monie mehr Vertrauen zu Franz Joſeph als zu ſeinem eignen Nach¬
[218/0245]
Zehntes Kapitel: Petersburg.
folger. Noch geringer war ſeine Meinung von der Veranlagung
unſres Königs Friedrich Wilhelm für die Führerrolle auf dem Ge¬
biete praktiſcher Politik; er hielt ihn zur Leitung der monarchiſchen
Trias für ſo wenig geeignet wie den eignen Sohn und Nachfolger.
Er handelte in Ungarn und in Olmütz in der Ueberzeugung, daß
er nach Gottes Willen den Beruf habe, der Führer des monarchiſchen
Widerſtandes gegen die von Weſten vordringende Revolution zu ſein.
Er war eine ideale Natur, aber verhärtet in der Iſolirung der ruſ¬
ſiſchen Autokratie, und es iſt wunderbar genug, daß er ſich unter
allen Eindrücken, von den Decabriſten an durch alle folgenden Er¬
lebniſſe hindurch, dieſen idealen Schwung erhalten hatte.
Wie er über ſeine Stellung zu ſeinen Unterthanen empfand,
ergibt ſich aus einer Thatſache, die mir Friedrich Wilhelm IV. ſelbſt
erzählt hat. Der Kaiſer Nicolaus bat ihn um Zuſendung von zwei
Unteroffizieren der preußiſchen Garde, behufs Ausführung gewiſſer
ärztlich vorgeſchriebener Knetungen, die auf dem Rücken des Patienten
vorgenommen werden mußten, während dieſer auf dem Bauche lag.
Er ſagte dabei: „Mit meinen Ruſſen werde ich immer fertig, wenn
ich ihnen in's Geſicht ſehn kann, aber auf den Rücken ohne Augen
möchte ich mir ſie doch nicht kommen laſſen.“ Die Unteroffiziere
wurden in discreter Weiſe geſtellt, verwendet und reich belohnt.
Es zeigt dies, wie trotz der religiöſen Hingebung des ruſſiſchen
Volks für ſeinen Zaren der Kaiſer Nicolaus doch auch dem gemeinen
Manne unter ſeinen Unterthanen ſeine perſönliche Sicherheit unter
vier Augen nicht unbeſchränkt anvertraute; und es iſt ein Zeichen
großer Charakterſtärke, daß er von dieſen Empfindungen ſich bis
an ſein Lebensende nicht niederdrücken ließ. Hätten wir damals
auf dem Throne eine Perſönlichkeit gehabt, die ihm ebenſo ſympathiſch
geweſen wäre wie der junge Kaiſer Franz Joſeph, ſo hätte er viel¬
leicht in dem damaligen Streit um die Hegemonie in Deutſchland
für Preußen ebenſo Partei genommen, wie er es für Oeſtreich
gethan hat. Vorbedingung dazu wäre geweſen, daß Friedrich
Wilhelm IV. den Sieg ſeiner Truppen im März 1848 feſtgehalten
[219/0246]
Nicolaus I. Stellung zu Oeſtreich u. Preußen. Petersburger Geſellſchaft.
und ausgenutzt hätte, was ja möglich war ohne weitre Repreſſionen
derart, wie Oeſtreich ſie in Prag und Wien durch Windiſchgrätz
und in Ungarn durch ruſſiſche Hülfe zu bewirken genöthigt war.
In der Petersburger Geſellſchaft ließen ſich zu meiner Zeit
drei Generationen unterſcheiden. Die vornehmſte, die europäiſch
und claſſiſch gebildeten Grands Seigneurs aus der Regirungszeit
Alexanders I., war im Ausſterben. Zu ihr konnte man noch rechnen
Mentſchikow, Woronzow, Bludow, Neſſelrode und, was Geiſt und
Bildung betrifft, Gortſchakow, deſſen Niveau durch ſeine übertriebene
Eitelkeit etwas herabgedrückt war im Vergleich mit den übrigen
Genannten, Leuten, die claſſiſch gebildet waren, gut und geläufig
nicht nur franzöſiſch, ſondern auch deutſch ſprachen und der crême
europäiſcher Geſittung angehörten.
Die zweite Generation, die mit dem Kaiſer Nicolaus gleich¬
altrig war oder doch ſeinen Stempel trug, pflegte ſich in der Unter¬
haltung auf Hofangelegenheiten, Theater, Avancement und mili¬
täriſche Erlebniſſe zu beſchränken. Unter ihnen ſind als der ältern
Kategorie geiſtig näher ſtehende Ausnahmen zu nennen der alte
Fürſt Orlow, hervorragend an Charakter, Höflichkeit und Zuver¬
läſſigkeit für uns; der Graf Adlerberg Vater und ſein Sohn,
der nachherige Hofmeiſter, mit Peter Schuwalow der einſichtigſte
Kopf, mit dem ich dort in Beziehungen gekommen bin und dem
nur Arbeitſamkeit fehlte, um eine leitende Rolle zu ſpielen; der
Fürſt Suworow, der wohlwollendſte für uns Deutſche, bei dem
der ruſſiſche General nicolaitiſcher Tradition ſtark, aber nicht un¬
angenehm, mit burſchikoſen Reminiſcenzen deutſcher Univerſitäten
verſetzt war; mit ihm dauernd im Streit und doch in gewiſſer
Freundſchaft Tſchewkin, der Eiſenbahn-General, von einer Schärfe
und Feinheit des Verſtändniſſes, wie ſie bei Verwachſenen mit der
ihnen eigenthümlichen klugen Kopfbildung nicht ſelten gefunden wird;
endlich der Baron Peter von Meyendorff, für mich die ſympathiſchſte
Erſcheinung unter den ältern Politikern, früher Geſandter in Berlin,
der nach ſeiner Bildung und der Feinheit ſeiner Formen mehr dem
[220/0247]
Zehntes Kapitel: Petersburg.
alexandriniſchen Zeitalter angehörte und in ihm durch Intelligenz
und Tapferkeit ſich aus der Stellung eines jungen Offiziers in einem
Linienregimente, in dem er die franzöſiſchen Kriege mitgemacht, zu
einem Staatsmanne emporgearbeitet hatte, deſſen Wort bei dem
Kaiſer Nicolaus erheblich in’s Gewicht fiel. Die Annehmlichkeit
ſeines gaſtfreien Hauſes in Berlin wie in Petersburg wurde weſent¬
lich erhöht durch ſeine Gemalin, eine männlich kluge, vornehme,
ehrliche und liebenswürdige Frau, die in noch höherm Grade als
ihre Schweſter, Frau von Vrints in Frankfurt, den Beweis lieferte,
daß in der gräflich Buol’ſchen Familie der erbliche Verſtand ein
Kunkellehn war. Ihr Bruder, der öſtreichiſche Miniſter Graf Vuol,
hatte daran nicht den Antheil geerbt, der zur Leitung der Politik
einer großen Monarchie unentbehrlich iſt. Die beiden Geſchwiſter
ſtanden einander perſönlich nicht näher als die ruſſiſche und die
öſtreichiſche Politik. Als ich 1852 in beſondrer Miſſion in Wien
beglaubigt war, war das Verhältniß zwiſchen ihnen noch derart,
daß Frau von Meyendorff geneigt war, mir das Gelingen meiner
für Oeſtreich freundlichen Miſſion zu erleichtern, wofür ohne Zweifel
die Inſtructionen ihres Gemals maßgebend waren. Der Kaiſer
Nicolaus wünſchte damals unſre Verſtändigung mit Oeſtreich. Als
ein oder zwei Jahre ſpäter, zur Zeit des Krimkriegs, von meiner
Ernennung nach Wien die Rede war, fand das Verhältniß zwiſchen
ihr und ihrem Bruder in den Worten Ausdruck: ſie hoffe, daß ich
nach Wien kommen und „dem Karl ein Gallenfieber anärgern würde“.
Frau von Meyendorff war als Frau ihres Gemals patriotiſche
Ruſſin und würde auch ohnedies ſchon nach ihrem perſönlichen Ge¬
fühl die feindſelige und undankbare Politik nicht gebilligt haben,
zu welcher Graf Buol Oeſtreich bewogen hatte.
Die dritte Generation, die der jungen Herrn, zeigte in ihrem
geſellſchaftlichen Auftreten meiſt weniger Höflichkeit, mitunter ſchlechte
Manieren und in der Regel ſtärkere Abneigung gegen deutſche, ins¬
beſondre preußiſche Elemente, als die beiden ältern Generationen.
Wenn man, des Ruſſiſchen unkundig, ſie deutſch anredete, ſo waren
[221/0248]
Die Petersburger Geſellſchaft. Der Monsieur décoré in Petersburg.
ſie geneigt, ihre Kenntniß dieſer Sprache zu verleugnen, unfreund¬
lich oder garnicht zu antworten und Civiliſten gegenüber unter
das Maß von Höflichkeit herabzugehn, welches ſie in den Uniform
oder Orden tragenden Kreiſen untereinander beobachteten. Es war
eine zweckmäßige Einrichtung der Polizei, daß die Dienerſchaft der
Vertreter auswärtiger Regirungen durch Treſſen und das der
Diplomatie vorbehaltene Coſtüm eines Livree-Jägers gekennzeichnet
war. Die Angehörigen des diplomatiſchen Corps würden ſonſt,
da ſie nicht die Gewohnheit hatten, auf der Straße Uniform oder
Orden zu tragen, ſowohl von der Polizei als von Mitgliedern der
höhern Geſellſchaft denſelben zu Conflicten führenden Unannehm¬
lichkeiten ausgeſetzt geweſen ſein, welche ein ordensloſer Civiliſt,
der nicht als vornehmer Mann bekannt war, im Straßenverkehr
und auf Dampfſchiffen leicht erleben konnte.
In dem Napoleoniſchen Paris habe ich dieſelbe Beobachtung
gemacht 1). Wenn ich länger dort gewohnt hätte, ſo würde ich mich
haben daran gewöhnen müſſen, nach franzöſiſcher Sitte mich nicht ohne
Andeutung einer Decoration auf der Straße zu Fuß zu bewegen.
Ich habe auf den Boulevards erlebt, daß bei einer Feſtlichkeit
einige hundert Menſchen ſich weder vorwärts noch rückwärts be¬
wegen konnten, weil ſie infolge mangelhafter Anordnung zwiſchen
zwei in verſchiedner Richtung marſchirende Truppentheile gerathen
waren, und daß die Polizei, welche das Hemmniß nicht wahr¬
genommen hatte, auf dieſe Maſſe gewaltthätig mit Fauſtſchlägen
und den in Paris ſo üblichen coups de pied einſtürmte, bis ſie
auf einen „Monsieur décoré“ ſtieß. Das rothe Bändchen bewog
die Poliziſten, die Proteſtationen des Trägers wenigſtens anzu¬
hören und ſich endlich überzeugen zu laſſen, daß der anſcheinend
widerſpenſtige Volkshaufe zwiſchen zwei Truppentheilen eingeklemmt
war und deshalb nicht ausweichen konnte. Der Führer der auf¬
geregten Poliziſten zog ſich durch den Scherz aus der Affaire, daß
1)
S. o. S. 81.
[222/0249]
Zehntes Kapitel: Petersburg.
er, auf die bis dahin von ihm nicht bemerkten, im pas gymnastique
defilirenden chasseurs de Vincennes deutend, ſagte: „Eh bien, il
faut enfoncer ça!“ Das Publikum, einſchließlich der Mißhandelten,
lachte, die von Thätlichkeiten Verſchonten entfernten ſich mit einem
dankbaren Gefühl für den décoré, deſſen Anweſenheit ſie ge¬
rettet hatte.
Auch in Petersburg würde ich es für zweckmäßig gehalten
haben, auf der Straße die Andeutung eines höhern ruſſiſchen
Ordens zu tragen, wenn die großen Entfernungen es nicht mit ſich
gebracht hätten, daß man ſich in den Straßen mehr zu Wagen
mit Treſſenlivree als zu Fuße zeigte. Schon zu Pferde, wenn in
Civil und ohne Reitknecht, lief man Gefahr, von den durch ihr
Coſtüm kenntlichen Kutſchern der höhern Würdenträger wörtlich
und thätlich angefahren zu werden, wenn man mit ihnen in un¬
vermeidliche Berührung gerieth; und wer hinreichend Herr ſeines
Pferdes war und eine Gerte in der Hand hatte, that wohl, ſich
bei ſolchen Conflicten als gleichberechtigt mit dem Inſaſſen des
Wagens zu legitimiren. Von den wenigen Reitern in der Um¬
gebung von Petersburg konnte man in der Regel annehmen, daß
ſie deutſche und engliſche Kaufleute waren und in dieſer ihrer
Stellung ärgerliche Berührungen nach Möglichkeit vermieden und
lieber ertrugen, als ſich bei den Behörden zu beſchweren. Offiziere
machten nur in ganz geringer Zahl von den guten Reitwegen
auf den Inſeln und weiter außerhalb der Stadt Gebrauch, und
die es thaten, waren in der Regel deutſchen Herkommens. Das
Bemühn höhern Ortes, den Offizieren mehr Geſchmack am Reiten
beizubringen, hatte keinen dauernden Erfolg und bewirkte nur,
daß nach einer jeden Anregung derart die kaiſerlichen Equipagen
einige Tage lang mehr Reitern als gewöhnlich begegneten. Eine
Merkwürdigkeit war es, daß als die beſten Reiter unter den
Offizieren die beiden Admiräle anerkannt waren, der Großfürſt
Conſtantin und der Fürſt Mentſchikow.
Auch abgeſehn von der Reiterei mußte man wahrnehmen, daß
[223/0250]
Petersburger Straßenleben. Geſellſchaftlicher Ton.
in guten Manieren und geſellſchaftlichem Tone die jüngere zeit¬
genöſſiſche Generation zurück ſtand gegen die vorhergehende des
Kaiſers Nicolaus und beide wieder in europäiſcher Bildung und
Geſammterziehung gegen die alten Herrn aus der Zeit Alexanders I.
Deſſenungeachtet blieb innerhalb der Hofkreiſe und der „Geſellſchaft“
der vollendete gute Ton in Geltung und in den Häuſern der Ari¬
ſtokratie, namentlich ſo weit in dieſen die Herrſchaft der Damen
reichte. Aber die Höflichkeit der Formen verminderte ſich erheblich,
wenn man mit jüngern Herrn in Situationen gerieth, welche nicht
durch den Einfluß des Hofes oder vornehmer Frauen controllirt waren.
Ich will nicht entſcheiden, wie weit das Wahrgenommne aus einer
ſocialen Reaction der jüngern Geſellſchaftsſchicht gegen die früher
wirkſam geweſenen deutſchen Einflüſſe oder aus einem Sinken der
Erziehung in der jüngern ruſſiſchen Geſellſchaft ſeit der Epoche
des Kaiſers Alexander I. zu erklären iſt, vielleicht auch aus der
Contagion, welche die ſociale Entwicklung der Pariſer Kreiſe auf
die der höhern ruſſiſchen Geſellſchaft auszuüben pflegt. Gute
Manieren und vollkommne Höflichkeit ſind in den herrſchenden
Kreiſen von Frankreich außerhalb des Faubourg St. Germain heut
nicht mehr ſo verbreitet, wie es früher der Fall war, und wie ich
ſie in Berührung mit ältern Franzoſen und mit franzöſiſchen und
noch gewinnender bei ruſſiſchen Damen jeden Alters kennen gelernt
habe. Da übrigens meine Stellung in Petersburg mich nicht zu
einem intimen Verkehr mit der jüngſten erwachſenen Generation
nöthigte, ſo habe ich von meinem dortigen Aufenthalt nur die an¬
genehme Erinnerung behalten, welche ich der Liebenswürdigkeit des
Hofes, der ältern Herrn und der Damen der Geſellſchaft verdanke.
Die antideutſche Stimmung der jüngern Generation hat ſich
demnächſt mir und Andern auch auf dem Gebiete der politiſchen
Beziehungen zu uns fühlbar gemacht, in verſtärktem Maße, ſeit
mein ruſſiſcher College, Fürſt Gortſchakow, ſeine ihn beherrſchende
Eitelkeit auch mir gegenüber herauskehrte. So lange er das Gefühl
hatte, in mir einen jüngern Freund zu ſehn, an deſſen politiſcher
[224/0251]
Zehntes Kapitel: Petersburg.
Erziehung er einen Antheil beanſpruchte, war ſein Wohlwollen für
mich unbegrenzt, und die Formen, in denen er mir Vertrauen zeigte,
überſchritten die unter Diplomaten zuläſſige Grenze, vielleicht aus
Berechnung, vielleicht aus Oſtentation einem Collegen gegenüber,
an deſſen bewunderndes Verſtändniß mir gelungen war ihn glauben
zu machen. Dieſe Beziehungen wurden unhaltbar, ſobald ich als
preußiſcher Miniſter ihm die Illuſion ſeiner perſönlichen und ſtaat¬
lichen Ueberlegenheit nicht mehr laſſen konnte. Hinc irae. Sobald
ich ſelbſtändig als Deutſcher oder Preuße oder als Rival im
europäiſchen Anſehn und in der geſchichtlichen Publiciſtik aufzutreten
begann, verwandelte ſich ſein Wohlwollen in Mißgunſt.
Ob dieſe Wandlung erſt nach 1870 begann oder ob ſie ſich
vor dieſem Jahre meiner Wahrnehmung entzogen hatte, laſſe ich
dahingeſtellt. Wenn Erſtres der Fall war, ſo kann ich als ein
achtbares und für einen ruſſiſchen Kanzler berechtigtes Motiv den
Irrthum der Berechnung in Anſchlag bringen, daß die Entfremdung
zwiſchen uns und Oeſtreich auch nach 1866 dauernd fortbeſtehn
werde. Wir haben 1870 der ruſſiſchen Politik bereitwillig bei¬
geſtanden, um ſie im Schwarzen Meere von den Beſchränkungen
zu löſen, welche der Pariſer Vertrag ihr auferlegt hatte. Dieſelben
waren unnatürlich, und das Verbot der freien Bewegung an der
eignen Meeresküſte war für eine Macht wie Rußland auf die Dauer
unerträglich, weil demüthigend. Außerdem lag und liegt es nicht
in unſerm Intereſſe, Rußland in der Verwendung ſeiner über¬
ſchüſſigen Kräfte nach Oſten hin hinderlich zu ſein; wir ſollen froh
ſein, wenn wir in unſrer Lage und geſchichtlichen Entwicklung in
Europa Mächte finden, mit denen wir auf keine Art von Con¬
currenz der politiſchen Intereſſen angewieſen ſind, wie das zwiſchen
uns und Rußland bisher der Fall iſt. Mit Frankreich werden wir
nie Frieden haben, mit Rußland nie die Nothwendigkeit des Krieges,
wenn nicht liberale Dummheiten oder dynaſtiſche Mißgriffe die
Situation fälſchen.
[225/0252]
Gortſchakow als Gönner und Gegner. Kaiſerliche Gaſtlichkeit.
II.
Wenn ich in Petersburg auf einem der kaiſerlichen Schlöſſer
Sarskoe oder Peterhof anweſend war, auch nur, um mit dem da¬
ſelbſt in Sommerquartier lebenden Fürſten Gortſchakow zu con¬
feriren, ſo fand ich in der mir angewieſenen Wohnung im Schloſſe
für mich und einen Begleiter ein Frühſtück von mehren Gängen
angerichtet, mit drei oder vier Sorten hervorragend guter Weine;
andre ſind mir in der kaiſerlichen Verpflegung überhaupt niemals
vorgekommen. Gewiß wurde in dem Haushalte viel geſtohlen, aber
die Gäſte des Kaiſers litten darunter nicht; im Gegentheil, ihre
Verpflegung war auf reiche Broſamen für den „Dienſt“ berechnet.
Keller und Küche waren abſolut einwandsfrei, auch in Vorkomm¬
niſſen, wo ſie uncontrollirt blieben. Vielleicht hatten die Beamten,
denen die nicht getrunknen Weine verblieben, durch lange Er¬
fahrung ſchon einen zu durchgebildeten Geſchmack gewonnen, um
Unregelmäßigkeiten zu dulden, unter denen die Qualität der
Lieferung gelitten hätte. Die Preiſe der Lieferungen waren nach
allem, was ich erfuhr, allerdings gewaltig hoch. Von der Gaſt¬
freiheit des Haushalts bekam ich eine Vorſtellung, wenn meine
Gönnerin, die Kaiſerin-Witwe Charlotte, Schweſter unſers Königs,
mich einlud. Dann waren für die mit mir eingeladnen Herrn der
Geſandſchaft zwei, und für mich drei Diners der kaiſerlichen Küche
entnommen. In meinem Quartier wurden für mich und meine
Begleiter Frühſtücke und Diners angerichtet und berechnet, wahr¬
ſcheinlich auch gegeſſen und getrunken, als ob meine und der
Meinigen Einladung zu der Kaiſerin gar nicht erfolgt ſei. Das
Couvert für mich wurde einmal in meinem Quartier mit allem
Zubehör auf- und abgetragen, das zweite Mal an der Tafel der
Kaiſerin in Gemeinſchaft mit denen meiner Begleiter aufgelegt,
und auch dort kam ich mit ihm nicht in Berührung, da ich vor
dem Bette der kranken Kaiſerin ohne meine Begleiter in kleiner
Geſellſchaft zu ſpeiſen hatte. Bei ſolchen Gelegenheiten pflegte die
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 15
[226/0253]
Zehntes Kapitel: Petersburg.
damals in der erſten Blüthe jugendlicher Schönheit ſtehende Prin¬
zeſſin Leuchtenberg, ſpäter Gemalin des Prinzen Wilhelm von
Baden, an Stelle ihrer Großmutter mit der ihr eignen Grazie
und Heiterkeit die Honneurs zu machen. Auch erinnere ich mich,
daß bei einer andern Gelegenheit eine vierjährige Großfürſtin ſich
um den Tiſch von vier Perſonen bewegte und ſich weigerte, einem
hohen General die gleiche Höflichkeit wie mir zu erweiſen. Es
war mir ſehr ſchmeichelhaft, daß dieſes großfürſtliche Kind auf die
großmütterliche Vorhaltung antwortete: in Bezug auf mich: on
milü (er iſt lieb), in Bezug auf den General aber hatte ſie die
Naivität, zu ſagen: on wonajet (er ſtinkt), worauf das großfürſt¬
liche enfant terrible entfernt wurde.
Es iſt vorgekommen, daß preußiſche Offiziere, welche lange in
einem der kaiſerlichen Schlöſſer wohnten, von ruſſiſchen guten
Freunden vertraulich befragt wurden, ob ſie wirklich ſo viel Wein
u. dergl. verbrauchten, wie für ſie entnommen werde; dann würde
man ſie um ihre Leiſtungsfähigkeit beneiden und ferner dafür ſorgen.
Dieſe vertrauliche Erkundigung traf auf Herrn von ſehr mäßigen
Gewohnheiten, mit ihrem Einverſtändniſſe wurden die von ihnen
bewohnten Gemächer unterſucht: in Wandſchränken, mit denen
ſie unbekannt waren, fanden ſich zurückgelegte Vorräthe hoch¬
werthiger Weine und ſonſtiger Bedürfniſſe in Maſſen.
Bekannt iſt, daß dem Kaiſer einmal das ungewöhnliche Quantum
von Talg aufgefallen war, welches jedes Mal in den Rechnungen
erſchien, wenn der Prinz von Preußen zum Beſuche dort war, und
daß ſchließlich ermittelt wurde, daß er bei ſeinem erſten Beſuche
ſich durchgeritten und am Abend das Verlangen nach etwas Talg
geſtellt hatte. Das verlangte Loth dieſes Stoffes hatte ſich bei
ſpätern Beſuchen in Pud verwandelt. Die Aufklärung erfolgte
zwiſchen den hohen Herrſchaften perſönlich und hatte eine Heiter¬
keit zur Folge, welche den betheiligten Sündern zu Gute kam.
Von einer andern ruſſiſchen Eigenthümlichkeit gab es bei
meiner erſten Anweſenheit in Petersburg 1859 eine Probe. In
[227/0254]
Ein enfant terrible. Ruſſiſche Unterſchleife. Ruſſiſche Beharrlichkeit.
den erſten Tagen des Frühlings machte damals die zum Hofe ge¬
hörige Welt ihren Spaziergang in dem Sommergarten zwiſchen
dem Pauls-Palais und der Newa. Dort war es dem Kaiſer auf¬
gefallen, daß in der Mitte eines Raſenplatzes ein Poſten ſtand.
Da der Soldat auf die Frage, weshalb er da ſtehe, nur die Aus¬
kunft zu geben wußte: es iſt befohlen, ſo ließ ſich der Kaiſer durch
ſeinen Adjutanten auf der Wache erkundigen, erhielt aber auch
keine andre Aufklärung, als daß der Poſten Winter und Sommer
gegeben werde. Der urſprüngliche Befehl ſei nicht mehr zu er¬
mitteln. Die Sache wurde bei Hofe zum Tagesgeſpräch und ge¬
langte auch zur Kenntniß der Dienerſchaft. Aus dieſer meldete
ſich ein alter Penſionär und gab an, daß ſein Vater ihm gelegent¬
lich im Sommergarten geſagt habe, während ſie an der Schild¬
wache vorbeigegangen: „Da ſteht er noch immer und bewacht die
Blume; die Kaiſerin Katharina hat an der Stelle einmal ungewöhn¬
lich früh im Jahre ein Schneeglöckchen wahrgenommen und be¬
fohlen, man ſolle ſorgen, daß es nicht abgepflückt werde.“ Dieſer
Befehl war durch Aufſtellung einer Schildwache zur Ausführung
gebracht worden, und ſeitdem hatte der Poſten Jahr aus Jahr ein
geſtanden. Dergleichen erregt unſre Kritik und Heiterkeit, iſt aber
ein Ausdruck der elementaren Kraft und Beharrlichkeit, auf denen
die Stärke des ruſſiſchen Weſens dem übrigen Europa gegenüber
beruht. Man erinnert ſich dabei der Schildwachen, die während
der Ueberſchwemmung in Petersburg 1825, im Schipka-Paſſe 1877
nicht abgelöſt wurden, und von denen die Einen ertranken, die
Andern auf ihren Poſten erfroren.
III.
Während des italieniſchen Krieges glaubte ich noch an die
Möglichkeit, in der Stellung eines Geſandten in Petersburg, wie
ich es von Frankfurt aus mit wechſelndem Erfolge verſucht hatte,
[228/0255]
Zehntes Kapitel: Petersburg.
auf die Entſchließungen in Berlin einwirken zu können, ohne mir
klar zu machen, daß die übermäßigen Anſtrengungen, die ich mir
zu dieſem Zwecke in meiner Berichterſtattung auferlegte, ganz
fruchtlos ſein mußten, weil meine Immediatberichte und meine in
Form eigenhändiger Briefe gefaßten Mittheilungen entweder gar¬
nicht zur Kenntniß des Regenten gelangten oder mit Commentaren,
die jeden Eindruck hinderten. Meine Ausarbeitungen hatten außer
einer Complicirung der Krankheit, in welche ich durch ärztliche Ver¬
giftung gefallen war, nur die Folge, daß die Genauigkeit meiner
Berichte über die Stimmungen des Kaiſers verdächtigt wurde, und
um mich zu controlliren, der Graf Münſter, früher Militärbevoll¬
mächtigter in Petersburg, dorthin geſchickt wurde. Ich war im
Stande, dem mir befreundeten Inſpicienten zu beweiſen, daß
meine Meldungen auf der Einſicht eigenhändiger Bemerkungen des
Kaiſers am Rande der Berichte ruſſiſcher Diplomaten beruhten, die
Gortſchakow mir vorgelegt hatte, und daneben auf mündlichen Mit¬
theilungen perſönlicher Freunde, die ich in dem Cabinet und am
Hofe beſaß. Die eigenhändigen Marginalien des Kaiſers waren
mir vielleicht mit berechneter Indiscretion vorgelegt worden, damit
ihr Inhalt auf dieſem weniger verſtimmenden Wege nach Berlin
gelangen ſollte.
Dieſe und andre Formen, in denen ich von beſonders wichtigen
Mittheilungen Kenntniß erhielt, ſind charakteriſtiſch für die damaligen
politiſchen Schachzüge. Ein Herr, welcher mir gelegentlich eine
ſolche vertraute, wandte ſich beim Abſchiede in der Thür um und
ſagte: „Meine erſte Indiscretion nöthigt mich zu einer zweiten.
Sie werden die Sache natürlich nach Berlin melden, benutzen Sie
aber dazu nicht Ihren Chiffre Nr. ſo und ſo, den beſitzen wir ſeit
Jahren, und nach Lage der Dinge würde man bei uns auf mich
als Quelle ſchließen. Außerdem werden Sie mir den Gefallen
thun, den compromittirten Chiffre nicht plötzlich fallen zu laſſen,
ſondern ihn noch einige Monate lang zu unverfänglichen Tele¬
grammen zu benutzen.“ Damals glaubte ich zu meiner Beruhigung
[229/0256]
Ohne Einfluß in Berlin. Das Briefgeheimniß in Rußland u. Oeſtreich.
aus dieſem Vorgange die Wahrſcheinlichkeit zu entnehmen, daß nur
dieſer eine unſrer Chiffres ſich im ruſſiſchen Beſitze befand. Die
Sicherſtellung des Chiffres war in Petersburg beſonders ſchwierig,
weil jede Geſandſchaft ruſſiſche Diener und Subalterne nothwendig
im Innern des Hauſes verwenden mußte und die politiſche Polizei
unter dieſen ſich leicht Agenten verſchaffte.
Zur Zeit des öſtreichiſch-franzöſiſchen Krieges klagte mir der
Kaiſer Alexander in vertraulichem Geſpräche über den heftigen und
verletzenden Ton, in welchem die ruſſiſche Politik in Correſpondenzen
deutſcher Fürſten an kaiſerliche Familienglieder kritiſirt werde. Er
ſchloß die Beſchwerde über ſeine Verwandten mit den entrüſteten
Worten: „Das Beleidigende für mich in der Sache iſt, daß die
deutſchen Herrn Vettern ihre Grobheiten mit der Poſt ſchicken,
damit ſie ſicher zu meiner perſönlichen Kenntniß gelangen.“ Der
Kaiſer hatte kein Arg bei dieſem Eingeſtändniß und war unbefangen
der Meinung, daß es ſein monarchiſches Recht ſei, auch auf dieſem
Wege von der Correſpondenz Kenntniß zu erhalten, deren Trägerin
die ruſſiſche Poſt war.
Auch in Wien haben früher ähnliche Einrichtungen beſtanden.
Vor Erbauung der Eiſenbahnen hat es Zeiten gegeben, in denen
nach Ueberſchreitung der Grenze ein öſtreichiſcher Beamter zu dem
preußiſchen Courier in den Wagen ſtieg, und unter Aſſiſtenz des
Letztern die Depeſchen mit gewerbsmäßigem Geſchicke geöffnet, ge¬
ſchloſſen und excerpirt wurden, bevor ſie an die Geſandſchaft in
Wien gelangten. Noch nach dem Aufhören dieſer Praxis galt es
für eine vorſichtige Form amtlicher Mittheilung von Cabinet zu
Cabinet nach Wien oder Petersburg, wenn dem dortigen preußiſchen
Geſandten mit einfachem Poſtbriefe geſchrieben wurde. Der Inhalt
wurde von beiden Seiten als inſinuirt angeſehn, und man bediente
ſich dieſer Form der Inſinuation gelegentlich dann, wenn die
Wirkung einer unangenehmen Mittheilung im Intereſſe der Tonart
des formalen Verkehrs abgeſchwächt werden ſollte. Wie es in der
Poſt von Thurn und Taxis mit dem Briefgeheimniß beſtellt war,
[230/0257]
Zehntes Kapitel: Petersburg.
wird aus meinem Briefe an den Miniſter von Manteuffel vom
11. Januar 1858 anſchaulich:
„Ich habe ſchon telegraphiſch die dringende Bitte ausgeſprochen,
meinen vertraulichen Bericht, betreffend die Beſchwerde Lord Bloom¬
field's in der Bentinck'ſchen Sache, nicht durch die Poſt an den
Grafen Flemming in Karlsruhe zu ſchicken und ſo zu Oeſtreichs
Kenntniß zu bringen. Sollte meine Bitte zu ſpät eingetroffen ſein,
ſo werde ich nach mehren Richtungen hin in unangenehme Ver¬
legenheiten gerathen, welche kaum anders als in einem perſönlichen
Conflict zwiſchen dem Grafen Rechberg und mir ihre Löſung finden
könnten. — Wie ich ihn beurtheile und wie es die öſtreichiſche
Auffaſſung des Briefgeheimniſſes überhaupt mit ſich bringt, wird
er ſich durch den Umſtand, daß dieſe Beweiſe einem geöffneten
Briefe entnommen ſind, von der Production derſelben nicht abhalten
laſſen. Ich traue ihm vielmehr zu, daß er ſich ausdrücklich darauf
beruft, die Depeſche könne nur in der Abſicht auf die Poſt gegeben
ſein, damit ſie zur Kenntniß der kaiſerlichen Regirung gelange.“
Als ich 1852 die Geſandſchaft in Wien zu leiten hatte, ſtieß
ich dort auf die Gewohnheit, wenn der Geſandte eine Mittheilung
zu machen hatte, die Inſtruction, durch die er von Berlin aus
dazu beauftragt war, dem öſtreichiſchen Miniſter des Auswärtigen
im Original einzureichen. Dieſe für den Dienſt ohne Zweifel nach¬
theilige Gewohnheit, bei der eigentlich die vermittelnde Amtsthätig¬
keit des Geſandten als überflüſſig erſchien, war dergeſtalt tief ein¬
geriſſen, daß der damalige, ſeit Jahrzehnten in Wien einheimiſche
Kanzleivorſtand der Geſandſchaft aus Anlaß des von mir er¬
gangenen Verbots mich aufſuchte, um mir vorzuſtellen, wie groß
das Mißtrauen der kaiſerlichen Staatskanzlei ſein werde, wenn wir
plötzlich in der langjährigen Gepflogenheit eine Aenderung eintreten
ließen; man würde namentlich mir gegenüber zweifelhaft werden,
ob meine Einwirkung auf den Grafen Buol wirklich dem Text
meiner Inſtructionen und alſo den Intentionen der Berliner Politik
entſpräche.
[231/0258]
Das Briefgeheimniß in der Poſt von Thurn-Taxis. Gewaltthätigkeiten.
Um ſich ſelbſt gegen Untreue der Beamten des auswärtigen
Reſſorts zu ſchützen, hat man in Wien zuweilen ſehr draſtiſche Mittel
angewandt. Ich habe einmal ein geheimes öſtreichiſches Actenſtück
in Händen gehabt, aus dem mir dieſer Satz erinnerlich geblieben iſt:
„Kaunitz ne ſachant pas démêler, lequel de ses quatre
commis l'avait trahi, les fit noyer tous les quatre dans le
Danube moyennant un bateau à soupape.“
Vom Erſäufen war auch die Rede in einer ſcherzenden Unter¬
haltung, die ich 1853 oder 1854 mit dem ruſſiſchen Geſandten in
Berlin, Baron von Budberg, hatte. Ich erwähnte, daß ich einen
Beamten im Verdacht hätte, bei den ihm aufgetragnen Geſchäften
das Intereſſe eines andern Staates zu vertreten. Budberg ſagte:
„Wenn der Mann Ihnen unbequem iſt, ſo ſchicken Sie ihn nur
einmal bis an das Aegäiſche Meer, dort haben wir Mittel, ihn
verſchwinden zu laſſen“ — und fuhr auf meine etwas ängſtliche
Frage: „Sie wollen ihn doch nicht erſäufen?“ lachend fort: „Nein,
er würde im Innern Rußlands verſchwinden, und da er anſtellig
zu ſein ſcheint, ſpäter als zufriedner ruſſiſcher Beamter wieder zum
Vorſchein kommen.“
IV.
In der erſten Hälfte des Juni 1859 machte ich einen kurzen
Ausflug nach Moskau. Bei dieſem Beſuche der alten Hauptſtadt,
der in die Zeit des italieniſchen Krieges fiel, war ich Zeuge einer
merkwürdigen Probe von dem damaligen Haſſe der Ruſſen gegen
Oeſtreich. Während der Gouverneur Fürſt Dolgoruki mich in
einer Bibliothek umherführte, bemerkte ich auf der Bruſt eines
ſubalternen Beamten unter vielen militäriſchen Decorationen auch
das eiſerne Kreuz. Auf meine Frage nach dem Erwerb deſſelben
nannte er die Schlacht von Kulm, nach welcher Friedrich Wilhelm III.
eine Anzahl etwas abweichend geſtalteter eiſerner Kreuze an ruſſiſche
Soldaten hatte vertheilen laſſen, das ſogenannte Kulmer Kreuz.
[232/0259]
Zehntes Kapitel: Petersburg.
Ich beglückwünſchte den alten Soldaten, daß er nach 46 Jahren
noch ſo rüſtig ſei, und erhielt die Antwort, er würde noch jetzt,
wenn der Kaiſer es erlaubte, den Krieg mitmachen. Ich fragte,
mit wem er dann gehn würde, mit Italien oder mit Oeſtreich,
worauf er ſtramm ſtehend mit Enthuſiasmus erklärte: „Immer
gegen Oeſtreich.“ Ich machte ihn darauf aufmerkſam, daß Oeſt¬
reich doch bei Kulm unſer und Rußlands Freund und Italien
unſer Gegner geweſen ſei, worauf er, immer in militäriſch ſtrammer
Haltung und mit der lauten und weit hörbaren Stimme, die der
ruſſiſche Soldat im Geſpräch mit Offizieren hat, antwortete: „Ein
ehrlicher Feind iſt beſſer als ein falſcher Freund.“ Dieſe unver¬
frorene Antwort begeiſterte den Fürſten Dolgoruki dergeſtalt, daß
im nächſten Moment General und Unteroffizier in der Umarmung
lagen und die herzlichſten Küſſe auf beide Wangen austauſchten.
So war damals bei General und Unteroffizier die ruſſiſche Stim¬
mung gegen Oeſtreich.
Eine Erinnerung an den Ausflug nach Moskau iſt der nach¬
ſtehende Briefwechſel mit dem Fürſten Obolenſki.
Moscou, le „2“ Juin 1859.
En visitant dernièrement les antiquités de Moscou, Votre
Excellence a porté une grande attention aux monuments de
notre ancienne vie politique et morale. Les vieils édifices du
Kremlin, les objets de la vie domestique des Tzars, les précieux
manuscrits grecs de la bibliothèque des Patriarches de Russie,
— tout enfin a excité Sa curiosité éclairée. Les remarques
scientifiques de V. E. au sujet de ces monuments ont prouvé
qu'outre Ses grandes connaissances diplomatiques, Elle en
réunissent d'aussi profondes en archéologie. Une pareille at¬
tention de la part d'un étranger pour nos antiquités m'est
doublement chère, comme à un Russe et comme à un homme
qui consacre ses loisirs aux recherches archéologiques. Per¬
mettez-moi d'offrir à V. E. en souvenir de Son court séjour
[233/0260]
Ausflug nach Moskau. Briefwechſel mit Obolenſki.
à Moscou et de l'agréable connaissance que j'ai eu l'honneur
de faire avec Elle, un exemplaire du „Livre contenant la de¬
scription de l'élection et de l'avénement au trône du Tzar
Michel Feodorowitch“. Elle y verra sur des dessins quoique
peu artistiques mais curieux par leur ancienneté, les mêmes
édifices et objets qui L'intéressaient tant au Kremlin.
Agréez p. p.
P. M. Obolenski.
Pétersbourg (Juli 1859).
Je serais bien ingrat, si après toutes les bontés dont vous
m'avez comblé à Moscou, j'avais laissé quatre semaines sans
des raisons majeures s'écouler avant de répondre à la lettre
dont V. E. m'a honoré. J'ai été saisi après mon rétour d'une
maladie grave, une espèce de goutte, qui par de fortes dou¬
leurs rhumatismales m'a tenu à l'état de perclus depuis près
d'un mois avec des intervalles minimes et absorbés par les
affaires courantes restées en arrière. Encore aujourd'hui je
me trouve hors d'état de marcher, mais mieux portant du reste,
de sorte que je tâcherai d'obéir à un ordre de mon gouverne¬
ment qui m'appelle à Berlin. Pardonnez ces détails, mon Prince,
mais ils sont nécessaires pour expliquer mon silence.
J'avais espéré que par ce retard de ma réponse je serais
mis à même d'y joindre celle que j'attends de Berlin à l'envoi
dont vous avez bien voulu me charger à destination de Sa
Majesté le Roi. Je ne la tiens pas encore, mais je ne puis
partir, mon Prince, sans vous dire, combien je suis touché de
la manière digne et aimable à la fois dont vous faites les
honneurs du département que vous dirigez, et de la capitale
que vous habitez, en montrant à l'étranger un noble modèle
de l'hospitalité nationale. Le magnifique ouvrage que vous
avez bien voulu me donner, restera toujours un ornament
précieux de ma bibliothèque et un objet auquel se rattache le
[234/0261]
Zehntes Kapitel: Petersburg.
souvenir d'un gentilhomme russe qui sait si bien concilier
l'illustration du savant avec les qualités qui distinguent le
grand-seigneur.
Agréez p. p.
von Bismarck.
V.
Neuling in dem Klima von Petersburg, ging ich im Juni 1859
nach anhaltendem Reiten in einer überheizten Reitbahn ohne Pelz
nach Hauſe, hielt mich auch noch unterwegs auf, um exercirenden
Rekruten zuzuſehn. Am folgenden Tage hatte ich Rheumatismus
in allen Gliedern, mit dem ich längere Zeit zu kämpfen hatte.
Als die Zeit herankam abzureiſen, um meine Frau nach Peters¬
burg zu holen, war ich übrigens wieder hergeſtellt, nur daß
ſich in dem linken Beine, das ich auf dem Jagdausflug nach
Schweden im Jahre 1857 durch einen Sturz vom Felſen beſchädigt
hatte 1), und das infolge unvorſichtiger Behandlung der locus
minoris resistentiae geworden war, ein geringfügiger Schmerz
fühlbar machte. Der durch die frühere Großherzogin von Baden
mir bei der Abreiſe empfohlne Dr. Walz erbot ſich, mir ein Mittel
dagegen zu verſchreiben, und begegnete meiner Erklärung, ich fühle
kein Bedürfniß etwas anzuwenden, da der Schmerz gering ſei, mit
der Verſicherung, die Sache könne auf der Reiſe ſchlimmer werden
und es ſei rathſam, vorzubeugen. Das Mittel ſei ein ganz leichtes;
er werde mir ein Pflaſter in die Kniekehle legen, welches in keiner
Weiſe beläſtige, nach einigen Tagen von ſelbſt abfallen und nur
eine Röthe hinterlaſſen werde. Mit der Vorgeſchichte dieſes aus
Heidelberg ſtammenden Arztes noch unbekannt, gab ich leider ſeinem
Zureden nach. Vier Stunden, nachdem ich das Pflaſter aufgelegt und
feſt geſchlafen hatte, wachte ich über heftige Schmerzen auf, riß das
Pflaſter ab, ohne ſeine Beſtandtheile von der ſchon wund gefreſſenen
1)
S. o. S. 195.
[235/0262]
Unter der Behandlung eines ruſſiſchen „Arztes“.
Kniekehle entfernen zu können. Walz kam einige Stunden ſpäter
und verſuchte mit irgend einer metalliſchen Klinge die ſchwarze
Pflaſtermaſſe aus der handgroßen Wunde durch Schaben zu ent¬
fernen. Der Schmerz war unerträglich und der Erfolg unvoll¬
kommen, die corroſive Wirkung des Giftes dauerte fort. Ich wurde
mir über die Unwiſſenheit und Gewiſſenloſigkeit meines Arztes klar
trotz der hohen Empfehlung, die mich beſtimmt hatte, ihn zu wählen.
Er ſelbſt verſicherte mit entſchuldigendem Lächeln, die Salbe ſei
wohl etwas zu ſtark gepfeffert worden; es ſei ein Verſehn des
Apothekers. Ich ließ von dem Letztern das Recept erbitten und
erhielt die Antwort, Walz habe es wieder an ſich genommen;
Letztrer beſaß es nach ſeiner Ausſage nicht mehr. Ich konnte alſo
nicht ermitteln, wer der Giftmiſcher geweſen war, und erfuhr nur
von dem Apotheker, der Hauptbeſtandtheil der Salbe ſei der Stoff
geweſen, der zur Herſtellung von ſogenannten immerwährenden
ſpaniſchen Fliegen verwendet werde, und nach ſeiner Erinnerung
ſei derſelbe allerdings in einer ungewöhnlich ſtarken Doſis ver¬
ſchrieben geweſen. Es iſt mir ſpäter die Frage geſtellt worden,
ob meine Vergiftung eine abſichtliche geweſen ſein könne; ich
ſchreibe ſie lediglich der Unwiſſenheit und Dreiſtigkeit des ärztlichen
Schwindlers zu.
Er war auf Grund einer Empfehlung der verwitweten Gro߬
herzogin Sophie von Baden Dirigent ſämmtlicher Kinderhoſpitäler
in Petersburg geworden. Meine ſpätern Ermittelungen ergaben,
daß er der Sohn des Univerſitätsconditors in Heidelberg war, als
Student nicht gearbeitet und keine Prüfung beſtanden hatte. Seine
Salbe hatte eine Vene zerſtört, und ich habe viele Jahre lang ſchwer
daran gelitten.
Um bei deutſchen Aerzten Hülfe zu ſuchen, reiſte ich im Juli
auf dem Seewege über Stettin nach Berlin; heftige Schmerzen
veranlaßten mich, den berühmten Chirurgen Pirogow, der mit
an Bord war, zu fragen; er wollte mir das Bein amputiren, und
auf meine Frage, ob über oder unter dem Kniee, bezeichnete er
[236/0263]
Zehntes Kapitel: Petersburg.
eine Stelle hoch darüber. Ich lehnte ab und wurde, nachdem in
Berlin verſchiedne Behandlungen erfolglos verſucht waren, durch
die Bäder von Nauheim unter Leitung des Profeſſors Benecke aus
Marburg ſo weit wiederhergeſtellt, daß ich gehn, auch reiten und im
October den Prinzregenten nach Warſchau zur Zuſammenkunft mit
dem Zaren begleiten konnte. Während ich auf der Rückreiſe nach
Petersburg Herrn von Below in Hohendorf im November einen
Beſuch machte, riß ſich nach ärztlicher Meinung der Trombus los,
der ſich in der zerſtörten Vene gebildet und feſtgeſetzt hatte, gerieth
in den Blutumlauf und verurſachte eine Lungenentzündung, die
von den Aerzten für tödtlich gehalten, aber in einem Monate
langen Siechthum überwunden wurde. Merkwürdig ſind mir heut
die Eindrücke, die damals ein ſterbender Preuße über Vormund¬
ſchaft hatte. Mein erſtes Bedürfniß nach meiner ärztlichen Ver¬
urtheilung war die Niederſchrift einer letztwilligen Verfügung, durch
welche jede gerichtliche Einmiſchung in die eingeſetzte Vormundſchaft
ausgeſchloſſen wurde. Hierüber beruhigt ſah ich meinem Ende mit
der Bereitwilligkeit entgegen, die unerträgliche Schmerzen gewähren.
Zu Anfang des März 1860 war ich ſo weit, nach Berlin reiſen zu
können, wo ich, meine Geneſung abwartend, an den Sitzungen des
Herrenhauſes Theil nahm und bis in den Mai verweilte.
[[237]/0264]
Elftes Kapitel.
Zwiſchenzuſtand.
I.
Während dieſer Wochen regten der Fürſt von Hohenzollern und
Rudolf von Auerswald bei dem Regenten meine Ernennung zum
Miniſter des Auswärtigen an. Es fand infolge deſſen im Palais
eine Art von Conſeil ſtatt, das aus dem Fürſten, Auerswald,
Schleinitz und mir beſtand. Der Regent leitete die Beſprechung
mit der Aufforderung an mich ein, das Programm zu entwickeln,
zu welchem ich riethe. Ich legte daſſelbe in der Richtung, die ich
ſpäter als Miniſter verfolgt habe, in ſo weit offen dar, daß ich als
die ſchwächſte Seite unſrer Politik ihre Schwäche gegen Oeſtreich
bezeichnete, von der ſie ſeit Olmütz und beſonders in den letzten
Jahren während der italieniſchen Kriſis beherrſcht geweſen ſei.
Könnten wir unſre deutſche Aufgabe im Einverſtändniß mit Oeſt¬
reich löſen, um ſo beſſer. Die Möglichkeit würde aber erſt vor¬
liegen, wenn man in Wien die Ueberzeugung hätte, daß wir im
entgegengeſetzten Falle auch den Bruch und den Krieg nicht fürch¬
teten. Die zur Durchführung unſrer Politik wünſchenswerthe
Fühlung mit Rußland zu bewahren, würde gegen Oeſtreich leichter
ſein als mit Oeſtreich. Unmöglich aber ſchiene mir das auch im
letztern Falle nicht, nach meiner in Petersburg gewonnenen Kennt¬
niß des ruſſiſchen Hofes und der dort leitenden Einflüſſe. Wir
hätten dort aus dem Krimkriege und den polniſchen Verwicklungen
[238/0265]
Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
her einen Saldo, welcher bei geſchickter Ausnutzung uns die Mög¬
lichkeit laſſen könnte, mit Oeſtreich uns zu verſtändigen, ohne
mit Rußland zu brechen; ich fürchtete nur, daß die Verſtändigung
mit Oeſtreich wegen der dortigen Ueberſchätzung der eignen und
Unterſchätzung der preußiſchen Macht mißlingen werde, wenigſtens
ſo lange, als man in Oeſtreich nicht von dem vollen Ernſt unſrer
eventuellen Bereitſchaft auch zu Bruch und Krieg überzeugt ſei.
Der Glaube an ſolche Möglichkeit ſei in dem letzten Jahrzehnte
unſrer Politik in Wien verloren gegangen, man habe ſich dort auf
der in Olmütz errungnen Baſis als auf einer dauernden eingelebt
und nicht gemerkt, oder vergeſſen, daß die Olmützer Convention
ihre Rechtfertigung hauptſächlich in der vorübergehenden Ungunſt
unſrer Situation fand, die durch die Verzettelung unſrer Cadres
und durch die Thatſache hervorgerufen war, daß das ganze Schwer¬
gewicht der ruſſiſchen Macht zur Zeit jener Convention in die Wag¬
ſchale Oeſtreichs gefallen war, wohin ſie nach dem Krimkriege nicht
mehr fiel. Die öſtreichiſche Politik uns gegenüber ſei aber nach
1856 ebenſo anſpruchsvoll geblieben, wie zu der Zeit, wo der
Kaiſer Nicolaus für ſie gegen uns einſtand. Wir hätten uns der
öſtreichiſchen Illuſion in einer Weiſe unterworfen, welche an das
Experiment erinnerte, ein Huhn durch einen Kreideſtrich zu feſſeln.
Die öſtreichiſche Zuverſicht, ein geſchickter Gebrauch der Preſſe, und
ein großer Reichthum an geheimen Fonds ermögliche dem Grafen
Buol die Aufrechthaltung der öſtreichiſchen Phantasmagorie und
das Ignoriren der ſtarken Stellung, in der Preußen ſich befinden
werde, ſo bald es bereit ſei, den Zauber des Kreideſtrichs zu
brechen. Worauf ſich die Erwähnung der öſtreichiſchen geheimen
Fonds bezog, war dem Regenten bekannt 1).
Nachdem ich meine Auffaſſung entwickelt hatte, erging an
Schleinitz die Aufforderung, die ſeinige gegenüber zu ſtellen. Es
geſchah das in Anknüpfung an das Teſtament Friedrich Wilhelms III.,
1)
S. o. S. 212 ff.
[239/0266]
Der Regent erklärt ſich für die von Schleinitz vertretene Politik.
alſo unter geſchickter Berührung einer Saite, die im Gemüth des
Regenten ihren Anklang nie verſagte, unter Schilderung der Be¬
denken und Gefahren, die von Weſten (Paris) und im Innern
drohten, wenn die Beziehungen zu Oeſtreich trotz aller berechtigten
Gründe zur Empfindlichkeit nicht erhalten würden. Die Gefahren
ruſſiſch-franzöſiſcher Verbindungen, die ſchon damals in der Oeffent¬
lichkeit eine Rolle ſpielten, wurden entwickelt, die Möglichkeit preu¬
ßiſch-ruſſiſcher Verbindungen als von der öffentlichen Meinung ver¬
urtheilt dargeſtellt. Charakteriſtiſch war, daß, ſobald Schleinitz ſein
letztes Wort eines geläufigen und offenbar vorbereiteten Vortrages
geſprochen hatte, der Regent wiederum das Wort nahm und in
klarer Entwicklung erklärte, daß er ſich in Erinnerung an die väter¬
lichen Traditionen für die Darſtellung des Miniſters von Schleinitz
entſcheide, und damit wurde die Erörterung kurzer Hand geſchloſſen.
Die Schnelligkeit, mit welcher er ſich entſchied, nachdem das
letzte Wort des Miniſters gefallen war, ließ mich annehmen, daß
die ganze mise en scène vorher verabredet war und nach dem
Willen der Prinzeſſin ſich entwickelt hatte, um den Anſichten des
Fürſten von Hohenzollern und Auerswalds eine äußerliche Berück¬
ſichtigung zu gewähren, während ſie ſchon damals ſich mit dieſen
Beiden und deren Neigung, das Cabinet durch meine Zuziehung zu
ſtärken, nicht im Einklang befand.
In der Politik der Prinzeſſin, welche für ihren Gemal und
für den Miniſter von erheblichem Gewicht war, gaben, wie ich an¬
nahm, eher gewiſſe Abneigungen den Ausſchlag als poſitive Ziele.
Die Abneigungen richteten ſich gegen Rußland, gegen Louis Na¬
poleon, mit dem Beziehungen zu unterhalten ich im Verdacht ſtand,
gegen mich, wegen Neigung zu unabhängiger Meinung und wegen
wiederholter Weigerung, Anſichten der hohen Frau bei ihrem Ge¬
mal als meine eignen zu vertreten. Ihre Geneigtheiten wirkten
in demſelben Sinne. Herr von Schleinitz war politiſch ihr Ge¬
ſchöpf, ein von ihr abhängiger Höfling ohne eigne politiſche Ueber¬
zeugung.
[240/0267]
Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
II.
Der Fürſt von Hohenzollern, der ſich überzeugte, daß die Prin¬
zeſſin und Schleinitz durch ſie ſtärker waren als er, zog ſich bald
nachher von den Geſchäften thatſächlich zurück, wenn er auch dem
Namen nach bis zum September 1862 Miniſterpräſident blieb. Die
Leitung ging damit auch äußerlich auf Auerswald über, mit dem
ich während der Zeit, die ich noch in Berlin zubrachte, in freund¬
lichem Verkehr blieb. Er war von beſonders liebenswürdigen Formen
und hervorragender politiſcher Begabung; und nachdem ich zwei
Jahr ſpäter Miniſterpräſident geworden war, leiſtete er mir einen
wohlwollenden Beiſtand, namentlich dadurch, daß er bei dem Kron¬
prinzen die Bedenken und Beſorgniſſe über die Zukunft unſres
Landes bekämpfte, die ihm von England aus gegen mich als
Ruſſenfreund beigebracht worden waren und die ſpäter zu dem
Danziger Pronunciamiento führten. Auf ſeinem Sterbebette 1)ließ
er den Kronprinzen zu ſich bitten, warnte eindringlich vor den Ge¬
fahren, welche ſeine Oppoſition der Monarchie bereiten könnte, und
bat den Prinzen, an mir feſtzuhalten 2).
Im Sommer 1861 war es innerhalb des Miniſteriums zu
einem Kampfe gekommen, der in dem nachſtehenden Brief des
Kriegsminiſters von Roon vom 27. Juni 3)geſchildert iſt:
„Berlin, den 27. Juni 1861.
Sie ſind wohl im Allgemeinen über die jetzt kritiſche Huldi¬
gungsfrage orientirt. Sie iſt zum Brechen ſcharf zugeſpitzt. Der
König kann nicht nachgeben, ohne ſich und die Krone für immer
zu ruiniren. Die Mehrzahl der Miniſter kann es ebenſo wenig;
ſie würden ſich die unmoraliſchen Bäuche aufſchlitzen, ſich politiſch
1)
R. v. Auerswald ſtarb am 15. Januar 1866.
2)
Vgl. Aus dem Leben Theodor von Bernhardis VI 227 f. 234.
3)
Bismarck-Jahrbuch VI 194 ff.
[241/0268]
Miniſterium Auerswald. Miniſterkriſis.
vernichten. Sie können nicht anders als ungehorſam ſein und
bleiben. Bis jetzt haben ich, der ich eine ganz entgegengeſetzte
Poſition zur brennenden Frage eingenommen, und (Edwin) Man¬
teuffel mit Mühe verhindert, daß der König ſich beuge. Er würde
es thun, wenn ich dazu riethe, aber ich hoffe zu Gott, daß er meine
Zunge lähme, bevor ſie zuſtimmt. Aber ich ſtehe allein, ganz allein;
Edwin Manteuffel geht heute auf die Feſtung 1). Geſtern endlich hat
mir der König erlaubt, mich für ihn nach andern Miniſtern um¬
zuſehen. Er iſt der troſtloſen Anſicht, er fände, außer bei Stahl
und Cp., keine Männer, die die Huldigung mit Eidesleiſtung für
zuläſſig erachten. Ich frage nun, ob Sie die althergebrachte Erb¬
huldigung für ein Attentat gegen die Verfaſſung halten? Ant¬
worten Sie darauf mit Ja, ſo habe ich mich getäuſcht, wenn ich
annahm, daß Sie meiner Anſicht ſeien. Treten Sie dieſer aber
bei und meinen Sie, daß es ein doctrinärer Schwindel, eine Folge
politiſcher Engagements und politiſcher Parteiſtellung ſei, wenn die
lieben Geſpielen ſich nicht in der Lage zu befinden glauben: ſo
werden Sie auch nicht Anſtand nehmen, in den Rath des Königs
einzutreten und die Huldigungsfrage in correcter Weiſe zu löſen.
Dann werden Sie auch Mittel finden, die beabſichtigte Urlaubs¬
reiſe unverzüglich anzutreten und mich ungeſäumt durch den Tele¬
graphen zu benachrichtigen. Die Worte: ‚Ja, ich komme!‘ reichen
aus, beſſer noch, wenn Sie das Datum Ihrer Ankunft hinzufügen
können. Schleinitz geht unter allen Umſtänden, ganz abgeſehen von
der Huldigungsfrage. Das ſteht feſt! Aber es iſt fraglich, ob
Sie ſein oder Schwerins Portefeuille zu übernehmen haben werden.
S. M. ſcheint für letzteres mehr, als für erſteres disponirt. Doch
iſt das cura posterior. Es kömmt darauf an, den König zu über¬
zeugen, daß er ohne affichirten Syſtemwechſel ein Miniſterium finden
kann, wie er es braucht. Ich habe außerdem ähnliche Fragen an
1)
Wegen eines Duells mit Tweſten als dem Verfaſſer der Schrift: „Was
uns noch retten kann“.
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 16
[242/0269]
Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
Präſident von Möller und von Selchow gerichtet, bin aber noch
ohne Antwort. Es iſt eine troſtloſe Lage! Der König leidet ent¬
ſetzlich. Die Nächſten aus ſeiner Familie ſind gegen ihn und rathen
zu einem faulen Frieden. Gott verhüte, daß er nachgiebt. Thäte
er es, ſo ſteuerten wir mit vollen Segeln in das Schlamm-Meer
des parlamentariſchen Regiments.
Ich zittere vor Geſchäfts-Aufregung, denn die vermehrten Laſten
erdrücken mich faſt im Verein mit dieſer politiſchen misère, indeß —
ein braves Pferd ſtürzt, aber verſagt nicht. — Die Geſchäftsnoth
entſchuldige daher auch die Kürze dieſer Zeilen. Daher nur noch
das Eine, daß ich die Brücke hinter mir abgebrochen habe, daß ich
daher gehe, wenn der König nachgiebt, obwohl ſich dies eigentlich
von ſelbſt verſteht.
Dieſer Brief ſoll Ihnen durch den Engliſchen Courier zugehen,
wie Schlieffen verheißt. Antworten Sie mir ſogleich durch den
Telegraphen.“
Ich antwortete am 2. Juli:
„Ihr Schreiben durch den Engländer kam geſtern in Sturm
und Regen hier an, und ſtörte mich in dem Behagen, mit welchem
ich an die ruhige Zeit dachte, die ich in Reinfeld mit Kiſſinger und
demnächſt in Stolpmünde zu verbringen beabſichtigte. In den Streit
wohlthuender Gefühle für junge Auerhühner einerſeits und Wieder¬
ſehn von Frau und Kindern andrerſeits tönte Ihr Commando:
,an die Pferde‘ mit ſchrillem Mißklang. Ich bin geiſtesträge,
matt und kleinmüthig geworden, ſeit mir das Fundament der Geſund¬
heit abhanden gekommen iſt. Doch zur Sache. In dem Huldigungs¬
ſtreit verſtehe ich nicht recht, wie er ſo wichtig hat werden können,
für beide Theile. Es iſt mir rechtlich garnicht zweifelhaft, daß der
König in keinen Widerſtreit mit der Verfaſſung tritt, wenn er die
Huldigung in herkömmlicher Form annimmt. Er hat das Recht,
ſich von jedem einzelnen ſeiner Unterthanen und von jeder Cor¬
poration im Lande huldigen zu laſſen, wann und wo es ihm ge¬
[243/0270]
Briefwechſel mit Roon über die Huldigungsfrage.
fällt, und wenn man meinem Könige ein Recht beſtreitet, welches
er ausüben will und kann, ſo fühle ich mich verpflichtet es zu ver¬
fechten, wenn ich auch an ſich nicht von der practiſchen Wichtigkeit
ſeiner Ausübung durchdrungen bin. In dieſem Sinne telegraphirte
ich an Schlieffen, daß ich den ,Beſitztitel‘, auf deſſen Grund ein neues
Miniſterium ſich etabliren ſoll, für richtig halte, und ſehe die Weige¬
rung der andern Partei und die Wichtigkeit, welche ſie auf Verhütung
des Huldigungsactes legt, als doctrinäre Verbiſſenheit an. Wenn
ich hinzufügte, daß ich die ſonſtige Vermögenslage nicht kenne,
ſo meinte ich damit nicht die Perſonen und Fähigkeiten, mit denen
wir das Geſchäft übernehmen könnten, ſondern das Programm,
auf deſſen Boden wir zu wirthſchaften haben würden. Darin wird
m. E. die Schwierigkeit liegen. Meinem Eindruck nach lag der
Hauptmangel unſrer bisherigen Politik darin, daß wir liberal in
Preußen und conſervativ im Auslande auftraten, die Rechte unſres
Königs wohlfeil, die fremder Fürſten zu hoch hielten. Eine natür¬
liche Folge des Dualismus zwiſchen der conſtitutionellen Richtung
der Miniſter und der legitimiſtiſchen, welche der perſönliche Wille
Seiner Majeſtät unſrer auswärtigen Politik gab. Ich würde mich
nicht leicht zu der Erbſchaft Schwerins entſchließen, ſchon weil ich
mein augenblickliches Geſundheits-Capital dazu nicht ausreichend
halte. Aber ſelbſt wenn es der Fall wäre, würde ich auch im
Innern das Bedürfniß einer andern Färbung unſrer auswärtigen
Politik fühlen. Nur durch eine Schwenkung in unſrer, ‚auswärtigen‘
Haltung kann, wie ich glaube, die Stellung der Krone im Innern
von dem Andrang degagirt werden, dem ſie auf die Dauer ſonſt
thatſächlich nicht widerſtehn wird, obſchon ich an der Zuläng¬
lichkeit der Mittel dazu nicht zweifle. Die Preſſion der Dämpfe
im Innern muß ziemlich hoch geſpannt ſein, ſonſt iſt es garnicht
verſtändlich, wie das öffentliche Leben bei uns von Lappalien wie
Stieber, Schwark, Macdonald, Patzke, Tweſten u. dergl. ſo auf¬
geregt werden konnte, und im Auslande wird man nicht begreifen,
wie die Huldigungsfrage das Cabinet ſprengen konnte. Man ſollte
[244/0271]
Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
glauben, daß eine lange und ſchwere Mißregirung das Volk gegen
ſeine Obrigkeit ſo erbittert hätte, daß bei jedem Luftzug die Flamme
auſſchlägt. Politiſche Unreife hat viel Antheil an dieſem Stolpern
über Zwirnsfäden; aber ſeit vierzehn Jahren haben wir der Nation
Geſchmack an Politik beigebracht, ihr aber den Appetit nicht be¬
friedigt, und ſie ſucht die Nahrung in den Goſſen. Wir ſind faſt
ſo eitel wie die Franzoſen; können wir uns einreden, daß wir aus¬
wärts Anſehn haben, ſo laſſen wir uns im Hauſe viel gefallen;
haben wir das Gefühl, daß jeder kleine Würzburger uns hänſelt
und geringſchätzt und daß wir es dulden aus Angſt, weil wir hoffen,
daß die Reichsarmee uns vor Frankreich ſchützen wird, ſo ſehn
wir innre Schäden an allen Ecken, und jeder Preßbengel, der den
Mund gegen die Regirung aufreißt, hat Recht. Von den Fürſten¬
häuſern von Neapel bis Hanover wird uns keins unſre Liebe
danken, und wir üben an ihnen recht evangeliſche Feindesliebe, auf
Koſten der Sicherheit des eignen Thrones. Ich bin meinem Fürſten
treu bis in die Vendée, aber gegen alle andern fühle ich in keinem
Blutstropfen eine Spur von Verbindlichkeit, den Finger für ſie
aufzuheben. In dieſer Denkungsweiſe fürchte ich von der unſres
allergnädigſten Herrn ſo weit entfernt zu ſein, daß er mich ſchwerlich
zum Rathe ſeiner Krone geeignet finden wird. Deshalb wird er
mich, wenn überhaupt, lieber im Innern verwenden. Das bleibt
ſich aber m. E. ganz gleich, denn ich verſpreche mir von der
Geſammtregirung keine gedeihlichen Reſultate, wenn unſre aus¬
wärtige Haltung nicht kräftiger und unabhängiger von dynaſtiſchen
Sympathien wird, an denen wir aus Mangel an Selbſtvertrauen
eine Anlehnung ſuchen, die ſie nicht gewähren können und die wir
nicht brauchen. Wegen der Wahlen iſt es Schade, daß der Bruch
ſich grade ſo geſtaltet; die gut königliche Maſſe der Wähler wird
den Streit über die Huldigung nicht verſtehn, und die Demokratie
ihn entſtellen. Es wäre beſſer geweſen, in der Militärfrage ſtramm
zu halten gegen Kühne, mit der Kammer zu brechen, ſie aufzulöſen
und damit der Nation zu zeigen, wie der König zu den Leuten
[245/0272]
Briefwechſel mit Roon über die Huldigungsfrage.
ſteht. Wird der König zu ſolchem Mittel im Winter greifen wollen,
wenn's paßt? Ich glaube nicht an gute Wahlen für dießmal, ob¬
ſchon grade die Huldigungen dem Könige manches Mittel gewähren,
darauf zu wirken. Aber rechtzeitige Auflöſung, nach handgreiflichen
Ausſchreitungen der Majorität, iſt ein ſehr heilſames Mittel, viel¬
leicht das richtigſte, zu dem man gelangen kann, um geſunden Blut¬
umlauf herzuſtellen.
Ich kann mich ſchriftlich über eine Situation, die ich nur
ungenügend kenne, nicht erſchöpfend ausſprechen, mag auch Manches
nicht zu Papier bringen, was ich ſagen möchte. Nachdem der
Urlaub heut bewilligt, reiſe ich Sonnabend zu Waſſer, und hoffe
Dienſtag früh in Lübeck zu ſein, Abend in Berlin. Früher kann
ich nicht, weil der Kaiſer mich noch ſehn will. Dieſe Zeilen nimmt
der engliſche Courier wieder mit. Mündlich alſo Näheres. Bitte
mich der Frau Gemalin herzlich zu empfehlen. In treuer Freund¬
ſchaft der Ihrige
v. Bismarck.“ 1)
Ich hatte fünf Tage lang keine Zeitungen geſehn, als ich am
9. Juli in Lübeck um fünf Uhr Morgens eintraf und aus der im
Bahnhofe allein vorhandnen ſchwediſchen Yſtädter Zeitung erſah,
daß der König und die Miniſter Berlin verlaſſen hatten, die Kriſis
alſo beigelegt ſein mußte. Am 3. Juli hatte der König das Manifeſt
erlaſſen, daß er das Herkommen der Erbhuldigung feſthalte, aber
in Betracht der Veränderungen, welche in der Verfaſſung der
Monarchie unter der Regirung ſeines Bruders eingetreten, be¬
ſchloſſen habe, anſtatt der Erbhuldigung die feierliche Krönung zu
erneuern, durch welche die erbliche Königswürde begründet ſei.
Ueber den Verlauf der Kriſis ſchrieb mir Roon am 24. Juli von
Brunnen (Kanton Schwyz) 2):
1)
Vollſtändig in den Bismarckbriefen (7. Aufl.) S. 304 ff., jetzt auch in
Roon's Denkwürdigkeiten II 4 28 ff.
2)
Bismarck-Jahrbuch VI 196 ff.
[246/0273]
Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
„Ich habe gelobt, Ihnen am erſten Regentage zu antworten
und muß es daher leider ſchon heute thun und zwar aus einem
verſiegenden Dintenfaß, welches ich, falls nicht andre Hülfe kommt,
auf einige Minuten zum Fenſter hinaushalten werde, um ſeiner
Armuth aufzuhelfen. — Daß wir uns immer wieder verfehlten,
halte ich kaum für providentiell, lieber für ſehr fatal. Die Depeſche
aus Frankfurt kam, Dank der Dummheit des Dienſtperſonals, erſt
am 17. nach acht Uhr früh in meine Hände und meine ſofortige
Antwort darauf nach einigen Stunden als unbeſtellbar zurück. Um
ſo bedenklicher wurde ich wegen meiner Abreiſe. Aber ich konnte
ſie nicht verſchieben. Schleinitz im Dienſte der Königin Auguſta hat
uns vor der Hand ſehr geſchadet. Das Geſchwür war reif. Schl.
ſelbſt, überzeugt von der Unhaltbarkeit des gegenwärtigen Syſtems,
hat vornehmlich deshalb ſeinen Abtritt genommen, wie die Ratten
ein baufälliges Schiff zu verlaſſen pflegen. Aber er und v. d. Heydt
ſtimmten darin überein, daß man todte abgenutzte Leute nicht durch
den galvaniſchen Strich eines vermeintlichen Märtyrerthums wieder
lebendig machen dürfe, und darum gegen mich. Schl., unterſtützt
von der K. A. und der Großfürſtin Helene, haben obgeſiegt mit Hülfe
der wieder aufgenommenen Krönungsidee, für welche die Mäntel
ſchon im Februar beſtellt worden waren. Der ſchlecht maskirte
Rückzug wurde nun angetreten und die faſt fertige Miniſterliſte
ad acta gelegt. Uebrigens bin ich zu glauben ſehr geneigt, daß
Schl., wie die K. A. und ſelbſt der Fürſt Hohenzollern an den
nahen Untergang des jetzigen Lügenſyſtems glauben und ihn zu
befördern geneigt ſind. Daß Schl. ausgetreten, iſt in jeder Be¬
ziehung ein Fortſchritt, wiewohl er nicht auf dem doctrinären Boden
von Patow, Auerswald und Schwerin ſteht. Abgeſehn von ſeiner
Impotenz im Handeln ſtützte ſeine Anweſenheit das Miniſterium nach
oben. Der Mignon durfte nicht fallen; wohlan! er iſt nun im Hafen.
Wenn Graf Bernſtorff nur halb der Mann iſt, für den er von Vielen
ausgegeben wird, ſo iſt dieſer zweite Keil wirkſamer als der erſte,
oder er bleibt nicht vier Monate im Amte. Daß ich mich in der
[247/0274]
Verlauf der Miniſterkriſis.
Huldigungsfrage mit meinen Geſpielen für immer auch äußerlich
entzweit, wiſſen Sie wohl durch Manteuffel oder Alvensleben.
Wenn ich dennoch in ‚dieſer Geſellſchaft‘ bleibe, ſo geſchieht es,
weil der K. darauf beſteht und ich, unter den jetzigen Umſtänden
von jeder Rückſicht entbunden, nunmehr mit offenem Viſir fort¬
kämpfen kann. Es ſagt meiner Natur mehr zu, daß die Herren
wiſſen, ich bin gegen ihre Recepte, als daß ſie es, wie bisher,
blos glauben. Gott möge weiter helfen! ich kann wenig mehr
thun, als ein ehrlicher Mann bleiben und in meinen Reſſorts
thätig ſein und Vernünftiges wirken. — Das größte Unglück in
aller dieſer misère iſt indeß die Mattigkeit und Abgeſpanntheit
unſres Königs. Er iſt mehr wie je in der Botmäßigkeit der K.
und ihrer Gehülfen. Wird er nicht körperlich wieder friſcher, ſo
iſt Alles verloren, und wir ſchwanken weiter in das Joch des Par¬
lamentarimus und der Republik und der Präſidentſchaft Patow.
Ich ſehe keine, keine Rettung, wenn uns Gott der Herr nicht
hilft. In dem Proceß der allgemeinen Zerſetzung vermag ich nur
noch einen widerſtandsfähigen Organismus zu erkennen, die Armee.
Sie unverfault zu erhalten: das iſt die Aufgabe, die ich noch für
lösbar erachte, aber freilich nur noch auf einige Zeit. Auch ſie wird
verpeſtet werden, wenn ſie nicht zu Thaten kömmt, wenn ihr nicht
von Oben geſunde Lebensluft zugeführt wird, und das, auch das
wird alle Tage ſchwieriger. Habe ich darin Recht, und ich glaube
es, ſo kann man auch nicht tadeln, daß ich in dieſer Geſellſchaft
weiter diene. Ich will damit nicht ſagen, daß; ein Andrer mein
Amt nicht mit gleicher oder größerer Einſicht und Energie zu ver¬
walten vermöchte, aber auch der Fähigſte wird ein Jahr zu ſeiner
Orientirung brauchen und — ,die Todten reiten ſchnell‘. Wie
gern ich mich zurückzöge, brauche ich Niemand zu verſichern, der
mich genauer kennt. In meiner Natur liegt viel mehr Neigung
zur Behaglichkeit, als vor Gott Recht iſt, und dieſe würde ich mit
meiner verdienten reichlichen Penſion finden, da ich weder ver¬
wöhnt bin noch ehrbedürftig. Wie ſehr ich zur Faulheit neige,
[248/0275]
Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
fühle ich jetzt, nachdem ich, wie ein abgetriebenes Arbeitsroß, des
Zaumes und Geſchirrs ledig, auf die Koppel gelaſſen bin. Fällt
nichts Beſonderes vor, ſo will ich erſt in den erſten September¬
tagen in mein Joch zurückkehren. Dann, denke ich, verfehlen wir
uns nicht wieder. Zwar muß ich ſchon am 9. September wieder
nach dem Rhein zu den Manövern, aber doch nur auf zehn, elf
Tage. Ob der König, wie er will (?), auch Anfang September
auf einige Tage nach B. gehen wird, ſcheint eine offene Frage.
Mir ſcheint, es ſei unerläßlich, wenn überhaupt noch von könig¬
lichem Regiment in Preußen die Rede iſt.
Nach Ihrem Schreiben darf ich hoffen, daß Sie nicht vor der
Krönung nach Petersburg zurückkehren werden. Ich halte es für
einen großen politiſchen Fehler, daß die Kreuzzeitung das Krönungs-
Manifeſt ſo ſchonungslos kritiſirt hat *). Ein nicht geringerer
würde es ſein, wenn die Anhänger des Blatts bei der Ceremonie
fehlten. Das ſagen Sie Moritz. Man hat durch jenen unglück¬
lichen Artikel viel Terrain verloren; es muß wiedergewonnen
werden.
Zum Schluß noch die beſten Wünſche für Ihre verſchiedenen
Kuren. Möchten Sie recht geſtärkt daraus hervorgehen! Die Zeit
iſt nahe, wo Sie alle Ihre Kräfte gebrauchen werden, zum Heile
Ihres Landes. — Ihrer Frau Gemahlin meine, unſre reſpect¬
vollſten freundlichſten Grüße!
Dieſen Brief ſende ich über Zimmerhauſen und recommandirt;
er darf nicht in unrechte Hände fallen!
v. Roon.“
Auf Wunſch des Miniſters von Schleinitz begab ich mich am
10. Juli nach Baden-Baden, um mich bei dem Könige zu melden.
Er ſchien von meinem Erſcheinen unangenehm überraſcht in der
Meinung, ich komme wegen der Miniſterkriſis. Ich erwähnte, ich
*)
Der König hat ſeit jenem Artikel die Kreuzzeitung nicht wieder
geleſen.
[249/0276]
Krönung Wilhelms I. Geſpräch mit der Königin.
hätte gehört, dieſelbe ſei beigelegt, und ſagte, ich ſei nur ge¬
kommen, um ſeine perſönliche Zuſtimmung dazu zu erbitten, daß
ich meinen Urlaub bis nach der im Herbſt bevorſtehenden Krönung,
alſo über die gegebenen drei Monat hinaus ausdehnen dürfe. Der
König ſagte das in freundlicher Weiſe zu und lud mich perſönlich
zur Tafel.
Nachdem ich den Auguſt und September in Reinfeld und
Stolpmünde zugebracht hatte, traf ich am 13. October in Königs¬
berg ein, wo am 18. die Krönung vor ſich ging.
Während der Feſtlichkeiten ſah ich, daß in der Stimmung der
Königin eine Veränderung vorgegangen war, die vielleicht mit dem
inzwiſchen erfolgten Rücktritt von Schleinitz zuſammenhing. Sie
ergriff die Initiative zur Beſprechung national-deutſcher Politik
mit mir. Ich begegnete dort zum erſten Male dem Grafen Bern¬
ſtorff als Miniſter, der zu einer beſtimmten Entſchließung über
ſeine Politik noch nicht gelangt zu ſein ſchien und mir in unſern
Geſprächen den Eindruck machte, als ringe er nach einer Meinung.
Die Königin zeigte ſich gegen mich freundlicher als ſeit langen
Jahren, ſie zeichnete mich in augenfälliger Weiſe aus, offenbar
über die im Augenblick von dem Könige gewünſchte Linie hinaus.
In einem Moment, der ceremoniell für Unterhaltung kaum Zeit
bot, blieb ſie vor mir, der ich in dem Haufen ſtand, ſtehn und
begann mit mir ein Geſpräch über deutſche Politik, dem der ſie
führende König, ein Zeit lang vergebens, ein Ende zu machen
ſuchte. Das Verhalten beider Herrſchaften bei dieſer und andern
Gelegenheiten bewies, daß damals eine Meinungsverſchiedenheit
über die Behandlung der deutſchen Frage zwiſchen ihnen beſtand;
ich vermuthe, daß Graf Bernſtorff Ihrer Majeſtät nicht ſympathiſch
war. Der König vermied, mit mir über Politik zu reden, wahr¬
ſcheinlich in der Beſorgniß, durch Beziehungen zu mir in eine
reactionäre Beleuchtung zu gerathen. Dieſe Beſorgniß beherrſchte
ihn noch im Mai 1862 und ſogar noch im September 1862. Er
hielt mich für fanatiſcher als ich war. Nicht ohne Einfluß war
[250/0277]
Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
wohl auch die Erinnerung an meine Kritik der Befähigung des
neuen Cabinets, die ich ihm vor meinem Abgange nach Petersburg
gegeben hatte 1).
III.
Schon in der Berufung des Prinzen Adolf von Hohenlohe-
Ingelfingen zum Vertreter des Miniſterpräſidenten Fürſten Hohen¬
zollern, März 1862, lag eine Art von miniſterieller Wechſelreiterei,
die auf kurze Verfallzeit berechnet war. Der Prinz war ein kluger
Herr, liebenswürdig, dem Könige unbedingt ergeben und hatte ſich
an unſrer innern Politik, wenn auch mehr dilettantiſch, doch leb¬
hafter betheiligt, als die meiſten ſeiner Genoſſen vom ſtandesherr¬
lichen Adel; aber er war der Stelle eines Miniſterpräſidenten in
bewegten Zeiten körperlich und vielleicht auch geiſtig nicht mehr
gewachſen und ſuchte dieſen Eindruck, als ich ihn im Mai 1862 ſah,
mir gegenüber abſichtlich zu verſtärken, während er mich beſchwor,
ihn durch ſchleunige Uebernahme des Miniſteriums von ſeinem
Martyrium zu erlöſen, unter dem er zuſammenbreche.
Ich kam damals noch nicht in die Lage, ſeinen Wunſch er¬
füllen zu können, hatte auch keinen Drang dazu. Schon als ich
von Petersburg nach Berlin berufen wurde, hatte ich nach den
Windungen unſrer parlamentariſchen Politik annehmen können,
daß dieſe Frage an mich herantreten würde. Ich kann nicht ſagen,
daß mich dieſe Ausſicht angeſprochen, thatenfreudig geſtimmt hätte,
mir fehlte der Glaube an dauernde Feſtigkeit Sr. Majeſtät häuslichen
Einflüſſen gegenüber; ich erinnere mich, daß ich in Eydtkuhnen den
Schlagbaum der heimathlichen Grenze nicht mit dem freudigen
Gefühl paſſirte, wie bis dahin bei jedem ähnlichen Vorkommniß.
Ich war bedrückt von der Sorge, ſchwierigen und verantwortlichen
Geſchäften entgegen zu gehn und auf die angenehme und nicht
1)
S. o. S. 210 f.
[251/0278]
Miniſterielle Wechſelreiterei. Ernennung nach Paris.
nothwendig verantwortliche Stellung eines einflußreichen Geſandten
zu verzichten. Dabei konnte ich mir keine ſichre Berechnung machen
von dem Gewicht und der Richtung des Beiſtandes, den ich im
Kampfe mit der ſteigenden Fluth der Parlamentsherrſchaft bei dem
Könige und ſeiner Gemalin, bei den Collegen und im Lande
finden werde. Meine Lage, in Berlin im Gaſthofe wie einer der
intriguirenden Geſandten aus der Manteuffel'ſchen Zeit im Lichte
eines Bewerbers vor Anker zu liegen, widerſtrebte meinem Selbſt¬
gefühl. Ich bat den Grafen Bernſtorff, mir entweder ein Amt
oder meine Entlaſſung zu verſchaffen. Er hatte die Hoffnung,
bleiben zu können, noch nicht aufgegeben, er beantragte und erhielt
in wenig Stunden meine Ernennung nach Paris.
Am 22. Mai 1862 ernannt, übergab ich am 1. Juni in den
Tuilerien mein Beglaubigungsſchreiben. Von dem folgenden Tage
iſt nachſtehender Brief an Roon 1):
„Ich bin glücklich angekommen, wohne hier wie eine Ratte
in der leeren Scheune und bin von kühlem Regenwetter eingeſperrt.
Geſtern hatte ich feierliche Audienz, mit Auffahrt in kaiſerlichen
Wagen, Ceremonie, aufmarſchirten Würdenträgern. Sonſt kurz
und erbaulich, ohne Politik, die auf un de ces jours und Privat¬
audienz verſchoben wurde. Die Kaiſerin ſieht ſehr gut aus, wie
immer. Geſtern Abend kam der Feldjäger, brachte mir aber nichts
aus Berlin, als einige lederne Dinger von Depeſchen über Däne¬
mark. Ich hatte mich auf einen Brief von Ihnen geſpitzt. Aus
einem Schreiben, welches Bernſtorff an Reuß gerichtet hat, erſehe
ich, daß der Schreiber auf meinen dauernden Aufenthalt hier und
den ſeinigen in Berlin mit Beſtimmtheit rechnet, und daß der
König irrt, wenn er annimmt, daß jener je eher, je lieber nach
London zurück verlange. Ich begreife ihn nicht, warum er nicht
ganz ehrlich ſagt, ich wünſche zu bleiben oder ich wünſche zu gehn,
1)
Bismarckbriefe (7. Aufl.) S. 337 f., jetzt auch in Roon's Denkwürdig¬
keiten II 4 91 f.
[252/0279]
Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
keins von beiden iſt ja eine Schande. Beide Poſten gleichzeitig
zu behalten, iſt ſchon weniger vorwurfsfrei. Sobald ich etwas zu
berichten, d. h. den Kaiſer unter vier Augen geſprochen habe, werde
ich dem Könige eigenhändig ſchreiben. Ich ſchmeichle mir noch
immer mit der Hoffnung, daß ich Seiner Majeſtät weniger unent¬
behrlich erſcheinen werde, wenn ich ihm eine Zeit lang aus den
Augen bin, und daß ſich noch ein bisher verkannter Staatsmann
findet, der mir den Rang abläuft, damit ich hier noch etwas reifer
werde. Ich warte in Ruhe ab, ob und was über mich verfügt
wird. Geſchieht in einigen Wochen nichts, ſo werde ich um Urlaub
bitten, um meine Frau zu holen, muß dann aber doch Sicherheit
haben, wie lange ich hier bleibe. Auf achttägige Kündigung kann
ich mich hier dauernd nicht einrichten.
Der Gedanke, mir ein Miniſterium ohne Portefeuille zu geben,
wird hoffentlich Allerhöchſten Ortes nicht Raum gewinnen; bei der
letzten Audienz war davon nicht die Rede; die Stellung iſt nicht
practiſch; nichts zu ſagen und alles zu tragen haben, in alles
unberufen hineinſtänkern und von jedem abgebiſſen, wo man
wirklich mitreden will. Mir geht Portefeuille über Präſidium;
letztres iſt doch nur eine Reſerveſtellung; auch würde ich nicht gern
einen Collegen haben, der halb in London wohnt. Will er nicht
ganz dahin ziehn, ſo gönne ich ihm von Herzen zu bleiben, wo er
iſt, und halte es nicht für freundſchaftlich, ihn zu drängen.
Herzliche Grüße an die Ihrigen. Ihr treuer Freund und
bereitwilliger, aber nicht muthwilliger Kampfgenoſſe, wenn's ſein
muß; im Winter noch lieber, als bei die Hitze!“
Unter dem 4. Juni ſchrieb mir Roon von Berlin 1):
„... Am Sonntage ſprach mir Schleinitz über den Erſatz für
Hohenlohe und meinte, Ihre Zeit wäre noch nicht gekommen. Als
ich ihn fragte, wer denn als Haupt des Miniſterii fungiren
1)
Der Brief iſt vollſtändig veröffentlicht im Bismarck-Jahrbuch III
233 f., jetzt auch in Roon's Denkwürdigkeiten II 4 93 ff.
[253/0280]
Briefwechſel mit Roon über den Eintritt ins Miniſterium.
ſollte, zuckte er die Achſeln, und als ich hinzuſetzte, es bliebe dann
nichts übrig, als daß er ſich ſelbſt erbarmte, ſchlüpfte er darüber
hinweg, nicht abwehrend, nicht zuſtimmend. Daß mich dies be¬
unruhigt, kann Sie nicht wundern. Ich nahm daher geſtern
Gelegenheit, an maßgebender Stelle die Miniſterpräſidenten-Frage
auf die Bahn zu bringen, und fand die alte Hinneigung zu Ihnen
neben der alten Unentſchloſſenheit. Wer kann da helfen? Und
wie ſoll dies enden? — — Keine regierungsfähige Partei! Die
Demokraten ſind ſelbſtverſtändlich ausgeſchloſſen, aber die große
Majorität beſteht aus Demokraten und ſolchen, die es werden
wollen, wenngleich ihr Adreßentwurf von Loyalitätsverſicherungen
trieft. Daneben die Conſtitutionellen, d. h. die Eigentlichen, ein
Häuflein von wenig mehr als 20 Köpfen, Vincke an der Spitze,
circa 15 Conſervative, 30 Katholiken, einige 20 Polen. Wo alſo
findet eine mögliche Regierung die nöthige Unterſtützung? Welche
Parthei kann bei dieſer Gruppirung regieren außer den Demo¬
kraten, und dieſe können es, dürfen es erſt recht nicht. Unter dieſen
Umſtänden, ſo ſagt meine Logik, muß die jetzige Regierung im
Amte bleiben, ſo ſchwierig es auch ſein mag. Und eben deshalb
muß ſie ſich mit Nothwendigkeit verſtärken und zwar je eher, je
lieber. — — Daß Graf Bernſtorff immer zwei große Poſten in
Beſchlag habe, ſcheint mir nun nicht eben durch Preußens Intereſſe
geboten zu ſein. Ich werde mich daher ſehr freuen, wenn Sie
nächſtens zum Miniſterpräſidenten ernannt werden, obgleich ich über¬
zeugt bin, daß B. dann binnen Kurzem aus ſeiner Doppelſtellung
treten und nicht länger den Koloß, 1 Fuß in Berlin, 1 in
London, ſpielen wird. Ich ſchiebe es Ihnen in's Gewiſſen, keinen
Gegenzug zu thun, da er ſchließlich dahin führen könnte und würde,
den König in die offenen Arme der Demokraten zu treiben. — —
Zum 11. ds. M. iſt Hohenlohes Urlaub um. Er wird nicht wieder¬
kommen, ſondern nur ſein Entlaſſungsgeſuch. Und dann, ja dann
hoffe ich, wird der Telegraph Sie herrufen. Alle Patrioten er¬
ſehnen dies. Wie könnten Sie da zaudern und manövriren?“
[254/0281]
Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
Meine Antwort lautet:
„Paris, Pfingſten 1)62.
Lieber Roon
Ich habe Ihren Brief durch Stein (damals Militär-Bevoll¬
mächtigter) richtig erhalten, offenbar unerbrochen, denn ich konnte
ihn ohne theilweiſe Zerſtörung nicht öffnen. Sie können verſichert
ſein, daß ich durchaus keine Gegenzüge und Manövers mache;
wenn ich nicht aus allen Anzeichen erſähe, daß Bernſtorff garnicht
daran denkt auszuſcheiden, ſo würde ich mit Gewißheit erwarten,
daß ich in wenig Tagen Paris verließe, um über London nach
Berlin zu gehn, und ich würde keinen Finger rühren, um dem
entgegenzuarbeiten. Ich rühre auch ſo keinen; aber ich kann doch
auch nicht den König mahnen, mir Bernſtorffs Stelle zu geben,
und wenn ich ohne Portefeuille einträte, ſo hätten wir, Schleinitz
eingerechnet, drei auswärtige Miniſter, von denen jeder Verant¬
wortung gegenüber der eine ſich ſtündlich in's Hausminiſterium,
der andre nach London zurückzuziehn bereit iſt. Mit Ihnen weiß
ich mich einig, mit Jagow glaube ich es werden zu können, die
Fachminiſterien würden mir nicht Anſtoß geben; über auswärtige
Dinge aber habe ich ziemlich beſtimmte Anſichten; Bernſtorff vielleicht
auch, aber ich kenne ſie nicht, und vermag mich in ſeine Methode
und ſeine Formen nicht einzuleben, ich habe auch kein Vertrauen
zu ſeinem richtigen Augenmaß für die politiſchen Dinge, er alſo
vermuthlich zu dem meinigen auch nicht. So ſehr lange kann
die Ungewißheit übrigens nicht mehr dauern; ich warte bis nach
dem 11., ob der König bei der Auffaſſung vom 26. v. M. 2)bleibt
oder ſich anderweit verſorgt. Geſchieht bis dahin nichts, ſo ſchreibe
ich Sr. M. in der Vorausſetzung, daß mein hieſiges Verhältniß
definitiv wird, und ich meine häuslichen Einrichtungen danach treffe,
1) 8. bez. 9. Juni, Bismarckbriefe (7. Aufl.) 339 f., Roon's Denkwürdig¬
keiten II 4 95 ff.
2)
Tag der letzten Audienz auf Schloß Babelsberg vor der Abreiſe
nach Paris.
[255/0282]
Briefwechſel mit Roon über den Eintritt ins Miniſterium.
mindeſtens bis zum Winter oder länger hier zu bleiben. Meine
Sachen und Wagen ſind noch in Petersburg, ich muß ſie irgendwo
unterbringen; außerdem habe ich die Gewohnheiten eines achtbaren
Familienvaters, zu denen gehört, daß man irgendwo einen feſten
Wohnſitz hat, und der fehlt mir eigentlich ſeit Juli v. J., wo mir
Schleinitz zuerſt ſagte, daß ich verſetzt würde. Sie thun mir Unrecht,
wenn Sie glauben, daß ich mich ſträube; ich habe im Gegentheil
lebhafte Anwandlungen von dem Unternehmungsgeiſt jenes Thieres,
welches auf dem Eiſe tanzen geht, wenn ihm zu wohl wird. —
Ich bin den Adreßdebatten einigermaßen gefolgt und habe
den Eindruck, daß ſich die Regirung in der Commiſſion, vielleicht
auch im Plenum, mehr hergegeben hat, als nützlich war. Was
liegt eigentlich an einer ſchlechten Adreſſe? Die Leute glauben mit
der angenommnen einen Sieg erfochten zu haben. In einer Adreſſe
führt eine Kammer Manöver mit markirtem Feinde und Platz¬
patronen auf. Nehmen die Leute das Scheingefecht für ernſten
Sieg und zerſtreuen ſich plündernd und marodirend auf Königlichem
Rechtsboden, ſo kommt wohl die Zeit, daß der markirte Feind ſeine
Batterien demaskirt und ſcharf ſchießt. Ich vermiſſe etwas Gemüth¬
lichtkeit in unſrer Auffaſſung; Ihr Brief athmet ehrlichen Krieger¬
zorn, geſchärft von des Kampfes Staub und Hitze. Sie haben,
ohne Schmeichelei, vorzüglich geantwortet, aber es iſt eigentlich
ſchade drum, die Leute verſtehn kein Deutſch. Unſern freund¬
lichen Nachbar hier habe ich ruhig und behäbig gefunden, ſehr
wohlwollend für uns, ſehr geneigt, die Schwierigleiten der ‚deutſchen
Frage‘ zu beſprechen; er kann ſeine Sympathien keiner der be¬
ſtehenden Dynaſtien verſagen, aber er hofft, daß Preußen die große
ihm geſtellte Aufgabe mit Erfolg löſen werde, die deutſche näm¬
lich, dann werde die Regirung auch im Innern Vertrauen gewinnen.
Lauter ſchöne Worte. Um zu erklären, daß ich mich bisher nicht
recht wohnlich einrichte, ſage ich den Fragern, daß ich in Kurzem
für einige Monat Urlaub zu nehmen denke, um dann mit meiner
Frau wiederzukommen.
[256/0283]
Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
10. Juni. Die Antwort Sr. M. auf die Adreſſe macht in
ihrer zurückhaltenden Gemeſſenheit einen ſehr würdigen Eindruck,
und kühl, keine Gereiztheit. Anſpielungen auf Schleinitz' Eintritt
für Hohenlohe finden ſich in mehren Blättern. Ich gönne es ihm
von Herzen, und Hausminiſter bleibt er dabei doch.
Ich ſchicke dieſen Brief morgen mit dem Feldjäger, der dann
in Aachen bleibt, bis er wieder etwas aus Berlin herzubringen
bekommt. Meine Empfehlungen an Ihre Damen; den Meinigen
geht es gut. In alter Treue
Ihr
v. B.“
Am 26. Juni hatte der Kaiſer mich nach Fontainebleau ein¬
geladen und machte mit mir einen längern Spaziergang. Im
Laufe der Unterhaltung über politiſche Fragen des Tages und der
letzten Jahre fragte er mich unerwartet, ob ich glaubte, daß der
König geneigt ſein würde, auf eine Allianz mit ihm einzugehn.
Ich antwortete, der König hätte die freundſchaftlichſten Geſinnungen
für ihn, und die Vorurtheile, die früher in der öffentlichen Meinung
bei uns in Betreff Frankreichs geherrſcht hätten, ſeien ſo ziemlich
verſchwunden; aber Allianzen ſeien das Ergebniß der Umſtände,
nach denen das Bedürfniß oder die Nützlichkeit zu beurtheilen ſei.
Eine Allianz ſetze ein Motiv, einen beſtimmten Zweck voraus.
Der Kaiſer beſtritt die Nothwendigkeit einer ſolchen Vorausſetzung;
es gäbe Mächte, die freundlich zu einander ſtänden, und andre,
bei denen das weniger der Fall ſei. Angeſichts einer ungewiſſen
Zukunft müſſe man ſein Vertrauen nach irgend einer Seite richten.
Er ſpreche von einer Allianz nicht mit der Abſicht eines abenteuer¬
lichen Projects; aber er finde zwiſchen Preußen und Frankreich
eine Conformität der Intereſſen und darin die Elemente einer
entente intime et durable. Es würde ein großer Fehler ſein, die
Ereigniſſe ſchaffen zu wollen; man könne ihre Richtung und
Stärke nicht vorausberechnen, aber man könne ſich ihnen gegenüber
einrichten, se prémunir, en avisant aux moyens, pour y faire face
[257/0284]
Napoleon ſchlägt ein franzöſiſch-preußiſches Bündniß vor.
et en profiter. Dieſer Gedanke einer „diplomatiſchen Allianz“,
in welcher man die Gewohnheit gegenſeitigen Vertrauens annähme
und für ſchwierige Lagen auf einander zu rechnen lernte, wurde
von dem Kaiſer weiter ausgeſponnen. Dann plötzlich ſtehen blei¬
bend, ſagte er:
„Sie können Sich nicht vorſtellen, quelles singulières ouver¬
tures m'a fait faire l'Autriche, il y a peu de jours. Es ſcheint,
daß das Zuſammentreffen Ihrer Ernennung und der Ankunft des
Herrn von Budberg in Paris einen paniſchen Schrecken in Wien
erzeugt hat. Der Fürſt Metternich hat mir geſagt, er habe In¬
ſtructionen erhalten, die ſo weit gingen, daß er ſelbſt darüber er¬
ſchrocken ſei; er habe unbegrenzte Vollmachten, wie ſie je ein Sou¬
verain ſeinem Vertreter anvertraut, in Betreff aller und jeder Frage,
die ich anregen würde, ſich mit mir um jeden Preis zu verſtändigen.
Ich wurde durch dieſe Eröffnung in einige Verlegenheit geſetzt,
denn abgeſehn von der Unverträglichkeit der Intereſſen beider
Staaten habe ich eine faſt abergläubiſche Abneigung dagegen, mich
mit den Geſchicken Oeſtreichs zu verflechten“ 1).
Ganz aus der Luft gegriffen konnten dieſe Auslaſſungen des
Kaiſers nicht ſein, wenn er auch erwarten durfte, daß ich meine
geſellſchaftlichen Beziehungen zu Metternich nicht bis zum Bruch
des mir gewährten Vertrauens ausnutzen werde. Unvorſichtig war
dieſe Eröffnung an den Preußiſchen Geſandten jedenfalls, mochte
ſie wahr oder übertrieben ſein. Ich war ſchon in Frankfurt zu
der Ueberzeugung gelangt, daß die Wiener Politik unter Umſtänden
vor keiner Combination zurückſchrecke; daß ſie Venetien oder das
linke Rheinufer opfern würde, wenn damit auf dem rechten eine
Bundesverfaſſung mit geſichertem Uebergewicht Oeſtreichs über
Preußen zu erkaufen ſei, daß die deutſche Phraſe in der Hofburg
1)
Man vergleiche damit den faſt wörtlich übereinſtimmenden Bericht
vom 28. Juni 1862 an Bernſtorff, der dem Fürſten Bismarck bei der Auf¬
zeichnung ſeiner Erinnerungen nicht vorgelegen hat. Bismarck-Jahrbuch
VI 152 ff.
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 17
[258/0285]
Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
ihren Cours habe, ſo lange man ſie als Leitſeil für uns oder die
Würzburger gebrauchte. Wenn eine franzöſiſch-öſtreichiſche Coa¬
lition nicht ſchon jetzt gegen uns beſtände, ſo hätten wir das nicht
Oeſtreich, ſondern Frankreich zu danken, und nicht einer etwaigen
Vorliebe Napoleons für uns, ſondern ſeinem Mißtrauen, ob Oeſt¬
reich im Stande ſein werde, mit dem zur Zeit mächtigen Winde
der Nationalität zu ſegeln. Aus alledem zog ich in dem Berichte,
den ich dem Könige erſtattete, nicht die Conſequenz, daß wir
irgend ein Bündniß mit Frankreich jetzt zu ſuchen hätten, wohl aber
die, daß wir auf treue Bundesgenoſſenſchaft Oeſtreichs gegen Frank¬
reich nicht zählen dürften und nicht hoffen könnten, die freie Zu¬
ſtimmung Oeſtreichs zur Verbeſſerung unſrer Stellung in Deutſch¬
land zu erlangen.
In Ermanglung jeder Art politiſcher Aufträge und Geſchäfte
ging ich auf kurze Zeit nach England und trat am 25. Juli eine
längere Reiſe durch das ſüdliche Frankreich an. In dieſe Zeit fällt
die nachſtehende Correſpondenz.
„Paris, 15. July 62 1).
Lieber Roon
Ich habe mir neulich viele Fragen darüber vorgelegt, warum Sie
telegraphiſch Sich erkundigten, ob ich Ihren Brief vom 26. [v. M.]
erhalten hätte. Ich habe nicht darauf geantwortet, weil ich etwas
Neues über den Hauptgegenſtand nicht geben, ſondern nur empfangen
konnte. Seitdem iſt mir ein Courier zugegangen, der mir ſeit
14 Tagen telegraphiſch angemeldet war und in deſſen Erwartung
ich 8 Tage zu früh von England zurückkam. Er brachte einen
Brief von Bernſtorff, in Antwort auf ein Urlaubsgeſuch von mir.
Ich bin hier jetzt überflüſſig, weil kein Kaiſer, kein Miniſter, kein
Geſandter mehr hier iſt. Ich bin nicht ſehr geſund, und dieſe
proviſoriſche Exiſtenz mit Spannung auf ‚ob und wie‘ ohne eigent¬
1)
Bismarckbriefe (7. Aufl.) S. 347 ff., Roon's Denkwürdigkeiten II4
[259/0286]
Briefwechſel mit Roon über den Eintritt ins Miniſterium.
liche Geſchäfte beruhigt die Nerven nicht. Ich ging meiner Anſicht
nach auf 10 bis 14 Tage her, und bin nun 7 Wochen hier, ohne
je zu wiſſen, ob ich in 24 Stunden noch hier wohne. Ich will mich
dem Könige nicht aufdrängen, indem ich in Berlin vor Anker liege,
und gehe nicht nach Hauſe, weil ich fürchte, auf der Durchreiſe
durch Berlin im Gaſthof auf unbeſtimmte Zeit angenagelt zu werden.
Aus Bernſtorffs Brief 1)erſehe ich, daß es dem Könige vor der Hand
nicht gefällt, mir das Auswärtige zu übertragen, und daß Se. Ma¬
jeſtät ſich noch nicht über die Frage ſchlüſſig gemacht hat, ob ich
an Hohenlohes Stelle treten ſoll, dieſe Frage aber auch nicht durch
Ertheilung eines Urlaubs auf 6 Wochen negativ präjudiciren will.
Der König iſt, wie mir Bernſtorff ſchreibt, zweifelhaft, ob ich
während der gegenwärtigen Seſſion nützlich ſein könne und ob
nicht meine Berufung, wenn ſie überhaupt erfolgt, zum Winter
aufzuſchieben ſei. Unter dieſen Umſtänden wiederhole ich heut
mein Geſuch um 6 Wochen Urlaub 2), was ich mir wie folgt moti¬
vire. Einmal bin ich wirklich einer körperlichen Stärkung durch
Berg- und Seeluft bedürftig; wenn ich in die Galeere eintreten
ſoll, ſo muß ich etwas Geſundheitsvorrath ſammeln, und Paris iſt
mir bis jetzt ſchlecht bekommen mit dem Hunde-Bummel-Leben als
Garçon. Zweitens muß der König Zeit haben, ſich ruhig aus
eigner Bewegung zu entſchließen, ſonſt macht Se. Majeſtät für die
Folgen die verantwortlich, die ihn drängen. Drittens will Bern¬
ſtorff jetzt nicht abgehn, der König hat ihn wiederholt aufgefordert
zu bleiben, und erklärt, daß er mit mir wegen des Auswärtigen
garnicht geſprochen habe; die Stellung als Miniſter ohne Porte¬
feuille finde ich aber nicht haltbar. Viertens kann mein Eintritt,
der jetzt zwecklos und beiläufig erſcheinen würde, in einem ſpätern
Moment als eindrucksvolles Manöver verwerthet werden.
Ich denke mir, daß das Miniſterium allen Streichungen im
1)
Vom 12. Juli, Bismarck-Jahrbuch VI 155 f.
2)
Brief an Bernſtorff vom 15. Juli, Bismarck-Jahrbuch VI 156 ff.
[260/0287]
Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
Militäretat ruhig und deutlich opponirt, aber keine Kriſis über die¬
ſelben herbeiführt, ſondern die Kammer das Budget vollſtändig
durchberathen läßt. Das wird, wie ich annehme, im September
geſchehn ſein. Dann geht das Budget, von dem ich vorausſetze,
daß es für die Regirung nicht annehmbar iſt, an das Herrenhaus,
falls man ſicher iſt, daß die verſtümmelte Budget-Vorlage dort
abgelehnt wird. Dann, oder andernfalls ſchon vor der Berathung
im Herrenhauſe, könnte man es, mit einer Königlichen Botſchaft,
welche mit ſachlicher Motivirung die Zuſtimmung der Krone zu
einem derartigen Budgetgeſetz verweigert, an die Abgeordneten
zurückgeben, mit der Aufforderung zu neuer Berathung. Eine
30tägige Vertagung des Landtages würde vielleicht an dieſem
Punkte, oder ſchon früher, einzuſchalten ſein. Je länger ſich die
Sache hinzieht, deſto mehr ſinkt die Kammer in der öffentlichen
Achtung, da ſie den Fehler begangen hat und noch weiter begehn
wird, ſich in alberne Kleinigkeiten zu verbeißen, und da ſie keinen
Redner hat, der nicht die Langeweile des Publikums vermehrte.
Kann man ſie dahin bringen, daß ſie ſich in ſolche Lappalie wie
die Continuität des Herrenhauſes verbeißt und darüber Krieg an¬
fängt und die Erledigung der eigentlichen Geſchäfte verſchleppt, ſo
iſt es ein großes Glück. Sie wird müde werden, hoffen, daß der
Regirung der Athem ausgeht, und die Kreisrichter müſſen mit den
Koſten ihrer Stellvertretung geängſtigt werden. Wenn ſie mürbe
wird, fühlt, daß ſie das Land langweilt, dringend auf Conceſſionen
Seitens der Regirung hofft, um aus der ſchiefen Stellung erlöſt
zu werden, dann iſt m. E. der Moment gekommen, ihr durch
meine Ernennung zu zeigen, daß man weit entfernt iſt, den Kampf
aufzugeben, ſondern ihn mit friſchen Kräften aufnimmt. Das
Zeigen eines neuen Bataillons in der miniſteriellen Schlachtordnung
macht dann vielleicht einen Eindruck, der jetzt nicht erreicht würde;
beſonders wenn vorher etwas mit Redensarten von Octroyiren und
Staatsſtreicheln geraſſelt iſt, ſo hilft mir meine alte Reputation
von leichtfertiger Gewaltthätigkeit, und man denkt ‚nanu geht's
[261/0288]
Briefwechſel mit Roon über den Eintritt ins Miniſterium.
los‘. Dann ſind alle Centralen und Halben zum Unterhandeln
geneigt.
Das Alles beruht mehr auf inſtinctivem Gefühl, als daß ich
beweiſen könnte, es ſei ſo; und ich gehe nicht ſo weit, zu irgend
etwas, das mir der König befiehlt, deshalb auf eigne Fauſt nein
zu ſagen. Wenn ich aber um meine Anſicht gefragt werde, ſo bin
ich dafür, noch einige Monat hinter dem Buſch gehalten zu werden.
Vielleicht iſt dieß Alles Rechnung ohne den Wirth, vielleicht
entſchließt ſich Se. Majeſtät niemals dazu, mich zu ernennen, denn
ich ſehe nicht ein, warum es überhaupt geſchehn ſollte, nachdem es
ſeit 6 Wochen nicht geſchehn iſt. Daß ich aber hier den heißen
Staub von Paris ſchlucken, in Cafés und Theatern gähnen, oder
mich in Berlin wieder als politiſcher Dilettant in's Hôtel Royal ein¬
lagern ſoll, dazu fehlt aller Grund, die Zeit iſt beſſer im Bade zu
verwenden.
Ich bin doch erſtaunt von der politiſchen Unfähigkeit unſrer
Kammern, und wir ſind doch ein ſehr gebildetes Land; ohne Zweifel
zu ſehr; die Andern ſind beſtimmt auch nicht klüger, als die Blüthe
unſrer Klaſſenwahlen, aber ſie haben nicht dieß kindliche Selbſt¬
vertrauen, mit dem die Unſrigen ihre unfähigen Schamtheile in voller
Nacktheit als muſtergültig an die Oeffentlichkeit bringen. Wie ſind
wir Deutſchen doch in den Ruf ſchüchterner Beſcheidenheit gekommen?
Es iſt Keiner unter uns, der nicht vom Kriegführen bis zum Hunde¬
flöhen alles beſſer verſtände, als ſämmtliche gelernte Fachmänner,
während es doch in andern Ländern Viele giebt, die einräumen, von
manchen Dingen weniger zu verſtehn als Andre, und deshalb ſich
beſcheiden und ſchweigen.
Den 16. Ich muß heut ſchleunig ſchließen, nachdem meine
Zeit von andern Geſchäften fortgenommen iſt.
Mit herzlichen Empfehlungen an die Ihrigen bin ich in alter
Treue
Ihr
v. B.“
[262/0289]
Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
Roon antwortete mir am 31. Auguſt 1862:
„Mein lieber Bismarck,
Sie werden ſich ungefähr denken können, warum ich Ihnen
bisher nicht geantwortet; ich hoffte und hoffte immer wieder auf
eine Entſcheidung oder doch auf eine Situation, welche eine akute
Löſung herbeiführen müßte. Leider haben meine, unſere Leiden
noch immer einen ganz chroniſchen Charakter. Jetzt iſt ein neues
Moment — die Freiſprechung der Verleumder von der Heydts —
hinzugetreten, aber auch das wird ſich im märkiſchen Sande ver¬
laufen. Ich habe mich der misère générale auf einige Tage ent¬
zogen, als ich bei der Abreiſe des Königs nach D(oberan) hierher
(Zimmerhauſen) floh, um Hühner zu ſchießen. Bernſtorff, den ich
vor 3-4 Wochen ganz entſchloſſen fand, ſeinen Poſten zu ver¬
laſſen, der ihm viel zu ſchwer und ſauer wird, ſagte mir vor
8 Tagen, daß er doch nicht wiſſe, ob er nach dem Schluß der
parlamentariſchen Seſſion nicht dem Wunſche des Königs (falls
er ausgeſprochen werden ſollte) werde nachgeben und bleiben müſſen,
wiewohl ſeine Sehnſucht nach Erlöſung nicht erloſchen ſei, d. h.
in die Wirklichkeit überſetzt, die Seſſion hat ſich ſo lange hinge¬
zogen, daß ihr Schluß vorausſichtlich mit der Entbindung der
Gräfin ungefähr zuſammenfallen wird; daß daher eine Verſetzungs¬
reiſe im Winter alsdann noch viel weniger paſſen würde als ohne
dies. Schon früher ſagte er mir nämlich, daß ſeine Verſetzung
nach London ſpäteſtens im September ſtattfinden müſſe, wenn ſie
für ihn annehmlich ſein ſollte. Dieſe vielleicht verdammliche Selbſt¬
ſucht auf der einen und die Unentſchloſſenheit des Königs auf der
anderen Seite, verbunden mit v. d. Heydts Anſicht, daß er ſich
zwar einen Präſidenten, nicht aber einen ſolchen aus der Zahl
jüngerer Collegen gefallen laſſen könne und werde, läßt mich zu
der früheren Behauptung zurückkehren, daß Sie als Miniſter¬
präſident und zwar vorläufig ohne Portefeuille eintreten müſſen;
letzteres wird ſich ſpäter von ſelbſt finden. Daß wir in die Winter¬
[263/0290]
Briefwechſel mit Roon über den Eintritt ins Miniſterium.
ſeſſion in der bisherigen Unvollſtändigkeit und Unzulänglichkeit ein¬
treten ſollten, halte ich für ganz widerſinnig und unmöglich, und
zu dieſer Meinung habe ich mehr als eine allerhöchſte Zuſtimmung.
Gefochten muß und gefochten wird werden. An Conceſſionen und
Compromiſſe iſt gar nicht zu denken; am wenigſten iſt der König
dazu geneigt. Gefährliche Kataſtrophen ſind daher mit Sicherheit
vorauszuſehen, auch ganz abgeſehen von den Verwickelungen in
unſerer äußeren Politik, die ſchon jetzt einige recht intereſſante
Verhedderungen aufzuweiſen hat. — Ich kann mir denken, daß
Sie, mein alter Freund, ſehr disguſtirt ſind; ich kann an meinem
eigenen Ekel den Ihrigen ermeſſen. Aber ich hoffe noch immer,
daß Sie um deswillen nicht boudiren, ſondern ſich vielmehr der
altritterlichen Pflicht erinnern werden, den König herauszuhauen,
auch wenn er, wie geſchehen, ſich muthwillig in Gefahr begab.
Aber Sie ſind ein Menſch, und was mehr iſt, ein Gatte und
Familienvater. Sie wollen, neben aller Arbeit, auch eine Häus¬
lichkeit und ein Familienleben. Sie haben ein Recht darauf, c'est
convenu! Sie müſſen alſo wiſſen, bald wiſſen, wo Ihr Bett und
Ihr Schreibtiſch aufgeſtellt werden ſoll, ob in Paris oder Berlin.
Und das Wort des Königs, daß Sie ſich in Berlin nicht etabliren
ſollen, iſt bis jetzt, ſoviel ich weiß, noch nicht zurückgenommen.
Sie müſſen Gewißheit haben. Ich will das Meinige — und zwar
nicht blos aus Selbſtſucht, ſondern aus patriotiſchem Intereſſe —
dazu beitragen, daß Ihnen dieſe Gewißheit baldigſt werde. Ich
fingire daher, und zwar ſo lange, bis Sie es mir unterſagen, von
Ihnen zur Herbeiführung dieſer Gewißheit privatim beauftragt zu
ſein. Nach den letzten Unterredungen mit Serenissimo über Sie
habe ich ohnehin mein ſpezielles perſönliches Intereſſe für Sie be¬
reits verwerthen müſſen. Ich kann daher auch von Ihrer un¬
erträglichen Situation ſprechen, die beſonders darin begründet iſt,
daß Sie ausdrücklich verhindert werden, Sich in Paris zu etabliren.
Dergleichen Motive werden verſtanden, wirken daher vielleicht mehr
als politiſche Erwägungen. Ich fingire daher Ihr Einverſtändniß
[264/0291]
Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
und rathe, Sie einſtweilen zum Miniſter-Präſidenten ohne Porte¬
feuille zu ernennen, was ich bisher vermieden; es geht nicht anders!
Wollen Sie dies abſolut nicht, ſo desavouiren Sie mich oder ge¬
bieten Sie mir Schweigen. Ich ſpreche den Herrn am 7. in einer
ganz vertraulichen Audienz, die er mir für dieſen Tag bei ſeiner
Durchreiſe nach Carlsruhe zur Taufe (am 9./9.) zugeſagt hat. Sie
haben alſo auch noch Zeit zum Proteſtiren.
Von der allgemeinen Situation will ich heut nicht reden.
Die innere Kataſtrophe wird jetzt nicht ſtattfinden, wie ich ver¬
muthe, ſondern erſt im Frühjahr, und da müſſen Sie nothwendig
dabei ſein. Sie wird über unſere Zukunft endgültig entſcheiden. ...
Ihr
v. Roon.“ 1)
Ich erwiderte:
„Toulouſe, 12. September 62.
Meine Kreuz- und Querzüge in den Pyrenäen haben gemacht,
daß ich Ihren Brief vom 31. [Auguſt] erſt heut hier vorfinde. Ich
hatte auch auf einen von Bernſtorff gehofft, der mir vor vier
Wochen ſchrieb, daß ſich im September die Frage wegen des Perſonal¬
wechſels jedenfalls entſcheiden müſſe. Ihre Zeilen laſſen mich leider
vermuthen, daß die Ungewißheit um Weihnachten noch dieſelbe ſein
wird wie jetzt. Meine Sachen liegen noch in Petersburg und werden
dort einfrieren, meine Wagen ſind in Stettin, meine Pferde bei
Berlin auf dem Lande, meine Familie in Pommern, ich ſelbſt auf
der Landſtraße. Ich gehe jetzt nach Paris zurück, obſchon ich dort
weniger wie je zu thun habe, mein Urlaub iſt aber um. Mein
Plan iſt nun, Bernſtorff vorzuſchlagen, daß ich nach Berlin komme,
um das Weitre mündlich zu beſprechen 2). Ich habe das Bedürfniß,
einige Tage in Reinfeld zu ſein, nachdem ich die Meinigen ſeit
1) S. Bismarck-Jahrbuch III 237 f., jetzt auch Roon's Denkwürdigkeiten
II4 109 ff.
2) Geſchah in einem Briefe von Montpellier aus am gleichen Tage,
Bismarck-Jahrbuch VI 162 ff.
[265/0292]
Briefwechſel mit Roon über den Eintritt ins Miniſterium.
dem 8. Mai nicht geſehn habe. Bei der Gelegenheit muß ich in's
Klare kommen. Ich wünſche nichts lieber, als in Paris zu bleiben,
nur muß ich wiſſen, daß ich Umzug und Einrichtung nicht auf
einige Wochen oder Monate bewirke, dazu iſt mein Hausſtand zu
groß. Ich habe mich niemals geweigert, das Präſidium ohne Porte¬
feuille anzunehmen, ſobald es der König befiehlt; ich habe nur ge¬
ſagt, daß ich die Einrichtung für eine unzweckmäßige halte. Ich
bin noch heut bereit, ohne Portefeuille einzutreten, aber ich ſehe
garkeine ernſtliche Abſicht dazu. Wenn mir Se. Majeſtät ſagen
wollte: am 1. November, oder 1. Januar, oder 1. April — ſo
wüßte ich, woran ich wäre, und bin wahrlich kein Schwierigkeits¬
macher, ich verlange nur [FORMEL] der Rückſicht, die Bernſtorff ſo
reichlich gewährt wird. In dieſer Ungewißheit verliere ich alle
Luſt an den Geſchäften, und ich bin Ihnen von Herzen dankbar
für jeden Freundſchaftsdienſt, den Sie mir leiſten, um ihr ein Ende
zu machen. Gelingt dieß nicht bald, ſo muß ich die Dinge nehmen,
wie ſie liegen, und mir ſagen, ich bin des Königs Geſandter in
Paris, laſſe zum 1. October Kind und Kegel dorthinkommen und
richte mich ein. Iſt das geſchehn, ſo kann Se. Majeſtät mich
des Dienſtes entlaſſen, aber nicht mehr zwingen, nun ſofort wieder
umzuziehn; lieber gehe ich nach Hauſe aufs Land, dann weiß ich,
wo ich wohne. Ich habe in meiner Einſamkeit die alte Geſund¬
heit mit Gottes Hülfe wiedergewonnen, und befinde mich wie ſeit
10 Jahren nicht, von unſrer politiſchen Welt aber habe ich kein
Wort gehört; daß der König in Doberan war, ſehe ich heut aus
einem Briefe meiner Frau, ſonſt könnte ich das D. in dem Ihrigen
nicht deuten. Ebenſo hatte ich nicht gehört, daß er zum 13. nach
Karlsruhe geht. Ich würde Se. Majeſtät dort nicht mehr treffen,
wenn ich mich hinbegeben wollte, auch weiß ich aus Erfahrung,
daß ſolche Erſcheinungen nicht willkommen ſind; der Herr ſchließt
daraus auf ehrgeizig drängende Abſichten bei mir, die mir weiß
Gott fern liegen. Ich bin ſo zufrieden, Sr. Majeſtät Geſandter
in Paris zu ſein, daß ich nichts erbitten möchte, als die Gewißheit,
[266/0293]
Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
es wenigſtens bis 1875 zu ſein. Schaffen Sie mir dieſe oder jede
andre Gewißheit, und ich male Engelsflügel an Ihre Photographie! —
Was verſtehn Sie unter ‚Ende dieſer Seſſion‘? Läßt ſich
das ſo beſtimmt vorausſehn, wird ſie nicht in die Winterſeſſion
ohne Pauſe übergehn? Und kann man die Kammern ſchließen
ohne Reſultat über das Budget? Ich will die Frage nicht grade
verneinen, es kommt auf den Feldzugsplan an.
Ich reiſe eben nach Montpellier ab, von dort über Lyon nach
Paris. Bitte ſchreiben Sie mir dahin, und grüßen Sie herzlich
die Ihrigen. In treuer Freundſchaft Ihr v. B.“ 1)
In Paris erhielt ich folgendes Telegramm, deſſen Unterſchrift
auf einer Verabredung beruhte:
Berlin, le 18 Septembre.
Periculum in mora. Dépêchez-vous.
L'oncle de Maurice Henning.
Henning war der zweite Vorname Moritz Blanckenburgs, des
Neffen von Roon. Obwohl es die Faſſung zweifelhaft ließ, ob die
Aufforderung aus der eignen Initiative Roons hervorgegangen oder
von dem Könige veranlaßt war, zögerte ich nicht abzureiſen.
Am 20. September Morgens in Berlin angelangt, wurde
ich zu dem Kronprinzen beſchieden. Auf ſeine Frage, wie ich die
Situation anſähe, konnte ich nur ſehr zurückhaltend antworten,
weil ich während der letzten Wochen keine deutſchen Zeitungen ge¬
leſen und in einer Art von dépit mich über heimiſche Angelegen¬
heiten nicht informirt hatte. Meine Verſtimmung hatte ihren Grund
darin, daß der König mir in Ausſicht geſtellt hatte, mir in ſpäteſtens
ſechs Wochen Gewißheit über meine Zukunft, d. h. darüber zu geben,
ob ich in Berlin, Paris oder London mein Domizil haben ſollte,
daß darüber aber ſchon ein Vierteljahr verfloſſen war, und ich im
1)
S. Bismarckbriefe (7. Aufl.) S. 359 ff., Roon's Denkwürdigkeiten
II 4 117 ff.
[267/0294]
Berufung nach Berlin. In Babelsberg.
Herbſt noch immer nicht wußte, wo ich im Winter wohnen würde.
Ich war mit der Situation in ihren Einzelheiten nicht ſo vertraut,
daß ich dem Kronprinzen ein programmartiges Urtheil hätte abgeben
können; außerdem hielt ich mich auch nicht für berechtigt, mich
gegen ihn früher zu äußern als gegen den König. Den Eindruck,
den die Thatſache meiner Audienz gemacht hatte, erſah ich zunächſt
aus der Mittheilung Roons, daß der König mit Bezug auf mich
zu ihm geſagt habe: „Mit dem iſt es auch nichts, er iſt ja ſchon
bei meinem Sohne geweſen.“ Die Tragweite dieſer Aeußerung wurde
mir nicht ſofort verſtändlich, weil ich nicht wußte, daß der König
ſich mit dem Gedanken der Abdication trug und vorausſetzte, daß
ich davon gewußt oder etwas vermuthet hätte und mich deshalb
mit ſeinem Nachfolger zu ſtellen geſucht habe.
In der That war mir jeder Gedanke an Abdication des Königs
fremd, als ich am 22. September in Babelsberg empfangen wurde,
und die Situation wurde mir erſt klar, als Se. Majeſtät ſie un¬
gefähr mit den Worten präciſirte: „Ich will nicht regiren, wenn
ich es nicht ſo vermag, wie ich es vor Gott, meinem Gewiſſen
und meinen Unterthanen verantworten kann. Das kann ich aber
nicht, wenn ich nach dem Willen der heutigen Majorität des Land¬
tags regiren ſoll, und ich finde keine Miniſter mehr, die bereit
wären, meine Regirung zu führen, ohne ſich und mich der parla¬
mentariſchen Mehrheit zu unterwerfen. Ich habe mich deshalb
entſchloſſen, die Regirung niederzulegen, und meine Abdications¬
urkunde, durch die angeführten Gründe motivirt, bereits entworfen.“
Der König zeigte mir das auf dem Tiſche liegende Actenſtück in
ſeiner Handſchrift, ob bereits vollzogen oder nicht, weiß ich nicht.
Se. Majeſtät ſchloß, indem er wiederholte, ohne geeignete Miniſter
könne er nicht regiren.
Ich erwiderte, es ſei Sr. Majeſtät ſchon ſeit dem Mai be¬
kannt, daß ich bereit ſei, in das Miniſterium einzutreten, ich ſei
gewiß, daß Roon mit mir bei ihm bleiben werde, und ich zweifelte
nicht, daß die weitre Vervollſtändigung des Cabinets gelingen werde,
[268/0295]
Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
falls andre Mitglieder ſich durch meinen Eintritt zum Rücktritt be¬
wogen finden ſollten. Der König ſtellte nach einigem Erwägen
und Hin- und Herreden die Frage, ob ich bereit ſei, als Miniſter
für die Militär-Reorganiſation einzutreten, und nach meiner Be¬
jahung die weitre Frage, ob auch gegen die Majorität des Land¬
tages und deren Beſchlüſſe. Auf meine Zuſage erklärte er ſchließlich:
„Dann iſt es meine Pflicht, mit Ihnen die Weiterführung des Kampfes
zu verſuchen, und ich abdicire nicht.“ Ob er das auf dem Tiſche
liegende Schriftſtück vernichtet oder in rei memoriam aufbewahrt
hat, weiß ich nicht.
Der König forderte mich auf, ihn in den Park zu begleiten.
Auf dieſem Spaziergange gab er mir ein Programm zu leſen,
das in ſeiner engen Schrift acht Folioſeiten füllte, alle Eventuali¬
täten der damaligen Regirungspolitik umfaßte und auf Details
wie die Reform der Kreistage einging. Ich laſſe es dahin ge¬
ſtellt ſein, ob dieſes Elaborat ſchon Erörterungen mit meinen Vor¬
gängern zur Unterlage gedient hatte, oder ob es zur Sicherſtellung
gegen eine mir zugetraute conſervative Durchgängerei dienen ſollte.
Ohne Zweifel war, als er damit umging mich zu berufen, eine
Befürchtung der Art in ihm von ſeiner Gemalin geweckt worden,
von deren politiſcher Begabung er urſprünglich eine hohe Meinung
hatte, die aus der Zeit datirte, wo Sr. Majeſtät nur eine kron¬
prinzliche Kritik der Regirung des Bruders, ohne Pflicht zu eigner
beſſerer Leiſtung, zugeſtanden hatte. In der Kritik war die Prin¬
zeſſin ihrem Gemal überlegen. Die erſten Zweifel an dieſer gei¬
ſtigen Ueberlegenheit waren ihm gekommen, als er genöthigt war,
nicht mehr nur zu kritiſiren, ſondern ſelbſt zu handeln und die
amtliche Verantwortung für das Beſſermachen zu tragen. Sobald
die Aufgaben beider Herrſchaften praktiſch wurden, hatte der ge¬
ſunde Verſtand des Königs begonnen, ſich allmälig von der
ſchlagfertigen weiblichen Beredſamkeit mehr zu emancipiren.
Es gelang mir, ihn zu überzeugen, daß es ſich für ihn nicht
um Conſervativ oder Liberal in dieſer oder jener Schattirung,
[269/0296]
Ernennung zum Staatsminiſter.
ſondern um Königliches Regiment oder Parlamentsherrſchaft handle,
und daß die letztre unbedingt und auch durch eine Periode der
Dictatur abzuwenden ſei. Ich ſagte: „In dieſer Lage werde ich,
ſelbſt wenn Eure Majeſtät mir Dinge befehlen ſollten, die ich nicht
für richtig hielte, Ihnen zwar dieſe meine Meinung offen ent¬
wickeln, aber wenn Sie auf der Ihrigen ſchließlich beharren, lieber
mit dem Könige untergehn, als Eure Majeſtät im Kampfe mit der
Parlamentsherrſchaft im Stiche laſſen.“ Dieſe Auffaſſung war
damals durchaus lebendig und maßgebend in mir, weil ich die
Negation und die Phraſe der damaligen Oppoſition für politiſch
verderblich hielt im Angeſicht der nationalen Aufgaben Preußens,
und weil ich für Wilhelm I. perſönlich ſo ſtarke Gefühle der Hin¬
gebung und Anhänglichkeit hegte, daß mir der Gedanke, in Ge¬
meinſchaft mit ihm zu Grunde zu gehn, als ein nach Umſtänden
natürlicher und ſympathiſcher Abſchluß des Lebens erſchien.
Der König zerriß das Programm und war im Begriff, die
Stücke von der Brücke in die trockne Schlucht im Park zu werfen,
als ich daran erinnerte, daß dieſe Papiere mit der bekannten
Handſchrift in ſehr unrechte Hände gerathen könnten. Er fand,
daß ich Recht hätte, ſteckte die Stücke in die Taſche, um ſie dem
Feuer zu übergeben, und vollzog an demſelben Tage meine Er¬
nennung zum Staatsminiſter und interimiſtiſchen Vorſitzenden des
Staatsminiſteriums, die am 23. veröffentlicht wurde. Meine Er¬
nennung zum Miniſterpräſidenten behielt der König vor, bis er
mit dem Fürſten von Hohenzollern, der ſtaatsrechtlich dieſe Stel¬
lung noch inne hatte, die desfallſige Correſpondenz beendet haben
werde 1).
1)
Vgl. Kaiſer I. und Fürſt Bismarck, Münchener Allg. Zeitung
7. October 1890 M.-A. — Die definitive Ernennung zum Miniſterpräſidenten
und Miniſter der Auswärtigen Angelegenheiten erfolgte am 8. October.
[[270]/0297]
Zwölftes Kapitel.
Rückblick auf die preußiſche Politik.
Die Königliche Autorität hatte bei uns unter dem Mangel
an Selbſtändigkeit und Energie unſrer auswärtigen und nament¬
lich unſrer deutſchen Politik gelitten; in demſelben Boden wurzelte
die Ungerechtigkeit der bürgerlichen Meinung über die Armee und
deren Offiziere und die Abneigung gegen militäriſche Vorlagen
und Ausgaben. In den parlamentariſchen Fractionen fand der
Ehrgeiz der Führer, Redner und Miniſter-Candidaten Nahrung
und Deckung hinter der nationalen Verſtimmung. Klare Ziele
hatten unſrer Politik ſeit dem Tode Friedrichs des Großen entweder
gefehlt oder ſie waren ungeſchickt gewählt oder betrieben; letztres
von 1786 bis 1806, wo unſre Politik planlos begann und traurig
endete. Man entdeckt in ihr bis zum vollen Ausbruch der fran¬
zöſiſchen Revolution keine Andeutung einer national-deutſchen Rich¬
tung. Die erſten Spuren einer ſolchen, die ſich im Fürſtenbunde
in den Ideen von einem preußiſchen Kaiſerthum, in der Demar¬
cationslinie, in der Erwerbung deutſcher Landſtriche finden, ſind
Ergebniſſe nicht nationaler, ſondern preußiſch-particulariſtiſcher Be¬
ſtrebungen. Im Jahr 1786 lag das ſtärkere Intereſſe noch nicht
auf deutſch-nationalem Gebiete, ſondern in dem Gedanken polniſcher
territorialer Erwerbungen, und bis in den Krieg von 1792 hinein
war das Mißtrauen zwiſchen Preußen und Oeſtreich weniger durch
die deutſche als durch die polniſche Rivalität beider Mächte genährt.
In den Händeln der Thugut-Lehrbach'ſchen Periode ſpielte der Streit
[271/0298]
Mängel und Schwächen der preußiſchen Politik ſeit Friedrich II.
um den Beſitz polniſcher Gebiete, namentlich Krakaus, eine mehr
in die Augen fallende Rolle als der in der zweiten Hälfte dieſes
Jahrhunderts im Vordergrunde ſtehende Streit um die Hegemonie
in Deutſchland.
Die Frage der Nationalität ſtand damals mehr im Hintergrunde;
der preußiſche Staat eignete ſich neue polniſche Unterthanen mit
gleicher, wenn nicht mit größerer Bereitwilligkeit wie deutſche an,
wenn es nur Unterthanen waren, und auch Oeſtreich trug kein
Bedenken, die Erfolge der gemeinſamen Kriegführung gegen Frank¬
reich in Frage zu ſtellen, ſobald es befürchten mußte, daß ihm zur
Wahrnehmung ſeiner polniſchen Intereſſen die nöthigen Streitkräfte
Preußen gegenüber fehlen würden, wenn es ſie an der franzöſiſchen
Grenze verwenden wollte. Es iſt ſchwer zu ſagen, ob die damalige
Situation nach Maßgabe der Anſichten und Fähigkeiten der in
Oeſtreich und Rußland leitenden Perſönlichkeiten der preußiſchen
Politik die Möglichkeit bot, nützlichere Wege einzuſchlagen als den
des Veto gegen die Orientpolitik ſeiner beiden öſtlichen Nachbarn,
wie in der Convention von Reichenbach, 27. Juli 1790, ge¬
ſchah. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß dieſes
Veto ein Act unfruchtbaren Selbſtgefühls nach Art des franzöſi¬
ſchen prestige war, in welchem die von Friedrich dem Großen
geerbte Autorität zwecklos verpufft wurde, ohne daß Preußen einen
andern Vortheil von dieſer Kraftleiſtung gehabt hätte, als den
einer befriedigten Eitelkeit über Bethätigung ſeiner großmächtlichen
Stellung den beiden Kaiſermächten gegenüber, show of power.
Wenn Oeſtreich und Rußland im Orient Beſchäftigung fan¬
den, ſo hätte es, möchte ich glauben, im Intereſſe ihres damals
weniger mächtigen Nachbarn gelegen, ſie darin nicht zu ſtören,
ſondern beide in der Richtung ihrer orientaliſchen Beſtrebungen
eher zu fördern und zu befeſtigen und ihren Druck auf unſre
Grenzen dadurch abzuſchwächen. Preußen war nach ſeinen mili¬
täriſchen Einrichtungen damals ſchneller ſchlagfertig als ſeine Nach¬
barn und hätte dieſe Schlagfertigkeit wie bei manchen ſpätern
[272/0299]
Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.
Gelegenheiten nutzbar machen können, wenn es ſich verfrühter Partei¬
nahme enthalten und ſeiner damaligen verhältnißmäßigen Schwäche
entſprechend ſich lieber en vedette geſtellt hätte, anſtatt ſich das
prestige des Richteramtes zwiſchen Oeſtreich, Rußland und der
Pforte beizulegen.
Der Fehler in Situationen der Art hat gewöhnlich in der
Zielloſigkeit und Unentſchloſſenheit gelegen, womit an die Benutzung
und Ausbeutung herangetreten wurde. Der Große Kurfürſt und
Friedrich der Große hatten klare Vorſtellungen von der Schäd¬
lichkeit halber Maßregeln in Fällen, wo es ſich um Parteinahme
oder um ihre Androhung handelte. So lange Preußen nicht zu
einem der deutſchen Nationalität annähernd entſprechenden Staats¬
gebilde gelangt war, ſo lange es nicht nach dem Ausdruck, deſſen
ſich der Fürſt Metternich mir gegenüber bediente, zu den „ſaturir¬
ten“ Staaten gehörte, mußte es ſeine Politik mit dem angeführten
Worte Friedrichs des Großen en vedette einrichten. Nun hat
aber eine vedette eine Exiſtenzberechtigung nur mit einer ſchlag¬
fertigen Truppe hinter ſich; ohne eine ſolche und ohne den Ent¬
ſchluß, ſie activ zu verwenden, ſei es für, ſei es gegen eine der
ſtreitenden Parteien, konnte die preußiſche Politik von dem Ein¬
werfen ihres europäiſchen Gewichtes bei Gelegenheiten wie der von
Reichenbach keinen materiellen Vortheil, weder in Polen, noch in
Deutſchland, ſondern nur die Verſtimmung und das Mißtrauen
ſeiner beiden Nachbarn erzielen. Noch heut erkennt man in ge¬
ſchichtlichen Urtheilen chauviniſtiſcher Landsleute die Genugthuung,
mit welcher die ſchiedsrichterliche Rolle, die von Berlin aus auf
den Streit im Orient ausgeübt werden konnte, das preußiſche
Selbſtgefühl erfüllte; die Reichenbacher Convention gilt ihnen als
ein Höhepunkt auf dem Niveau Friedericianiſcher Politik, von
welchem an der Abſtieg und das Sinken durch die Pillnitzer Ver¬
handlungen, den Basler Frieden bis nach Tilſit erfolgte.
Wenn ich Miniſter Friedrich Wilhelms II. geweſen wäre, ſo
würde ich eher dazu gerathen haben, den Ehrgeiz Oeſtreichs und
[273/0300]
Die Reichenbacher Convention. Verſäumte Gelegenheiten.
Rußlands in der Richtung auf den Orient zu unterſtützen, aber als
Kaufpreis dafür materielle Conceſſionen zu verlangen, ſei es auch
nur auf dem Gebiet der polniſchen Frage, an welcher man damals
Geſchmack fand, und mit Recht, ſo lange man Danzig und Thorn
nicht beſaß und an die deutſche Frage noch nicht dachte. An der
Spitze von 100000 oder mehr ſchlagfertigen Soldaten mit der
Drohung, ſie nöthigenfalls in Thätigkeit zu ſetzen und den
Krieg gegen Frankreich Oeſtreich allein zu überlaſſen, würde die
preußiſche Politik in der damaligen Situation immer Beſſeres
haben erreichen können, als den diplomatiſchen Triumph von
Reichenbach.
Man findet, daß die Geſchichte des Hauſes Oeſtreich ſeit
Karl V. eine Reihe verſäumter Gelegenheiten zeigt, für welche man
in den meiſten Fällen die jedesmaligen Beichtväter der regirenden
Herrn verantwortlich macht; aber die Geſchichte Preußens, allein
innerhalb der letzten 100 Jahre, iſt nicht weniger reich an ſolchen
Verſäumniſſen. Wenn die Gelegenheit zur Zeit der Reichenbacher
Convention richtig benutzt, keinen befriedigenden, aber doch immer
einen Fortſchritt in der Laufbahn Preußens gebracht haben könnte,
ſo war eine Evolution in größerm Stile ſchon 1805 möglich, wo die
preußiſche Politik beſſer militäriſch als diplomatiſch gegen Frankreich,
für Oeſtreich und Rußland hätte eingeſetzt werden können, aber
nicht gratis. Die Bedingungen, unter denen man den Beiſtand leiſten
oder geleiſtet haben ſollte, konnte nicht ein Miniſter wie Haugwitz,
ſondern nur ein Feldherr, an der Spitze von 150000 Mann in
Böhmen oder Baiern, durchſetzen. Was 1806 post festum ge¬
ſchah, konnte 1805 von entſcheidender Wirkung ſein. Was in
Oeſtreich die Beichtväter, das haben in Preußen Cabinetsräthe
und ehrliche aber beſchränkte General-Adjutanten an verſäumten
Gelegenheiten zu Stande gebracht.
Auch die Dienſte, welche die preußiſche Politik der ruſſiſchen bei
dem Frieden von Adrianopel 1829 und bei Unterdrückung des pol¬
niſchen Aufſtandes 1831 erwieſen hat, gratis zu leiſten, lag um ſo
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 18
[274/0301]
Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.
weniger Veranlaſſung vor, als die unfreundlichen Machenſchaften,
die kurz vorher zwiſchen dem Kaiſer Nicolaus und König Karl X.
ſtattgefunden hatten, dem Berliner Cabinete nicht unbekannt waren.
Die Gemüthlichkeit der fürſtlichen Familienbeziehungen war bei uns
in der Regel ſtark genug, um ruſſiſche Sünden zu decken, es fehlte
aber die Gegenſeitigkeit. Im Jahre 1813 hatte Rußland ohne
Zweifel einen Anſpruch auf preußiſche Dankbarkeit erworben;
Alexander I. war im Februar 1813 und bis zum Wiener Congreß
ſeiner Zuſage, Preußen in dem ſtatus quo ante wiederherzuſtellen,
im Großen und Ganzen treu geblieben, gewiß ohne die ruſſiſchen
Intereſſen zu vergeſſen, aber doch ſo, daß dankbare Erinnerungen
Friedrich Wilhelms III. für ihn natürlich blieben. — Solche Erinne¬
rungen waren in meinen Knabenjahren bis zum Tode Alexanders,
1825, auch in unſerm Publikum noch ſehr lebhaft; ruſſiſche Gro߬
fürſten, Generale und gelegentlich in Berlin erſcheinende Soldaten-
Abtheilungen genoſſen noch ein Erbtheil der Popularität, mit der
1813 die erſten Koſacken bei uns empfangen worden waren.
Flagrante Undankbarkeit, wie der Fürſt Schwarzenberg ſie
proclamirte, iſt in der Politik wie im Privatleben nicht nur un¬
ſchön, ſondern auch unklug. Wir haben aber unſre Schuld aus¬
geglichen, nicht nur zur Zeit der Nothlage der Ruſſen bei Adria¬
nopel 1829 und durch unſer Verhalten in Polen 1831, ſondern in
der ganzen Zeit unter Nicolaus I., der der deutſchen Romantik
und Gemüthlichkeit ferner ſtand als Alexander I., wenn er auch
mit ſeinen preußiſchen Verwandten und mit preußiſchen Offizieren
freundlich verkehrte. Unter ſeiner Regirung haben wir als ruſſiſche
Vaſallen gelebt, 1831, wo Rußland ohne uns kaum mit den Polen
fertig geworden wäre, namentlich aber in allen europäiſchen Con¬
ſtellationen von 1831 bis 1850, wo wir immer ruſſiſche Wechſel
acceptirt und honorirt haben, bis nach 1848 der junge öſtreichiſche
Kaiſer dem ruſſiſchen beſſer gefiel als der König von Preußen, wo
der ruſſiſche Schiedsrichter kalt und hart gegen Preußen und deutſche
Beſtrebungen entſchied und ſich für die Freundſchaftsdienſte von
[275/0302]
Preußen als ruſſiſcher Vaſallenſtaat. Urſache der Abhängigkeit.
1813 voll bezahlt machte, indem er uns die Olmützer Demüthigung
aufzwang. Später kamen wir Rußland gegenüber im Krimkriege,
im polniſchen Aufſtande von 1863 bedeutend in Vorſchuß, und
wenn wir in dem genannten Jahre Alexanders II. eigenhändiger Auf¬
forderung zum Kriege nicht Folge leiſteten, und er darüber und in
der däniſchen Frage Empfindlichkeit bewies, ſo zeigt dies nur, wie
weit der ruſſiſche Anſpruch ſchon über Gleichberechtigung hinaus
gediehen war und Unterordnung verlangte.
Das Deficit auf unſrer Seite war einmal durch Verwand¬
ſchafts-Gefühl, durch die Gewohnheit der Abhängigkeit, in welcher
die geringere Energie von der größern ſtand, ſodann durch den
Irrthum bedingt, als ob Nicolaus dieſelben Geſinnungen wie
Alexander I. für uns hege, und dieſelben Anſprüche auf Dankbarkeit
aus der Zeit der Freiheitskriege habe. In der That aber trat
während der Regirung des Kaiſers Nicolaus kein im deutſchen
Gemüth wurzelndes Motiv hervor, unſre Freundſchaft mit Rußland
auf dem Fuße der Gleichheit zu pflegen und mindeſtens einen
analogen Nutzen daraus zu ziehn, wie Rußland aus unſrer Dienſt¬
leiſtung. Etwas mehr Selbſtgefühl und Kraftbewußtſein würde
unſern Anſpruch auf Gegenſeitigkeit in Petersburg zur Anerkennung
gebracht haben, um ſo mehr, als 1830 nach der Juli-Revolution
Preußen, trotz der Schwerfälligkeit ſeines Landwehr-Syſtems, dieſem
überraſchenden Ereigniß gegenüber reichlich ein Jahr lang ohne
Zweifel der ſtärkſte, vielleicht der einzige zum Schlagen befähigte
Militärſtaat in Europa war. Wie ſehr nicht nur in Oeſtreich,
ſondern auch in Rußland die militäriſchen Einrichtungen in 15 Frie¬
densjahren vernachläſſigt worden waren, vielleicht mit alleiniger
Ausnahme der Garde des Kaiſers und der polniſchen Armee des
Großfürſten Conſtantin, bewies die Schwäche und Langſamkeit der
Rüſtung des gewaltigen ruſſiſchen Reichs gegen den Aufſtand des
kleinen Warſchauer Königreichs.
Aehnliche Verhältniſſe fanden damals in der franzöſiſchen
und mehr noch in der öſtreichiſchen Armee ſtatt. Oeſtreich brauchte
[276/0303]
Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.
nach der Juli Revolution mehr als ein Jahr, um den Verfall ſeiner
Heereseinrichtungen ſo weit auszubeſſern, daß es eben nur ſeine
italieniſchen Intereſſen zu ſchützen im Stande war. Die öſt¬
reichiſche Politik war unter Metternich geſchickt genug, um jede
Entſchließung der drei öſtlichen Großmächte ſo lange zu verſchleppen,
bis Oeſtreich ſich hinlänglich gerüſtet fühlte, um mitzureden. Nur
in Preußen functionirte die militäriſche Maſchine, ſo ſchwerfällig
ſie war, mit voller Genauigkeit, und hätte die preußiſche Politik
eigne Entſchlüſſe zu faſſen vermocht, ſo würde ſie Kraft genug ge¬
funden haben, die Lage von 1830 in Deutſchland und den Nieder¬
landen nach ihrem Ermeſſen zu präjudiciren. Aber eine ſelbſtändige
preußiſche Politik hat in der Zeit von 1806 bis in die vierziger
Jahre überhaupt nicht beſtanden; unſre Politik wurde abwechſelnd
in Wien und in Petersburg gemacht. So weit ſie in Berlin von
1786 bis 1806 und 1842 bis 1862 ſelbſtändig ihre Wege ſuchte,
wird ſie vor der Kritik vom Standpunkte eines ſtrebſamen Preußen
kaum Anerkennung finden.
Die Eigenſchaft einer Großmacht konnten wir uns vor 1866
nur cum grano salis beimeſſen, und wir hielten nach dem Krim¬
kriege für nöthig, uns um eine äußerliche Anerkennung derſelben durch
Antichambriren im Pariſer Congreſſe zu bewerben. Wir bekannten,
daß wir eines Atteſtes andrer Mächte bedurften, um uns als Gro߬
macht zu fühlen. Dem Maßſtabe der Gortſchakow'ſchen Redensart
bezüglich Italiens „une grande puissance ne se reconnaît pas,
elle se révèle“ fühlten wir uns nicht gewachſen. Die révélation,
daß Preußen eine Großmacht ſei, war vorher zu Zeiten in Europa
anerkannt geweſen (vgl. Kapitel 5), aber ſie erlitt durch lange
Jahre kleinmüthiger Politik eine Abſchwächung, die ſchließlich
in der kläglichen Rolle, welche Manteuffel in Paris übernahm,
ihren Ausdruck fand. Seine verſpätete Zulaſſung konnte die Wahr¬
heit nicht entkräften, daß eine Großmacht zu ihrer Anerkennung vor
allen Dingen der Ueberzeugung und des Muthes, eine ſolche zu
ſein, bedarf. Ich habe es als einen bedauerlichen Mangel an
[277/0304]
Preußen antichambrirt auf dem Pariſer Congreß.
Selbſtbewußtſein angeſehn, daß wir nach allen uns widerfahrenen
Geringſchätzungen von Seiten Oeſtreichs und der Weſtmächte
überhaupt das Bedürfniß empfanden, auf dem Congreſſe zugelaſſen
zu werden und ſeinen Beſchlüſſen unſre Unterſchrift hinzuzufügen.
Unſre Stellung 1870 in den Londoner Beſprechungen über das
Schwarze Meer würde die Nichtigkeit dieſer Anſicht bezeugt haben,
wenn Preußen ſich nicht in den Pariſer Congreß in würdeloſer
Weiſe eingedrängt hätte. Als Manteuffel aus Paris zurückkehrte
und am 20. und 21. April in Frankfurt mein Gaſt war, habe ich
mir erlaubt, ihm mein Bedauern darüber auszuſprechen, daß er
nicht das victa Catoni zur Richtſchnur genommen und uns die
richtige unabhängige Stellung für die Eventualität der nach Lage
der Dinge vorauszuſehenden ruſſiſch-franzöſiſchen gegenſeitigen An¬
näherung angebahnt habe. Daß der Kaiſer Napoleon damals die
ruſſiſche Freundſchaft ſchon in Ausſicht nahm, daß für maßgebende
Kreiſe in England der Friedensſchluß verfrüht erſchien, konnte in
dem Auswärtigen Amte in Berlin nicht zweifelhaft ſein. Wie würdig
und unabhängig wäre unſre Stellung geweſen, wenn wir uns nicht
in den Pariſer Congreß in einer demüthigenden Weiſe eingedrängt,
ſondern bei mangelnder rechtzeitiger Einladung unſre Betheiligung
verſagt hätten. Bei angemeſſener Zurückhaltung würden wir in
der neuen Gruppirung umworben worden ſein, und ſchon äußerlich
wäre unſre Stellung eine würdigere geweſen, wenn wir unſre Ein¬
ſchätzung als europäiſche Großmacht nicht von diplomatiſchen
Gegnern abhängig gemacht, ſondern lediglich auf unſer Selbſt¬
bewußtſein baſirt hätten, indem wir uns des Anſpruchs auf Be¬
theiligung an europäiſchen Abmachungen enthielten, welche für
Preußen kein Intereſſe hatten, als höchſtens nach Analogie der
Reichenbacher Convention das der Eitelkeit des Preſtige und des
Mitredens in Dingen, die unſre Intereſſen nicht berührten.
Die verſäumten Gelegenheiten, welche in die beiden Zeiträume
von 1786 bis 1806 und von 1842 bis 1862 fallen, ſind den
Zeitgenoſſen nur ſelten verſtändlich geworden, noch ſeltener iſt die
[278/0305]
Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.
Verantwortlichkeit dafür ſofort richtig vertheilt worden. Erſt die
Ausſchüttung der Archive und die Denkwürdigkeiten Mithandelnder
und Mitwiſſender ſetzten 50 bis 100 Jahre ſpäter die öffentliche
Meinung in den Stand, für die einzelnen Mißgriffe das πρῶτον
ψεῦδοϛ, die Gabelung auf den unrichtigen Weg zu erkennen.
Friedrich der Große hinterließ ein reiches Erbe von Autorität und
von Glauben an die preußiſche Politik und Macht. Seine Erben
konnten, wie heut der neue Curs von der Erbſchaft des alten, zwei
Jahrzehnte hindurch davon zehren, ohne ſich über die Schwächen
und Irrthümer ihrer Epigonenwirthſchaft klar zu werden; noch in
die Schlacht von Jena hinein trugen ſie ſich mit der Ueberſchätzung
des eignen militäriſchen und politiſchen Könnens. Erſt der Zu¬
ſammenbruch der folgenden Wochen brachte den Hof und das Volk
zu dem Bewußtſein, daß Ungeſchick und Irrthum in der Staats¬
leitung obgewaltet hatten. Weſſen Ungeſchick und weſſen Irrthum
aber, wer perſönlich die Verantwortlichkeit für dieſen gewaltigen
und unerwarteten Zuſammenbruch trug, darüber kann ſelbſt heut
noch geſtritten werden.
In einer abſoluten Monarchie, und Preußen war damals eine
ſolche, hat an der Verantwortlichkeit für die Politik außer dem
Souverän Niemand einen genau nachweislichen Antheil; faßt oder
genehmigt dieſer verhängnißvolle Beſchlüſſe, ſo kann Niemand
beurtheilen, ob ſie das Ergebniß eignen moraliſchen Willens oder
des Einfluſſes ſind, den die verſchiedenartigſten Perſönlichkeiten
männlichen und weiblichen Geſchlechts, Adjutanten, Höflinge und
politiſche Intriganten, Schmeichler, Schwätzer und Ohrenbläſer
auf den Monarchen geübt haben. Die Allerhöchſte Unterſchrift
deckt ſchließlich Alles; wie ſie erreicht worden iſt, erfährt kein
Menſch. Dem jedesmaligen Miniſter die Verantwortlichkeit für
das Geſchehene aufzuerlegen, iſt für monarchiſche Auffaſſungen
der nächſtliegende Ausweg. Aber ſelbſt wenn die Form des Ab¬
ſolutismus der Form der Verfaſſung Platz gemacht hat, iſt die
ſogenannte Miniſterverantwortlichkeit keine von dem Willen des
[279/0306]
Friedrichs II. Epigonen. Die Frage der Verantwortlichkeit.
unverantwortlichen Monarchen unabhängige. Gewiß kann ein Mi¬
niſter abgehn, wenn er die königliche Unterſchrift für das, was
er für nothwendig hält, nicht erlangen kann; aber er übernimmt
durch ſein Abtreten die Verantwortlichkeit für die Conſequenzen
deſſelben, die vielleicht auf andern Gebieten viel tiefgreifender ſind
als auf dem grade ſtreitigen.
Er iſt außerdem durch die collegiale Form des Staats¬
miniſteriums mit ihren Majoritätsabſtimmungen zu Compromiſſen
und zu Nachgiebigkeit ſeinen Collegen gegenüber nach der preußi¬
ſchen Miniſterverfaſſung täglich genöthigt. Eine wirkliche Verant¬
wortlichkeit in der großen Politik aber kann nur ein einzelner
leitender Miniſter, niemals ein anonymes Collegium mit Majoritäts¬
abſtimmung, leiſten. Die Entſcheidung über Wege und Abwege
liegt oft in minimalen, aber einſchneidenden Wendungen, zuweilen
ſchon in der Tonart und der Wahl der Ausdrücke eines inter¬
nationalen Actenſtückes. Schon bei geringer Abweichung von der
richtigen Linie wächſt die Entfernung von derſelben oft ſo rapid,
daß der verlaſſene Strang nicht wieder erreicht werden kann, und
die Umkehr bis zu dem Gabelpunkt, wo er verlaſſen wurde, un¬
ausführbar iſt. Das übliche Amtsgeheimniß deckt die Umſtände,
unter denen eine Entgleiſung ſtattgefunden hat, Menſchenalter
hindurch, und das Ergebniß der Unklarheit, in welcher der prag¬
matiſche Zuſammenhang der Dinge bleibt, erzeugt bei leitenden
Miniſtern, wie das bei manchen meiner Vorgänger der Fall war,
Gleichgültigkeit gegen die ſachliche Seite der Geſchäfte, ſobald die
formale durch königliche Unterſchrift oder parlamentariſche Vota
gedeckt erſcheint. Bei Andern wieder führt der Kampf zwiſchen dem
eignen Ehrgefühl und der Verſtrickung der Competenzverhältniſſe
zu tödtlichen Nervenfiebern, wie bei dem Grafen Brandenburg,
oder zu Symptomen von Geiſtesſtörung, wie in einigen frühern
Fällen.
Es iſt ſchwer zu ſagen, wie die Verantwortlichkeit für unſre
Politik während der Regirung Friedrich Wilhelms IV. mit Ge¬
[280/0307]
Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.
rechtigkeit zu vertheilen ſei. Rein menſchlich geſprochen, wird ſie
in der Hauptſache auf dem Könige ſelbſt beruhn bleiben, denn er
hat überlegne, ihn und die Geſchäfte leitende Rathgeber zu keiner
Zeit gehabt. Er behielt ſich die Auswahl unter den Rathſchlägen
nicht nur jedes einzelnen Miniſters, ſondern auch unter den viel
zahlreichern vor, die ihm von mehr oder weniger geiſtreichen
Adjutanten, Cabinetsräthen, Gelehrten, unehrlichen Strebern,
ehrlichen Phantaſten und Höflingen vorgetragen wurden. Und
dieſe Auswahl behielt er ſich oft lange vor. Es iſt oft weniger
ſchädlich, etwas Unrichtiges als nichts zu thun. Ich habe nie den
Muth gehabt, die Gelegenheiten, die mir dieſer perſönlich ſo
liebenswürdige Herr mehrmals, zuweilen ſcharf und beinahe zwingend,
in den Jahren 1852 bis 1856 geboten hat, ſein Miniſter zu werden,
zu benutzen oder ihre Verwirklichung zu fördern. Wie er mich
betrachtete, hätte ich ihm gegenüber keine Autorität gehabt, und
ſeine reiche Phantaſie war flügellahm, ſobald ſie ſich auf dem
Gebiete praktiſcher Entſchlüſſe geltend machen ſollte. Mir fehlte die
ſchmiegſame Gefügigkeit zur Uebernahme und miniſteriellen Ver¬
tretung von politiſchen Richtungen, an die ich nicht glaubte, oder
für deren Durchführung ich dem Könige den Entſchluß und die
Conſequenz nicht zutraute. Er unterhielt und förderte die Elemente
des Zwieſpalts zwiſchen ſeinen einzelnen Miniſtern; die Frictionen
zwiſchen Manteuffel, Bodelſchwingh und Heydt, die in triangularem
Kampfe mit einander ſtanden, waren dem Könige angenehm und
ein politiſches Hülfsmittel in kleinen Detail-Gefechten zwiſchen könig¬
lichem und miniſteriellem Einfluß. Manteuffel hat mit vollem
Bewußtſein die Camarilla-Thätigkeit von Gerlach, Rauch, Niebuhr,
Bunſen, Edwin Manteuffel geduldet; er trieb ſeine Politik mehr
defenſiv als im Hinblick auf beſtimmte Ziele, fortwurſtelnd, wie
Graf Taaffe ſagte, und beruhigt, wenn er durch allerhöchſte Unter¬
ſchrift gedeckt war; doch hat der reine Abſolutismus ohne Parla¬
ment immer noch das Gute, daß ihm ein Gefühl der Verantwort¬
lichkeit für eigne Thaten bleibt. Gefährlicher iſt der durch gefügige
[281/0308]
Friedrich Wilhelm IV. Preußen und der italieniſche Krieg.
Parlamente unterſtützte, der keiner andern Rechtfertigung als der
Verweiſung auf Zuſtimmung der Majorität bedarf.
Die nächſte günſtige Situation nach dem Krimkriege bot unſrer
Politik der italieniſche Krieg. Ich glaube freilich nicht, daß König
Wilhelm ſchon als Regent 1859 geneigt geweſen ſein würde, in plötz¬
licher Entſchließung den Abſtand zu überſchreiten, der ſeine damalige
Politik von derjenigen trennte, welche ſpäter zur Herſtellung des
Deutſchen Reichs geführt hat. Wenn man die damalige Stellung
nach dem Maßſtabe beurtheilt, den die Haltung des auswärtigen
Miniſters von Schleinitz in dem demnächſtigen Abſchluß des Garantie¬
vertrages von Teplitz mit Oeſtreich und in der Weigerung der
Anerkennung Italiens bezeichnet, ſo kann man mit Recht be¬
zweifeln, ob es damals möglich geweſen ſein würde, den Regenten
zu einer Politik zu bewegen, welche die Verwendung der preußiſchen
Kriegsmacht von Conceſſionen in der deutſchen Bundespolitik ab¬
hängig gemacht hätte. Die Situation wurde nicht unter dem Ge¬
ſichtspunkte einer vorwärts ſtrebenden preußiſchen Politik betrachtet,
ſondern in dem gewohnheitsmäßigen Beſtreben, ſich den Beifall
der deutſchen Fürſten, des Kaiſers von Oeſtreich und zugleich der
deutſchen Preſſe zu erwerben, in dem unklaren Bemühn um einen
idealen Tugendpreis für Hingebung an Deutſchland, ohne irgend
eine klare Anſicht über die Geſtalt des Zieles, die Richtung in der,
und die Mittel, durch die es zu ſuchen wäre.
Unter dem Einfluſſe ſeiner Gemalin und der Wochenblatts¬
partei war der Regent 1859 nahe daran, ſich an dem italieniſchen
Kriege zu betheiligen. Wäre das geſchehn, ſo wurde der Krieg
vou einem öſtreichiſch-franzöſiſchen in der Hauptſache zu einem
preußiſch-franzöſiſchen am Rhein. Rußland in dem damals noch
ſehr lebendigen Haſſe gegen Oeſtreich würde mindeſtens gegen
uns demonſtrirt, und Oeſtreich, ſobald wir in Krieg mit Frank¬
reich verwickelt waren, würde, am längern Ende des politiſchen
Hebels ſtehend, erwogen haben, wie weit wir ſiegen durften. Was
zu Thuguts Zeit Polen, war damals Deutſchland auf dem Schach¬
[282/0309]
Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.
brett. Mein Gedanke war, immerhin zu rüſten, aber zugleich
Oeſtreich ein Ultimatum zu ſtellen, entweder unſre Bedingungen
in der deutſchen Frage anzunehmen oder unſern Angriff zu ge¬
wärtigen. Aber die Fiction einer fortdauernden und aufopfernden
Hingebung für „Deutſchland“ nur in Worten, nie in Thaten, der
Einfluß der Prinzeſſin und ihres den öſtreichiſchen Intereſſen er¬
gebenen Miniſters von Schleinitz, dazu die damals gang und gäbe
Phraſeologie der Parlamente, der Vereine und der Preſſe, erſchwer¬
ten es dem Regenten, die Lage nach ſeinem eignen klaren und
hausbacknen Verſtande zu prüfen, während ſich in ſeiner politiſchen
und perſönlichen Umgebung Niemand befand, der ihm die Nichtig¬
keit des ganzen Phraſenſchwindels klar gemacht und ihm gegenüber
die Sache des geſunden deutſchen Intereſſes vertreten hätte. Der
Regent und ſein damaliger Miniſter glaubten an die Berechtigung
der Redensart: Il y a quequ'un, qui a plus d'esprit que Monsieur
de Talleyrand, c'est tout le monde. Tout le monde braucht
aber in der That zu viel Zeit, um das Richtige zu erkennen, und
in der Regel iſt der Moment, in dem dieſe Erkenntniß benutzt
werden konnte, ſchon vorüber, wenn tout le monde dahinter
kommt, was eigentlich hätte gethan werden ſollen.
Erſt die innern Kämpfe, die der Regent und ſpätre König
durchzumachen hatte, erſt die Ueberzeugung, daß ſeine Miniſter der
neuen Aera nicht nur nicht im Stande waren, ſeine Unterthanen
glücklich und zufrieden zu machen oder im Gehorſam zu erhalten,
und die von ihm erſtrebte und gehoffte Zufriedenheit in den Wahlen
und Parlamenten zum Ausdruck zu bringen, erſt die Schwierig¬
keiten, welche den König 1862 zu dem Entſchluſſe der Abdication
brachten, übten auf das Gemüth und das geſunde Urtheil des
Königs den nöthigen Einfluß, um ſeine monarchiſchen Auffaſſungen
von 1859 über die Brücke der däniſchen Frage zu dem Stand¬
punkte von 1866 überzuleiten, vom Reden zum Handeln, von der
Phraſe zur That.
Die Leitung der auswärtigen Politik in den an ſich ſchwie¬
[283/0310]
Quertreibereien der Königin Auguſta. Eiſen und Blut.
rigen europäiſchen Situationen wurde für einen Miniſter, der kühle
und praktiſche Politik ohne dynaſtiſche Sentimentalität und ohne
höfiſchen Byzantinismus treiben wollte, durch mächtige Quer¬
wirkungen ſehr erſchwert, welche am ſtärkſten und wirkſamſten von
der Königin Auguſta und deren Miniſter Schleinitz geübt wurden,
ſowie von andern fürſtlichen Einflüſſen und Familien-Correſpon¬
denzen neben den Inſinuationen feindlicher Elemente am Hofe,
nicht minder von den jeſuitiſchen Organen (Neſſelrode, Still¬
fried ꝛc.), von Intriganten und befähigten Rivalen, wie Goltz und
Harry Arnim, und unbefähigten, wie frühern Miniſtern, und Parla¬
mentariern, die es werden wollten. Es gehörte die ganze ehrliche
und vornehme Treue des Königs für ſeinen erſten Diener dazu,
daß er in ſeinem Vertrauen zu mir nicht wankend wurde.
In den erſten Tagen des Octobers fuhr ich dem Könige, der
ſich zum 30. September, dem Geburtstage ſeiner Gemalin, nach
Baden-Baden begeben hatte, bis Jüterbogk entgegen und erwartete
ihn in dem noch unfertigen, von Reiſenden dritter Claſſe und Hand¬
werkern gefüllten Bahnhofe, im Dunkeln auf einer umgeſtürzten
Schiebkarre ſitzend. Meine Abſicht, indem ich die Gelegenheit zu
einer Unterredung ſuchte, war, Se. Majeſtät über eine Aufſehn
erregende Aeußerung zu beruhigen, welche ich am 30. September
in der Budget-Commiſſion gethan hatte und die zwar nicht ſteno¬
graphirt, aber in den Zeitungen ziemlich getreu wiedergegeben war.
Ich hatte für Leute, die weniger erbittert und von Ehrgeiz
verblendet waren, deutlich genug geſagt, wo ich hinaus wollte.
Preußen könne — das war der Sinn meiner Rede — wie ſchon
ein Blick auf die Karte zeige, mit ſeinem ſchmalen langgeſtreckten
Leibe die Rüſtung, deren Deutſchland zu ſeiner Sicherheit be¬
dürfe, allein nicht Iänger tragen; dieſe müſſe ſich auf alle Deutſchen
gleichmäßig vertheilen. Dem Ziele würden wir nicht durch Reden,
Vereine, Majoritätsbeſchlüſſe näher kommen, ſondern es werde ein
ernſter Kampf nicht zu vermeiden ſein, ein Kampf, der nur durch
Eiſen und Blut erledigt werden könne. Um uns darin Erfolg zu
[284/0311]
Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.
ſichern, müßten die Abgeordneten das möglichſt große Gewicht von
Eiſen und Blut in die Hand des Königs von Preußen legen,
damit er es nach ſeinem Ermeſſen in die eine oder die andre Wag¬
ſchale werfen könne. Ich hatte demſelben Gedanken ſchon im
Abgeordnetenhauſe 1849 Schramm gegenüber auf der Tribüne Aus¬
druck gegeben bei Gelegenheit einer Amneſtie-Debatte 1).
Roon, der zugegen war, ſprach beim Nachhauſegehn ſeine
Unzufriedenheit mit meinen Aeußerungen aus, ſagte u. A., er hielte
dergleichen „geiſtreiche Excurſe“ unſrer Sache nicht für förderlich.
Meine eignen Gedanken bewegten ſich zwiſchen dem Wunſche, Ab¬
geordnete für eine energiſche nationale Politik zu gewinnen, und
der Gefahr, den König in ſeiner vorſichtigen und gewaltſame Mittel
ſcheuenden Veranlagung mißtrauiſch gegen mich und meine Abſichten
zu machen. Um dem vermuthlichen Eindruck der Preſſe auf ihn
bei Zeiten entgegen zu wirken, fuhr ich ihm nach Jüterbogk entgegen.
Ich hatte einige Mühe, durch Erkundigungen bei kurz ange¬
bundenen Schaffnern des fahrplanmäßigen Zuges den Wagen zu
ermitteln, in dem der König allein in einem gewöhnlichen Coupé
erſter Klaſſe ſaß. Er war unter der Nachwirkung des Verkehrs
mit ſeiner Gemalin ſichtlich in gedrückter Stimmung, und als ich
um die Erlaubniß bat, die Vorgänge während ſeiner Abweſenheit
darzulegen, unterbrach er mich mit den Worten:
„Ich ſehe ganz genau voraus, wie das Alles endigen wird.
Da vor dem Opernplatz, unter meinen Fenſtern, wird man Ihnen
den Kopf abſchlagen und etwas ſpäter mir.“
Ich errieth, und es iſt mir ſpäter von Zeugen beſtätigt worden,
daß er während des achttägigen Aufenthalts in Baden mit Varia¬
tionen über das Thema Polignac, Strafford, Ludwig XVI. bearbeitet
worden war. Als er ſchwieg, antwortete ich mit der kurzen Phraſe
„Et après, sire?“ — „Ja, après, dann ſind wir todt!“ erwiderte
der König. „Ja,“ fuhr ich fort, „dann ſind wir todt, aber ſterben
1)
Vgl. Rede vom 22. März 1849, Politiſche Reden I 76 f.
[285/0312]
Wie die Muthloſigkeit des Königs überwunden ward.
müſſen wir früher oder ſpäter doch, und können wir anſtändiger
umkommen? Ich ſelbſt im Kampfe für die Sache meines Königs
und Eure Majeſtät, indem Sie Ihre königlichen Rechte von Gottes
Gnaden mit dem eignen Blute beſiegeln, ob auf dem Schaffot oder
auf dem Schlachtfelde, ändert nichts an dem rühmlichen Einſetzen
von Leib und Leben für die von Gottes Gnaden verliehenen Rechte.
Eure Majeſtät müſſen nicht an Ludwig XVI. denken; der lebte und
ſtarb in einer ſchwächlichen Gemüthsverfaſſung und macht kein gutes
Bild in der Geſchichte. Karl I. dagegen, wird er nicht immer eine
vornehme hiſtoriſche Erſcheinung bleiben, wie er, nachdem er für
ſein Recht das Schwert gezogen, die Schlacht verloren hatte, un¬
gebeugt ſeine königliche Geſinnung mit ſeinem Blute bekräftigte?
Eure Majeſtät ſind in der Nothwendigkeit zu fechten, Sie können
nicht capituliren, Sie müſſen, und wenn es mit körperlicher Gefahr
wäre, der Vergewaltigung entgegentreten.“
Je länger ich in dieſem Sinne ſprach, deſto mehr belebte ſich
der König und fühlte ſich in die Rolle des für Königthum und
Vaterland kämpfenden Offiziers hinein. Er war äußern und perſön¬
lichen Gefahren gegenüber von einer ſeltenen und ihm abſolut
natürlichen Furchtloſigkeit, auf dem Schlachtfelde, wie Attentaten
gegenüber; ſeine Haltung in jeder äußern Gefahr hatte etwas Herz¬
erhebendes und Begeiſterndes. Der ideale Typus des preußiſchen
Offiziers, der dem ſichern Tode im Dienſte mit dem einfachen Worte
„Zu Befehl“ ſelbſtlos und furchtlos entgegengeht, der aber, wenn
er auf eigne Verantwortung handeln ſoll, die Kritik des Vorgeſetzten
oder der Welt mehr als den Tod und dergeſtalt fürchtet, daß die
Energie und Richtigkeit ſeiner Entſchließung durch die Furcht vor
Verweis und Tadel beeinträchtigt wird, dieſer Typus war in ihm
im höchſten Grade ausgebildet. Er hatte ſich bis dahin auf ſeiner
Fahrt nur gefragt, ob er vor der überlegnen Kritik ſeiner Frau
Gemalin und vor der öffentlichen Meinung in Preußen mit dem
Wege, den er mit mir einſchlug, würde beſtehn können. Dem
gegenüber war die Wirkung unſrer Unterredung in dem dunklen
[286/0313]
Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.
Coupé, daß er die ihm nach der Situation zufallende Rolle mehr
vom Standpunkte des Offiziers auffaßte. Er fühlte ſich bei dem
Porte-épée gefaßt und in der Lage eines Offiziers, der die Auf¬
gabe hat, einen beſtimmten Poſten auf Tod und Leben zu be¬
haupten, gleichviel, ob er darauf umkommt oder nicht. Damit war
er auf einen ſeinem ganzen Gedankengange vertrauten Weg geſtellt
und fand in wenigen Minuten die Sicherheit wieder, um die er
in Baden gebracht worden war, und ſelbſt ſeine Heiterkeit. Das
Leben für König und Vaterland einzuſetzen, war die Pflicht des
preußiſchen Offiziers, um ſo mehr die des Königs, als des erſten
Offiziers im Lande. Sobald er ſeine Stellung unter dem Ge¬
ſichtspunkte der Offiziersehre betrachtete, hatte ſie für ihn ebenſo
wenig Bedenkliches, wie für jeden normalen preußiſchen Offizier die
inſtructionsmäßige Vertheidigung eines vielleicht verlornen Poſtens.
Er war der Sorge vor der „Manöverkritik“, welche von der öffent¬
lichen Meinung, der Geſchichte und der Gemalin an ſeinem poli¬
tiſchen Manöver geübt werden könnte, überhoben. Er fühlte ſich
ganz in der Aufgabe des erſten Offiziers der Preußiſchen Monarchie,
für den der Untergang im Dienſte ein ehrenvoller Abſchluß der
ihm geſtellten Aufgabe iſt. Der Beweis der Richtigkeit meiner Be¬
urtheilung ergab ſich daraus, daß der König, den ich in Jüterbogk
matt, niedergeſchlagen und entmuthigt gefunden hatte, ſchon vor
der Ankunft in Berlin in eine heitere, man kann ſagen, fröhliche
und kampfluſtige Stimmung gerieth, die ſich den empfangenden
Miniſtern und Beamten gegenüber auf das Unzweideutigſte er¬
kennbar machte.
Wenn auch die abſchreckenden geſchichtlichen Reminiſcenzen,
die man dem Könige in Baden als Beweiſe beſchränkter Un¬
geſchicklichkeit vorgehalten hatte, auf unſre Verhältniſſe nur eine
unehrliche oder phantaſtiſche Anwendung finden konnten, ſo
war unſre Situation doch ernſt genug. Einzelne fortſchrittliche
Zeitungen hofften, mich zum Beſten des Staates Wolle ſpinnen zu
ſehn, und am 17. Februar 1863 erklärte das Abgeordnetenhaus
[287/0314]
Der König als preußiſcher Offizier. Ernſt der Lage.
mit 274 gegen 45 Stimmen die Miniſter für verfaſſungswidrige
Ausgaben mit ihrer Perſon und ihrem Vermögen haftbar. Mir
wurde der Plan ſuggerirt, meinen Grundbeſitz, um ihn zu retten,
auf meinen Bruder zu übertragen; die Ceſſion an meinen Bruder,
um das Object der bei einem Thronwechſel nicht abſolut unmög¬
lichen Confiscation meines Vermögens zu entziehn, hätte aber einen
Eindruck von Aengſtlichkeit und Geldſorge gemacht, der mir wider¬
ſtrebte. Auch war mein Sitz im Herrenhauſe an Kniephof geknüpft.
[[288]/0315]
Dreizehntes Kapitel.
Dynaſtien und Stämme.
Niemals, auch in Frankfurt nicht, bin ich darüber in Zweifel
geweſen, daß der Schlüſſel zur deutſchen Politik bei den Fürſten
und Dynaſtien lag und nicht bei der Publiciſtik in Parlament und
Preſſe oder bei der Barrikade. Die Kundgebungen der öffentlichen
Meinung der Gebildeten in Parlament und Preſſe konnten fördernd
und aufhaltend auf die Entſchließung der Dynaſtien wirken, aber
ſie förderten zugleich das Widerſtreben der letztern vielleicht häufiger,
als daß ſie eine Preſſion in nationaler Richtung ausgeübt hätten.
Schwächere Dynaſtien ſuchten Schutz in Anlehnung bei der nationalen
Sache, Herrſcher und Häuſer, die ſich zum Widerſtande fähiger
fühlten, mißtrauten der Bewegung, weil mit der Förderung der
deutſchen Einheit eine Verminderung der Unabhängigkeit zu Gunſten
der Centralgewalt oder der Volksvertretung in Ausſicht ſtand. Die
preußiſche Dynaſtie konnte vorausſehn, daß ihr die Hegemonie
mit einer Vermehrung von Anſehn und Macht im künftigen
Deutſchen Reiche ſchließlich zufallen würde. Ihr kam die von den
andern Dynaſtien befürchtete capitis deminutio vorausſichtlich zu
Gute, ſo weit ſie nicht durch ein nationales Parlament abſorbirt
wurde. Seit im Frankfurter Bundestage die dualiſtiſche Auffaſſung
Oeſtreich-Preußen, unter deren Eindruck ich dorthin gekommen
war, dem Gefühl der Nothwendigkeit Platz gemacht hatte, unſre
Stellung gegen präſidiale Angriffe und Ueberliſtungen zu wahren,
nachdem ich den Eindruck erhalten hatte, daß die gegenſeitige An¬
[289/0316]
Bedeutung der Dynaſtien. Preußens Stellung im Bunde.
lehnung von Oeſtreich und Preußen ein Jugendtraum war, ent¬
ſtanden durch Nachwirkung der Freiheitskriege und der Schule,
nachdem ich mich überzeugt hatte, daß das Oeſtreich, mit dem ich
bis dahin gerechnet, für Preußen nicht exiſtirte: gewann ich die
Ueberzeugung, daß auf der Baſis der bundestäglichen Autorität
nicht einmal die vormärzliche Stellung Preußens im Bunde zurück¬
zugewinnen, geſchweige denn eine Reform der Bundesverfaſſung
möglich ſein werde, durch die das deutſche Volk der Verwirklichung
ſeines Anſpruchs auf völkerrechtliche Exiſtenz als eine der großen
europäiſchen Nationen Ausſicht erhalten hätte.
Ich erinnere mich eines Wendepunkts, der in meinen An¬
ſichten eintrat, als ich in Frankfurt die mir bis dahin unbekannte
Depeſche des Fürſten Schwarzenberg vom 7. December 1850 zu
leſen bekam, in welcher er die Olmützer Ergebniſſe ſo darſtellt, als
ob es von ihm abgehangen hätte, Preußen „zu demüthigen“ oder
großmüthig zu pardonniren. Der mecklenburgiſche Geſandte, Herr
von Oertzen, mein ehrlicher und conſervativer Geſinnungsgenoſſe
in dualiſtiſcher Politik, mit dem ich darüber ſprach, ſuchte mein
durch dieſe Schwarzenbergiſche Depeſche verletztes preußiſches Gefühl
zu beſänftigen. Trotz der für preußiſches Gefühl demüthigenden
Inferiorität unſres Auftretens in Olmütz und Dresden war ich
noch gut öſtreichiſch nach Frankfurt gekommen; der Einblick in die
Schwarzenbergiſche Politik „avilir, puis démolir“, den ich dort
actenmäßig gewann, enttäuſchte meine jugendlichen Illuſionen. Der
gordiſche Knoten deutſcher Zuſtände ließ ſich nicht in Liebe dualiſtiſch
löſen, nur militäriſch zerhauen; es kam darauf an, den König von
Preußen, bewußt oder unbewußt, und damit das preußiſche Heer
für den Dienſt der nationalen Sache zu gewinnen, mochte man
vom boruſſiſchen Standpunkte die Führung Preußens oder auf dem
nationalen die Einigung Deutſchlands als die Hauptſache betrachten;
beide Ziele deckten einander. Das war mir klar, und ich deutete
es an, als ich in der Budgetcommiſſion (30. September 1862) die
vielfach entſtellte Aeußerung über Eiſen und Blut that (ſ. o. S. 283).
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 19
[290/0317]
Dreizehntes Kapitel: Dynaſtien und Stämme.
Preußen war nominell eine Großmacht, jedenfalls die fünfte;
es hatte dieſe Stellung durch die geiſtige Ueberlegenheit Friedrichs
des Großen erlangt und durch die gewaltigen Leiſtungen der
Volkskraft 1813 rehabilitirt. Ohne die ritterliche Haltung des
Kaiſers Alexander I., die er von 1812 unter Steiniſchem, jeden¬
falls deutſchem Einfluß bis zum Wiener Congreß beobachtete, wäre
es fraglich geblieben, ob die nationale Begeiſterung der vier
Millionen Preußen des Tilſiter Friedens und einer andern vielleicht
gleichen Zahl von sympathizers in altpreußiſchen oder deutſchen
Ländern genügt hätte, von der damaligen Humboldtiſchen und
Hardenbergiſchen Diplomatie und der Schüchternheit Friedrich
Wilhelms III. ſo verwerthet zu werden, daß auch nur die künſt¬
liche Neubildung Preußens, ſo wie ſie 1815 geſchah, zu Stande
gekommen wäre. Das Körpergewicht Preußens entſprach damals
nicht ſeiner geiſtigen Bedeutung und ſeiner Leiſtung in den Frei¬
heitskriegen.
Deutſcher Patriotismus bedarf in der Regel, um thätig und
wirkſam zu werden, der Vermittlung dynaſtiſcher Anhänglichkeit;
unabhängig von letztrer kommt er praktiſch nur in ſeltenen Fällen
zur Hebung, wenn auch theoretiſch täglich, in Parlamenten, Zei¬
tungen und Verſammlungen; in praxi bedarf der Deutſche einer
Dynaſtie, der er anhängt, oder einer Reizung, die in ihm den
Zorn weckt, der zu Thaten treibt. Letztre Erſcheinung iſt aber
ihrer Natur nach keine dauernde Inſtitution. Als Preuße, Ha¬
noveraner, Würtemberger, Baier, Heſſe iſt er früher bereit, ſeinen
Patriotismus zu documentiren, wie als Deutſcher; und in den
untern Klaſſen und in Parlaments-Fractionen wird es noch lange
dauern, ehe das anders wird. Man kann nicht ſagen, daß die
hanöverſche, die heſſiſche Dynaſtie und andre ſich beſonders bemüht
hätten, ſich das Wohlwollen ihrer Unterthanen zu erwerben, aber
dennoch wird der deutſche Patriotismus der letztern weſentlich
bedingt durch ihre Anhänglichkeit an die Dynaſtie, nach welcher
ſie ſich nennen. Es ſind nicht Stammesunterſchiede, ſondern
[291/0318]
Preußen als Großmacht. Dynaſtiſche Anhänglichkeit in Deutſchland.
dynaſtiſche Beziehungen, auf denen die centrifugalen Elemente ur¬
ſprünglich beruhn. Es kommt nicht die Anhänglichkeit an ſchwäbiſche,
niederſächſiſche, thüringiſche Eigenthümlichkeit zur Hebung, ſondern
die durch die Dynaſtien Braunſchweig, Brabant, Wittelsbach zu
einem dynaſtiſchen Antheil an dem Körper der Nation geſonderten
Convolute der Herrſchaft einer fürſtlichen Familie. Der Zuſammen¬
hang des Königreichs Baiern beruht nicht nur auf dem bajuvari¬
ſchen Stamme, wie er im Süden Baierns und in Oeſtreich vor¬
handen iſt, ſondern der Augsburger Schwabe, der Pfälzer Alemanne
und der Mainfranke, ſehr verſchiedenen Geblüts, nennen ſich mit
derſelben Genugthuung Baiern, wie der Altbaier in München und
Landshut, lediglich weil ſie mit den letztern durch die gemeinſchaftliche
Dynaſtie ſeit drei Menſchenaltern verbunden ſind. Die am meiſten
ausgeprägten Stammeseigenthümlichkeiten, die niederdeutſche, platt¬
deutſche, ſächſiſche, ſind durch dynaſtiſche Einflüſſe ſchärfer und
tiefer als die übrigen Stämme geſchieden. Die deutſche Vater¬
landsliebe bedarf eines Fürſten, auf den ſich ihre Anhänglichkeit
concentrirt. Wenn man den Zuſtand fingirte, daß ſämmtliche
deutſche Dynaſtien plötzlich beſeitigt wären, ſo wäre nicht wahr¬
ſcheinlich, daß das deutſche Nationalgefühl alle Deutſchen in den
Frictionen europäiſcher Politik völkerrechtlich zuſammenhalten würde,
auch nicht in der Form föderirter Hanſeſtädte und Reichsdörfer.
Die Deutſchen würden feſter geſchmiedeten Nationen zur Beute
fallen, wenn ihnen das Bindemittel verloren ginge, welches in dem
gemeinſamen Standesgefühl der Fürſten liegt.
Die geſchichtlich am ſtärkſten ausgeprägte Stammeseigen¬
thümlichkeit in Deutſchland iſt wohl die preußiſche, und doch wird
Niemand die Frage mit Sicherheit beantworten können, ob der
ſtaatliche Zuſammenhang Preußens fortbeſtehn würde, wenn man
ſich die Dynaſtie Hohenzollern und jede, die ihr rechtlich nach¬
folgen könnte, verſchwunden denkt. Iſt es wohl ſicher, daß der
öſtliche und der weſtliche Theil, daß Pommern, Hanoveraner,
Holſteiner und Schleſier, daß Aachen und Königsberg, im untrenn¬
[292/0319]
Dreizehntes Kapitel: Dynaſtien und Stämme.
baren preußiſchen Nationalſtaat verbunden, ohne die Dynaſtie ſo
weiter leben würden? Würde Baiern, iſolirt gedacht, geſchloſſen
zuſammenhalten, wenn die Wittelsbacher Dynaſtie ſpurlos ver¬
ſchwunden wäre? Einige Dynaſtien haben manche Erinnerungen,
die nicht grade geeignet ſind, die heterogenen Theile, aus denen
dieſe Staaten geſchichtlich gebildet ſind, mit Anhänglichkeit zu er¬
füllen. Das Land Schleswig-Holſtein hat garkeine dynaſtiſche
Erinnerungen, namentlich nicht im anti-gottorpiſchen Sinne, und
doch hat die Ausſicht, einen ſelbſtändigen kleinen Hof mit Miniſtern,
Hofmarſchällen und Orden neu bilden zu können, und auf Koſten
der preußiſchen und öſtreichiſchen Bundesleiſtungen eine kleinſtaat¬
liche Exiſtenz zu führen, recht ſtarke particulariſtiſche Bewegungen
in den Elbherzogthümern hervorgerufen. Das Großherzogthum
Baden hat ſeit dem Markgrafen Ludwig vor Belgrad kaum eine
dynaſtiſche Erinnerung; das raſche Anwachſen dieſes kleinen Fürſten¬
thums unter franzöſiſcher Protection im Rheinbunde, das Hofleben
der letzten Fürſten der alten Linie, die eheliche Verbindung mit dem
Hauſe Beauharnais, die Caſpar Hauſer-Geſchichte, die revolutionären
Vorgänge von 1832, die Vertreibung des bürgerfreundlichen Gro߬
herzogs Leopold, die Vertreibung des regirenden Hauſes 1849 haben
den Zwang der dynaſtiſchen Fügſamkeit im Lande nicht brechen
können, und Baden hat 1866 ſeinen Krieg gegen Preußen und die
deutſche Idee geführt, weil die dynaſtiſchen Intereſſen des regiren¬
den Hauſes es unabweislich machten.
Die andern europäiſchen Völker bedürfen einer ſolchen Ver¬
mittlung für ihren Patriotismus und ihr Nationalgefühl nicht.
Polen, Ungarn, Italiener, Spanier, Franzoſen würden unter einer
jeden Dynaſtie oder ganz ohne eine ſolche ihren einheitlichen Zu¬
ſammenhang als Nation bewahren. Die germaniſchen Stämme
des Nordens, die Schweden und Dänen, haben ſich von dynaſtiſcher
Sentimentalität ziemlich frei erwieſen, und in England gehört zwar
der äußerliche Reſpect vor der Krone zu den Erforderniſſen der
guten Geſellſchaft und wird die formale Erhaltung des König¬
[293/0320]
Dynaſtiſche Anhänglichkeit bei deutſchen Stämmen.
thums von allen den Parteien, die bisher an der Herrſchaft An¬
theil gehabt haben, für nützlich gehalten, aber ich glaube nicht,
daß das Volk zerfallen oder daß ähnliche Gefühle, wie zur Zeit
der Jacobiten, ſich thatkräftig geltend machen würden, wenn die
geſchichtliche Entwicklung einen Dynaſtiewechſel oder den Ueber¬
gang zur Republik für das britiſche Volk nöthig oder nützlich er¬
ſcheinen ließe.
Das Vorwiegen der dynaſtiſchen Anhänglichkeit und die Un¬
entbehrlichkeit einer Dynaſtie als Bindemittel für das Zuſammen¬
halten eines beſtimmten Bruchtheils der Nation unter dem Namen
der Dynaſtie iſt eine ſpecifiſch reichsdeutſche Eigenthümlichkeit. Die
beſondern Nationalitäten, die ſich bei uns auf der Baſis des
dynaſtiſchen Familienbeſitzes gebildet haben, begreifen in ſich in den
meiſten Fällen Heterogene, deren Zuſammengehörigkeit weder auf der
Gleichheit des Stammes, noch auf der Gleichheit der geſchichtlichen
Entwicklung beruht, ſondern ausſchließlich auf der Thatſache einer
in vielen Fällen anfechtbaren Erwerbung durch die Dynaſtie nach
dem Rechte des Stärkern, oder des erbrechtlichen Anfalls vermöge
der Verwandſchaft, der Erbverbrüderung, oder der bei Wahl¬
capitulationen von dem kaiſerlichen Hofe erlangten Anwartſchaft.
Welches immer der Urſprung dieſer particulariſtiſchen Zuſammen¬
gehörigkeit in Deutſchland iſt, das Ergebniß derſelben bleibt die
Thatſache, daß der einzelne Deutſche leicht bereit iſt, ſeinen deut¬
ſchen Nachbarn und Stammesgenoſſen mit Feuer und Schwert zu
bekämpfen und perſönlich zu tödten, wenn infolge von Streitig¬
keiten, die ihm ſelbſt nicht verſtändlich ſind, der dynaſtiſche Befehl
dazu ergeht. Die Berechtigung und Vernünftigkeit dieſer Eigen¬
thümlichkeit zu prüfen, iſt nicht die Aufgabe eines deutſchen Staats¬
mannes, ſo lange ſie ſich kräftig genug erweiſt, um mit ihr
rechnen zu können. Die Schwierigkeit, ſie zu zerſtören und zu
ignoriren, oder die Einheit theoretiſch zu fördern, ohne Rückſicht
auf dieſes praktiſche Hemmniß, iſt für die Vorkämpfer der Einheit
oft verhängnißvoll geweſen, namentlich bei Benutzung der günſtigen
[294/0321]
Dreizehntes Kapitel: Dynaſtien und Stämme.
Umſtände der nationalen Bewegung von 1848 bis 1850. Ich habe
ein volles Verſtändniß für die Anhänglichkeit der heutigen welfiſchen
Partei an die alte Dynaſtie, und ich weiß nicht, ob ich ihr, wenn
ich als Alt-Hanoveraner geboren wäre, nicht angehörte. Aber ich
würde auch in dem Falle immer der Wirkung des nationalen deut¬
ſchen Gefühls mich nicht entziehn können und mich nicht wundern,
wenn die vis major der Geſammtnationalität meine dynaſtiſche
Mannestreue und perſönliche Vorliebe ſchonungslos vernichtete.
Die Aufgabe, mit Anſtand zu Grunde zu gehn, fällt in der
Politik, und nicht blos in der deutſchen, auch andern und ſtärker
berechtigten Gemüthsregungen zu, und die Unfähigkeit, ſie zu er¬
füllen, vermindert einigermaßen die Sympathie, welche die kur¬
braunſchweigiſche Vaſallentreue mir einflößt. Ich ſehe in dem
deutſchen Nationalgefühl immer die ſtärkere Kraft überall, wo ſie
mit dem Particularismus in Kampf geräth, weil der letztre, auch
der preußiſche, ſelbſt doch nur entſtanden iſt in Auflehnung gegen
das geſammtdeutſche Gemeinweſen, gegen Kaiſer und Reich, im
Abfall von Beiden, geſtützt auf päpſtlichen, ſpäter franzöſiſchen, in
der Geſammtheit welfchen Beiſtand, die alle dem deutſchen Gemein¬
weſen gleich ſchädlich und gefährlich waren. Für die welfiſchen
Beſtrebungen iſt für alle Zeit ihr erſter Merkſtein in der Geſchichte,
der Abfall Heinrichs des Löwen vor der Schlacht bei Legnano,
entſcheidend, die Deſertion vom Kaiſer und Reich im Augenblick
des ſchwerſten und gefährlichſten Kampfes, aus perſönlichem und
dynaſtiſchem Intereſſe.
Dynaſtiſche Intereſſen haben in Deutſchland inſoweit eine Be¬
rechtigung, als ſie ſich dem allgemeinen nationalen Reichsintereſſe
anpaſſen; ſie können mit dieſem ſehr wohl Hand in Hand gehn,
und ein reichstreuer Herzog im alten Sinne iſt dem Ganzen unter
Umſtänden nützlicher als direkte Beziehungen des Kaiſers zu den
herzoglichen Hinterſaſſen. So weit aber die dynaſtiſchen Inter¬
eſſen uns mit neuer Zerſplitterung und Ohnmacht der Nation
bedrohn ſollten, müßten ſie auf ihr richtiges Maß zurückgeführt
[295/0322]
Welfentreue. Inwieweit ſind dynaſtiſche Intereſſen berechtigt?
werden. Das deutſche Volk und ſein nationales Leben können
nicht unter fürſtlichen Privatbeſitz vertheilt werden. Ich bin mir
jeder Zeit klar darüber geweſen, daß dieſe Erwägung auf die
kurbrandenburgiſche Dynaſtie dieſelbe Anwendung findet, wie auf
die bairiſche, die welfiſche und andre; ich würde gegen das
brandenburgiſche Fürſtenhaus keine Waffen gehabt haben, wenn ich
ihm gegenüber mein deutſches Nationalgefühl durch Bruch und
Auflehnung hätte bethätigen müſſen; die geſchichtliche Prädeſtination
lag aber ſo, daß meine höfiſchen Talente hinreichten, um den König
und damit ſchließlich ſein Heer der deutſchen Sache zu gewinnen.
Ich habe gegen den preußiſchen Particularismus vielleicht noch
ſchwierigere Kämpfe durchzuführen gehabt als gegen den der übrigen
deutſchen Staaten und Dynaſtien, und mein angebornes Ver¬
hältniß zu dem Kaiſer Wilhelm I. hat mir dieſe Kämpfe er¬
ſchwert. Doch iſt es mir ſchließlich ſtets gelungen, trotz der ſtarken
dynaſtiſchen, aber Dank der dynaſtiſch berechtigten und in entſchei¬
denden Momenten immer ſtärker werdenden nationalen Strebungen
des Kaiſers ſeine Zuſtimmung für die deutſche Seite unſrer Ent¬
wicklung zu gewinnen, auch wenn eine mehr dynaſtiſche und par¬
ticulariſtiſche von allen andern Seiten geltend gemacht wurde. In
der Nikolsburger Situation wurde mir dies nur mit dem Beiſtande
des damaligen Kronprinzen möglich. Die territoriale Souveränetät
der einzelnen Fürſten hatte ſich im Laufe der deutſchen Geſchichte
zu einer unnatürlichen Höhe entwickelt; die einzelnen Dynaſtien,
Preußen nicht ausgenommen, hatten an ſich dem deutſchen Volke
gegenüber auf Zerſtückelung des letztern für ihren Privatbeſitz, auf
den ſouveränen Antheil am Leibe des Volkes niemals ein höheres
hiſtoriſches Recht, als unter den Hohenſtaufen und unter Karl V.
in ihrem Beſitz war. Die unbeſchränkte Staatsſouveränetät der
Dynaſtien, der Reichsritter, der Reichsſtädte und Reichsdörfer war
eine revolutionäre Errungenſchaft auf Koſten der Nation und ihrer
Einheit. Ich habe ſtets den Eindruck des Unnatürlichen von der
Thatſache gehabt, daß die Grenze, welche den niederſächſiſchen Alt¬
[296/0323]
Dreizehntes Kapitel: Dynaſtien und Stämme.
märker bei Salzwedel von dem kurbraunſchweigiſchen Niederſachſen
bei Lüchow, in Moor und Haide dem Auge unerkennbar, trennt,
doch den zu beiden Seiten plattdeutſch redenden Niederſachſen an
zwei verſchiedene, einander unter Umſtänden feindliche völkerrechtliche
Gebilde verweiſen will, deren eines von Berlin, und das andre
früher von London, ſpäter von Hanover regirt wurde, das eine
Augen rechts nach Oſten, das andre Augen links nach Weſten bereit
ſtand, und daß friedliche und gleichartige, im Connubium verkehrende
Bauern dieſer Gegend, der eine für welfiſch-habsburgiſche, der andre
für hohenzollernſche Intereſſen auf einander ſchießen ſollten. Daß
dieß überhaupt möglich war, beweiſt die Tiefe und Gewalt des Ein¬
fluſſes dynaſtiſcher Anhänglichkeit auf den Deutſchen. Daß die Dyna¬
ſtien jederzeit ſtärker geblieben ſind als Preſſe und Parlamente,
hat ſich durch die Thatſache beſtätigt, daß 1866 Bundesländer,
deren Dynaſtien im Bereich des öſtreichiſchen Einfluſſes lagen, ohne
Rückſicht auf nationale Beſtrebungen mit Oeſtreich, und nur ſolche,
welche „unter den preußiſchen Kanonen“ lagen, mit Preußen gingen.
Von den letztern machten allerdings Hanover, Heſſen und Naſſau
Ausnahmen, weil ſie Oeſtreich für ſtark genug hielten, um alle
Zumuthungen Preußens ſiegreich abweiſen zu können. Sie haben
infolge deſſen die Zeche bezahlt, da es nicht gelang, dem Könige
Wilhelm die Vorſtellung annehmbar zu machen, daß Preußen, an
der Spitze des Norddeutſchen Bundes, einer Vergrößerung ſeines
Gebietes kaum bedürfen würde. Gewiß aber iſt, daß auch 1866
die materielle Macht der Bundesſtaaten den Dynaſtien und nicht
den Parlamenten folgte, und daß ſächſiſches, hanöverſches und
heſſiſches Blut nicht für die deutſche Einheit, ſondern dagegen ver¬
goſſen iſt.
Die Dynaſtien bildeten überall den Punkt, um den der deutſche
Trieb nach Sonderung in engern Verbänden ſeine Kryſtalle anſetzte.
[[297]/0324]
Vierzehntes Kapitel.
Conflicts-Miniſterium.
I.
Bei der Vertheilung der Miniſterien, wofür die Auswahl an
Candidaten klein war, verurſachte das Finanzminiſterium den ge¬
ringſten Aufenthalt; es wurde Herrn Karl von Bodelſchwingh —
Bruder des im März 1848 abgetretenen Miniſters des Innern,
Ernſt von Bodelſchwingh — zugetheilt, der es bereits unter Man¬
teuffel von 1851 bis 1858 gehabt hatte. Es zeigte ſich freilich
bald, daß er und der Graf Itzenplitz, dem das Handelsminiſterium
zufiel, nicht im Stande waren, ihre Miniſterien zu leiten. Beide
beſchränkten ſich darauf, die Beſchlüſſe der ſachkundigen Räthe mit
ihrer Unterſchrift zu verſehn und nach Möglichkeit die Divergenzen
zu vermitteln, in welche die Beſchlüſſe der theils liberalen, theils
in engen Reſſort-Geſichtspunkten befangenen Räthe mit der Politik
des Königs und des Staatsminiſteriums gerathen konnten. Die
ſehr ſachkundigen Mitglieder des Finanzminiſteriums gehörten inner¬
lich der Mehrzahl nach der Oppoſition gegen das Conflictsmini¬
ſterium an und betrachteten es als eine kurze Epiſode in der libe¬
ralen Fortbildung der bürokratiſchen Regirungsmaſchine; und wenn
die tüchtigſten unter ihnen zu gewiſſenhaft waren, um die Thätig¬
keit der Regirung zu hemmen, ſo leiſteten ſie doch einen paſſiven
Widerſtand, wo ihr amtliches Pflichtgefühl ihnen einen ſolchen er¬
laubte, der immerhin nicht unerheblich war. Aus dieſer Sachlage
[298/0325]
Vierzehntes Kapitel: Conflicts-Miniſterium.
ergab ſich das wunderliche Verhältniß, daß Herr von Bodelſchwingh,
der nach ſeiner perſönlichen Stellung die äußerſte Rechte unter
uns Miniſtern bildete, in der Regel mit ſeinem Votum die äußerſte
Linke einnahm.
Ebenſo war der Handelsminiſter Graf Itzenplitz nicht im
Stande, das Steuer ſeines überladenen miniſteriellen Fahrzeugs
ſelbſtändig zu führen, ſondern trieb in der Strömung, welche
ſeine Untergebenen ihm herſtellten. Wenn es vielleicht unmöglich
war, für die mannichfaltigen Verzweigungen des damaligen Handels¬
miniſteriums einen Chef zu finden, der in allen ihm unterſtellten
Diſciplinen zur Führung ſeiner Untergebenen befähigt geweſen
wäre, ſo ſtand der Graf Itzenplitz den von ihm zu löſenden Auf¬
gaben viel fremder gegenüber, als z. B. von der Heydt, und ver¬
fiel ziemlich hülflos der in techniſchen Fragen ſachkundigen Leitung
der Decernenten, namentlich Delbrücks. Außerdem war er eine
weiche Natur, ohne die zur Leitung eines ſo großen Reſſorts
nöthige Energie; ſelbſt den Unredlichkeiten gegenüber, die da¬
mals einzelnen hervorragenden Mitarbeitern des Handelsminiſte¬
riums ſchuldgegeben wurden und die den perſönlich ehrliebenden
Chef auf's Höchſte beunruhigten, wurde ihm das Einſchreiten ſehr
ſchwer, weil die techniſche Leiſtung der ihm ſelbſt verdächtigen Be¬
amten ihm unentbehrlich ſchien. Unterſtützung meiner Politik hatte
ich perſönlich von den in Rede ſtehenden beiden Collegen nicht zu
erwarten, weder nach ihrem Verſtändniß für dieſelbe, noch nach
dem Maß von Wohlwollen, welches ſie für mich als jüngern
und urſprünglich dem Geſchäft nicht angehörigen Präſidenten übrig
hatten.
Als Miniſter des Innern fand ich Herrn von Jagow vor,
der durch die Lebhaftigkeit ſeines Tones, ſeinen Wortreichthum und
die rechthaberiſche Färbung ſeiner Diſcuſſion ſich binnen Kurzem
die Abneigung ſeiner Collegen in dem Grade zuzog, daß er durch
den Grafen Friedrich Eulenburg erſetzt werden mußte. Charak¬
teriſtiſch für ihn iſt ein Erlebniß, das wir mit ihm hatten, nach¬
[299/0326]
Die neuen Miniſter: Bodelſchwingh, Itzenplitz, Jagow, Selchow, Eulenburg.
dem er ausgeſchieden und in die Stelle des Oberpräſidenten in
Potsdam eingerückt war. In wichtigen Angelegenheiten der Stadt
Berlin ſchwebten Verhandlungen, in denen er das reſſortmäßige
Mittelglied zwiſchen der Regirung und den Gemeindebehörden
war. Die Dringlichkeit der Sache brachte es mit ſich, daß das
Staatsminiſterium den Oberbürgermeiſter erſuchte, ſich nach Pots¬
dam zu begeben und über einen entſcheidenden Punkt die Anträge
des Oberpräſidenten mündlich einzuholen und darüber in einer zu
dem Zweck angeſagten Abendſitzung des Miniſteriums zu berichten.
Der Oberbürgermeiſter hatte eine zweiſtündige Audienz; aber zur
Berichterſtattung darüber in der Sitzung erſcheinend, erklärte er,
eine ſolche nicht machen zu können, weil er während der zwei
Stunden, die zwiſchen den beiden Zügen lagen, dem Herrn Ober¬
präſidenten gegenüber nicht zu Worte gekommen ſei. Er habe es
wiederholt und bis zur Unhöflichkeit verſucht, ſeine Frage zu ſtellen,
ſei aber von dem Vorgeſetzten ſtets und mit ſteigender Energie
mit den Worten zur Ruhe verwieſen worden: „Erlauben Sie, ich
bin noch nicht fertig, bitte mich ausreden zu laſſen.“ Dieſer Be¬
richt des Oberbürgermeiſters erzeugte einen geſchäftlichen Verdruß,
rief aber doch in der Erinnerung an eigne frühere Erlebniſſe einige
Heiterkeit hervor.
Mein landwirthſchaftlicher College von Selchow entſprach in
ſeiner Begabung nicht dem Rufe, der ihm in der Provinzial¬
verwaltung vorhergegangen war. Der König hatte ihm das zur
Zeit wichtigſte Miniſterium des Innern zugedacht. Nach einer
längern Unterredung, in der ich die Bekanntſchaft des Herrn
von Selchow machte, bat ich Se. Majeſtät, davon abzuſtehn,
weil ich ihn der Aufgabe nicht für gewachſen hielt, und ſchlug
ſtatt ſeiner den Grafen Friedrich Eulenburg vor. Beide Herrn
ſtanden mit dem Könige in maureriſchen Beziehungen und wurden
bei den Schwierigkeiten, die die Vervollſtändigung des Miniſte¬
riums hatte, erſt im December zum Eintritt bewogen. Der König
hatte Zweifel an Graf Eulenburgs Sachkunde auf dem Gebiete
[300/0327]
Vierzehntes Kapitel: Conflicts-Miniſterium.
des Innern, wollte ihm das Handelsminiſterium, dem Grafen
Itzenplitz die Landwirthſchaft und Selchow das Innere geben.
Ich entwickelte dem gegenüber, daß die reſſortmäßige Sachkunde
als Handelsminiſter bei Eulenburg und Selchow auf ziemlich gleicher
Stufe ſtehn und jedenfalls mehr bei ihren Räthen als bei ihnen
ſelbſt zu ſuchen ſein würde, daß ich in dieſem Falle viel mehr
Gewicht auf perſönliche Begabung, Geſchick und Menſchenkenntniß
legte, als auf techniſche Vorbildung. Ich gäbe zu, daß Eulenburg
arbeitsſcheu und vergnügungsſüchtig ſei: er ſei aber auch geſcheidt
und ſchlagfertig, und wenn er als Miniſter des Innern in der
nächſten Zeit als der Vorderſte auf der Breſche ſtehn müſſe, ſo
werde das Bedürfniß, ſich zu wehren und die Schläge, die er be¬
kommen, zu erwidern, ihn aus ſeiner Unthätigkeit heraus ſpornen.
Der König gab mir endlich nach, und ich glaube auch noch heut,
daß meine Wahl den Umſtänden nach richtig war; denn wenn ich
auch unter dem Mangel an Arbeitſamkeit und Pflichtgefühl meines
Freundes Eulenburg mitunter ſchwer gelitten habe, ſo war er doch
in den Zeiten ſeiner Arbeitsluſt ein tüchtiger Gehülfe und immer
ein feiner Kopf, nicht ohne Ehrgeiz und Empfindlichkeit, auch mir
gegenüber. Wenn die Periode der Entſagung und angeſtrengten
Arbeit länger als gewöhnlich dauerte, ſo verfiel er in nervöſe
Krankheiten. Jedenfalls waren er und Roon die Hervorragendſten
in dem Conflictsminiſterium.
Roon aber war der einzige unter meinen ſpätern Collegen,
der bei meinem Eintritt in das Amt ſich der Wirkung und des
Zweckes deſſelben und des gemeinſamen Operationsplanes bewußt
war und den letztern mit mir beſprach. Er war unerreicht in
der Treue, Tapferkeit und Leiſtungsfähigkeit, womit er vor und
nach meinem Eintritt die Kriſis überwinden half, in die der
Staat durch das Experiment der neuen Aera gerathen war. Er
verſtand ſein Reſſort und beherrſchte es, war der beſte Redner
unter uns, ein Mann von Geiſt und unerſchütterlich in der Ge¬
ſinnung eines ehrliebenden preußiſchen Offiziers. Mit vollem Ver¬
[301/0328]
v. Roon, v. Mühler.
ſtändniß für politiſche Fragen wie Eulenburg, war er conſequenter,
ſichrer und beſonnener als dieſer. Sein Privatleben war einwands¬
frei. Ich war mit ihm von meinen Kinderjahren her, als er, mit
topographiſchen Aufnahmen beſchäftigt, ſich im Hauſe meiner Eltern
aufhielt (1833), perſönlich befreundet und habe nur unter ſeinem
Jähzorn zuweilen gelitten, der ſich leicht bis zur Gefährdung ſeiner
Geſundheit ſteigerte. In der Zeit, während deren ich krankheits¬
halber das Präſidium an ihn abgegeben hatte, 1873, machten ſich
Streber, wie Harry Arnim und jüngere Militärs, dieſelben, die mit
ihren Verbündeten in der „Kreuzzeitung“ und durch die „Reichs¬
glocke“ gegen mich arbeiteten, an ihn heran und ſuchten ihn mir
zu entfremden. Seine Präſidialſtellung nahm ohne meine Mit¬
wirkung ein Ende auf die Initiative meiner übrigen Collegen,
die bei ihm, deſſen Heftigkeit ſich mit den Jahren ſteigerte und
der ſeinerſeits von unſern Mitarbeitern in Civil nicht imponirt
war, die Formen vermißten, auf welche ſie im collegialen Verkehr
Anſpruch machten, und bei mir, und durch Eulenburg vertraulich
bei dem Könige, anregten, daß ich das Präſidium wieder über¬
nehmen möchte. Daraus entſtand zu meinem Bedauern und ohne
meine Abſicht, hauptſächlich durch Zwiſchenträgereien, in Roons
letzten Jahren nicht grade eine Erkältung, doch eine Zurückhaltung,
und bei mir die Empfindung, daß mein beſter Freund und Kamerad
den Lügen und Verleumdungen, welche über mich ſyſtematiſch ver¬
breitet wurden, nicht mit der Entſchiedenheit entgegentrat, welche
ich, wie ich glaube, im umgekehrten Falle bethätigt haben würde.
Der Cultusminiſter von Mühler hatte viel Aehnlichkeit mit
ſeinem ſpätern Nachfolger, Herrn von Goßler, in der Art, wie er
ſich geſchäftlich gab, nur daß die Energie und die geſchäftliche Lieb¬
haberei ſeiner geſcheidten und, wenn ſie wollte, liebenswürdigen
Frau auf ihn wirkte und er ihrer ſtärkern Willenskraft vielleicht
unterlag; ich wußte das anfangs allerdings nicht aus direkter Wahr¬
nehmung, ſondern konnte es nur nach dem Eindrucke ſchließen, den
beide Perſönlichkeiten mir im Verkehr gemacht hatten. Ich er¬
[302/0329]
Vierzehntes Kapitel: Conflicts-Miniſterium.
innere mich, daß ich ſchon in Gaſtein im Auguſt 1865 bis zur
Unhöflichkeit darauf beſtehn mußte, allein mit Herrn von Mühler
über einen königlichen Befehl zu ſprechen, ehe es mir gelang, die
Frau Miniſterin zu bewegen, uns allein zu laſſen. Das Vorkommen
einer ſolchen Nöthigung hatte ſeinerſeits Verſtimmungen zur Folge,
die ſich bei ſeiner ſachkundigen Behandlung der Dinge auf mein
geſchäftliches Verhältniß zunächſt nicht übertrugen, aber doch die
Ergebniſſe unſres perſönlichen Verkehrs beeinträchtigten. Frau von
Mühler empfing ihre politiſche Direction nicht von ihrem Gemale,
ſondern von Ihrer Majeſtät, mit welcher Fühlung zu erhalten ſie
vor Allem beſtrebt war. Die Hofluft, die Rangfragen, die äußer¬
liche Kundgebung Allerhöchſter Intimität haben nicht ſelten auf
Miniſterfrauen einen Einfluß, der ſich in der Politik fühlbar macht;
die perſönliche, der Staatsraiſon in der Regel zuwiderlaufende
Politik der Kaiſerin Auguſta fand in Frau von Mühler eine be¬
reitwillige Dienerin, und Herr von Mühler, wenn auch ein ein¬
ſichtiger und ehrlicher Beamter, war doch nicht feſt genug in
ſeinen Ueberzeugungen, um nicht dem Hausfrieden Conceſſionen
auf Koſten der Staatspolitik zu machen, wenn es in unauffälliger
Weiſe geſchehn konnte.
Der Juſtizminiſter Graf zur Lippe hatte vielleicht von ſeiner
Thätigkeit als Staatsanwalt die Gewohnheit beibehalten, auch das
Schärfſte mit lächelnder Miene, mit einem höhniſchen Ausdrucke
von Ueberlegenheit zu ſagen, und verſtimmte dadurch die Parlamente
und die Collegen. Er ſtand nächſt Bodelſchwingh am weiteſten
rechts unter uns und war in Vertretung ſeiner Richtung ſchärfer
als dieſer, weil er in ſeinem Reſſort ſachkundig genug war, um
ſeiner perſönlichen Ueberzeugung folgen zu können, während Bodel¬
ſchwingh den Geſchäftsgang des Finanzminiſteriums ohne den wil¬
ligen Beiſtand ſeiner ſachkundigen Räthe nicht beherrſchen konnte,
dieſe Räthe aber in ihrer politiſchen Auffaſſung weiter links ſtanden
als ihr Chef und das ganze Miniſterium.
[303/0330]
Graf zur Lippe. Schreiben des Königs an Vincke.
II.
Die ſtaatsrechtliche Frage, um welche es ſich in dem Conflicte
handelte, und die Auffaſſung derſelben, welche das Miniſterium
gewonnen und der König gutgeheißen hatte, iſt in einem Schreiben
Sr. Majeſtät an den Oberſtlieutenant Freiherrn von Vincke auf
Olbendorf bei Grottkau dargelegt, welches ſeiner Zeit in der Preſſe
erwähnt, aber, ſo viel ich mich erinnere, nicht vollſtändig veröffent¬
licht worden iſt 1), was daſſelbe um ſo mehr verdient, als ſich daraus
die Haltung des Königs in der Frage der Indemnität erklärt.
Herr von Vincke hatte ein Glückwunſchſchreiben zu Neujahr
1863 mit folgenden Sätzen geſchloſſen: „Das Volk hängt treu an
Ew. M., aber es hält auch feſt an dem Recht, welches ihm der
Artikel 99 der Verfaſſung unzweideutig gewährt. Möge Gott die
unglücklichen Folgen eines großen Mißverſtändniſſes in Gnaden
abwenden.“
Der König antwortete am 2. Januar 1863:
„Für Ihre freundlichen Glückwünſche beim Jahreswechſel danke
ich Ihnen beſtens. Daß der Blick in das neue Jahr nicht freund¬
lich iſt, bedarf keines Beweiſes. Daß aber auch Sie in das Horn
ſtoßen, daß ich nicht die Stimmung des bei Weitem größten Theils
des Volkes kenne, iſt mir unbegreiflich, und Sie müſſen meine Ant¬
worten an die vielen Loyalitäts-Deputationen nicht geleſen haben.
Immer und immer habe ich es wiederholt, daß mein Vertrauen
zu meinem Volk unerſchüttert ſey, weil ich wüßte, daß es mir
vertraue; aber Diejenigen, welche mir die Liebe und das Vertrauen
deſſelben rauben wollten, die verdamme ich, weil ihre Pläne nur
ausführbar ſind, wenn dies Vertrauen erſchüttert wird. Und daß
zu dieſem Zwecke Jenen alle Wege recht ſind, weiß die ganze
1)
Es findet ſich veröffentlicht bei L. Schneider, Aus dem Leben
Wilhelms I. Bd. I 194/197.
[304/0331]
Vierzehntes Kapitel: Conflicts-Miniſterium.
Welt, denn nur Lüge und Trug und Lug kann ihre Pläne zur
Reife bringen.
Sie ſagen ferner: das Volk verlange die Ausführung des
§ 99 der Verfaſſung. Ich möchte wohl wiſſen, wie viele Menſchen
im Volke den § 99 kennen oder ihn je haben nennen hören!!!
Das iſt aber einerlei und thut nichts zur Sache, da für die Re¬
gierung der Paragraph exiſtirt und befolgt werden muß. Wer hat
denn aber die Ausführung des Paragraphen unmöglich gemacht? Habe
ich nicht von der Winter- zur Sommer-Session die Concession von
4 Millionen gemacht und danach das Militair-Budget — leider! —
modificirt? Habe ich nicht mehrere andere Concessionen — leider! —
gemacht, um das Entgegenkommen der Regierung dem neuen Hauſe
zu beweiſen? Und was iſt die Folge geweſen?? Daß das Ab¬
geordnetenhaus gethan hat, als hätte ich nichts gethan, um ent¬
gegenzukommen, um nur immer mehr und neue Concessionen zu
erlangen, die zuletzt dahin führen ſollten, daß die Regierung un¬
möglich würde. Wer einen ſolchen Gebrauch von ſeinem Rechte
macht, d. h. das Budget ſo reducirt, daß Alles im Staate aufhört,
der gehört in's Tollhaus! Wo ſteht es in der Verfaſſung, daß nur
die Regierung Concessionen machen ſoll und die Abgeordneten nie¬
mals??? Nachdem ich die meinigen in unerhörter Ausdehnung ge¬
macht hatte, war es am Abgeordnetenhaus, die ſeinigen zu machen.
Dies aber wollte es unter keiner Bedingung, und die ſogenannte
,Episode‘ bewies wohl mehr wie ſonnenklar, daß uns eine Falle
nach der anderen gelegt werden ſollte, in welche ſogar Ihr
Vetter Patow und Schwerin fielen durch die Schlechtigkeit des
Bockum-Dolffs. 234000 Reichsthaler ſollten noch pro 1862 ab¬
geſetzt werden, um das Budget annehmen zu können, während
der Kern der Frage erſt 1863 zur Sprache kommen ſollte; dies
lag gedruckt vor; und als ich darauf eingehe, erklärt nun erſt
Bockum-Dolffs, daß ihrerſeits, d. h. ſeiner politiſchen Freunde, dies
Eingehen nur angenommen werden könne, wenn ſofort in der
Commiſſion die Zuſage und anderen Tags im Plenum das Geſetz
[305/0332]
Schreiben des Königs an Vincke.
einer zweijährigen Dienſtzeit eingebracht werde. Und als ich darauf
nicht eingehe, verhöhnt uns B. D. durch ſeine Preſſe: ‚nun ſolle
man ſich die Unverſchämtheit der Regierung denken, dem Hauſe
zuzumuthen, um 234000 Reichsthaler Frieden anzubieten!‛ Und
doch lag nur dies Anerbieten Seitens des Hauſes vor! Iſt
jemals eine größere Infamie aufgeführt worden, um die Regierung
zu verunglimpfen und das Volk zu verwirren?
Das Abgeordnetenhaus hat von ſeinem Recht Gebrauch ge¬
macht und das Budget reducirt.
Das Herrenhaus hat von ſeinem Recht Gebrauch gemacht
und das reducirte Budget en bloc verworfen.
Was ſchreibt die Verfaſſung in einem ſolchen Falle vor?
Nichts! —
Da, wie oben gezeigt, das Abgeordnetenhaus ſein Recht zur
Vernichtung der Armée und des Landes benutzte, ſo mußte ich
wegen jenes ‚Nichts‛ suppléiren und als guter Hausvater das Haus
weiter führen und ſpätere Rechenſchaft geben. Wer hat
alſo den § 99 unmöglich gemacht??? Ich wahrlich nicht!
Wilhelm.“
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 20
[[306]/0333]
Fünfzehntes Kapitel.
Die Alvenslebenſche Convention.
Gegenüber der Bewegung in Polen, die gleichzeitig mit der
Umwälzung in Italien, und nicht ohne Zuſammenhang mit ihr,
durch die Landestrauer, die kirchliche Feier vaterländiſcher Er¬
innerungstage und die Agitation der landwirthſchaftlichen Ver¬
eine begann, war man in Petersburg ziemlich lange ſchwankend
zwiſchen Polonismus und Abſolutismus. Die den Polen freund¬
liche Strömung hing zuſammen mit dem in der höhern ruſſiſchen
Geſellſchaft laut gewordenen Verlangen nach einer Verfaſſung.
Man empfand es als eine Demüthigung, daß die Ruſſen, die doch
auch gebildete Leute wären, Einrichtungen entbehren müßten, die
bei allen europäiſchen Völkern exiſtirten, und daß ſie über ihre
eignen Angelegenheiten nicht mitzureden hätten. Der Zwieſpalt in
der Beurtheilung der polniſchen Frage erſtreckte ſich bis in die
höchſten militäriſchen Kreiſe und führte zwiſchen dem Statthalter
in Warſchau, General Graf Lambert, und dem Generalgouverneur
General Gerſtenzweig, zu einer leidenſchaftlichen Erörterung, die
mit dem nicht aufgeklärten gewaltſamen Tode des Letztern endete
(Jan. 1862). Ich wohnte ſeiner Beiſetzung in einer der evan¬
geliſchen Kirchen Petersburgs bei. Diejenigen Ruſſen, welche für
ſich eine Verfaſſung verlangten, machten zuweilen entſchuldigend
geltend, daß die Polen durch Ruſſen nicht regirbar wären und als
die Civiliſirteren erhöhten Anſpruch auf Betheiligung an ihrer Re¬
girung hätten.
[307/0334]
Polonismus und Abſolutismus am Petersburger Hofe.
Dies war die auch vom Fürſten Gortſchakow vertretene An¬
ſicht, dem parlamentariſche Einrichtungen ein Feld für europäiſche
Verwerthung ſeiner Beredſamkeit gewährt haben würden, und
den ſein Popularitätsbedürfniß widerſtandsunfähig gegen liberale
Strömungen in der ruſſiſchen „Geſellſchaft“ machte. Er war bei
der Freiſprechung von Wera Saſſulitſch (11. April 1878) der Erſte,
der zum Beifall der Zuhörer das Signal gab.
Der Kampf der Meinungen war in Petersburg recht lebhaft,
als ich im April 1862 von dort abging, und blieb ſo während
des erſten Jahres meines Miniſteramts. Ich übernahm die Leitung
des Auswärtigen Amts unter dem Eindruck, daß es ſich bei dem
am 1. Januar 1863 ausgebrochenen Aufſtande nicht blos um das
Intereſſe unſrer öſtlichen Provinzen, ſondern auch um die weiter¬
greifende Frage handelte, ob im ruſſiſchen Cabinet eine polenfreund¬
liche oder eine antipolniſche Richtung, ein Streben nach panſlaviſti¬
ſcher antideutſcher Verbrüderung zwiſchen Ruſſen und Polen oder
eine gegenſeitige Anlehnung der ruſſiſchen und der preußiſchen
Politik herrſchte. In den Verbrüderungsbeſtrebungen waren die
betheiligten Ruſſen die Ehrlicheren; von dem polniſchen Adel und
der Geiſtlichkeit wurde ſchwerlich an einen Erfolg dieſer Be¬
ſtrebungen geglaubt oder ein ſolcher als das definitive Ziel in's
Auge gefaßt. Es gab kaum einen Polen, für den die Verbrüde¬
rungspolitik mehr als eine tactiſche Evolution vorgeſtellt hätte, zu
dem Zwecke, gläubige Ruſſen zu täuſchen, ſo lange es nothwendig
oder nützlich ſein würde. Die Verbrüderung wird von dem pol¬
niſchen Adel und ſeiner Geiſtlichkeit nicht ganz, aber doch annähernd
ebenſo unwandelbar perhorreſcirt wie die mit den Deutſchen,
letztre jedenfalls ſtärker, nicht blos aus Abneigung gegen die Race,
ſondern auch in der Meinung, daß die Ruſſen in ſtaatlicher Ge¬
meinſchaft von den Polen geleitet werden würden, die Deutſchen
aber nicht.
Für Preußens deutſche Zukunft war die Haltung Rußlands
eine Frage von hoher Bedeutung. Eine polenfreundliche Richtung
[308/0335]
Fünfzehntes Kapitel: Die Alvenslebenſche Convention.
der ruſſiſchen Politik war dazu angethan, die ſeit dem Pariſer
Frieden und ſchon früher gelegentlich angeſtrebte ruſſiſch-franzöſiſche
Fühlung zu beleben, und ein polenfreundliches, ruſſiſch-franzöſiſches
Bündniß, wie es vor der Julirevolution in der Luft ſchwebte, hätte
das damalige Preußen in eine ſchwierige Lage gebracht. Wir hatten
das Intereſſe, im ruſſiſchen Cabinet die Partei der polniſchen
Sympathien, auch ſolcher im Sinne Alexanders I., zu bekämpfen.
Daß Rußland ſelbſt keine Sicherheit gegen die polniſche Verbrüde¬
rung gewährte, konnte ich aus den vertraulichen Geſprächen ent¬
nehmen, die ich theils mit Gortſchakow, theils mit dem Kaiſer
ſelbſt hatte. Kaiſer Alexander war damals nicht abgeneigt, Polen
theilweis aufzugeben; er hat mir das mit dürren Worten geſagt,
wenigſtens mit Bezug auf das linke Weichſelufer, indem er, ohne
Accent darauf zu legen, Warſchau ausnahm, das immerhin als
Garniſon in der Armee ſeinen Reiz hätte und ſtrategiſch zu dem
Feſtungsdreieck an der Weichſel gehörte, Polen wäre eine Quelle
von Unruhe und europäiſchen Gefahren für Rußland, die Ruſſifi¬
cirung ſei nicht durchführbar wegen der confeſſionellen Verſchieden¬
heit und wegen des Mangels an adminiſtrativer Befähigung der
ruſſiſchen Organe. Bei uns gelinge es, das polniſche Gebiet zu
germaniſiren (?), wir hätten die Mittel dazu, weil die deutſche Be¬
völkerung gebildeter ſei als die polniſche. Der Ruſſe fühle nicht
die nöthige Ueberlegenheit, um die Polen zu beherrſchen, man
müſſe ſich auf das Minimum polniſcher Bevölkerung beſchränken,
welches die geographiſche Lage zulaſſe, alſo auf die Weichſelgrenze
und Warſchau als Brückenkopf.
Ich kann nicht darüber urtheilen, in wie weit dieſe Darlegung
des Kaiſers reiflich erwogen war. Mit Staatsmännern beſprochen
wird ſie geweſen ſein, denn eine ganz ſelbſtändige, perſönliche,
politiſche Initiative mir gegenüber habe ich vom Kaiſer nie er¬
fahren. Dieſes Geſpräch fand zu einer Zeit ſtatt, wo meine Ab¬
berufung ſchon wahrſcheinlich war, und meine nicht blos höfliche,
ſondern wahrheitsgemäße Aeußerung, daß ich meine Abberufung
[309/0336]
Alexander II. über Polen. Werth der ruſſiſchen Freundſchaft.
bedauerte und gern in Petersburg bleiben würde, veranlaßte den
Kaiſer mißverſtändlich zu der Frage, ob ich geneigt ſei, in ruſſiſche
Dienſte zu treten. Ich verneinte das höflich unter Betonung des
Wunſches, als preußiſcher Geſandter in der Nähe Sr. Majeſtät zu
bleiben. Es wäre mir damals nicht unlieb geweſen, wenn der
Kaiſer zu dem Zwecke Schritte gethan hätte, denn der Gedanke,
der Politik der neuen Aera, ſei es als Miniſter, ſei es als Ge¬
ſandter in Paris oder London ohne die Ausſicht auf Mitwirkung
an unſrer Politik, zu dienen, hatte an ſich nichts Verführeri¬
ſches. Wie ich dem Lande und meiner Ueberzeugung in London
oder Paris würde nützen können, wußte ich nicht, während
mein Einfluß bei dem Kaiſer Alexander und den hervorragenden
ſeiner Staatsmänner nicht ohne Bedeutung für unſre Intereſſen
war. Der Gedanke, Miniſter des Aeußern zu werden, war mir
unbehaglich, etwa wie der Eintritt in ein Seebad bei kaltem
Wetter; aber alle dieſe Empfindungen waren nicht ſtark genug,
um mich zu einem Eingriff in die eigne Zukunft oder zu einer
Bitte an den Kaiſer Alexander zu ſolchem Zwecke zu veranlaſſen
Nachdem ich dennoch Miniſter geworden war, ſtand zunächſt
die innere Politik mehr im Vordergrunde, als die äußere; in
dieſer aber lagen mir die Beziehungen zu Rußland Dank meiner
jüngſten Vergangenheit beſonders nahe, und ich war beſtrebt, unſrer
Politik den Beſitz an Einfluß in Petersburg, den wir dort hatten,
nach Möglichkeit zu erhalten. Es lag auf der Hand, daß die
preußiſche Politik in deutſcher Richtung damals von Oeſtreich
keine Unterſtützung zu erwarten hatte. Es war nicht wahrſchein¬
lich, daß das Wohlwollen Frankreichs für unſre Stärkung und die
deutſche Einigung auf die Dauer ehrlich ſein werde, eine Ueber¬
zeugung, die nicht hindern durfte, vorübergehende, auf irrthümlichen
Berechnungen beruhende Unterſtützung und Förderung Napoleons
utiliter anzunehmen. Mit Rußland waren wir in derſelben Lage
wie mit England, inſoweit als wir mit beiden prinzipielle diver¬
girende Intereſſen nicht hatten und durch langjährige Freundſchaft
[310/0337]
Fünfzehntes Kapitel: Die Alvenslebenſche Convention.
verbunden waren. Von England konnten wir platoniſches Wohl¬
wollen und belehrende Briefe und Zeitungsartikel, aber ſchwerlich
mehr erwarten. Der zariſche Beiſtand ging, wie die ungariſche Ex¬
pedition des Kaiſers Nicolaus gezeigt hatte, unter Umſtänden über
die wohlwollende Neutralität hinaus. Daß er zu unſern Gunſten
das thun würde, darauf ließ ſich nicht rechnen, wohl aber lag es
nicht außerhalb der möglichen Rechnung, daß Kaiſer Alexander bei
franzöſiſchen Verſuchen zum Eingreifen in die deutſche Frage uns in
deren Abwehr wenigſtens diplomatiſch beiſtehn würde. Die Stim¬
mung dieſes Monarchen, die mich zu der Annahme berechtigte, hat
ſich noch 1870 erkennen laſſen, während wir damals das neutrale
und befreundete England mit ſeinen Sympathien auf franzöſiſcher
Seite fanden. Wir hatten alſo nach meiner Meinung allen Grund,
jede Sympathie, welche Alexander II. im Gegenſatz zu vielen ſeiner
Unterthanen und höchſten Beamten für uns hegte, wenigſtens in¬
ſoweit zu pflegen, als nöthig war, um Rußlands Parteinahme
gegen uns nach Möglichkeit zu verhüten. Es ließ ſich damals
nicht mit Sicherheit vorausſehn, ob und wie lange dieſes politiſche
Kapital der zariſchen Freundſchaft ſich werde praktiſch verwerthen
laſſen. Jedenfalls aber empfahl der einfache geſunde Menſchen¬
verſtand, es nicht in den Beſitz unſrer Gegner gerathen zu laſſen,
die wir in den Polen, den poloniſirenden Ruſſen und im letzten
Abſchluß wahrſcheinlich auch in den Franzoſen zu ſehn hatten.
Oeſtreich hatte damals in erſter Linie die Rivalität mit Preußen
auf deutſchem Gebiet im Auge und konnte ſich mit der polniſchen
Bewegung leichter abfinden als wir oder als Rußland, weil der
katholiſche Kaiſerſtaat ungeachtet der Reminiſcenzen von 1846 und
der auf die Köpfe polniſcher Edelleute geſetzten Preiſe doch unter
dieſen und der Geiſtlichkeit immer viel mehr Sympathie beſaß als
Preußen und Rußland.
Die Ausgleichung zwiſchen öſtreichiſch-polniſchen und ruſſiſch-
polniſchen Verbrüderungsplänen wird ſtets eine ſchwierige bleiben;
aber das Verhalten der öſtreichiſchen Politik 1863 im Bunde
[311/0338]
Preußen und Oeſtreichs Haltung im polniſchen Aufſtand.
mit den Weſtmächten zu Gunſten der polniſchen Bewegung bewies,
daß Oeſtreich die ruſſiſche Rivalität in einem wieder auferſtandenen
Polen nicht fürchtete. Hatte es doch dreimal, im April, im Juni
und unter dem 12. Auguſt mit Frankreich und England gemein¬
ſame Schritte zu Gunſten der Polen in Petersburg gethan. „Wir
haben“, heißt es in der öſtreichiſchen Note vom 18. Juni 1), „nach
den Bedingungen geforſcht, durch die dem Königreiche Polen
Ruhe und Frieden wiedergegeben werden könnten, und ſind dahin
gelangt, dieſe Bedingungen in den folgenden ſechs Punkten zu¬
ſammen zu faſſen, die wir der Erwägung des Cabinets von Sankt
Petersburg empfehlen: 1. Vollſtändige und allgemeine Amneſtie,
2. Nationale Vertretung, welche an der Geſetzgebung des Landes
theilnimmt und Mittel einer wirkſamen Controlle beſitzt, 3. Er¬
nennung von Polen zu den öffentlichen Aemtern in ſolcher Weiſe,
daß eine beſondre nationale und dem Lande Vertrauen ein¬
flößende Adminiſtration gebildet werde, 4. Volle und gänzliche Ge¬
wiſſensfreiheit und Aufhebung der die Ausübung des katholiſchen
Cultus treffenden Beſchränkungen, 5. Ausſchließlicher Gebrauch der
polniſchen Sprache als amtlicher Sprache in der Verwaltung, der
Juſtiz und dem Unterrichtsweſen, 6. Einführung eines regelmäßigen
und geſetzlichen Rekrutirungsſyſtems.“ Den Vorſchlag Gortſchakows,
daß Rußland, Oeſtreich und Preußen ſich in's Einvernehmen ſetzen
möchten, um das Loos ihrer betreffenden polniſchen Unterthanen
feſtzuſtellen, wies die öſtreichiſche Regirung mit der Erklärung
zurück, „daß das zwiſchen den drei Cabineten von Wien, London
und Paris hergeſtellte Einverſtändniß ein Band zwiſchen ihnen
bildet, von dem Oeſtreich ſich jetzt nicht loslöſen kann, um abge¬
ſondert mit Rußland zu unterhandeln“. Es war das die Situation,
in welcher Kaiſer Alexander Sr. Majeſtät in eigenhändigem
Schreiben nach Gaſtein den Entſchluß, den Degen zu ziehn, kund¬
gab und Preußens Bündniß verlangte.
1)
Im franzöſiſchen Text im Staatsarchiv V 354 ff. Nr. 887.
[312/0339]
Fünfzehntes Kapitel: Die Alvenslebenſche Convention.
Es iſt nicht zu bezweifeln, daß die damalige Intimität mit
den beiden Weſtmächten zu dem Entſchluſſe des Kaiſers Franz
Joſeph mitgewirkt hat, am 2. Auguſt den Vorſtoß mit dem Fürſten¬
congreß gegen Preußen zu machen. Freilich hätte er ſich dabei in
einem Irrthum befunden und nicht gewußt, daß der Kaiſer Napoleon
der polniſchen Sache ſchon überdrüſſig und auf einen anſtändigen
Rückzug bedacht war. Graf Goltz ſchrieb mir am 31. Auguſt 1):
„Sie werden aus meiner heutigen Expedition erſehen, daß
ich mit Cäſar Ein Herz und Eine Seele bin (in der That war
er noch nie, auch zu Anfang meiner Miſſion nicht, ſo liebenswürdig
und vertraulich wie diesmal), daß Oeſterreich uns durch ſeinen
Fürſtentag, was unſre Beziehungen zu Frankreich anbetrifft, einen
großen Dienſt geleiſtet hat, und daß es nur einer befriedigenden
Beilegung der polniſchen Differenzen bedarf, um, Dank zugleich der
Abweſenheit Metternichs und der heute erfolgten Abreiſe ſeiner
hohen Freundin 2), in eine politiſche Lage zurückzugelangen, in welcher
wir den kommenden Ereigniſſen mit Zuverſicht entgegenſehen können.
Ich habe auf die Andeutungen des Kaiſers hinſichtlich der
polniſchen Angelegenheit nicht ſo weit eingehen können, als ich es
gewünſcht hätte. Er ſchien mir ein Mediationsanerbieten zu er¬
warten; aber die Aeußerungen des Königs hielten mich zurück.
Jedenfalls ſcheint es mir rathſam, das Eiſen zu ſchmieden, ſo lange
es warm iſt; der Kaiſer hat jetzt beſcheidenere Anſprüche als je,
und es iſt zu beſorgen, daß er wieder zu ſtärkeren Anforderungen
zurückkehrt, wenn etwa Oeſterreich das Frankfurter Ungeſchick durch
eine erhöhte Bereitwilligkeit in der polniſchen Frage wieder gut zu
machen bemüht ſein ſollte. Er will jetzt nur aus der Sache mit
Ehren herauskommen, erkennt die ſechs Punkte ſelbſt als ſchlecht
an und wird daher bei ihrer praktiſchen Durchführung gern ein Auge
zudrücken, weshalb es ihm vielleicht ſogar ganz recht iſt, wenn er
1)
Bismarck-Jahrbuch V 219 f.
2)
Der Kaiſerin Eugenie.
[313/0340]
Napoleon III. und die Polen. Die polniſche Frage für Preußen.
nicht vermöge einer allzu bindenden Form gezwungen wird, ihre
ſtrenge Ausführung zu überwachen. Ich fürchte nur bei der bis¬
herigen Behandlung der Sache, daß uns die Ruſſen das Verdienſt
der Beilegung nehmen, indem ſie ohne uns das thun, wozu wir (?)
ihnen zureden wollten (?). Die Reiſe des Großfürſten, der offen¬
bar nicht abberufen iſt, iſt mir in dieſer Beziehung verdächtig.
Wie, wenn der Kaiſer Alexander jetzt eine Conſtitution verkündigte
und dem Kaiſer Napoleon davon mittelſt autographen verbindlichen
Schreibens Anzeige machte? Es wäre dies immer noch beſſer als
die Fortdauer der Differenz, aber ungünſtiger für uns, als wenn
wir vorher dem Kaiſer Napoleon geſagt hätten: ,Wir ſind bereit
dazu zu rathen; würdeſt Du damit zufrieden ſein?‘“
Dieſer, ſchon 14 Tage vorher von dem General Fleury einem
Mitgliede der preußiſchen Geſandſchaft gradezu gemachten Inſinua¬
tion, dem Kaiſer Alexander zu dem bezeichneten Schritte zu rathen,
haben wir keine Folge gegeben, und der diplomatiſche Feldzug der
drei Mächte iſt im Sande verlaufen. Der ganze Plan des Grafen
Goltz ſchien mir weder politiſch richtig noch würdig, mehr im Pariſer
Sinne als in unſerm gedacht.
Oeſtreich hat der polniſchen Frage gegenüber nicht die Schwie¬
rigkeiten, die für uns in der gegenſeitigen Durchſetzung polni¬
ſcher und deutſcher Anſprüche in Polen und Weſtpreußen und in
der Lage Oſtpreußens mit der Frage einer Wiederherſtellung pol¬
niſcher Unabhängigkeit unlösbar verbunden ſind. Unſre geo¬
graphiſche Lage und die Miſchung beider Nationalitäten in den
Oſtprovinzen einſchließlich Schleſiens, nöthigen uns, die Eröffnung
der polniſchen Frage nach Möglichkeit hintanzuhalten, und ließen es
auch 1863 rathſam erſcheinen, die Eröffnung dieſer Frage durch
Rußland nicht zu fördern, ſondern, ſo viel wir konnten, zu verhüten.
Es hat vor 1863 Zeiten gegeben, da man in Petersburg auf
der Baſis der Wielopolskiſchen Theorien den Großfürſten Con¬
ſtantin mit ſeiner ſchönen Gemalin als Vicekönig von Polen in
Ausſicht nahm — die Großfürſtin trug damals polniſches Coſtüm —,
[314/0341]
Fünfzehntes Kapitel: Die Alvenslebenſche Convention.
möglicherweiſe unter Herſtellung der polniſchen Verfaſſung, die,
von Alexander I. gegeben, unter dem alten Großfürſten Conſtantin
in formaler Geltung war.
Die Militärconvention, welche durch den General Guſtav
von Alvensleben im Februar 1863 in Petersburg abgeſchloſſen wurde,
hatte für die preußiſche Politik mehr einen diplomatiſchen als einen
militäriſchen Zweck 1). Sie repräſentirte einen im Cabinet des ruſſi¬
ſchen Kaiſers erfochtenen Sieg der preußiſchen Politik über die pol¬
niſche, die vertreten war durch Gortſchakow, Großfürſt Conſtantin,
Wielopolski und andre einflußreiche Perſonen. Das Ergebniß be¬
ruhte auf directer Kaiſerlicher Entſchließung im Gegenſatz zu mini¬
ſteriellen Beſtrebungen. Ein Abkommen politiſch-militäriſcher Natur,
welches Rußland mit dem germaniſchen Gegner des Panſlavismus
gegen den polniſchen „Bruderſtamm“ ſchloß, war ein entſcheidender
Schlag auf die Ausſichten der poloniſirenden Partei am ruſſiſchen
Hofe; und in dieſem Sinne hat das militäriſch ziemlich anodyne
Abkommen ſeinen Zweck reichlich erfüllt. Ein militäriſches Bedürf¬
niß war dafür an Ort und Stelle nicht vorhanden; die ruſſiſchen
Truppen waren ſtark genug, und die Erfolge der Inſurgenten exi¬
ſtirten zum großen Theil nur in den von Paris beſtellten, in Mys¬
lowitz fabrizirten, bald von der Grenze, bald vom Kriegsſchauplatze,
bald aus Warſchau datirten, zuweilen recht märchenhaften Berichten,
die zuerſt in einem Berliner Blatte erſchienen und dann ihre Runde
durch die europäiſche Preſſe machten. Die Convention war ein
gelungener Schachzug, der die Partie entſchied, die innerhalb des
ruſſiſchen Cabinets der antipolniſche monarchiſche und der poloni¬
ſirende panſlaviſtiſche Einfluß gegen einander ſpielten.
Der Fürſt Gortſchakow hatte der polniſchen Frage gegenüber
zuweilen abſolutiſtiſche, zuweilen — man kann nicht ſagen liberale
aber — parlamentariſche Anwandlungen. Er hielt ſich für einen
1)
Vgl. zum Folgenden den Brief Bismarck's an Graf Bernſtorff vom
9. März 1863, Bismarck-Jahrbuch VI 172 ff.
[315/0342]
Bedeutung der Convention. Begegnung mit Hintzpeter.
großen Redner, war das auch und gefiel ſich in der Vorſtellung,
wie Europa ſeine auf einer Warſchauer oder ruſſiſchen Tribüne
entfaltete Beredſamkeit bewundern werde. Es wurde angenommen,
daß liberale Conceſſionen, die den Polen eingeräumt würden, den
Ruſſen nicht vorenthalten werden könnten; die conſtitutionell ge¬
ſtimmten Ruſſen waren ſchon deshalb Polenfreunde.
Während die polniſche Frage die öffentliche Meinung bei uns
beſchäftigte, und die Alvenslebenſche Convention die unverſtändige
Entrüſtung der Liberalen im Landtage erregte, wurde mir in einer
Geſellſchaft bei dem Kronprinzen Herr Hintzpeter vorgeſtellt. Da
er im täglichen Verkehr mit den Herrſchaften war und ſich mir
als ein Mann von conſervativer Geſinnung zu erkennen gab, ließ
ich mich auf ein Geſpräch mit ihm ein, in dem ich ihm meine
Auffaſſung der polniſchen Frage auseinanderſetzte, in der Erwartung,
daß er hin und wieder Gelegenheit finden werde, im Sinne der¬
ſelben zu ſprechen. Einige Tage darauf ſchrieb er mir, die Frau
Kronprinzeſſin habe ihn gefragt, was ich ſo lange mit ihm ge¬
ſprochen hätte. Er habe ihr Alles erzählt und dann eine Auf¬
zeichnung ſeiner Erzählung gemacht, die er mir mit der Bitte um
Prüfung oder Berichtigung überſchickte. Ich antwortete ihm, daß
ich dieſe Bitte ablehnen müſſe; wenn ich ſie erfüllte, ſo würde ich
nach dem, was er ſelbſt meldete, nicht zu ihm, ſondern zu der Frau
Kronprinzeſſin mich ſchriftlich über die Frage äußern, was ich nur
mündlich zu thun bereit ſei.
[[316]/0343]
Sechzehntes Kapitel.
Danziger Epiſode.
I.
Kaiſer Friedrich, der Sohn des Monarchen, den ich in specie
als meinen Herrn bezeichne, hat es mir durch ſeine Liebens¬
würdigkeit und ſein Vertrauen leicht gemacht, die Gefühle, die ich
für ſeinen Herrn Vater hegte, auf ihn zu übertragen. Er war
der verfaſſungsmäßigen Auffaſſung, daß ich als Miniſter die Ver¬
antwortlichkeit für ſeine Entſchließungen trug, in der Regel zugäng¬
licher, als ſein Vater es geweſen. Auch war es ihm weniger durch
Familientraditionen erſchwert, politiſchen Bedürfniſſen im Innern
und im Auslande gerecht zu werden. Alle Behauptungen, daß
zwiſchen dem Kaiſer Friedrich und mir dauernde Verſtimmungen
exiſtirt hätten, ſind ungegründet. Eine vorübergehende entſtand
durch den Vorgang in Danzig, in deſſen Beſprechung ich mir,
ſeitdem die hinterlaſſenen Papiere Max Dunckers *)veröffentlicht
worden ſind, weniger Zurückhaltung auflege, als ſonſt geſchehn
wäre. Am 31. Mai 1863 reiſte der Kronprinz zu einer militäri¬
ſchen Inſpection nach der Provinz Preußen ab, nachdem er den
König ſchriftlich gebeten hatte, jede Octroyirung zu vermeiden.
Auf dem Zuge, mit dem er fuhr, befand ſich der Ober-Bürger¬
meiſter von Danzig, Herr von Winter, den der Prinz unterwegs
in ſein Coupé einlud und einige Tage ſpäter auf ſeinem Gute bei
*)
R. Haym, Das Leben Max Dunckers (Berlin 1891) S. 292 ff.
[317/0344]
Der Kronprinz und die Preßverordnung.
Culm beſuchte. Am 2. Juni folgte ihm die Kronprinzeſſin nach
Graudenz; am Tage vorher war die Königliche Verordnung über
die Preſſe auf Grund eines Berichtes des Staatsminiſteriums er¬
ſchienen, welcher gleichzeitig veröffentlicht wurde. Am 4. Juni
richtete Se. Kgl. Hoheit an den König ein Schreiben, in welchem
er ſich mißbilligend über dieſe Octroyirung ausſprach, ſich über
die unterlaſſene Zuziehung ſeiner zu den betreffenden Berathungen
des Staatsminiſteriums beſchwerte und über die Pflichten ausſprach,
die ihm als dem Thronfolger ſeiner Meinung nach oblägen.
Am 5. Juni fand im Rathhauſe in Danzig der Empfang der
ſtädtiſchen Behörden ſtatt, bei dem Herr von Winter ein Bedauern
darüber ausſprach, daß die Verhältniſſe es nicht geſtatteten, der
Freude der Stadt ihren vollen lauten Ausdruck zu geben. Der
Kronprinz ſagte in ſeiner Antwort unter Anderm:
„Auch ich beklage, daß ich in einer Zeit hergekommen bin,
in welcher zwiſchen Regirung und Volk ein Zerwürfniß eingetreten
iſt, welches zu erfahren mich in hohem Grade überraſcht hat. Ich
habe von den Anordnungen, die dazu geführt haben, nichts ge¬
wußt. Ich war abweſend. Ich habe keinen Theil an den Rath¬
ſchlägen gehabt, die dazu geführt haben. Aber wir Alle und ich
am meiſten, der ich die edlen und landesväterlichen Intentionen
und hochherzigen Geſinnungen Seiner Majeſtät des Königs am
beſten kenne, wir alle haben die Zuverſicht, daß Preußen unter
dem Szepter Seiner Majeſtät des Königs der Größe ſicher ent¬
gegengeht, die ihm die Vorſehung beſtimmt hat.“
Exemplare der „Danziger Zeitung“ mit einem Berichte über
den Vorgang wurden an die Redactionen Berliner und andrer
Zeitungen verſandt, die das genannte Blatt bei ſeinem weſent¬
lich localen Charakter nicht zu halten pflegten. Die Worte des
Kronprinzen erhielten daher ſofort eine weite Verbreitung und
erregten im In- und Auslande ein begreifliches Aufſehn. Aus
Graudenz überſandte er mir einen förmlichen Proteſt gegen die
Preßverordnung und verlangte Mittheilung deſſelben an das Staats¬
[318/0345]
Sechzehntes Kapitel: Danziger Epiſode.
miniſterium, die jedoch auf Befehl des Königs unterblieb. Am 7.
ging ihm eine ernſte Antwort Sr. Majeſtät auf die Beſchwerde¬
ſchrift vom 4. zu. Er bat darauf den Vater um Verzeihung wegen
eines Schrittes, den er um ſeiner und ſeiner Kinder Zukunft Willen
geglaubt hätte nicht unterlaſſen zu können, und ſtellte die Ent¬
bindung von allen ſeinen Aemtern anheim. Am 11. erhielt er
die Antwort, die ihm die erbetene Verzeihung gewährte, ſeine Be¬
ſchwerden über den Miniſter und ſein Entlaſſungsgeſuch überging
und ihm für die Zukunft Schweigen zur Pflicht machte.
Während ich die Erregung des Königs als berechtigt an¬
erkennen mußte, bemühte ich mich zu verhindern, daß er ihr
durch ſtaatliche oder auch nur öffentlich erkennbare Acte Folge
gebe. Ich mußte es mir im dynaſtiſchen Intereſſe zur Aufgabe
ſtellen, den König zu beruhigen und von Schritten, die an Friedrich
Wilhelm I. und Küſtrin erinnert hätten, abzuhalten. Es geſchah
das hauptſächlich am 10. Juni auf einer Fahrt von Babelsberg
nach dem Neuen Palais, wo Se. Majeſtät das Lehrbataillon
beſichtigte; die Unterhaltung wurde wegen der Dienerſchaft auf
dem Bocke franzöſiſch geführt. Es gelang mir in der That, die
väterliche Entrüſtung durch die Staatsraiſon zu beſänftigen, daß
in dem vorliegenden Kampfe zwiſchen Königthum und Parlament
ein Zwieſpalt innerhalb des Königlichen Hauſes abgeſtumpft,
ignorirt und todtgeſchwiegen werden, daß der Vater und König in
höherm Maße dafür Sorge tragen müſſe, daß die Intereſſen beider
nicht geſchädigt würden. „Verfahren Sie ſäuberlich mit dem Knaben
Abſalom!“ ſagte ich in Anſpielung darauf, daß ſchon Geiſtliche im
Lande über Samuelis Buch 2, Kapitel 15, Vers 3 und 4 predigten;
„vermeiden Ew. Majeſtät jeden Entſchluß ab irato, nur die Staats¬
raiſon kann maßgebend ſein“. Einen beſondern Eindruck ſchien
es zu machen, als ich daran erinnerte, daß in dem Conflicte zwiſchen
Friedrich Wilhelm I. und ſeinem Sohne dem Letztern die Sympathie
der Zeitgenoſſen und der Nachwelt gehöre, daß es nicht rathſam
ſei, den Kronprinzen zum Märtyrer zu machen.
[319/0346]
Beſchwerdeſchrift des Kronprinzen. Indiscretionen der Times.
Nachdem die Sache durch den oben erwähnten Briefwechſel
zwiſchen Vater und Sohn wenigſtens äußerlich beigelegt war, erhielt
ich ein aus Stettin vom 30. Juni datirtes Schreiben des Kron¬
prinzen, das meine ganze Politik in ſtarken Ausdrücken verurtheilte.
Sie ſei ohne Wohlwollen und Achtung für das Volk, ſtütze ſich
auf ſehr zweifelhafte Auslegungen der Verfaſſung, werde ſie dem
Volke werthlos erſcheinen laſſen und dieſes in Richtungen treiben,
die außerhalb der Verfaſſung lägen. Auf der andern Seite werde
das Miniſterium von gewagten Deutungen zu gewagteren fort¬
ſchreiten, endlich dem Könige Bruch mit derſelben anrathen. Er
werde den König bitten, ſich, ſo lange dieſes Miniſterium im Amte
ſei, der Theilnahme an den Sitzungen deſſelben enthalten zu dürfen.
Die Thatſache, daß ich, nachdem ich dieſe Aeußerung des
Thronfolgers erhalten hatte, auf dem eingeſchlagenen Wege be¬
harrte, war ein ſprechender Beweis dafür, daß mir nichts daran
lag, nach dem Thronwechſel, der ja ſehr bald eintreten konnte,
Miniſter zu bleiben. Gleichwohl nöthigte der Kronprinz mich in
einem ſpäter zu erwähnenden Geſpräche, ihm das mit ausdrück¬
lichen Worten zu ſagen.
Zur Ueberraſchung des Königs war am 16. oder 17. Juni
in der „Times“ zu leſen: „Der Prinz erlaubte ſich bei Gelegen¬
heit einer militäriſchen Dienſtreiſe mit der Politik des Souverains
in Widerſpruch zu treten und ſeine Maßregeln in Frage zu
ſtellen. Das Mindeſte, was er thun konnte, um dieſe ſchwere
Beleidigung wieder gut zu machen, war die Zurücknahme ſeiner
Aeußerungen. Dies forderte der König von ihm in einem Briefe,
hinzufügend, daß er ſeiner Würden und Anſtellungen beraubt
werden würde, wenn er ſich weigerte. Der Prinz, in Ueberein¬
ſtimmung, wie man ſagt, mit Ihrer K. H. der Prinzeſſin, ſchrieb
eine feſte Antwort auf dieſes Verlangen. Er weigerte ſich, irgend
etwas zurückzunehmen, bot die Niederlegung ſeines Commandos
und ſeiner Würden an, und bat um Erlaubniß, ſich mit ſeiner
Frau und Familie an einen Ort zurückzuziehn, wo er frei von
[320/0347]
Sechzehntes Kapitel: Danziger Epiſode.
dem Verdacht ſein könne, ſich auf irgend eine Weiſe in Staats¬
angelegenheiten zu miſchen. Dieſer Brief, ſagt man, ſei aus¬
gezeichnet, und der Prinz ſei glücklich zu preiſen im Beſitz einer
Gattin, welche nicht nur ſeine liberalen Anſichten theilt, ſondern
auch im Stande iſt, ihm in einem wichtigen und kritiſchen Augen¬
blicke ſeines Lebens ſo viel Beiſtand zu leiſten. Man könne ſich
nicht leicht eine ſchwierigere Stellung denken, als die des Prinz¬
lichen Paares ohne jeden Rathgeber, mit einem eigenwilligen
Souverain und einem verderblichen Cabinet auf einer Seite und
einem aufgeregten Volke auf der andern.“
Die Nachforſchungen nach dem Vermittler dieſes Artikels haben
zu keinem ſichern Ergebniſſe geführt. Eine Reihe von Umſtänden
ließ den Verdacht auf den Legationsrath Meyer fallen. Die aus¬
führlicheren Mittheilungen an die „Grenzboten“ und die „Süd¬
deutſche Poſt“ des Abgeordneten Brater ſcheinen durch einen kleinen
deutſchen Diplomaten *)gegangen zu ſein, der das Vertrauen der
Kronprinzlichen Herrſchaften beſaß, behielt und ein Vierteljahr¬
hundert ſpäter durch indiscrete Veröffentlichung ihm anvertrauter
Manuſcripte des Prinzen mißbraucht hat.
Der Verſicherung des Kronprinzen, um dieſe Veröffentlichung
nicht gewußt zu haben, habe ich nie einen Zweifel entgegengebracht,
auch nicht, nachdem ich geleſen, daß er in einem Briefe an Max
Duncker vom 14. Juli 1)geſchrieben hat, er wäre wenig überraſcht,
wenn man ſich Bismarckiſcher Seits in Beſitz von Abſchriften des
Briefwechſels zwiſchen ihm und dem Könige zu ſetzen gewußt hätte.
Die Urheberſchaft der Veröffentlichung glaubte ich auf der¬
ſelben Seite ſuchen zu müſſen, von woher nach meiner Ueber¬
zeugung der Kronprinz zu ſeiner Haltung beſtimmt worden war.
Wahrnehmungen während des franzöſiſchen Krieges und neuer¬
dings die Mittheilung aus Dunckers Papieren haben meine
*)
A. a. O. S. 308.
1)
Geffcken.
[321/0348]
Wer war der Urheber der Veröffentlichung?
damalige Auffaſſung beſtätigt. Wenn eine ganze Schule von
politiſchen Schriftſtellern ein Vierteljahrhundert lang das, was ſie
die engliſche Verfaſſung nannten, und wovon ſie keine eindringende
Kenntniß beſaßen, den feſtländiſchen Völkern als Muſter geprieſen
und zur Nachahmung empfohlen hatten, ſo war es erklärlich, daß
die Kronprinzeſſin und ihre Mutter das eigenthümliche Weſen des
preußiſchen Staates, die Unmöglichkeit verkannten, ihn durch wech¬
ſelnde parlamentariſche Gruppen regiren zu laſſen, war es erklärlich,
daß aus dieſem Irrthume ſich der andre erzeugte, es würden
ſich in dem Preußen des 19. Jahrhunderts die innern Kämpfe
und Kataſtrophen Englands im 17. wiederholen, wenn nicht das
Syſtem, durch welches jene Kämpfe zum Abſchluß kamen, bei uns
eingeführt werde. Ich habe nicht feſtſtellen können, ob die mir da¬
mals zugegangene Nachricht wahr iſt, daß im April 1863 die Königin
Auguſta durch den Präſidenten Ludolf Camphauſen und die Kron¬
prinzeſſin durch den Baron von Stockmar kritiſirende Denkſchriften
über die innern Zuſtände Preußens ausarbeiten ließen und zur
Kenntniß des Königs gebracht haben; daß aber die Königin, zu deren
Umgebung der Legationsrath Meyer gehörte, mit der Beſorgniß
vor Stuartiſchen Kataſtrophen erfüllt war, wußte ich und fand es
ſchon 1862 ausgeprägt in der gedrückten Stimmung, in der
der König aus Baden von der Geburtstagsfeier ſeiner Gemalin
zurückkehrte 1). Die im Kampfe mit dem Königthume liegende, von
Tag zu Tag auf den Sieg rechnende Fortſchrittspartei verſäumte
es nicht, in der Preſſe und durch die Perſonen einzelner Führer die
Situation unter die Beleuchtung zu ſtellen, welche auf weibliche Ge¬
müther beſonders wirkſam ſein mußte.
1)
S. o. S. 283 ff.
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen I. 21
[322/0349]
Sechzehntes Kapitel: Danziger Epiſode.
II.
In Gaſtein erhielt ich im Auguſt den Beſuch des Kronprinzen,
der dort von engliſchen Einflüſſen freier ſein Verhalten im Sinne
ſeines urſprünglichen Mangels an Selbſtändigkeit und ſeiner Ver¬
ehrung für den Vater, beſcheiden und liebenswürdig aus ſeiner un¬
genügenden politiſchen Vorbildung, ſeiner Fernhaltung von den Ge¬
ſchäften erklärte und ohne Rückhalt in den Formen eines Mannes
ſprach, der ſein Unrecht einſieht und mit den Einwirkungen, die
auf ihn ſtattgefunden hatten, entſchuldigt.
Im September, nachdem der König mit mir über Baden,
der Kronprinz direct von Gaſtein nach Berlin zurückgekehrt war,
gewannen die Einflüſſe und Befürchtungen wieder die Oberhand,
die ihn zu dem Auftreten im Juni bewogen hatten. Den Tag,
nachdem die Auflöſung des Abgeordnetenhauſes beſchloſſen worden,
ſchrieb er mir:
„Berlin, 3/9. 63.
Ich habe Sr. M. die Anſichten heute mitgetheilt, welche ich
Ihnen in meinem Schreiben aus Putbus [rectius Stettin] aus¬
einanderſetzte und die ich Sie bat, nicht eher dem Könige zu eröffnen,
als bis ich ſelber dies gethan. Ein folgeſchwerer Entſchluß ward
geſtern im Conſeil gefaßt; in Gegenwart der Miniſter wollte ich
Sr. M. nichts erwidern; heut iſt es geſchehen; ich habe meine Be¬
denken geäußert, habe meine ſchweren Befürchtungen für die Zu¬
kunft dargelegt. Der König weiß nunmehr, daß ich der entſchiedene
Gegner des Miniſteriums bin. Friedrich Wilhelm.“
Es kam nun auch die in dem Briefe des Kronprinzen vom
30. Juni angekündigte Bitte, von der Theilnahme an den Sitzungen
des Staatsminiſteriums diſpenſirt zu werden, zur Erörterung. Wie
das Verhältniß zwiſchen den beiden hohen Herrn damals noch war,
beweiſt der nachſtehende Brief des Miniſters von Bodelſchwingh vom
11. September 1863:
[323/0350]
Neuer Proteſt des Kronprinzen.
„Ungewiß, zu welcher Stunde Sie von Ihrer aus ſo trüber
Veranlaſſung *)unternommenen Reiſe zurückkehren und ob bald
nachher ich Sie ſprechen kann, theile ich ſchriftlich mit, daß, nach
durch den Flügeladjutanten mir gewordener Weiſung Sr. M., ich
dem Adjutanten Sr. K. H. des Kronprinzen in Ihrem Auftrage
Ihre ſchleunige Abreiſe und deren Grund mit dem Erſuchen mit¬
getheilt, Sr. K. H. für den Fall davon Kenntniß zu geben, daß
Ihre Bitte um Audienz bereits Sr. K. H. vorgetragen oder ſchon
über die Audienz Beſtimmung getroffen ſei. S. M. haben, wie
Prinz Hohenlohe mir ſagte, nicht angemeſſen erachtet, Seinerſeits
mit dem Kronprinzen über Ihre Abreiſe und die fragliche Audienz
zu reden.“
Der König hatte ſich dafür entſchieden, daß der Kronprinz,
wie ſeit 1861 geſchehn, auch ferner den Sitzungen des Staats¬
miniſteriums beiwohnen ſolle, und mich beauftragt, ihn darüber zu
verſtändigen. Ich nehme an, daß es zu der zu dieſem Zweck er¬
betenen Audienz nicht gekommen iſt; denn ich erinnere mich, daß
ich das mißverſtändliche Erſcheinen des Kronprinzen zu einer Miniſter¬
ſitzung, die an dem betreffenden Tage nicht ſtattfand, dazu benutzte,
die Erörterung einzuleiten. Ich fragte ihn, weshalb er ſich ſo fern
von der Regirung halte; in einigen Jahren werde ſie doch die
ſeinige ſein; wenn er etwa andre Prinzipien habe, ſo ſollte er
lieber den Uebergang zu vermitteln ſuchen als opponiren. Er lehnte
das ſcharf ab, wie es ſchien in der Vermuthung, daß ich meinen
Uebergang in ſeine Dienſte anbahnen wolle. Ich habe den feind¬
lichen Ausdruck olympiſcher Hoheit, mit dem das geſchah, Jahre
hindurch nicht vergeſſen können und ſehe noch heut den zurück¬
geworfenen Kopf, das geröthete Geſicht und den Blick über die
linke Schulter vor mir. Ich unterdrückte meine eigne Aufwallung,
dachte an Carlos und Alba (Act 2, Auftritt 5) und antwortete, ich
*)
Tod meiner Schwiegermutter. Ich war vom 6. bis zum 11. von Berlin
abweſend.
[324/0351]
Sechzehntes Kapitel: Danziger Epiſode.
hätte in einer Anwandlung dynaſtiſchen Gefühls geſprochen, um
ihn mit ſeinem Vater wieder in nähere Beziehung zu bringen, im
Intereſſe des Landes und der Dynaſtie, das durch die Entfremdung
geſchädigt wäre; ich hätte im Juni gethan, was ich gekonnt, um
ſeinen Herrn Vater von Entſchließungen ab irato abzuhalten, weil
ich im Intereſſe des Landes und im Kampfe gegen die Parlaments¬
herrſchaft die Uebereinſtimmung in der königlichen Familie zu er¬
halten wünſchte. Ich ſei ein treuer Diener ſeines Herrn Vaters
und wünſchte ihm, daß er, wenn er den Thron beſtiege, anſtatt
meiner ebenſo treue Diener finde, wie ich für ſeinen Vater geweſen.
Ich hoffte, er würde ſich des Gedankens, als ob ich danach ſtrebte,
einmal ſein Miniſter zu werden, entſchlagen; ich werde es niemals
ſein. Ebenſo raſch wie erregt, ebenſo raſch wurde er weich und
ſchloß das Geſpräch mit freundlichen Worten.
Das Verlangen, an den Sitzungen des Staatsminiſteriums
nicht weiter Theil zu nehmen, hielt er feſt, und richtete noch im
Laufe des September eine vielleicht nicht ohne fremde Einwirkung
entſtandene Denkſchrift an den König, worin er ſeine Gründe in
einer Weiſe entwickelte, die zugleich als eine Art von Rechtfertigung
ſeines Verhaltens im Juni erſchien. Es entſtand darüber zwiſchen
Sr. Majeſtät und mir eine private Correſpondenz, die mit folgendem
Billet abſchloß:
„Babelsberg, den 7. November 1863.
Anliegend ſende ich Ihnen meine Antwort an meinen Sohn
den Kronprinzen auf ſein Memoir vom September. Zur beſſeren
Orientirung ſende ich Ihnen das Memoir wiederum mit, ſowie Ihre
Notizen, die ich bei meiner Antwort benutzte.“
Von der Denkſchrift habe ich eine Abſchrift nicht entnommen;
der Inhalt wird aber erkennbar aus meinen Marginal-Notizen, die
hier folgen:
Seite 1. Der Anſpruch, daß eine Warnung Sr. Königlichen
Hoheit die nach ſehr ernſter und ſorgfältiger Erwägung gefaßten
[325/0352]
Randbemerkungen zur Eingabe des Kronprinzen.
Königlichen Entſchließungen aufwiegen ſoll, legt der eignen Stellung
und Erfahrung im Verhältniß zu der des Monarchen und Vaters
ein unrichtiges Gewicht bei.
Niemand hat glauben können, daß Se. K. H. „an den
Octroyirungen Theil gehabt“, denn Jedermann weiß, daß der Kron¬
prinz kein Votum im Miniſterium hat, und daß die in ältern
Zeiten übliche amtliche Stellung des Thronfolgers nach der Ver¬
faſſung unmöglich geworden iſt. Das démenti in Danzig war
daher überflüſſig.
Seite 2. Die Freiheit der Entſchließungen Sr. K. H. wird
dadurch nicht verkümmert, daß Se. K. H. den Sitzungen beiwohnt,
Sich durch Zuhören und eigne Meinungsäußerung au courant der
Staatsgeſchäfte hält, wie es die Pflicht jedes Thronerben iſt. Die
Erfüllung dieſer Pflicht, wenn ſie in den Zeitungen bekannt wird,
kann überall nur eine gute Meinung von der Gewiſſenhaftigkeit
hervorrufen, mit der der Kronprinz Sich für Seinen hohen und
ernſten Beruf vorbereitet.
Die Worte „mit gebundenen Händen“ u. ſ. w. haben keinen Sinn.
Seite 2. „Das Land“ kann garnicht auf den Gedanken
kommen, Se. K. H. mit dem Miniſterium zu identificiren, denn
das Land weiß, daß der Kronprinz zu keiner amtlichen Mitwirkung
bei den Beſchlüſſen berufen iſt. Leider iſt die Stellung, die S. K. H.
gegen die Krone genommen hat, im Lande bekannt genug und
wird von jedem Hausvater im Lande, welcher Partei er auch an¬
gehören mag, gemißbilligt als ein Losſagen von der väterlichen
Autorität, deren Verkennung das Gefühl und das Herkommen verletzt.
Sr. K. H. könnte nicht ſchwerer in der öffentlichen Meinung ge¬
ſchadet werden, als durch Publication dieſes mémoires.
Seite 2. Die Situation Sr. K. H. iſt allerdings eine „durch¬
aus falſche“, weil es nicht der Beruf des Thronerben iſt, die Fahne
der Oppoſition gegen den König und den Vater aufzupflanzen, die
„Pflicht“, aus derſelben herauszukommen, kann aber nur auf dem
Wege der Rückkehr zu einer normalen Stellung erfüllt werden.
[326/0353]
Sechzehntes Kapitel: Danziger Epiſode.
Seite 3. Der Conflict der Pflichten liegt nicht vor, denn die
erſtre Pflicht iſt eine ſelbſtgemachte; die Sorge für Preußens
Zukunft liegt dem Könige ob, nicht dem Kronprinzen, und ob
„Fehler“ gemacht ſind, und auf welcher Seite, wird die Zukunft
lehren. Wo die „Einſicht“ Sr. Majeſtät mit der des Kronprinzen
in Widerſpruch tritt, iſt die erſtre ſtets die entſcheidende, alſo kein
Conflict vorhanden. S. K. H. erkennt ſelbſt an, daß in unſrer
Verfaſſung „kein Platz für Oppoſition des Thronfolgers“ iſt.
Seite 4. Die Oppoſition innerhalb des Conſeils ſchließt den
Gehorſam gegen Se. Majeſtät nicht aus, ſobald eine Sache ent¬
ſchieden iſt. Miniſter opponiren auch, wenn ſie abweichende Anſicht
haben, gehorchen aber *)doch der Entſcheidung des Königs, obſchon
ihnen ſelbſt die Ausführung des von ihnen Bekämpften obliegt.
Seite 4. Wenn S. K. H. weiß, daß die Miniſter nach dem
Willen des Königs handeln, ſo kann S. K. H. Sich auch darüber
nicht täuſchen, daß die Oppoſition des Thronfolgers gegen den
regirenden König ſelbſt gerichtet iſt.
Seite 5. Zur Unternehmung eines „Kampfes“ gegen den
Willen des Königs fehlt dem Kronprinzen jeder Beruf und jede
Berechtigung, grade weil S. K. H. keinen amtlichen „status“ beſitzt.
Jeder Prinz des Königlichen Hauſes könnte mit demſelben Rechte
wie der Kronprinz für ſich die „Pflicht“ in Anſpruch nehmen, bei
abweichender Anſicht öffentlich Oppoſition gegen den König zu
machen, um dadurch „ſeine und ſeiner Kinder“ eventuelle Erbrechte
gegen die Wirkung angeblicher Fehler der Regirung des Königs zu
wahren, das heißt, um ſich die Succeſſion im Sinne Louis Philipps
zu ſichern, wenn der König durch eine Revolution geſtürzt würde.
Seite 5. Ueber die Aeußerungen des Miniſter-Präſidenten in
Gaſtein hat derſelbe ſich näher zu erklären.
Seite 7. Der Kronprinz iſt nicht als „Rathgeber“ des Königs,
*)
Hier iſt am Rande von der Hand des Königs der Zuſatz: wenn es nicht
gegen ihr Gewiſſen läuft.
[327/0354]
Randbemerkungen zur Eingabe des Kronprinzen.
ſondern zu ſeiner eignen Information und Vorbereitung auf ſeinen
künftigen Beruf von des Königs Majeſtät veranlaßt, den Sitzungen
beizuwohnen.
Seite 7. Der Verſuch, die Maßregeln der Regirung zu
„neutraliſiren“, wäre Kampf und Auflehnung gegen die Krone.
Seite 7. Gefährlicher als alle Angriffe der Demokratie und
alles „Nagen“ an den Wurzeln der Monarchie iſt die Lockerung
der Bande, welche das Volk noch mit der Dynaſtie verbinden, durch
das Beiſpiel offen verkündeter Oppoſition des Thronerben, durch
die abſichtliche Kundmachung der Uneinigkeit im Schoße der Dynaſtie.
Wenn der Sohn und der Thronerbe die Autorität des Vaters und
des Königs anficht, wem ſoll ſie dann noch heilig ſein? Wenn
dem Ehrgeize für die Zukunft eine Prämie dafür in Ausſicht ge¬
ſtellt iſt, daß er in der Gegenwart vom Könige abfällt, ſo werden
jene Bande zum eignen Nachtheil des künftigen Königs gelockert,
und die Lähmung der Autorität der jetzigen Regirung wird eine
böſe Saat für die zukünftige ſein. Jede Regirung iſt beſſer, als
eine in ſich zwieſpältige und gelähmte, und die Erſchütterungen,
welche der jetzige Kronprinz hervorrufen kann, treffen die Fun¬
damente des Gebäudes, in welchem er ſelbſt künftig als König zu
wohnen hat.
Seite 7. Nach dem bisherigen verfaſſungsmäßigen Rechte
in Preußen regirt der König, und nicht die Miniſter. Nur die
Geſetzgebung, nicht die Regirung, iſt mit den Kammern getheilt,
vor denen die Miniſter den König vertreten. Es iſt alſo ganz
geſetzlich, wie vor der Verfaſſung, daß die Miniſter Diener des
Königs, und zwar die berufenen Rathgeber Sr. Majeſtät, aber
nicht die Regirer des Preußiſchen Staates ſind. Das Preußiſche
Königthum ſteht auch nach der Verfaſſung noch nicht auf dem
Niveau des belgiſchen oder engliſchen, ſondern bei uns regirt noch
der König perſönlich, und befiehlt nach ſeinem Ermeſſen, ſo weit
nicht die Verfaſſung ein Andres beſtimmt, und dies iſt nur in
Betreff der Geſetzgebung der Fall.
[328/0355]
Sechzehntes Kapitel: Danziger Epiſode.
Seite 8. Die Veröffentlichung von Staatsgeheimniſſen ver¬
ſtößt gegen die Strafgeſetze. Was als Staatsgeheimniß zu be¬
handeln ſei, hängt von den Befehlen des Königs über dienſtliche
Geheimhaltung ab.
Seite 8. Warum wird ſo großer Werth auf das Bekannt¬
werden „draußen im Lande“ gelegt? Wenn S. K. H. nach pflicht¬
mäßiger Ueberzeugung im conseil Seine Meinung ſagt, ſo iſt dem
Gewiſſen Genüge geſchehn. Der Kronprinz hat keine offizielle
Stellung zu den Staatsgeſchäften, und keinen Beruf, Sich öffentlich
zu äußern; das Einverſtändniß S. K. H. mit den Beſchlüſſen der
Regirung wird Niemand, der unſre Staatseinrichtungen auch nur
oberflächlich kennt, daraus folgern, daß S. K. H. ohne Stimm¬
recht, alſo ohne die Möglichkeit wirkſamen Widerſpruchs, die Ver¬
handlungen des conseils anhört.
Seite 8. „nicht beſſer erſcheinen“; der Fehler der Situation
liegt darin eben, daß auf das „Erſcheinen“ zu viel Werth gelegt
wird; auf das Sein und das Können kommt es an, und das
iſt nur die Frucht ernſter und beſonnener Arbeit.
Seite 9. Die Theilnahme Sr. K. H. an den conseils iſt
keine „active Stellung“, und „Abſtimmungen“ des Kronprinzen
finden nicht ſtatt.
Seite 9. Die Mittheilung an „berufene“ (?) Perſonen ohne
Ermächtigung Sr. Majeſtät würde gegen die Strafgeſetze verſtoßen.
Das Recht der freien Meinungsäußerung wird ja Sr. K. H. nicht
verſchränkt, im Gegentheil, gewünſcht; aber nur im conseil, wo die
Aeußerung ja allein von Einfluß auf die zu faſſenden Entſchließungen
ſein kann. Den Gegenſatz „vor dem Lande offen zu legen“,
kann nur eine Befriedigung des Selbſtgefühls bezwecken, und leicht
die Folge haben, Unzufriedenheit und Unbotmäßigkeit zu fördern,
und dadurch der Revolution die Wege zu bahnen.
Seite 10. Erſchweren wird S. K. H. den Miniſtern die
Arbeit ohne Zweifel, und bequemer würde ihre Aufgabe ſein, wenn
S. K. H. Sich nicht an den Sitzungen betheiligte. Aber kann
[329/0356]
Randbemerkungen zur Eingabe des Kronprinzen.
Se. Majeſtät Sich der Pflicht entziehn, ſo viel als in menſchlichen
Kräften ſteht, dafür zu thun, daß der Kronprinz die Geſchäfte und
Geſetze des Landes kennen lerne? Iſt es nicht ein gefährliches Ex¬
periment, den künftigen König den Staatsangelegenheiten fremd
werden zu laſſen, während das Wohl von Millionen darauf beruht,
daß Er mit denſelben vertraut ſei? S. K. H. beweiſt in dem vor¬
liegenden mémoire die Unbekanntſchaft mit der Thatſache, daß die
Theilnahme des Kronprinzen an den conseils eine verantwort¬
liche niemals iſt, ſondern nur eine informatoriſche, daß ein votum
von S. K. H. niemals verlangt werden kann. Auf dem Verkennen
dieſes Umſtandes beruht das ganze raisonnement. Wenn der Kron¬
prinz mit den Staatsangelegenheiten vertrauter wäre, ſo könnte es
nicht geſchehn, daß S. K. H. dem Könige mit Veröffentlichung der
conseil-Verhandlungen drohte, für den Fall, daß der König auf
die Wünſche Sr. K. H. nicht einginge; alſo mit einer Verletzung
der Geſetze, und obenein der Strafgeſetze. Und das wenige Wochen,
nachdem S. K. H. ſelbſt die Veröffentlichung des Briefwechſels mit
Sr. Majeſtät in ſehr ſtrengen Worten gerügt hat.
Seite 11. Der erwähnte Vorwurf iſt allerdings für Jeder¬
mann im Volke ein ſehr nahe liegender; Niemand klagt S. K. H.
einer ſolchen Abſicht an, aber wohl ſagt man, daß Andre, welche
ſolche Abſicht hegen, dieſelbe durch die unbewußte Mitwirkung des
Kronprinzen zu verwirklichen hoffen, und daß ruchloſe Attentate
jetzt mehr als früher ihren Urhebern die Ausſicht auf einen Syſtem¬
wechſel gewähren.
Seite 12. Das Verlangen, rechtzeitige Kenntniß von den
Vorlagen der Sitzungen zu haben, iſt als ein begründetes jederzeit
erkannt worden, und wird ſtets erfüllt, ja der Wunſch iſt häufig
laut geworden, daß S. K. H. die Hand dazu biete, genauer als
es bisher möglich war, au courant gehalten zu werden. Dazu
muß der Aufenthalt Sr. K. H. jederzeit bekannt und erreichbar,
der Kronprinz für die Miniſter perſönlich zugänglich, und die Dis¬
cretion geſichert ſein. Beſonders aber iſt nöthig, daß die vor¬
[330/0357]
Sechzehntes Kapitel: Danziger Epiſode.
tragenden Räthe, mit denen allein S. K. H. die ſchwebenden
Staatsſachen zu bearbeiten berechtigt ſein kann, nicht Gegner, ſon¬
dern Freunde der Regirung ſeien, oder doch unparteiiſche Beurtheiler
ohne intime Beziehungen zur Oppoſition im Landtage und in der
Preſſe. Der ſchwierigſte Punkt iſt die Discretion, beſonders gegen
das Ausland, ſo lange nicht bei Sr. K. H. und bei Ihrer K. H.
der Frau Kronprinzeſſin das Bewußtſein durchgedrungen iſt, daß
in regirenden Häuſern die nächſten Verwandten nicht immer Lands¬
leute ſind, ſondern nothwendig und pflichtmäßig andre als die
Preußiſchen Intereſſen vertreten. Es iſt hart, wenn zwiſchen Mutter
und Tochter, zwiſchen Bruder und Schweſter eine Landesgrenze
als Scheidelinie der Intereſſen liegt; aber das Vergeſſen derſelben
iſt immer gefährlich für den Staat.
Seite 12. Die „letzte Conſeilſitzung“ (am 3.) war keine
conseil-Sitzung, ſondern nur eine den Miniſtern ſelbſt vorher nicht
bekannte Berufung zu Sr. Majeſtät.
Seite 13. Die Mittheilung an die Miniſter würde dem
mémoire einen amtlichen Charakter geben, welchen Auslaſſungen
der Thronfolger an ſich nicht haben.
[[331]/0358]
Siebzehntes Kapitel.
Der Frankfurter Fürſtentag.
I.
Die erſten Verſuche auf der Bahn, auf der das Bündniß
mit Oeſtreich 1879 erreicht wurde, fanden Statt, während der
Graf Rechberg Miniſterpräſident, reſpective Miniſter des Aeußern
war (17. Mai 1859 bis 27. October 1864). Da die perſönlichen
Beziehungen, in denen ich zu ihm am Bundestage geſtanden hatte,
ſolchen Verſuchen förderlich ſein konnten und in einem Zeitpunkte
förderlich geweſen ſind, ſo ſchalte ich zwei Erlebniſſe ein, die ich
in Frankfurt mit ihm gehabt habe.
Nach einer Sitzung, in der ich Rechberg verſtimmt hatte, blieb
er mit mir allein im Saale und machte mir leidenſchaftliche Vor¬
würfe über meine Unverträglichkeit: ich ſei mauvais coucheur und
Händelſucher; er bezog ſich dabei auf Fälle, in denen ich mich
gegen präſidiale Uebergriffe gewehrt hatte. Ich erwiderte ihm, ich
wiſſe nicht, ob ſein Zorn nur ein diplomatiſcher Schachzug oder
Ernſt ſei, aber die Aeußerung deſſelben ſei höchſt perſönlicher Art.
„Wir können doch nicht,“ ſagte ich, „im Bockenheimer Wäldchen
mit der Piſtole die Diplomatie unſrer Staaten erledigen.“ Darauf
er mit großer Heftigkeit: „Wir wollen gleich hinausfahren; ich
bin bereit, auf der Stelle.“ Damit war für mich der Boden
der Diplomatie verlaſſen, und ich antwortete ohne Heftigkeit:
[332/0359]
Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.
„Warum ſollen wir fahren; hier im Garten des Bundespalais
iſt Platz genug, gegenüber wohnen preußiſche Offiziere, und
öſtreichiſche ſind auch in der Nähe. Die Sache kann in dieſer
Viertelſtunde vor ſich gehn, ich bitte Sie nur um Erlaubniß, in
wenigen Zeilen die Entſtehung des Streites zu Papier zu bringen,
und erwarte von Ihnen, daß Sie dieſe Aufzeichnung mit mir
unterſchreiben werden, da ich meinem Könige gegenüber nicht als
ein Raufbold erſcheinen möchte, der die Diplomatie ſeines Herrn
auf der Menſur führt.“ Damit begann ich zu ſchreiben, mein
College ging mit raſchen Schritten hinter mir auf und ab, während
ich ſchrieb. Während deſſen verrauchte ſein Zorn, und er kam zu
einer ruhigen Betrachtung der Lage, die er herbeigeführt hatte.
Ich verließ ihn mit der Aeußerung, daß ich Herrn von Oertzen,
den mecklenburgiſchen Geſandten, als meinen Zeugen zu ihm
ſchicken würde, um das Weitre zu verhandeln. Oertzen legte den
Streit verſöhnlich bei.
Es iſt auch von Intereſſe, zu erwähnen, wie es kam, daß ich
ſpäterhin das Vertrauen dieſes zornigen, aber ehrliebenden Herrn
und vielleicht, als wir Beide Miniſter geworden waren, ſeine Freund¬
ſchaft erworben habe. Bei einem geſchäftlichen Beſuche, den ich
ihm machte, verließ er das Zimmer, um ſeinen Anzug zu wechſeln,
und überreichte mir eine Depeſche, die er eben von ſeiner Regirung
erhalten hatte, mit der Bitte, ſie zu leſen. Ich überzeugte mich
aus dem Inhalt, daß Rechberg ſich vergriffen und mir ein Schrift¬
ſtück gegeben hatte, das zwar die fragliche Sache betraf, aber nur
für ihn beſtimmt und offenbar von einem zweiten oſtenſiblen be¬
gleitet geweſen war. Als er wieder eingetreten war, gab ich ihm
die Depeſche zurück mit der Aeußerung, er habe ſich verſehn, ich
würde vergeſſen, was ich geleſen hätte; ich habe in der That voll¬
kommnes Schweigen über ſein Verſehn beobachtet und in Berichten
oder Geſprächen von den, Inhalt des geheimen Schriftſtücks und
ſeinem Verſehn keinen auch nur indirecten Gebrauch gemacht. Seit¬
dem behielt er Vertrauen zu mir.
[333/0360]
Beziehungen zu Rechberg. Dualiſtiſche Beſtrebungen.
Die Verſuche zur Zeit des Miniſteriums Rechberg würden,
wenn erfolgreich, damals zu einer geſammtdeutſchen Union auf der
Baſis des Dualismus haben führen können, zu dem Siebzig¬
millionenreich in Centraleuropa mit zweiköpfiger Spitze, während
die Schwarzenbergiſche Politik auf etwas Aehnliches ausgegangen
war, aber mit einheitlicher Spitze Oeſtreichs und Hinabdrückung
Preußens nach Möglichkeit auf den mittelſtaatlichen Stand. Der
letzte Anlauf dazu war der Fürſtencongreß von 1863. Wenn die
Schwarzenbergiſche Politik in der poſthumen Geſtalt des Fürſten¬
congreſſes ſchließlich Erfolg gehabt hätte, ſo würde zunächſt die
Verwendung des Bundestages zur Repreſſion auf dem Gebiete der
innern Politik Deutſchlands vorausſichtlich in den Vordergrund
getreten ſein, nach Maßgabe der Verfaſſungsreviſionen, die der
Bund ſchon in Hanover, Heſſen, Luxemburg, Lippe, Hamburg u. a.
in Angriff genommen hatte. Auch die Preußiſche Verfaſſung konnte
analog herangezogen werden, wenn der König nicht zu vornehm
dazu gedacht hätte.
Unter einer dualiſtiſchen Spitze mit Gleichberechtigung Preußens
und Oeſtreichs, wie ſie als Conſequenz meiner Annäherung an
Rechberg erſtrebt werden konnte, würde unſre innere verfaſſungs¬
mäßige Entwicklung von der Verſumpfung in bundestägiger Reaction
und von der einſeitigen Förderung abſolutiſtiſcher Zwecke in den
einzelnen Staaten nicht nothwendig bedroht worden ſein; die Eifer¬
ſucht der beiden Großſtaaten wäre der Schutz der Verfaſſungen ge¬
weſen. Preußen, Oeſtreich und die Mittelſtaaten würden bei dua¬
liſtiſcher Spitze auf Wettbewerb um die öffentliche Meinung in der
Geſammtnation wie in den einzelnen Staaten angewieſen geblieben
ſein, und die daraus entſpringenden Frictionen würden unſer öffent¬
liches Leben vor ähnlichen Erſtarrungen bewahrt haben, wie ſie auf
die Zeiten der Mainzer Unterſuchungscommiſſion folgten. Die Zeit
der liberalen öſtreichiſchen Preßthätigkeit im Wetteifer mit Preußen,
wenn auch nur auf dem Gebiet der Phraſe, ließ ſchon zu Anfang
der fünfziger Jahre erkennen, daß der unentſchiedene Kampf um
[334/0361]
Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.
die Hegemonie für die Belebung unſrer nationalen Gefühle und
für die verfaſſungsmäßige Entwicklung nützlich war.
Aber die von Oeſtreich mit Hülfe des Fürſtentags von 1863
erſtrebte Bundesreform würde für eine Rivalität zwiſchen Preußen,
Oeſtreich und dem Parlamentarismus geringen Raum gelaſſen haben.
Die Vorherrſchaft Oeſtreichs in der damals beabſichtigten Bundes¬
reform würde, auf Grund der dynaſtiſchen Befürchtungen vor
Preußen und vor parlamentariſchen Kämpfen, vermittelſt einer
dauernden und ſyſtematiſch begründeten Bundesmajorität geſichert
geweſen ſein.
Das Anſehn Deutſchlands nach außen hing in beiden Ge¬
ſtaltungen, der dualiſtiſchen und der öſtreichiſchen, von dem Grade
feſter Einigkeit ab, den die eine und die andre der Geſammt¬
nation gewährt haben würde. Daß Oeſtreich und Preußen, ſo¬
bald ſie einig, eine Macht in Europa darſtellen, welche leicht¬
fertig anzugreifen keine der andern Mächte geneigt war, hat der
ganze Verlauf der däniſchen Verwicklungen gezeigt. So lange
Preußen allein, wenn auch in Verbindung mit dem ſtärkſten Aus¬
druck der öffentlichen Meinung des deutſchen Volkes, einſchließlich
der Mittelſtaaten, die Sache in der Hand hatte, kam ſie nicht vor¬
wärts und führte zu Abſchlüſſen, wie der Waffenſtillſtand von
Malmö und die Olmützer Convention. Sobald es gelungen war,
Oeſtreich unter Rechberg für eine mit Preußen übereinſtimmende
Action zu gewinnen, wurde das Schwergewicht der beiden deutſchen
Großſtaaten ſtark genug, um die Einmiſchungsgelüſte, welche andre
Mächte haben konnten, zurückzuhalten. England hat im Laufe der
neuern Geſchichte jederzeit das Bedürfniß der Verbindung mit
einer der continentalen Militärmächte gehabt und die Befriedigung
deſſelben, je nach dem Standpunkt der engliſchen Intereſſen, bald
in Wien, bald in Berlin geſucht, ohne, bei plötzlichem Uebergang
von einer Anlehnung an die andre, wie im ſiebenjährigen Kriege,
ſcrupulöſe Bedenken gegen den Vorwurf des Imſtichlaſſens alter
Freunde zu hegen. Wenn aber die beiden Höfe einig und ver¬
[335/0362]
Wirkung des Einvernehmens mit Oeſtreich. Unterredung mit Karolyi.
bündet waren, ſo fand die engliſche Politik nicht ihres Dienſtes,
ihnen etwa im Bunde mit einer von den ihr gefährlichen Mächten,
Frankreich und Rußland, feindlich gegenüberzutreten. Sobald aber
die preußiſch-öſtreichiſche Freundſchaft geſprengt worden wäre, würde
auch damals das Eingreifen des europäiſchen Seniorenconvents in
der däniſchen Frage unter engliſcher Führung erfolgt ſein. Es
war deshalb, wenn unſre Politik nicht wiederum entgleiſen ſollte,
von höchſter Wichtigkeit, das Einverſtändniß mit Wien feſtzuhalten;
in ihm lag unſre Deckung gegen engliſch-europäiſches Eingreifen.
Ich hatte am 4. December 1862 gegenüber dem Grafen Karolyi,
mit dem ich auf vertrautem Fuße ſtand, mit offnen Karten geſpielt.
Ich ſagte ihm:
„Unſre Beziehungen müſſen entweder beſſer oder ſchlechter
werden, als ſie ſind. Ich bin bereit zu einem gemeinſchaftlichen
Verſuche, ſie beſſer zu machen. Mißlingt derſelbe durch Ihre
Weigerung, ſo rechnen Sie nicht darauf, daß wir uns durch bundes¬
freundliche Redensarten werden feſſeln laſſen. Sie werden mit uns
als europäiſche Großmacht zu thun bekommen; die Paragraphen
der Wiener Schlußacte haben nicht die Kraft, die Entwicklung
der deutſchen Geſchichte zu hemmen“ 1).
Graf Karolyi, ein ehrlicher und unabhängiger Charakter, hat
ohne Zweifel genau berichtet, was wir unter vier Augen vertraulich
beſprochen haben. In Wien aber hatte man ſeit der Olmützer
und Dresdner Zeit und der Präpotenz Schwarzenbergs eine irrige
Anſicht gewonnen; man hatte ſich gewöhnt, uns für ſchwächer und
namentlich für furchtſamer zu halten, als wir zu ſein brauchen,
und das Gewicht fürſtlicher Verwandſchaft und Liebe in Fragen
internationaler Politik für die Dauer zu hoch in Anſatz gebracht.
Die ältern militäriſchen Vermuthungen ſprachen allerdings dafür,
1)
Vgl. die Depeſche vom 24. Januar 1863, in der Bismarck über den
Inhalt ſeiner Unterredungen mit Karolyi vom 4. und 13. Dec. 1862 Rechen¬
ſchaft giebt, Staatsarchiv VIII S. 55 ff. Nr. 1751.
[336/0363]
Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.
daß, wenn der ſechsundſechziger Krieg ſchon 1850 geführt worden
wäre, unſre Ausſichten bedenklich geweſen ſein würden. Mit
unſrer Schüchternheit noch in den ſechziger Jahren zu rechnen,
war ein Irrthum, bei welchem der Thronwechſel außer Anſatz
geblieben war.
Friedrich Wilhelm IV. hätte ſich zu Mobilmachungen wohl
ebenſo leicht entſchloſſen wie 1850 und wie ſein Nachfolger 1859,
aber ſchwer zur Kriegführung. Unter ihm lag die Gefahr vor,
daß ähnliche Tergiverſationen wie unter Haugwitz 1805 uns in
falſche Lagen gebracht haben würden; auch nach wirklichem Bruch
würde man in Oeſtreich über unſre Unklarheiten und Vermittlungs¬
verſuche mit Entſchloſſenheit zur Tagesordnung übergegangen ſein.
Bei dem König Wilhelm war die Abneigung, mit den väterlichen
Traditionen und den herkömmlichen Familienbeziehungen zu brechen,
ebenſo ſtark wie bei ſeinem Bruder, aber wenn er einmal unter
der Leitung ſeines Ehrgefühls, deſſen Empfindlichkeit ebenſo in dem
preußiſchen Porte-épée als im monarchiſchen Bewußtſein lag, zu
Entſchlüſſen, die ſeinem Herzen ſchwer wurden, ſich gezwungen gefühlt
hatte, ſo war man ſicher, wenn man ihm folgte, in keiner Gefahr
von ihm im Stiche gelaſſen zu werden. Mit dieſem Wechſel in
dem Charakter der oberſten Leitung wurde in Wien zu wenig ge¬
rechnet und zu viel mit dem Einfluß, den man durch die an¬
gebliche öffentliche Meinung, wie ſie durch Preß-Agenten und Sub¬
ſidien erzeugt wurde, auf Berliner Entſchließungen früher hatte
ausüben können, und durch Vermittlung fürſtlicher Verwandten
und Correſpondenzen des königlichen Hauſes auch ferner auszuüben
bereit und im Stande war.
Zudem überſchätzte man in Wien die abſchwächende Wirkung,
welche unſer innerer Conflict auf unſre auswärtige Politik und
militäriſche Leiſtungsfähigkeit haben konnte. Die Abneigung gegen
die Löſung des gordiſchen Knotens der deutſchen Politik durch das
Schwert war in weiten Kreiſen eine ſtarke, wie 1866 mannigfache
Symptome, von dem Blind'ſchen Attentat und deſſen Beurtheilung
[337/0364]
Geringſchätzung Preußens in Wien. Oeſtreichs Selbſtüberſchätzung.
in den fortſchrittlichen Blättern *)bis zu den offnen Kundgebungen
großer communaler Körperſchaften und dem Ausfall der Wahlen,
bezeugen. Aber in unſre Regimenter und deren Feuergefecht auf
den Schlachtfeldern reichten dieſe Strömungen nicht hinein, und
auf den Schlachtfeldern lag ſchließlich die Entſcheidung. Auch die
ſymptomatiſche Thatſache, daß in Berlin durch Vermittlung des
frühern auswärtigen und damaligen Hausminiſters von Schleinitz
noch während der erſten Gefechte in Böhmen diplomatiſche Zette¬
lungen mit höfiſcher Beziehung ſtattfanden, blieb auf die militäriſche
Seite der Kriegführung ohne jeden Einfluß.
Wenn das öſtreichiſche Cabinet die vertrauliche Eröffnung,
die ich dem Grafen Karolyi 1862 gemacht hatte, ohne irrthüm¬
liche Schätzung der Realitäten richtig gewürdigt und ſeine Politik
dahin modificirt hätte, die Verſtändigung mit Preußen anſtatt deſſen
Vergewaltigung durch Majoritäten und andre Einflüſſe zu ſuchen,
ſo hätten wir wahrſcheinlich eine Periode dualiſtiſcher Politik in
Deutſchland erlebt oder doch verſucht. Es iſt freilich zweifelhaft,
ob eine ſolche ohne die klärende Wirkung der Erfahrungen von
1866 und 1870 ſich in einem für das deutſche Nationalgefühl an¬
nehmbaren Sinne friedlich, unter dauernder Verhütung des innern
Zwieſpalts, hätte entwickeln können. Der Glaube an die militäriſche
Ueberlegenheit Oeſtreichs war in Wien und an den mittelſtaat¬
lichen Höfen zu ſtark für einen modus vivendi auf dem Fuße der
Gleichheit mit Preußen. Der Beweis für Wien lag in den Pro¬
clamationen, die in den Torniſtern der öſtreichiſchen Soldaten
neben den neuen, zum Einzuge in Berlin beſtimmten Uniformen
gefunden wurden und deren Inhalt die Sicherheit verrieth, mit der
man auf ſiegreiche Occupation der preußiſchen Provinzen gerechnet
hatte. Auch die Ablehnung der letzten durch den Bruder des
*)
In den Berliner Bilderläden hing eine Lithographie aus, in der das
Attentat ſo dargeſtellt war, daß der Teufel die für mich beſtimmten Kugeln
auffing mit den Worten: Der gehört mir! (Vgl. Politiſche Reden X 123, Rede
vom 9. Mai 1884).
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 22
[338/0365]
Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.
Generals von Gablenz gemachten preußiſchen Friedensanerbietungen
und deren finanz-miniſterielle Begründung durch das Bedürfniß
einer preußiſchen Contribution, die damals bekundete Bereitwillig¬
keit, nach der erſten Schlacht zu verhandeln, kennzeichnet die Sicher¬
heit, mit der man auf den Sieg in letztrer zählte.
II.
Das Geſammtergebniß dieſer in gleicher Richtung wirkenden
Vorſtellungen war denn auch das Gegentheil von einem Entgegen¬
kommen des Wiener Cabinets für dualiſtiſche Neigungen; Oeſtreich
ging über die preußiſche Anregung von 1862 zur Tagesordnung
über mit der diametral entgegengeſetzten Initiative zur Berufung
des Frankfurter Fürſtentages, durch die Anfangs Auguſt in Gaſtein
König Wilhelm und ſein Cabinet überraſcht wurden.
Nach den Mittheilungen von Fröbel *)der ſich als den Ur¬
heber des Fürſtencongreſſes betrachtet und ohne Zweifel in die Vor¬
bereitungen eingeweiht war, iſt den übrigen deutſchen Fürſten vor
Empfang der vom 31. Juli datirten Einladung der öſtreichiſche
Plan nicht bekannt geweſen. Es wäre jedoch möglich, daß man
den nachmaligen würtembergiſchen Miniſter von Varnbüler bis
zu einem gewiſſen Grade in das Geheimniß gezogen hatte. Dieſer
kluge und ſtrebſame Politiker zeigte im Sommer 1863 Neigung,
mit mir die Beziehungen zu erneuern, die früher zwiſchen uns
durch Vermittlung unſres gemeinſchaftlichen Freundes von Below-
Hohendorf entſtanden waren. Er veranlaßte mich zu einer Zuſammen¬
kunft, die am 12. Juli in einer auf ſeinen Wunſch geheimnißvollen
Form in einem kleinen böhmiſchen Orte weſtlich von Karlsbad
*)
Julius Fröbel, Ein Lebenslauf. Stuttgart 1891. Theil II
S. 252. 255.
[339/0366]
Abneigung Oeſtreichs gegen friedlichen Dualismus. Einladung.
vor ſich ging und von der ich weiter keinen Eindruck behielt, als
daß er mehr mich ſondiren als mir Vorſchläge auf dem Gebiete
der deutſchen Frage machen wollte. Die wirthſchaftlichen und
finanziellen Fragen, in denen er mir 1878 den vollen Beiſtand
ſeiner Sachkunde und Arbeitskraft geliehn hat, nahmen ſchon da¬
mals eine hervorragende Stelle in ſeiner Auffaſſung ein, allerdings
in Anlehnung an großdeutſche Politik mit entſprechender Zoll¬
einigung.
In Gaſtein ſaß ich am 2. Auguſt 1863 in den Schwarzen¬
bergiſchen Anlagen an der tiefen Schlucht der Ache unter den Tannen.
Ueber mir befand ſich ein Meiſenneſt, und ich beobachtete mit der
Uhr in der Hand, wie oft in der Minute der Vogel ſeinen Jungen
eine Raupe oder andres Ungeziefer zutrug. Während ich der nütz¬
lichen Thätigkeit dieſer Thierchen zuſah, bemerkte ich, daß auf der
andern Seite der Schlucht, auf dem Schillerplatze, König Wil¬
helm allein auf einer Bank ſaß. Als die Zeit herangekommen
war, mich zu dem Diner bei dem Könige anzuziehn, ging ich in
meine Wohnung und fand dort ein Briefchen Sr. Majeſtät vor,
des Inhalts, daß er mich auf dem Schillerplatze erwarten wolle,
um wegen der Begegnung mit dem Kaiſer mit mir zu ſprechen.
Ich beeilte mich nach Möglichkeit, aber ehe ich das Königliche
Quartier erreichte, hatte bereits eine Unterredung der beiden hohen
Herrn ſtattgefunden. Wenn ich mich weniger lange bei der Natur¬
betrachtung aufgehalten und den König früher geſehn hätte, ſo wäre
der erſte Eindruck, den die Eröffnungen des Kaiſers auf den König
gemacht haben, vielleicht ein andrer geweſen
Er fühlte zunächſt nicht die Unterſchätzung, welche in dieſer
Ueberrumpelung lag, in dieſer Einladung, man könnte ſagen Ladung,
à courte échéance. Der öſtreichiſche Vorſchlag gefiel ihm viel¬
leicht wegen des darin liegenden Elementes fürſtlicher Solidarität
in dem Kampfe gegen den parlamentariſchen Liberalismus, durch
den er ſelbſt damals in Berlin bedrängt wurde. Auch die Königin
Eliſabeth, die wir auf der Reiſe von Gaſtein nach Baden in Wild¬
[340/0367]
Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.
bad trafen, drang in mich, nach Frankfurt zu gehn. Ich erwiderte:
„Wenn der König ſich nicht anders entſchließt, ſo werde ich hingehn
und dort ſeine Geſchäfte machen, aber nicht als Miniſter nach
Berlin zurückkehren.“ Die Königin ſchien über dieſe Ausſicht
beunruhigt und hörte auf, meine Auffaſſung beim Könige zu be¬
kämpfen.
Wenn ich meinen Widerſtand gegen das Streben des Königs
nach Frankfurt aufgegeben und ihn ſeinem Wunſche gemäß dorthin
begleitet hätte, um in dem Fürſtencongreß die preußiſch-öſtreichiſche
Rivalität in eine gemeinſame Bekämpfung der Revolution und des
Conſtitutionalismus zu verwandeln, ſo wäre Preußen äußerlich ge¬
blieben, was es vorher war, hätte freilich unter dem öſtreichiſchen
Präſidium durch bundeſtägliche Beſchlüſſe die Möglichkeit gehabt,
ſeine Verfaſſung in analoger Weiſe revidiren zu laſſen, wie das
mit der hanöverſchen, der heſſiſchen und der mecklenburgiſchen und
in Lippe, Hamburg, Luxemburg geſchehn war, damit aber den
nationaldeutſchen Weg geſchloſſen.
Es wurde mir nicht leicht, den König zum Fernbleiben von
Frankfurt zu beſtimmen. Ich bemühte mich darum auf der Fahrt
von Wildbad nach Baden, wo wir im offnen kleinen Wagen,
wegen der Leute vor uns auf dem Bock, die deutſche Frage fran¬
zöſiſch verhandelten. Ich glaubte den Herrn überzeugt zu haben,
als wir in Baden anlangten. Dort aber fanden wir den König
von Sachſen, der im Auftrage aller Fürſten die Einladung nach
Frankfurt erneuerte (19. Auguſt). Dieſem Schachzug zu wider¬
ſtehn, wurde meinem Herrn nicht leicht. Er wiederholte mehr¬
mals die Erwägung: „30 regirende Herrn und ein König als
Courier!“ und er liebte und verehrte den König von Sachſen,
der unter den Fürſten für dieſe Miſſion auch perſönlich der Be¬
rufenſte war. Erſt um Mitternacht gelang es mir, die Unterſchrift
des Königs zu erhalten für die Abſage an den König von Sachſen.
Als ich den Herrn verließ, waren wir beide in Folge der nervöſen
Spannung der Situation krankhaft erſchöpft, und meine ſofortige
[341/0368]
Widerſtreben des Königs gegen die Politik ſeines Miniſters.
mündliche Mittheilung an den ſächſiſchen Miniſter von Beuſt trug
noch den Stempel dieſer Erregung 1). Die Kriſis war aber über¬
wunden, und der König von Sachſen reiſte ab, ohne meinen
Herrn, wie ich es befürchtet hatte, nochmals aufzuſuchen.
Nachdem der König auf der Rückreiſe von Baden-Baden
(31. Auguſt) nach Berlin ſo nahe an Frankfurt vorüber gefahren
war, daß der entſchloſſene Wille, ſich nicht zu betheiligen, zu Tage
lag, wurde die Mehrheit oder wurden wenigſtens die mächtigſten
Fürſten von einem Unbehagen erfaßt bei dem Gedanken an den
Reformentwurf, der ſie, wenn Preußen fern blieb, mit Oeſtreich allein
in einem Verbande ließ, in dem ſie nicht durch die Rivalität der
beiden Großmächte gedeckt waren. Das Wiener Cabinet muß an
die Möglichkeit geglaubt haben, daß die übrigen Bundesfürſten auf
die dem Congreß am 17. Auguſt gemachte Vorlage auch dann
eingehn würden, wenn ſie in dem reformirten Bundesverhält¬
niß ſchließlich mit Oeſtreich allein geblieben wären. Man würde
ſonſt nicht den in Frankfurt verbliebenen Fürſten die Zumuthung
gemacht haben, die öſtreichiſche Vorlage auch ohne Preußens Zu¬
ſtimmung anzunehmen und in die Praxis überzuführen. Die Mittel¬
ſtaaten wollten aber in Frankfurt weder eine einſeitig preußiſche,
noch eine einſeitig öſtreichiſche Leitung, ſondern für ſich ein mög¬
lichſt einflußreiches Schiedsamt im Sinne der Trias, welches jede der
beiden Großmächte auf das Bewerben um die Stimmen der Mittel¬
ſtaaten anwies. Die öſtreichiſche Zumuthung, auch ohne Preußen
abzuſchließen, wurde beantwortet durch den Hinweis auf die Noth¬
wendigkeit neuer Verhandlungen mit Preußen und die Kundgebung
der eignen Neigung zu ſolchen. Die Form der Beantwortung der
öſtreichiſchen Wünſche war nicht glatt genug, um in Wien keine
Empfindlichkeit zu erregen. Die Wirkung auf den Grafen Rech¬
berg, vorbereitet durch die guten Beziehungen, in denen unſre
Frankfurter Collegenſchaft abgeſchloſſen hatte, war, daß er ſagte,
1)
Vgl. Beuſt, Aus drei Viertel-Jahrhunderten I 332 f., v. Sybel II 532.
[342/0369]
Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.
der Weg nach Berlin ſei für Oeſtreich nicht weiter und nicht
ſchwieriger als für die Mittelſtaaten.
Die durch die Ablehnung erzeugte Verſtimmung war nach
meinen Eindrücken hauptſächlich der Antrieb, der das Wiener
Cabinet zu einer Verſtändigung mit Preußen im Widerſpruche mit
der bundestägigen Auffaſſung leitete. Dieſe neue Richtung ent¬
ſprach dem öſtreichiſchen Intereſſe, auch wenn ſie länger bei¬
behalten worden wäre. Dazu wäre vor Allem erforderlich geweſen,
daß Rechberg am Ruder blieb. Wäre damit eine dualiſtiſche
Führung des Deutſchen Bundes hergeſtellt worden, der ſich die
übrigen Staaten nicht verſagt haben würden, ſobald ſie die Ueber¬
zeugung gewonnen hätten, daß die Verſtändigung der beiden Vor¬
mächte ehrlich und dauerhaft war, ſo würden auch die Rheinbund¬
gelüſte einzelner ſüddeutſchen Miniſter, die am ſchärfſten, was auch
Graf Beuſt in ſeinen Denkwürdigkeiten ſagen mag, in Darmſtadt
zum Ausdruck kamen, dem öſtreichiſch-preußiſchen Einverſtändniß
gegenüber verſtummt ſein.
III.
Wenige Monate nach dem Frankfurter Congreß ſtarb der König
Friedrich VII. von Dänemark (15. November 1863). Das Mißlingen
des öſtreichiſchen Vorſtoßes, die Weigerung der übrigen Bundes¬
ſtaaten, nach der preußiſchen Ablehnung mit Oeſtreich allein in engere
Beziehung zu treten, brachten den Gedanken einer dualiſtiſchen Politik
der beiden deutſchen Großmächte, infolge der Eröffnung der ſchleswig¬
holſteiniſchen Frage und Succeſſion, in Wien der Erwägung nahe,
und mit mehr Ausſicht auf Verwirklichung, als im December 1862
vorgelegen hatte. Graf Rechberg machte in der Verſtimmung über
die Weigerung der Bundesgenoſſen, ſich ohne Mitwirkung Preußens
zu verpflichten, einfach Kehrt mit dem Bemerken, daß die Ver¬
ſtändigung mit Preußen für Oeſtreich noch leichter ſei als für
[343/0370]
Verſtändigung Oeſtreichs mit Preußen gegenüber Dänemark.
die Mittelſtaaten *). Darin hatte er für den Augenblick Recht, für
die Dauer aber doch nur dann, wenn Oeſtreich bereit war, Preußen
als gleichberechtigt in Deutſchland thatſächlich zu behandeln und
Preußens Beiſtand in den europäiſchen Intereſſen, die Oeſtreich
in Italien und im Orient hatte, durch die Geſtattung freier Be¬
wegung des preußiſchen Einfluſſes wenigſtens in Norddeutſchland
zu vergelten. Der Anfang der dualiſtiſchen Politik gewährte
ihr eine glänzende Bethätigung in den gemeinſamen Kämpfen
an der Schlei, dem gemeinſamen Einrücken in Jütland und dem
gemeinſamen Friedensſchluſſe mit Dänemark. Das preußiſch-öſt¬
reichiſche Bündniß bewährte ſich ſelbſt unter der Abſchwächung,
die in der Verſtimmung der übrigen Bundesſtaaten lag, doch
als hinreichendes Schwergewicht, um die widerſtrebende Verſtim¬
mung der andern Großmächte, unter deren Deckung Dänemark
dem geſammten Deutſchthum den Handſchuh hatte hinwerfen können,
im Zaume zu halten.
Unſer weitres Zuſammengehn mit Oeſtreich war gefährdet
zuerſt bei dem heftigen Andrang militäriſcher Einflüſſe auf den
König, die ihn zum Ueberſchreiten der jütiſchen Grenze auch ohne
Oeſtreich bewegen wollten. Mein alter Freund, der Feldmarſchall
Wrangel, ſchickte unchiffrirt die gröbſten Injurien gegen mich tele¬
graphiſch an den König, in denen in Bezug auf mich von Diplo¬
maten, die an den Galgen gehörten, die Rede war 1).
Damals indeſſen gelang es mir, den König zu beſtimmen,
daß wir nicht um ein Haarbreit an Oeſtreich vorbei gingen und
*)
Wir blieben infolge dieſer Epiſode Jahre hindurch in perſönlicher Ver¬
ſtimmung und gingen am Hofe ſchweigend einander her, bis bei einer
der vielen Gelegenheiten, wo wir Tiſchnachbarn waren, mich der Feldmarſchall
verſchämt lächelnd anredete: „Mein Sohn, kannſt Du garnicht vergeſſen?“
Ich antwortete: „Wie ſollte ich es anfangen, zu vergeſſen, was ich erlebt habe?“
Darauf er nach längerem Schweigen: „Kannſt Du auch nicht vergeben?“ Ich
erwiderte: „Von ganzem Herzen.“ Wir ſchüttelten uns die Hände und waren
wieder Freunde wie in frühern Zeiten.
1)
Vgl. Beuſt a. a. O. I 336.
[344/0371]
Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.
namentlich nicht in Wien den Eindruck machten, als ob Oeſtreich
gegen ſeinen Willen von uns fortgeriſſen würde. Meine guten
Beziehungen zu Rechberg und Karolyi ermöglichten es mir, das
Einverſtändnis über den Einmarſch in Jütland herzuſtellen.
Trotz dieſer Erfolge fand der Verſuch des Dualismus ſeinen
Culminations- und Wendepunkt in einer Beſprechung, welche beide
Monarchen unter Zuziehung ihrer Miniſter, Rechbergs und meiner,
am 22. Auguſt 1864 in Schönbrunn hatten. Im Laufe derſelben
ſagte ich dem Kaiſer von Oeſtreich:
„Zu einer politiſchen Gemeinſchaft geſchichtlich berufen, machen
wir dynaſtiſch und politiſch beiderſeits beſſere Geſchäfte, wenn wir
zuſammenhalten und diejenige Führung Deutſchlands übernehmen,
welche uns nicht entgehn wird, ſobald wir einig ſind. Wenn
Preußen und Oeſtreich ſich die Aufgabe ſtellen, nicht blos ihre
gemeinſamen Intereſſen, ſondern auch beiderſeits jedes die Intereſſen
des andern zu fördern, ſo kann das Bündniß der beiden deutſchen
Großſtaaten von einer weittragenden deutſchen und europäiſchen
Wirkſamkeit werden. Der Staat Oeſtreich hat kein Intereſſe an
der Geſtaltung der däniſchen Herzogthümer, dagegen ein erheb¬
liches an ſeinen Beziehungen zu Preußen. Sollte aus dieſer zweifel¬
loſen Thatſache nicht die Zweckmäßigkeit einer für Preußen wohl¬
wollenden Politik hervorgehn, die das beſtehende Bündnis der
beiden deutſchen Großmächte conſolidirt und in Preußen Dankbar¬
keit für Oeſtreich erweckt? Wenn die gemeinſame Erwerbung
ſtatt in Holſtein, in Italien läge, wenn der Krieg, den wir geführt
haben, ſtatt Schleswig-Holſtein die Lombardei zur Verfügung der
beiden Mächte geſtellt hätte, ſo würde es mir nicht eingefallen ſein,
bei meinem Könige dahin zu wirken, daß Wünſchen unſres Ver¬
bündeten ein Widerſtand entgegengeſetzt oder die Forderung eines
Aequivalents erhoben würde, wenn ein ſolches nicht zu gleicher
Zeit diſponibel wäre. Ihm aber für Schleswig-Holſtein altpreußi¬
ſches Land abzutreten, das würde kaum möglich ſein, ſelbſt wenn
die Einwohner es wünſchten; in Glatz proteſtirten aber ſogar die
[345/0372]
Culminations- und Wendepunkt des dualiſtiſchen Verſuchs.
dort angeſeſſenen Oeſtreicher dagegen. Ich hätte das Gefühl, daß
die vortheilhaften Ergebniſſe der Freundſchaft der deutſchen Gro߬
mächte mit der holſteiniſchen Frage nicht abgeſchloſſen wären, und
daß ſie, wenn jetzt in der äußerſten Entfernung von dem öſtreichi¬
ſchen Intereſſengebiete gelegen, doch ein andermal ſehr viel näher
liegen könnten, und daß es für Oeſtreich nützlich ſein werde, jetzt
Preußen gegenüber freigebig und gefällig zu ſein.“
Es ſchien mir, daß die von mir aufgeſtellte Perſpective auf
den Kaiſer Franz Joſeph nicht ohne Eindruck blieb. Er ſprach
zwar von der Schwierigkeit, der öffentlichen Meinung in Oeſtreich
gegenüber ganz ohne Aequivalent aus der gegenwärtigen Situation
hinauszugehn, wenn Preußen einen ſo großen Gewinn wie Schleswig-
Holſtein mache, ſchloß aber mit der Frage, ob wir wirklich feſt ent¬
ſchloſſen wären, dieſen Beſitz zu fordern und einzuverleiben. Ich
hatte den Eindruck, daß er doch nicht für unmöglich hielte, uns
ſeine Anſprüche auf das von Dänemark abgetretene Land zu cediren,
wenn ihm die Ausſicht auf ein ferneres feſtes Zuſammenhalten
mit Preußen und auf Unterſtützung analoger Wünſche Oeſtreichs
durch Preußen geſichert würde. Er ſtellte zur weitern Diſcuſſion
zunächſt die Frage, ob Preußen wirklich feſt entſchloſſen ſei, die
Herzogthümer zu preußiſchen Provinzen zu machen, oder ob wir mit
gewiſſen Rechten in ihnen, wie ſie in den ſog. Februarbedingungen
ſpäter formulirt worden ſind, zufrieden ſein würden. Der König
ſchwieg und ich brach dieſes Schweigen, indem ich dem Kaiſer
antwortete: „Es iſt mir ſehr erwünſcht, daß Eure Majeſtät mir
die Frage in Gegenwart meines allergnädigſten Herrn vorlegen;
ich hoffe bei dieſer Gelegenheit ſeine Anſicht zu erfahren.“ Ich
hatte nämlich bis dahin keine unumwundene Erklärung des Königs
weder ſchriftlich noch mündlich über Sr. Majeſtät definitive Willens¬
meinung bezüglich der Herzogthümer erhalten.
Die mise en demeure durch den Kaiſer hatte die Folge, daß
der König zögernd und in einer gewiſſen Verlegenheit ſagte: er
habe ja garkein Recht auf die Herzogthümer und könne deshalb
[346/0373]
Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.
keinen Anſpruch darauf machen. Durch dieſe Aeußerung, aus
welcher ich die Einwirkung der königlichen Verwandten und der
hofliberalen Einflüſſe heraushörte, war ich natürlich dem Kaiſer
gegenüber außer Gefecht geſetzt. Ich trat demnächſt noch für das
Feſthalten der Einigkeit beider deutſchen Großmächte ein, und es
wurde eine dieſer Richtung entſprechende kurze Redaction, in der
die Zukunft Schleswig-Holſteins unentſchieden blieb, von Rechberg
und mir entworfen und von den beiden hohen Herrn genehmigt.
IV.
Der Dualismus würde, wie ich ihn mir dachte, dem jetzt be¬
ſtehenden Verhältniß ähnlich geweſen ſein, jedoch mit dem Unter¬
ſchiede, daß Oeſtreich auf die Staaten, die jetzt mit Preußen das
Deutſche Reich bilden, bundesmäßigen Einfluß behalten haben würde.
Rechberg war für Verſtärkung des Gewichts von Mitteleuropa durch
eine ſolche Verſtändigung der beiden Mächte gewonnen. Dieſe
Geſtaltung würde, im Vergleich zur Vergangenheit und, wie die
Dinge damals lagen, immerhin ein Fortſchritt zum Beſſern ge¬
weſen ſein, aber Dauer nur verſprochen haben, ſo lange das Ver¬
trauen zu den beiderſeits leitenden Perſonen ungeſtört blieb. Graf
Rechberg ſagte mir bei meiner Abreiſe von Wien (26. Auguſt 1864),
daß ſeine Stellung angefochten ſei; durch die Erörterungen des
Miniſteriums und die Haltung des Kaiſers zu demſelben ſei er in
die Lage gerathen, fürchten zu müſſen, daß ſeine Collegen, namentlich
Schmerling, ihn über Bord ſchieben würden, wenn er nicht für die
Zollvereinsbeſtrebungen Oeſtreichs, die den Kaiſer vorzugsweiſe
beſchäftigten, wenigſtens die Zuſicherung beibringen könne, daß
wir auf Verhandlungen in beſtimmter Friſt eingehn wollten. Ich
hatte gegen ein ſolches pactum de contrahendo keine Bedenken,
weil ich überzeugt war, daß es mir keine über die Grenzen des
mir möglich Scheinenden hinaus gehenden Zugeſtändniſſe würde
[347/0374]
Graf Rechbergs Stellung erſchüttert durch die Zollverhandlung.
abdingen können, und weil die politiſche Seite der Frage im
Vordergrunde ſtand. Die Zolleinigung hielt ich für eine un¬
ausführbare Utopie wegen der Verſchiedenheit der wirthſchaftlichen
und adminiſtrativen Zuſtände beider Theile. Die Gegenſtände,
die im Norden des Zollvereins die finanzielle Unterlage bildeten,
gelangen in dem größern Theile des öſtreichiſch-ungariſchen Gebietes
garnicht zum Verbrauch. Die Schwierigkeiten, welche die Verſchieden¬
heiten der Lebensgewohnheiten und der Conſumtion zwiſchen Nord-
und Süddeutſchland ſchon innerhalb des Zollvereins bedingten, mußten
unüberwindlich werden, wenn beide Regionen mit den öſtlichen
Ländern Oeſtreich-Ungarns von derſelben Zollgrenze umſchloſſen
werden ſollten. Ein gerechter, der beſtehenden Conſumtion zoll¬
pflichtiger Waaren entſprechender Maßſtab der Vertheilung würde
ſich nicht vereinbaren laſſen; jeder Maßſtab würde entweder un¬
gerecht für den Zollverein oder unannehmbar für die öffentliche
Meinung in Oeſtreich-Ungarn ſein. Der bedürfnißloſe Slowake
und Galizier einerſeits, der Rheinländer und der Niederſachſe
andrerſeits ſind für die Beſteuerung nicht commenſurabel. Außer¬
dem fehlte mir der Glaube an die Zuverläſſigkeit des Dienſtes auf
einem großen Theile der öſtreichiſchen Grenzen.
Von der Unmöglichkeit der Zolleinigung überzeugt, hatte ich
kein Bedenken, dem Grafen Rechberg den gewünſchten Dienſt zu er¬
weiſen, um ihn im Amte zu erhalten. Ich glaubte bei meiner Ab¬
reiſe nach Biarritz (5. October) ſicher zu ſein, daß der König an
meinem Votum feſthalten werde; und mir ſind noch heut die Motive
nicht klar, welche meine Collegen, den Finanzminiſter Karl von
Bodelſchwingh und den Handelsminiſter Grafen Itzenplitz, und ihren
freihändleriſchen spiritus rector Delbrück beſtimmt haben, während
meiner Abweſenheit den König auf einem ihm ziemlich fremden
Gebiete mit ſo viel Entſchiedenheit zu bearbeiten, daß durch unſre
Ablehnung die Stellung Rechbergs, wie er es vorhergeſagt hatte,
erſchüttert und er in dem auswärtigen Miniſterium durch Mens¬
dorff erſetzt wurde, der zunächſt der Candidat Schmerlings war,
[348/0375]
Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.
bis dieſer dann durch reactionäre und katholiſche Einflüſſe ſelbſt
verdrängt wurde. Der König, ſo feſt er auch in der innern
Politik geworden war, ließ ſich damals noch von der durch ſeine
Gemalin vertretenen Doctrin beeinfluſſen, daß zur Löſung der
deutſchen Frage die Popularität das Mittel ſei.
Ueber eine Conferenz, welche am 10. October 1864 von Mit¬
gliedern des Auswärtigen und des Handelsminiſteriums abgehalten
wurde, ſchrieb mir Herr von Thile nach Biarritz:
„Ich fand in der heutigen Conferenz neu beſtätigt, was freilich
längſt bekannt iſt, daß die Herren Fachmänner bei aller ihrer, von
mir gern anerkannten Virtuoſität in Behandlung der fachlichen
Seite die politiſche arg mißachten und z. B. die Eventualität eines
Miniſterwechſels in Wien wie eine Bagatelle behandeln. — Itzen¬
plitz wankt in ſeinen Anſichten ſehr. Wiederholt gelang es mir
ihn zu dem Geſtändniß zu bringen, daß uns der Artikel 25 finaliter
und realiter zu nichts verpflichtet. Dann ſchreckte ihn aber jedesmal
ein ſtrafender Blick von Delbrück in ſeine Fachpoſition zurück.“
Zwei Tage ſpäter, am 12. October, berichtete mir Abeken, der
ſich bei dem Könige in Baden-Baden befand, es ſei ihm nicht ge¬
lungen, denſelben für den Artikel 25 zu gewinnen; Se. Majeſtät
ſcheue „das Geſchrei“, welches ſich über eine ſolche Conceſſion an
Oeſtreich erheben würde, und habe u. A. geſagt: „Die Miniſter¬
kriſis in Wien würden wir vielleicht vermeiden, aber dadurch in
Berlin eine ſolche hervorrufen; Bodelſchwingh und Delbrück würden
wahrſcheinlich ihre Entlaſſung beantragen, wenn wir den Artikel 25
zuließen.“
Und wieder zwei Tage ſpäter ſchrieb mir Graf Goltz aus
Paris:
„Iſt Rechbergs Stellung entſchieden erſchüttert (daß ſie es
bei dem Kaiſer ſei, muß ich entſchieden bezweifeln), ſo dürfte für
uns die Nothwendigkeit eintreten, hier den Eröffnungen eines rein
Schmerlingſchen Miniſteriums zuvorzukommen.“
[349/0376]
Rechbergs Entlaſſung. Wandelbarkeit der öſtreichiſchen Freundſchaft.
V.
Nicht ohne Bedeutung für den Werth dualiſtiſcher Politik war
die Frage, auf welches Maß von Sicherheit im Innehalten dieſer
Linie wir bei Oeſtreich rechnen konnten. Wenn man ſich die
Plötzlichkeit vergegenwärtigte, mit welcher Rechberg in der Ver¬
ſtimmung über den Mangel an Folgſamkeit der Mittelſtaaten mit
dieſen gebrochen und ſich mit uns ohne und gegen ſie verbündet
hatte, ſo konnte man die Möglichkeit nicht abweiſen, daß ein Mangel
an Uebereinſtimmung mit Preußen in Einzelfragen ebenſo uner¬
wartet zu einer neuen Schwenkung führen könnte. Ueber Mangel
an Aufrichtigkeit habe ich bei dem Grafen Rechberg nie zu klagen
gehabt, aber er war, wie Hamlet ſagt, spleenetic and rash in
einem ungewöhnlichen Grade; und wenn die perſönliche Verſtim¬
mung des Grafen Buol über unfreundliche Formen des Kaiſers
Nicolaus mehr als über politiſche Differenzen hingereicht hatte, die
öſtreichiſche Politik in der Linie der bekannten Schwarzenbergi¬
ſchen Undankbarkeit (Nous étonnerons l'Europe par notre in¬
gratitude) dauernd feſtzuhalten, ſo durfte man ſich der Möglichkeit
nicht verſchließen, daß die ſehr viel ſchwächern Bindemittel zwiſchen
dem Grafen Rechberg und mir von irgend welcher Fluthwelle weg¬
geſchwemmt werden könnten. Der Kaiſer Nicolaus hatte zu dem
Glauben an die Zuverläſſigkeit ſeiner Beziehungen zu Oeſtreich
viel ſtärkere Unterlagen als wir zur Zeit des däniſchen Krieges.
Er hatte dem Kaiſer Franz Joſeph einen Dienſt erwieſen, wie kaum
je ein Monarch ſeinem Nachbarſtaat gethan 1), und die Vortheile der
gegenſeitigen Anlehnung im monarchiſchen Intereſſe der Revolution
gegenüber, der italieniſchen und ungariſchen ſo gut wie der polniſchen
von 1846, fielen für Oeſtreich bei dem Zuſammenhalten mit Rußland
noch ſchwerer in das Gewicht als bei dem mit Preußen 1864 mög¬
1)
S. o. S. 217.
[350/0377]
Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.
lichen Bunde. Der Kaiſer Franz Joſeph iſt eine ehrliche Natur, aber
das öſtreichiſch-ungariſche Staatsſchiff iſt von ſo eigenthümlicher
Zuſammenſetzung, daß ſeine Schwankungen, denen der Monarch
ſeine Haltung an Bord anbequemen muß, ſich kaum im Voraus
berechnen laſſen. Die centrifugalen Einflüſſe der einzelnen Nationali¬
täten, das Ineinandergreifen der vitalen Intereſſen, die Oeſt¬
reich nach der deutſchen, der italieniſchen, der orientaliſchen und
der polniſchen Seite hin gleichzeitig zu vertreten hat, die Unlenk¬
ſamkeit des ungariſchen Nationalgeiſtes und vor Allem die Un¬
berechenbarkeit, mit der beichtväterliche Einflüſſe die politiſchen
Entſchließungen kreuzen, legen jedem Bundesgenoſſen Oeſtreichs
die Pflicht auf, vorſichtig zu ſein und die Intereſſen der eignen
Unterthanen nicht ausſchließlich von der öſtreichiſchen Politik ab¬
hängig zu machen. Der Ruf der Stabilität, den die letztre unter
dem langjährigen Regimente Metternichs gewonnen hatte, iſt nach
der Zuſammenſetzung der Habsburgiſchen Monarchie und nach
den bewegenden Kräften innerhalb derſelben nicht haltbar, mit der
Politik des Wiener Cabinets vor der Metternichſchen Periode gar¬
nicht, und nach derſelben nicht durchweg in Uebereinſtimmung.
Sind aber die Rückwirkungen der wechſelnden Ereigniſſe und Situa¬
tionen auf die Entſchließungen des Wiener Cabinets für die Dauer
unberechenbar, ſo iſt es auch für jeden Bundesgenoſſen Oeſtreichs
geboten, auf die Pflege von Beziehungen, aus denen ſich nöthigen
Falls andre Combinationen entwickeln ließen, nicht abſolut zu ver¬
zichten.
[[351]/0378]
Achtzehntes Kapitel.
König Ludwig II . von Baiern.
Auf dem Wege von Gaſtein nach Baden-Baden berührten wir
München, das der König Max bereits verlaſſen hatte, um ſich
nach Frankfurt zu begeben, es ſeiner Gemalin überlaſſend, die
Gäſte zu empfangen. Ich glaube nicht, daß die Königin Marie
nach ihrer wenig aus ſich heraustretenden und der Politik ab¬
gewandten Stimmung auf den König Wilhelm und die Ent¬
ſchließung, mit welcher er ſich damals trug, lebhaft eingewirkt hat.
Bei den regelmäßigen Mahlzeiten, die wir während des Auf¬
enthalts in Nymphenburg, 16. und 17. Auguſt 1863, einnahmen,
war der Kronprinz, ſpäter König Ludwig II., der ſeiner Mutter
gegenüber ſaß, mein Nachbar. Ich hatte den Eindruck, daß er mit
ſeinen Gedanken nicht bei der Tafel war und ſich nur ab und zu
ſeiner Abſicht erinnerte, mit mir eine Unterhaltung zu führen, die
aus dem Gebiete der üblichen Hofgeſpräche nicht herausging. Gleich¬
wohl glaubte ich in dem, was er ſagte, eine begabte Lebhaftigkeit
und einen von ſeiner Zukunft erfüllten Sinn zu erkennen. In
den Pauſen des Geſprächs blickte er über ſeine Frau Mutter hin¬
weg an die Decke und leerte ab und zu haſtig ſein Champagner¬
glas, deſſen Füllung, wie ich annahm, auf mütterlichen Befehl ver¬
langſamt wurde, ſo daß der Prinz mehrmals ſein leeres Glas rück¬
wärts über ſeine Schulter hielt, wo es zögernd wieder gefüllt
wurde. Er hat weder damals noch ſpäter die Mäßigkeit im Trinken
überſchritten, ich hatte jedoch das Gefühl, daß die Umgebung ihn
[352/0379]
Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.
langweilte und er den von ihr unabhängigen Richtungen ſeiner
Phantaſie durch den Champagner zu Hülfe kam. Der Eindruck,
den er mir machte, war ein ſympathiſcher, obſchon ich mir mit
einiger Verdrießlichkeit ſagen mußte, daß mein Beſtreben, ihn als
Tiſchnachbar angenehm zu unterhalten, unfruchtbar blieb. Es war dies
das einzige Mal, daß ich den König Ludwig von Angeſicht geſehn
habe, ich bin aber mit ihm, ſeit er bald nachher (10. März 1864) den
Thron beſtiegen hatte, bis an ſein Lebensende in günſtigen Beziehungen
und in verhältnißmäßig regem brieflichem Verkehre geblieben und
habe dabei jederzeit von ihm den Eindruck eines geſchäftlich klaren
Regenten von national deutſcher Geſinnung gehabt, wenn auch mit
vorwiegender Sorge für die Erhaltung des föderativen Prinzips
der Reichsverfaſſung und der verfaſſungsmäßigen Privilegien ſeines
Landes. Als außerhalb des Gebietes politiſcher Möglichkeit liegend
iſt mir ſein in den Verſailler Verhandlungen auftauchender Gedanke
erinnerlich, daß das deutſche Kaiſerthum reſp. Bundes-Präſidium
zwiſchen dem preußiſchen und dem bairiſchen Hauſe erblich alterniren
ſolle. Die Zweifel darüber, wie dieſer unpraktiſche Gedanke praktiſch
zu machen, wurden überholt durch die Verhandlungen mit den
bairiſchen Vertretern in Verſailles und deren Ergebniſſe, wonach
dem Präſidium des Bundes, alſo dem Könige von Preußen, die
Rechte, die er heut dem bairiſchen Bundesgenoſſen gegenüber
ausübt, ſchon in der Hauptſache bewilligt waren, ehe es ſich um
den Kaiſertitel handelte.
Aus meinem Briefwechſel mit dem Könige Ludwig ſchalte ich
einige Stücke ein, die zur richtigen Charakteriſtik dieſes unglück¬
lichen Fürſten beitragen und auch wieder einmal ein actuelles
Intereſſe gewinnen können. Die Curialien ſind nur in den erſten
Briefen gegeben.
[353/0380]
Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.
Verſailles, 27. November 1870 1).
Allerdurchlauchtigſter Großmächtigſter König,
Allergnädigſter Herr,
Für die huldreichen Eröffnungen, welche mir Graf Holnſtein
auf Befehl Eurer Majeſtät gemacht hat, bitte ich Allerhöchſtdieſelben
den ehrfurchtsvollen Ausdruck meines Dankes entgegennehmen zu
wollen. Das Gefühl meiner Dankbarkeit gegen Eure Majeſtät
hat einen tiefern und breitern Grund als den perſönlichen in der
amtlichen Stellung, in welcher ich die hochherzigen Entſchließungen
Eurer Majeſtät zu würdigen berufen bin, durch welche Eure
Majeſtät beim Beginne und bei Beendigung dieſes Krieges der
Einigkeit und der Macht Deutſchlands den Abſchluß gegeben haben.
Aber es iſt nicht meine, ſondern die Aufgabe des deutſchen Volkes
und der Geſchichte, dem durchlauchtigen bairiſchen Hauſe für Eurer
Majeſtät vaterländiſche Politik und für den Heldenmuth Ihres
Heeres zu danken. Ich kann nur verſichern, daß ich Eurer Majeſtät,
ſo lang ich lebe, in ehrlicher Dankbarkeit anhänglich und ergeben
ſein und mich jederzeit glücklich ſchätzen werde, wenn es mir ver¬
gönnt wird, Eurer Majeſtät zu Dienſten zu ſein. In der deutſchen
Kaiſerfrage habe ich mir erlaubt, dem Grafen Holnſtein einen
kurzen Entwurf vorzulegen, welchem der Gedankengang zu Grunde
liegt, der meinem Gefühl nach die deutſchen Stämme bewegt: der
deutſche Kaiſer iſt ihrer aller Landsmann, der König von Preußen
ein Nachbar, dem unter dieſem Namen Rechte, die ihre Grundlage
nur in der freiwilligen Uebertragung durch die deutſchen Fürſten
und Stämme finden, nicht zuſtehn. Ich glaube, daß der deutſche
Titel für das Präſidium die Zulaſſung deſſelben erleichtert, und
die Geſchichte lehrt, daß die großen Fürſtenhäuſer Deutſchlands,
Preußen eingeſchloſſen, die Exiſtenz des von ihnen gewählten
1) Nach dem Concept, das in der Reinſchrift noch Zuſätze erhalten zu
haben ſcheint.
23
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I.
[354/0381]
Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.
Kaiſers niemals als eine Beeinträchtigung ihrer eignen europäiſchen
Stellung empfunden haben.
v. Bismarck.
Mein lieber Graf!
Mit lebhaftem Vergnügen habe ich bemerkt, daß Sie trotz
zahlreicher und dringender Geſchäfte Muße gefunden, Ihren Ge¬
fühlen gegen mich Ausdruck zu verleihen.
Ich ſende Ihnen deshalb meinen wärmſten Dank; denn ich
lege hohen Werth auf die ergebene Geſinnung eines Mannes, nach
dem das ganze Deutſchland freudigen Stolzes ſeine Blicke richtet.
Mein Brief an Ihren König, meinen vielgeliebten hochver¬
ehrten Oheim, wird morgen in deſſen Hände gelangen. — Ich
wünſche von ganzem Herzen, daß mein Vorſchlag beim Könige,
den übrigen Bundesgliedern, welchen ich geſchrieben, und auch bei
der Nation vollſten Anklang finde, und iſt es mir ein befriedigen¬
des Bewußtſein, daß ich vermöge meiner Stellung in Deutſchland
wie beim Beginne ſo beim Abſchluſſe dieſes ruhmreichen Krieges
in der Lage war, einen entſcheidenden Schritt zu Gunſten der
nationalen Sache thun zu können. Ich hoffe aber auch mit Be¬
ſtimmtheit, daß Bayern ſeine Stellung fortan erhalten bleibt, da
ſie mit einer treuen, rückhaltloſen Bundespolitik wohl vereinbar¬
lich iſt und verderblicher Centraliſation am ſicherſten ſteuert.
Groß, unſterblich iſt das, was Sie für die deutſche Nation
gethan haben, und ohne zu ſchmeicheln, darf ich ſagen, daß Sie
in der Reihe der großen Männer unſeres Jahrhunderts den her¬
vorragendſten Platz einnehmen. Möge Gott Ihnen noch viele,
viele Jahre verleihen, damit Sie fortfahren können zu wirken für
das Wohl und Gedeihen unſeres gemeinſamen Vaterlandes. Meine
beſten Grüße Ihnen ſendend, bleibe ich, mein lieber Graf, ſtets
Hohenſchwangau, den 2. December 1870.
Ihr
aufrichtiger Freund
Ludwig.
[355/0382]
Briefwechſel mit Ludwig von Bayern.
Verſailles, 24. December 1870 1).
Allerdurchlauchtigſter König,
Allergnädigſter Herr,
Das huldreiche Schreiben Eurer Majeſtät, welches Graf Holn¬
ſtein mir überbracht hat, ermuthigt mich mit meinem Danke für
den gnädigen Inhalt deſſelben, Eurer Majeſtät meine unterthänig¬
ſten Glückwünſche zu dem bevorſtehenden Jahreswechſel darzubringen.
Wohl ſelten hat Deutſchland von einem neuen Jahre mit gleicher
Zuverſicht wie von dem bevorſtehenden die Erfüllung nationaler
Wünſche erwartet. Wenn dieſe Hoffnungen ſich verwirklichen,
wenn das geeinte Deutſchland dahin gelangt, daß es ſeinen äußern
Frieden in geſicherten Grenzen durch eigne Kraft verbürgen kann,
gleichzeitig, ohne die freie Entwicklung der einzelnen Bundesglieder
zu beeinträchtigen, ſo wird die entſcheidende Stellung, die Eure
Majeſtät zu der Neugeſtaltung des gemeinſamen Vaterlandes ge¬
wonnen haben, in der Geſchichte und in der Dankbarkeit der
Deutſchen jederzeit unvergeſſen bleiben.
Eure Majeſtät ſetzen mit Recht voraus, daß auch ich von der
Centraliſation kein Heil erwarte, ſondern grade in der Erhaltung
der Rechte, welche die Bundesverfaſſung den einzelnen Gliedern
des Bundes ſichert, die dem deutſchen Geiſte entſprechende Form
der Entwicklung und zugleich die ſicherſte Bürgſchaft gegen die
Gefahren erblicke, welchen Recht und Ordnung in der freien Be¬
wegung des heutigen politiſchen Lebens ausgeſetzt ſein können.
Daß die Herſtellung der Kaiſerwürde durch Initiative Eurer Majeſtät
und der verbündeten Fürſten den monarchiſch-conſervativen Inter¬
eſſen förderlich iſt, beweiſt die feindliche Stellung, welche die
republikaniſche Partei in ganz Deutſchland zu derſelben genom¬
men hat.
1) Nach dem Concept; in der Reinſchrift hat der Brief einige ſtiliſtiſche
Aenderungen erfahren.
[356/0383]
Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.
Eure Majeſtät wollen ſich in Gnaden verſichert halten, daß
ich mich glücklich ſchätzen werde, wenn es mir gelingt, mir Aller¬
höchſtdero gnädige Geſinnung zu erhalten.
v. B.
Mein lieber Fürſt!
Es würde mir nicht nur ein hohes Intereſſe bieten, ſondern
zugleich lebhafte Freude bereiten, Sie zu ſprechen und meinen Ge¬
fühlen beſonderer Hochſchätzung für Sie, mein lieber Fürſt, münd¬
lichen Ausdruck zu geben. Wie ich zu meinem aufrichtigen Bedauern
erfahre, hat jener ſo verabſcheuungswürdige Mordanschlag 1), für deſſen
Mißlingen ich Gott immerdar dankbar ſein werde, ſtörend auf Ihre
auch mir ſo theure Geſundheit und auf den Curgebrauch gewirkt,
ſo daß es vermeſſen von mir wäre, wollte ich Sie erſuchen, Sich
demnächſt zu mir zu bemühen, der ich jetzt mitten in den Bergen
verweile. — Für Ihren letzten Brief, der mich mit aufrichtiger
Freude erfüllte, bin ich Ihnen aus ganzer Seele dankbar. Feſt
vertraue ich auf Sie! und glaube ich, daß Sie, wie Sie meinem
Miniſter v. Pfretzſchner gegenüber ſich äußerten, Ihren politiſchen
Einfluß dafür einſetzen werden, daß das föderative Princip die
Grundlage der neuen Ordnung der Dinge in Deutſchland bilde.
Möge der Himmel Ihr theures Leben noch viele Jahre uns Allen
erhalten! Ihr Tod, ſowie der des von mir hochverehrten Kaiſers
Wilhelm wäre ein großes Unglück für Deutſchland und Bayern. —
Aus ganzem Herzen meine beſten Grüße Ihnen, mein lieber Fürſt,
zurufend, bleibe ich ſtets mit beſonderer Hochſchätzung und tief¬
gewurzeltem Vertrauen
Hohenſchwangau, den 31. Juli 1874.
Ihr
aufrichtiger Freund
Ludwig.
1)
Kullmann's am 13. Juli 1874.
[357/0384]
Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.
Kiſſingen, den 10. Auguſt 1874.
Allerdurchlauchtigſter König,
Allergnädigſter Herr,
Im Begriff, meine Cur zu beendigen, kann ich Kiſſingen nicht
verlaſſen, ohne Eurer Majeſtät für alle Gnade, welche Allerhöchſt¬
dieſelben mir hier erzeigt haben, nochmals ehrfurchtsvoll zu danken,
insbeſondre auch für das huldreiche Schreiben vom 31. v. Mts.
Ich bin hoch beglückt durch das Vertrauen, welches Eure
Majeſtät mir darin ausſprechen, und werde ſtets beſtrebt ſein, das¬
ſelbe zu verdienen; aber auch unabhängig von perſönlichen Bürg¬
ſchaften, dürfen Eure Majeſtät mit voller Zuverſicht auf diejenigen
rechnen, welche in der Reichsverfaſſung ſelbſt liegen. Letztre beruht
auf der föderativen Grundlage, welche ſie durch die Bundesverträge
erhalten hat, und kann nicht ohne Vertragsbruch verletzt werden.
Darin unterſcheidet ſich die Reichsverfaſſung von jeder Landes¬
verfaſſung. Die Rechte Eurer Majeſtät bilden einen unlöslichen
Theil der Reichsverfaſſung, und beruhn daher auf denſelben ſichern
Rechtsgrundlagen wie alle Inſtitutionen des Reichs. Deutſchland
hat gegenwärtig in der Inſtitution ſeines Bundesrathes, und Baiern
in ſeiner würdigen und einſichtigen Vertretung im Bundesrathe,
eine feſte Bürgſchaft gegen jede Ausartung oder Uebertreibung der
einheitlichen Beſtrebungen. Eure Majeſtät werden auf die Sicher¬
heit des vertragsmäßigen Verfaſſungsrechtes auch dann volles Ver¬
trauen haben können, wenn ich nicht mehr die Ehre habe, dem Reiche
als Kanzler zu dienen.
In tiefer Ehrfurcht verharre ich
Eurer Majeſtät
unterthänigſter Diener
v. Bismarck.
[358/0385]
Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.
Friedrichsruh, 2. Juni 1876.
Eure Majeſtät haben, wie Baron Werthern mir ſchreibt, die
Gnade gehabt, mir auch in dieſem Jahre für den Beſuch von
Kiſſingen Equipage aus Allerhöchſtdero Marſtall zur Verfügung zu
ſtellen. Ich hoffe, daß es mir möglich ſein wird, dem Rathe der
Aerzte zu folgen und auch in dieſem Sommer die Heilung zu
ſuchen, wo ich ſie vor 2 Jahren, wie Eure Majeſtät deſſen in der
Allerhöchſten Ordre vom 29. April ſo huldreich gedenken, ge¬
funden habe.
Die türkiſchen Angelegenheiten ſehn bedrohlich aus und können
dringliche diplomatiſche Arbeit erfordern: aber unter allen europäi¬
ſchen Mächten wird Deutſchland immer in der günſtigſten Lage
bleiben, um ſich aus den Wirren, mit welchen eine orientaliſche
Frage den Frieden bedrohen kann, dauernd oder doch länger als
andre, fern halten zu können. Ich gebe daher die Hoffnung nicht
auf, daß es mir möglich ſein werde, Kiſſingen in einigen Wochen
zu beſuchen, und bitte Eure Majeſtät ehrfurchtsvoll, meinen aller¬
unterthänigſten Dank für Allerhöchſtdero huldreiche Fürſorge in
Gnaden entgegennehmen zu wollen.
v. Bismarck.
Es gereicht mir zu aufrichtiger Freude, daß die in Ihren
werthen Zeilen vom 2. dieſes Monats ausgeſprochene Hoffnung,
Kiſſingen zu beſuchen, ſich nun erfüllt hat.
Von Herzen begrüße ich Sie in meinem Lande und gebe mich
der frohen Zuverſicht hin, daß Ihre, dem Reiche theure Geſund¬
heit wiederholt durch eine Heilquelle Bayerns Kräftigung finden
werde.
Möge der allen deutſchen Fürſten gemeinſame Wunſch der
Erhaltung des Friedens Verwirklichung finden und dadurch Ihnen,
mein lieber Fürſt, ergiebige Erholung von mühevoller Arbeit und
aufregender Sorge gegönnt ſein.
Indem ich der Fürſtin die Hand küſſe und Ihnen, mein
[359/0386]
Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.
lieber Fürſt, die herzlichſten Grüße ſende, verbleibe ich mit Ihnen
bekannten Geſinnungen jederzeit
Berg, den 18. Juni 1876
Ihr
aufrichtiger Freund
Ludwig.
Kiſſingen, 5. Juli 1876.
... Leider läßt mir die Politik nicht ganz die Ruhe, deren
man im Bade bedarf: es iſt dabei mehr die allgemeine Unruhe
und Ungeduld als eine wirkliche Gefährdung des Friedens, für
Deutſchland wenigſtens, wodurch die unfruchtbaren Arbeiten der
Diplomaten veranlaßt werden. Unfruchtbar ſind ſie nothwendig,
ſo lange der Kampf innerhalb der türkiſchen Grenzen zu keiner Ent¬
ſcheidung gediehen ſein wird. Wie die letztre auch ausfallen möge,
ſo wird die Verſtändigung zwiſchen Rußland und England bei
gegenſeitiger Aufrichtigkeit immer möglich ſein, da — und ſo
lange — Rußland nicht nach dem Beſitze von Conſtantinopel ſtrebt.
Sehr viel ſchwieriger wird auf die Dauer die Vermittlung zwiſchen
den öſtreichiſch-ungariſchen und den ruſſiſchen Intereſſen ſein; bis¬
her aber ſind beide Kaiſerhöfe noch einig, und ich bin überzeugt,
Eurer Majeſtät Allerhöchſte Billigung zu finden, wenn ich die Er¬
haltung dieſer Einigkeit als eine Hauptaufgabe deutſcher Diplomatie
anſehe. Es würde eine große Verlegenheit für Deutſchland ſein,
zwiſchen dieſen beiden ſo eng befreundeten Nachbarn optiren zu
ſollen; denn ich zweifle nicht daran, im Sinne Eurer Majeſtät und
aller deutſcher Fürſten zu handeln, wenn ich in unſrer Politik den
Grundſatz vertrete, daß Deutſchland nur zur Wahrung zweifelloſer
deutſcher Intereſſen ſich an einem Kriege freiwillig betheiligen ſollte.
Die türkiſche Frage, ſo lange ſie ſich innerhalb der türkiſchen Grenzen
entwickelt, berührt meines unterthänigſten Dafürhaltens keine kriegs¬
würdigen deutſchen Intereſſen; auch ein Kampf zwiſchen Rußland
und einer der Weſtmächte oder beiden kann ſich entwickeln, ohne
[360/0387]
Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.
Deutſchland in Mitleidenſchaft zu ziehn. Sehr viel ſchwieriger
aber liegt der Fall, wenn Oeſtreich und Rußland uneinig werden
ſollten, und hoffe ich, daß die Begegnung beider Monarchen in
Reichſtadt gute Früchte zur Befeſtigung ihrer Freundſchaft tragen
werde. Der Kaiſer Alexander will glücklicherweiſe den Frieden,
und erkennt an, daß Oeſtreichs Lage der ſüdſlaviſchen Bewegung
gegenüber ſchwieriger und zwingender iſt als die Rußlands. Für
Letztres ſind es auswärtige, für Oeſtreich aber innere und vitale
Intereſſen, die auf dem Spiele ſtehn.
v. Bismarck.
Mit lebhafter Freude habe ich Ihre Nachricht von dem offen¬
bar günſtigen Verlaufe der Cur erhalten. Ich danke Ihnen viel¬
mals für dieſe frohe Botſchaft und hoffe von Herzen, daß auch
die läſtigen Folgen des anſtrengenden Gebrauchs der Kiſſinger
Quellen ſich recht bald verlieren werden.
Durch Ihre ſo klare Darlegung der politiſchen Situation haben
Sie, mein lieber Fürſt, mich ganz beſonders verbunden. Der weit¬
ſehende, ſtaatsmänniſche Blick, welcher ſich in Ihren Anſchauungen
über die Stellung Deutſchlands zu den gegenwärtigen und etwa
noch drohenden Verwicklungen im Auslande kund gibt, hat meine
volle Bewunderung, und ich brauche wohl nicht zu verſichern, daß
Ihre mächtigen Anſtrengungen zur Erhaltung des Friedens von
meinen wärmſten Sympathien und unbegränztem Vertrauen be¬
gleitet ſind. — Möge der glückliche Erfolg der deutſchen Politik
und der Dank der deutſchen Fürſten und Stämme Sie, mein lieber
Fürſt, im Beſitze Ihrer vollen Geſundheit und Rüſtigkeit finden.
Mit dieſem innigen Wunſche verbinde ich die herzlichſten
Grüße und die Verſicherung wahrer Hochachtung und feſtgewur¬
zelten Vertrauens, womit ich, mein lieber Fürſt, ſtets verbleibe
Hohenſchwangau, den 16. Juli 1876.
Ihr
aufrichtiger Freund
Ludwig.
[361/0388]
Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.
Kiſſingen, 29. Juni 1877.
Die vielen Geſchäfte bei der Cur waren unvermeidlich, weil
der Reichstag durch die Schwierigkeiten, die er bezüglich meiner
Vertretung machte, und gegen die aufzutreten ich damals nicht
geſund genug war, mich nöthigte, die Contraſignaturen auch im
Urlaub beizubehalten. Es war dies eins der Mittel, durch welche
die Mehrheit im Reichstage die Einführung jener Inſtitution zu
erkämpfen ſucht, welche ſie unter der Bezeichnung „verantwortlicher
Reichsminiſter“ verſteht, und gegen die ich mich jederzeit abwehrend
verhalte, nicht um der alleinige Miniſter zu bleiben, ſondern um
die verfaſſungsmäßigen Rechte des Bundesraths und ſeiner hohen
Vollmachtgeber zu wahren. Nur auf Koſten der letztern könnten
die erſtrebten Reichsminiſterien geſchäftlich dotirt werden, und da¬
mit würde ein Weg in der Richtung der Centraliſirung ein¬
geſchlagen, in der wir das Heil der deutſchen Zukunft, wie ich glaube,
vergebens ſuchen würden. Es iſt, meines unterthänigſten Dafürhaltens,
nicht nur das verfaſſungsmäßige Recht, ſondern auch die politiſche
Aufgabe meiner außerpreußiſchen Collegen im Bundesrath, mich
im Kampfe gegen die Einführung ſolcher Reichsminiſterien offen
zu unterſtützen, und dadurch klar zu ſtellen, daß ich bisher nicht
für die miniſterielle Alleinherrſchaft des Kanzlers, ſondern für die
Rechte der Bundesgenoſſen und für die miniſteriellen Befugniſſe
des Bundesraths eingetreten bin. Ich darf annehmen, Eurer Majeſtät
Intentionen entſprochen zu haben, wenn ich mich in dieſem Sinne
ſchon Pfretzſchner gegenüber ausgeſprochen habe, und ich bin überzeugt,
daß Eurer Majeſtät Vertreter im Bundesrath ſelbſt und in Ver¬
bindung mit andern Collegen mir einen Theil des Kampfes gegen
das Drängen des Reichstages nach verantwortlichen Reichsmini¬
ſterien durch ihren Beiſtand abnehmen werden.
Wenn, wie ich höre, Eurer Majeſtät Wahl auf Herrn von
Rudhart gefallen iſt, ſo kann ich nach Allem, was ich durch Hohen¬
lohe über ihn weiß, dafür ehrfurchtsvoll dankbar ſein und voraus¬
[362/0389]
Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.
ſehn, daß ich nicht nur die innern, ſondern auch die auswärtigen
Geſchäfte des Reichs ihm gegenüber mit der vertrauensvollen Offen¬
heit werde beſprechen können, die mir dem Vertreter Eurer Majeſtät
gegenüber ein geſchäftliches und ein perſönliches Bedürfniß iſt.
Für den Augenblick iſt unſre Stellung zum Auslande noch dieſelbe,
wie während des ganzen Winters, und die Hoffnung, daß uns der
Krieg nicht berühren werde, ungeſchwächt. Das Vertrauen Ru߬
lands auf die Zuverläſſigkeit unſrer nachbarlichen Politik hat er¬
ſichtlich zugenommen, und damit auch die Ausſicht, ſolche Ent¬
wicklungen zu verhüten, gegen welche Oeſtreich einzuſchreiten durch
ſeine Intereſſen genöthigt werden könnte. Die guten Beziehungen
der beiden Kaiſerreiche zu einander zu erhalten, bleiben wir mit
Erfolg beſtrebt. Unſre Freundſchaft mit England hat bisher dar¬
unter nicht gelitten, und auch die am dortigen Hof durch politiſche
Intriganten angebrachten Gerüchte, als könne Deutſchland Abſichten
auf die Erwerbung von Holland haben, konnten nur in hohen
Damenkreiſen vorübergehend Anklang finden; die Verleumder werden
nicht müde, aber die Gläubigen ſcheinen es endlich zu werden.
Unter dieſen Umſtänden iſt die äußere Politik des Reiches im Stande,
ihre Aufmerkſamkeit ungeſchwächt dem Vulkan im Weſten zuzu¬
wenden, der Deutſchland ſeit 300 Jahren ſo oft mit ſeinen Aus¬
brüchen überſchüttet hat. Ich traue den Verſicherungen nicht, die
wir von dort erhalten, kann aber doch dem Reiche keinen andern
Rath geben, als wohlgerüſtet und Gewehr bei Fuß den etwaigen
neuen Anfall abzuwarten ... v. Bismarck.
... Es drängt mich bei dieſem Anlaſſe, Ihnen, mein lieber
Fürſt, zu ſagen, mit welcher lebhaften Beſorgniß, mich vor einiger
Zeit die Nachricht von der Möglichkeit Ihres Rücktrittes erfüllte.
Je größer meine perſönliche Verehrung für Sie und mein Ver¬
trauen zu der föderativen Grundlage Ihres ſtaatsmänniſchen Wirkens
iſt, deſto ſchmerzlicher hätte ich ein ſolches Ereigniß für mich und
mein Land empfunden.
[363/0390]
Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.
Zu meiner wahren Freude iſt es nicht eingetreten, und ich
wünſche von ganzem Herzen, daß Ihre Weisheit und Thatkraft
dem Reiche und dem reichstreuen Bayern noch recht lange erhalten
bleiben möge! Haben Sie, mein lieber Fürſt, meinen innigſten
Dank auch für die Mittheilung erfreulicher Friedensausſichten und
für die Zuſicherung, daß mein für Berlin beſtimmter Geſandter
v. Rudhart bei Ihnen wohlwollende und vertrauensvolle Aufnahme
finden werde. In Ihrer Stellung zu der immer wieder auf¬
tauchenden Frage verantwortlicher Reichsminiſterien erſcheinen Sie
als der ſtarke Hort der Rechte der Bundesfürſten, und mit wahr¬
hafter Beruhigung nehme ich von Ihnen, mein lieber Fürſt, das
Wort entgegen, daß das Heil der deutſchen Zukunft nicht in der
Centraliſirung zu ſuchen iſt, welche mit der Schaffung ſolcher
Miniſterien eintreten würde. Seien Sie überzeugt, daß ich es an
nichts fehlen laſſen werde, um Ihnen in dem Kampfe für Aufrecht¬
erhaltung der Grundlagen der Reichsverfaſſung die offene und vollſte
Unterſtützung meiner Vertreter im Bundesrathe, welchen ſich gewiß
auch die Bevollmächtigten der andern Fürſten anſchließen werden,
für alle Zukunft zu ſichern *).
Berg, den 7. Juli 1877. Ludwig.
Kiſſingen, den 12. Auguſt 1878.
Eurer Majeſtät erlaube ich mir meinen ehrfurchtsvollen Dank
zu Füßen zu legen für die huldreichen Befehle, welche der König¬
liche Marſtall auch in dieſem Jahre für meinen hieſigen Aufent¬
halt erhalten hat, und für die gnädige Anerkennung, welche der Mi¬
niſter von Pfretzſchner mir im Allerhöchſten Auftrage überbracht hat.
Durch den Congreß iſt die Politik einſtweilen zum Abſchluſſe ge¬
bracht, deren Angemeſſenheit für Deutſchland Eure Majeſtät in huld¬
reichen Schreiben anzuerkennen geruhten. Der eigne Frieden blieb
*)
Das bewährte ſich bei Rudhart nicht.
[364/0391]
Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.
gewahrt, die Gefahr eines Bruches zwiſchen Oeſtreich und Rußland
iſt beſeitigt und unſre Beziehungen zu beiden befreundeten Nach¬
barreichen ſind erhalten und befeſtigt. Namentlich freue ich mich,
daß es gelungen iſt, das noch junge Vertrauen Oeſtreichs zu
unſrer Politik im Cabinet wie in der Bevölkerung des Kaiſer¬
ſtaates weſentlich zu kräftigen. Ich darf von der Allerhöchſten Billi¬
gung Eurer Majeſtät überzeugt ſein, wenn ich auch ferner bemüht
bin, die auswärtige Politik des Reiches in der vorbezeichneten
Richtung zu erhalten, und dementſprechend bei der Pforte und ander¬
weit gegenwärtig dahin zu wirken, daß die ſchwierige Aufgabe, die
Oeſtreich, allerdings etwas ſpät, übernommen hat, durch diplo¬
matiſchen Beiſtand nach Möglichkeit erleichtert werde.
Schwieriger ſind die augenblicklichen Aufgaben der innern
Politik. Meine Verhandlungen mit dem Nuntius ruhn ſeit dem
Tode des Cardinals Franchi vollſtändig, in Erwartung von In¬
ſtructionen aus Rom. Diejenigen, welche der Erzbiſchof von Neo¬
cäſarea mitbrachte, verlangten Herſtellung des status quo ante
1870 in Preußen, factiſch, wenn nicht vertragsmäßig. Derartige
prinzipielle Conceſſionen ſind beiderſeits unmöglich. Der Papſt
beſitzt die Mittel nicht, durch welche er uns die nöthigen Gegen¬
leiſtungen machen könnte; die Centrumspartei, die ſtaatsfeindliche
Preſſe, die polniſche Agitation, gehorchen dem Papſte nicht, auch
wenn Seine Heiligkeit dieſen Elementen befehlen wollte, die Re¬
girung zu unterſtützen. Die im Centrum vereinten Kräfte fechten
zwar jetzt unter päpſtlicher Flagge, ſind aber an ſich ſtaatsfeind¬
lich, auch wenn die Flagge der Katholicität aufhörte ſie zu decken;
ihr Zuſammenhang mit der Fortſchrittspartei und den Socialiſten
auf der Baſis der Feindſchaft gegen den Staat iſt von dem
Kirchenſtreit unabhängig. In Preußen wenigſtens waren die Wahl¬
kreiſe, in denen das Centrum ſich ergänzt, auch vor dem Kirchen¬
ſtreite oppoſitionell, aus demokratiſcher Geſinnung, bis auf den
Adel in Weſtfalen und Oberſchleſien, der unter der Leitung der
Jeſuiten ſteht und von dieſen abſichtlich ſchlecht erzogen wird.
[365/0392]
Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.
Unter dieſen Umſtänden fehlt dem römiſchen Stuhl die Möglich¬
keit, uns für die Conceſſionen, die er von uns verlangt, ein Aequi¬
valent zu bieten, namentlich da er über den Einfluß der Jeſuiten
auf deutſche Verhältniſſe gegenwärtig nicht verfügt. Die Macht¬
loſigkeit des Papſtes ohne dieſen Beiſtand hat ſich beſonders bei
den Nachwahlen erkennen laſſen, wo die katholiſchen Stimmen,
gegen den Willen des Papſtes, für ſocialiſtiſche Candidaten ab¬
gegeben wurden, und der Dr. Moufang in Mainz öffentlich Ver¬
pflichtungen in dieſer Beziehung einging. Die hieſigen Verhand¬
lungen mit dem Nuntius können das Stadium der gegenſeitigen
Recognoſcirung nicht überſchreiten; ſie haben mir die Ueberzeugung
gewährt, daß ein Abſchluß noch nicht möglich iſt; ich glaube aber
vermeiden zu ſollen, daß ſie gänzlich abreißen, und daſſelbe ſcheint
der Nuntius zu wünſchen. In Rom hält man uns offenbar für
hülfsbedürftiger, als wir ſind, und überſchätzt den Beiſtand, den
man uns, bei dem beſten Willen, im Parlamente zu leiſten ver¬
mag. Die Wahlen zum Reichstage haben den Schwerpunkt des
letztern weiter nach rechts geſchoben, als man annahm. Das Ueber¬
gewicht der Liberalen iſt vermindert, und zwar in höherm Maße,
als die Ziffern es erſcheinen laſſen. Ich war bei Beantragung der
Auflöſung nicht im Zweifel, daß die Wähler regirungsfreundlicher
ſind als die Abgeordneten, und die Folge davon iſt geweſen, daß
viele Abgeordnete, welche ungeachtet ihrer oppoſitionellen Haltung
wiedergewählt wurden, dies nur durch Zuſagen zu Gunſten der
Regirung erreichen konnten. Wenn ſie dieſe Zuſagen nicht halten,
und eine neue Auflöſung folgen ſollte, ſo werden ſie nicht mehr
Glauben bei den Wählern finden und nicht wieder gewählt werden.
Die Folge der gelockerten Beziehungen zu den liberalen und centrali¬
ſtiſchen Abgeordneten wird, meines ehrfurchtsvollen Dafürhaltens,
ein feſteres Zuſammenhalten der verbündeten Regirungen unter
einander ſein. Das Anwachſen der ſocialdemokratiſchen Gefahr,
die jährliche Vermehrung der bedrohlichen Räuberbande, mit der
wir gemeinſam unſre größern Städte bewohnen, die Verſagung
[366/0393]
Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.
der Unterſtützung gegen dieſe Gefahr von Seiten der Mehrheit
des Reichstags, drängt ſchließlich den deutſchen Fürſten, ihren Re¬
girungen und allen Anhängern der ſtaatlichen Ordnung eine
Solidarität der Nothwehr auf, welcher die Demagogie der Redner
und der Preſſe nicht gewachſen ſein wird, ſo lange die Regirungen
einig und entſchloſſen bleiben, wie ſie es gegenwärtig ſind. Der
Zweck des Deutſchen Reiches iſt der Rechtsſchutz; die parlamentariſche
Thätigkeit iſt bei Stiftung des beſtehenden Bundes der Fürſten
und Städte als ein Mittel zur Erreichung des Bundeszweckes, aber
nicht als Selbſtzweck aufgefaßt worden. Ich hoffe, daß das Ver¬
halten des Reichstags die verbündeten Regirungen der Noth¬
wendigkeit überheben wird, die Conſequenzen dieſer Rechtslage
jemals praktiſch zu ziehn. Aber ich bin nicht gewiß, daß die
Mehrheit des jetzt gewählten Reichstags ſchon der richtige Aus¬
druck der zweifellos loyal und monarchiſch geſinnten Mehrheit der
deutſchen Wähler ſein werde. Sollte es nicht der Fall ſein, ſo
tritt die Frage einer neuen Auflöſung in die Tagesordnung. Ich
glaube aber nicht, daß ein richtiger Moment der Entſcheidung
darüber ſchon in dieſem Herbſt eintreten könne. Bei einem neuen
Appell an die Wähler wird die wirthſchaftliche und finanzielle
Reformfrage ein Bundesgenoſſe für die verbündeten Regirungen
ſein, ſobald ſie im Volke richtig verſtanden ſein wird; dazu aber
iſt ihre Diſcuſſion im Reichstage nöthig, die nicht vor der Winter¬
ſeſſion ſtattfinden kann. Das Bedürfniß höherer Einnahmen durch
indirecte Steuern iſt in allen Bundesſtaaten fühlbar, und von deren
Miniſtern in Heidelberg einſtimmig anerkannt worden. Der Wider¬
ſpruch der parlamentariſchen Theoretiker dagegen hat in der pro¬
ductiven Mehrheit der Bevölkerung auf die Dauer keinen Anklang.
Eure Majeſtät bitte ich unterthänigſt, dieſe kurze Skizze der
Situation mit huldreicher Nachſicht aufnehmen und mir Allerhöchſt¬
dero Gnade ferner erhalten zu wollen. ...
v. Bismarck.
[367/0394]
Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.
Aus ganzem Herzen ſpreche ich Ihnen meinen aufrichtigen
Dank für die ſo hochintereſſante Darſtellung der gegenwärtigen
politiſchen Lage, welche Sie von Kiſſingen aus mir zu ſchreiben
die Aufmerkſamkeit hatten, ſowie die Zielpunkte, welche Ihre große
Politik ſich für die nächſte Zukunft geſetzt hat. Es iſt mein innig¬
ſter Wunſch, daß Kiſſingen und die Nachcur Sie im Beſitz der
rieſigen Kraft erhalten möge, welche die Durchführung Ihrer Pläne
erfordert und an welche ſchon die nächſte Reichstagsſeſſion gewal¬
tige Anſprüche machen wird. Möge Ihr kraftvolles Wirken wie
bisher ein geſegnetes ſein zum Heile der deutſchen Lande und Sie
uns allen, denen Deutſchlands Wohl am Herzen liegt, noch recht
viele Jahre erhalten bleiben! Auch ich gebe mich der feſten Hoff¬
nung hin, daß die verbündeten Regierungen ſtets einig bleiben
und feſt zuſammenſtehen, wenn es gilt, die ſocialdemokratiſche Ge¬
fahr zu beſchwören.
Ich erſuche Sie, der Fürſtin den Ausdruck meiner beſonderen
Verehrung zu übermitteln und Ihren Sohn, den Grafen Herbert,
recht vielmals von mir grüßen zu wollen.
Unter Wiederholung meines herzlichſten Dankes für Ihren
mir ſo hochwillkommenen feſſelnden Brief bleibe ich ſtets, mein
lieber Fürſt, mit der Verſicherung ganz beſonderer Hochachtung,
Werthſchätzung und Vertrauens
Berg, den 31. Auguſt 1878.
Ihr
aufrichtiger Freund
Ludwig.
Mein lieber Fürſt von Bismarck!
Das günſtige Reſultat, mit welchem die Reichstagsverhand¬
lungen über Ihr großes Finanz-Projekt endeten, gibt mir will¬
kommenen Anlaß, Sie von Herzen zu beglückwünſchen. Es be¬
durfte Ihrer außerordentlichen Kraft und Energie, um den Kampf
mit den widerſtreitenden Anſichten und den tauſend ſelbſtſüchtigen
Intereſſen, welche ſich Ihrem Plane entgegenſtellten, ſiegreich zu
[368/0395]
Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.
beſtehen. Die deutſchen Lande ſind Ihnen aufs Neue zu Dank
verpflichtet und ſtreben mit wiederbelebter Hoffnung dem Ziele
materieller Wohlfahrt zu, welche die unerläßliche Grundlage ſtaat¬
lichen Lebens bildet.
Möge der Aufenthalt in Kiſſingen Ihnen wieder vollen Er¬
folg von den Anſtrengungen und Mühen der letzten Zeit bringen.
Mit dieſem aus dem Herzen kommenden Wunſche verbinde ich die
Verſicherung meiner beſonderen Werthſchätzung, mit welcher ich bin
Hohenſchwangau, den 29. Juli 1879.
Ihr
aufrichtiger Freund
Ludwig.
Kiſſingen, 4. Auguſt 1879.
Eure Majeſtät haben mich ſehr glücklich gemacht durch die
huldreiche Anerkennung, welche das allerhöchſte Schreiben vom
29. v. M. für mich enthält. Beſonders dankbar bin ich für die
Nachſicht, mit welcher Eure Majeſtät die Schwierigkeiten würdigen,
welche die Partei-Leidenſchaften im Bunde mit den Privat-Inter¬
eſſen den von den verbündeten Regirungen geplanten Reformen
in den Weg legen.
In wirthſchaftlicher Beziehung, in Betreff des Schutzes der
deutſchen Arbeit und Production, wird meines unterthänigſten
Dafürhaltens in der nächſten Zeit etwas Weitres als das Erreichte
nicht zu erſtreben, vielmehr die praktiſche Wirkung abzuwarten ſein:
und die letztre wird in dem nächſten Jahre ſich noch nicht mit
Sicherheit erkennen laſſen, weil die vom Reichstag beſchloſſene
Hinausſchiebung der Einführungstermine dem Auslande noch Ge¬
legenheit zu unverzollter Ueberführung des deutſchen Marktes ge¬
boten hat. Die gehoffte heilſame Wirkung auf die Hebung unſrer
materiellen Wohlfahrt wird ſich erſt nach Ablauf des nächſten Jahres
fühlbar machen können.
[369/0396]
Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.
Auf finanziellem Gebiet glaube ich aber wird ſchon in einer
der nächſten Reichstagsſitzungen der Verſuch zur Eröffnung weitrer
Einnahmequellen für die verbündeten Regirungen zu erneuern ſein,
da die bisherigen vielleicht die Lücken unſres Etats decken, aber
nicht ausreichend ſein werden, um Reformen der directen Steuern
und Unterſtützungen der nothleidenden Gemeindeverwaltungen zu
ermöglichen.
In politiſcher Beziehung hat das Ergebniß des Vorgehns
der verbündeten Regirungen meinen Erwartungen inſofern ent¬
ſprochen, als die fehlerhafte Gruppirung und Zuſammenſetzung
unſrer politiſchen Parteien und Fractionen durch die betreffenden
Verhandlungen einen nachhaltigen Stoß erlitten zu haben ſcheint.
Das Centrum hat zum erſten Male begonnen, ſich in poſitivem
Sinne an der Geſetzgebung des Reiches zu betheiligen. Ob dieſer
Gewinn ein dauernder ſein wird, kann nur die Erfahrung lehren.
Die Möglichkeit bleibt nicht ausgeſchloſſen, daß dieſe Partei, wenn
eine Verſtändigung mit dem römiſchen Stuhle nicht gelingt, zu
ihrer frühern, rein negativen und oppoſitionellen Haltung zurück¬
kehrt. Die Ausſichten auf eine Verſtändigung mit Rom ſind dem
äußern Anſchein nach ſeit dem vorigen Jahre nicht weſentlich ge¬
beſſert. Vielleicht darf ich aber Hoffnungen an die Thatſache
knüpfen, daß der päpſtliche Nuntius Jacobini dem Botſchafter
Prinzen Reuß amtlich den Wunſch ausgeſprochen hat, in Verhand¬
lungen einzutreten, zu welchen er von Rom Vollmacht habe. Die
Tragweite der letztern kenne ich noch nicht, habe mich aber auf
den Wunſch des Nuntius bereit erklärt, mich im Laufe dieſes
Monats in Gaſtein mit ihm zu begegnen und zu beſprechen.
Die nationalliberale Partei wird, wie ich hoffe, durch die letzte
Reichstagsſeſſion ihrer Scheidung in eine monarchiſche und eine
fortſchrittliche, alſo republikaniſche Hälfte entgegengeführt werden.
Der Verſuch des frühern Präſidenten von Forckenbeck, die geſetz¬
gebenden Gewalten des Reichs der directen Controlle eines deut¬
ſchen Städtebundes zu unterwerfen, und die Brandreden an die
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 24
[370/0397]
Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.
Adreſſe der beſitzloſen Claſſen von Lasker und Richter haben die
revolutionäre Tendenz dieſer Abgeordneten ſo klar und nackt hin¬
geſtellt, daß für Anhänger der monarchiſchen Regirungsform keine
politiſche Gemeinſchaft mehr mit ihnen möglich iſt. Der Plan
des Städtebundes mit ſeinem ſtändigen Ausſchuß am Sitze des
Reichstages war der Berufung der „Föderirten“ aus den fran¬
zöſiſchen Provinzialſtädten im Jahre 1792 nachgebildet. Der Ver¬
ſuch fand im deutſchen Volke keinen Anklang, zeigt aber, wie auch
in unſern fortſchrittlichen Abgeordneten das Material für Convents¬
deputirte zu finden wäre. Die Vorarbeiter der Revolution recru¬
tiren ſich bei uns ziemlich ausſchließlich aus dem gelehrten Pro¬
letariat, an welchem Norddeutſchland reicher iſt als der Süden.
Es ſind die ſtudirten und hochgebildeten Herrn, ohne Beſitz, ohne
Induſtrie, ohne Erwerb, welche entweder vom Gehalt im Staats-
und Gemeindedienſt oder von der Preſſe, häufig von beiden leben,
und welche im Reichstage erheblich mehr als die Hälfte der Ab¬
geordneten ſtellen, während im wählenden Volke ihre Anzahl einen
geringen Procentſatz nicht überſchreitet. Dieſe Herrn ſind es,
welche das revolutionäre Ferment liefern und die fortſchrittliche
und nationalliberale Fraction und die Preſſe leiten. Die Sprengung
ihrer Fraction iſt nach meinem unterthänigſten Dafürhalten eine
weſentliche Aufgabe der erhaltenden Politik, und die Reform der
wirthſchaftlichen Intereſſen bildet den Boden, auf welchem die Re¬
girungen dieſem Ziele mehr und mehr näher treten können.
Eurer Majeſtät danke ich ehrfurchtsvoll für Allerhöchſtder¬
ſelben huldreiche Wünſche bezüglich meiner hieſigen Cur, von welcher
ich nach den bisherigen Eindrücken hoffen darf, daß ſie ebenſo wie
in frühern Jahren die Schäden heilen werde, welche der Winter
meiner Geſundheit zufügt. Einen weſentlichen Antheil an der
guten Wirkung hat die Leichtigkeit, mit welcher Eurer Majeſtät
Gnade mich in den Stand ſetzt, die gute Luft der umgebenden
Wälder zu genießen. Die ausgezeichneten Pferde des Marſtalls
Eurer Majeſtät machen es leicht, jeden Punkt der ſchönen Um¬
[371/0398]
Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.
gebung Kiſſingens zu erreichen, eine Annehmlichkeit, für welche die
mit den Jahren abnehmende Rüſtigkeit zu Fuß doppelt empfäng¬
lich macht. Eure Majeſtät wollen meinen allerunterthänigſten Dank
für dieſe Annehmlichkeit und für die Auszeichnung, welche für mich
in ihrer Gewährung liegt, in Gnaden entgegennehmen.
v. Bismarck.
Kiſſingen, den 7. Auguſt 1879.
Bei dem Intereſſe, welches Eure Majeſtät an dem Fortgange
der Verhandlungen mit Rom nehmen, erlaube ich mir Allerhöchſt¬
denſelben beifolgend Abſchriften:
∙1) des Schreibens des Papſtes an Se. Majeſtät den Kaiſer
vom 30. Mai,
∙2) der darauf ergangnen Antwort vom 21. Juni,
∙3) des bisher noch nicht beantworteten Schreibens des Papſtes
an Se. Majeſtät den Kaiſer vom 9. Juli
ehrfurchtsvoll vorzulegen.
v. Bismarck
Mein lieber Fürſt!
Für Ihre beiden mir ſehr willkommenen Schreiben vom 4.
und 7. dieſes Monats, in denen Sie mir über den Stand der
Parteien und über die Lage der römiſchen Angelegenheit ſo inter¬
eſſante Aufſchlüſſe gaben, ſende ich Ihnen meinen wärmſten Dank. —
Schon jetzt ſind Ihre Unterhandlungen mit Rom erfolgreich ge¬
weſen, da das erheblich gebeſſerte Verhältniß zur Curie entſchieden
auf die Centrumspartei und durch ſie auf das Gelingen Ihres
Finanzreformwerkes von Einfluß war. So möge auch im Uebrigen
Ihr kräftiges Beſtreben, eine große conſervative Partei zu ſchaffen,
vom Glück begünſtigt ſein. Es iſt mein inniger Wunſch, daß
Ihnen, mein lieber Fürſt, Geſundheit und Kraft zur Bewältigung
Ihrer großen, hochwichtigen Aufgaben bewahrt bleiben, und habe
[372/0399]
Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.
ich daher aus Ihren Zeilen mit wahrer Freude vernommen, daß
der Aufenthalt in Kiſſingen die beſte Wirkung verſpricht.
Seien Sie, mein lieber Fürſt, der beſonderen Werthſchätzung,
der vollſten Hochachtung und Vertrauens verſichert, womit ich
immerdar verbleibe
Berg, den 18. Aug. 1879.
Ihr
aufrichtiger Freund
Ludwig 1).
Mein lieber Fürſt!
Mit wahrer Freude haben mich die Glückwünſche erfüllt,
welche Sie mir zu meinem Doppelfeſte und zur 700jährigen
Jubiläumsfeier meines Hauſes darzubringen die Aufmerkſamkeit
hatten 2). Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für die erprobte
anhängliche Geſinnung, welche mir und meinem Lande von ſo
hohem Werthe iſt und auf welche ich wie bisher, ſo fürderhin mein
aufrichtiges Vertrauen ſetze. — Bei den innigen Beziehungen, in
welchen Sie als der ruhmreiche große Kanzler zu mir ſtehen, war
es für mich von beſonderem Intereſſe zu vernehmen, daß ſchon
meine Vorfahren Anlaß hatten, Ihre Familie hochzuſchätzen und
auszuzeichnen. — Die günſtige Nachricht, welche Sie, mein lieber
Fürſt, mir von Ihrem Befinden gaben, iſt mir hochwillkommen,
und ich wiederhole, wie freudig ich es empfinde, daß eine bayeriſche
Heilquelle zur Erhaltung der bewundernswerthen Kraft beiträgt,
welche Sie zum Wohle der deutſchen Staaten einſetzen. Mit hoher
Befriedigung habe ich aus Ihrem Schreiben den Glauben an die
Sicherheit des Friedens erſehen, und dankbar bin ich für die Zu¬
ſicherung eines Berichtes über die politiſche Lage.
Empfangen Sie, mein lieber Fürſt, mit den Ihrigen die Ver¬
1) In der chronologiſchen Folge würden hier die im 29. Capitel (Bd. II
S. 238 ff.) eingefügten Stücke anzuſchließen ſein.
2)
Das Schreiben liegt leider in einer Abſchrift nicht vor.
[373/0400]
Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.
ſicherung meiner wärmſten Sympathie und der beſonderen Werth¬
ſchätzung, mit welcher ich ſtets bin
Berg, den 1. Sept. 1880.
Ihr
aufrichtiger Freund
Ludwig.
Mein lieber Fürſt!
Der gute Erfolg Ihrer Cur in Kiſſingen hat meine auf¬
richtigen Wünſche erfüllt, und ich hoffe, daß die nöthige Ruhe auch
die neuralgiſchen Schmerzen heilen wird, welche, wie Sie mir zu
meinem lebhaften Bedauern mittheilen, noch vorhanden ſind. —
Die Darſtellung der äußeren und inneren Lage, welche ich Ihrem,
mir ſo willkommenen hochgeſchätzten Schreiben verdanke, war mir
im höchſten Grade intereſſant. Wie Großes Sie nach beiden Seiten
hin leiſten, iſt der Gegenſtand meiner Bewunderung. Für die
Friedensausſichten bin ich ebenſo empfänglich, als für Ihr feſtes
Standhalten gegen die Gelüſte nach parlamentariſcher Majoritäts¬
regierung, welche gegenwärtig auch in Bayern, wenn auch von
anderer Seite her, auftauchen. Ich werde dafür ſorgen, daß ihr
Ziel, das mit dem monarchiſchen Princip nicht zu vereinigen iſt
und nur endloſe Unruhe und Unfrieden herbeiführen würde, un¬
erreicht bleibt. — Den bevorſtehenden Wahlen ſehe ich mit dem
größten Intereſſe entgegen. Wenn ſie auch nicht nach Wunſch aus¬
fallen, ſo glaube ich doch feſt daran, daß es Ihrer Beharrlichkeit
gelingen wird, die finanziellen und wirthſchaftlichen Grundlagen
zu ſchaffen, welche nothwendig ſind, um die Wohlfahrt der deut¬
ſchen Lande und insbeſondere die Lage der Arbeiter auf eine be¬
friedigende Stufe zu bringen; der ehrlichen Mitwirkung von Seiten
meiner Regierung ſind Sie gewiß. — Andererſeits bin ich der
vertrauensvollen Ueberzeugung, daß Sie, mein lieber Fürſt, bei
der Durchführung Ihrer großen Ideen von dem föderativen Prin¬
cip ausgehen, auf welchem das Reich und die Selbſtſtändigkeit der
Einzelſtaaten beſtehen. —
[374/0401]
Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.
Es hat mich von Herzen gefreut, Sie in Bayerns Gränzen
zu wiſſen. Ich hoffe, daß Sie mein Land noch viele viele Jahre
beſuchen, und ſende Ihnen, mein lieber Fürſt, mit meinen innigſten
Wünſchen für alle Zukunft die Verſicherung meines beſonderen
Vertrauens und vollſter Hochſchätzung, mit welcher ich ſtets verbleibe
Hohenſchwangau, den 10. Auguſt 1881.
Ihr
aufrichtiger Freund
Ludwig.
Mein lieber Fürſt!
Für die große Freude, welche Sie mir durch Ihre Glückwünſche
zu meinem Geburtstage bereitet haben, ſpreche ich Ihnen meinen
wärmſten Dank von Herzen aus. Dieſelben ſind mir wie der
ganze Inhalt Ihres hochgeſchätzten Schreibens ein neuer Beweis
der mich hocherfreuenden anhänglichen Geſinnung, auf welche ich
ſtets mein vollſtes Vertrauen ſetze. Zu dem Aufenthalte in Varzin
wünſche ich Ihnen Ruhe und ſchöne Tage, damit Sie im Genuſſe
ungeſtörter Geſundheit an die von Ihnen erſehnte Beſchäftigung
mit Ihren großen Aufgaben gehen können.
Indem ich Ihnen und den Ihrigen meine beſten Grüße ſende,
verbleibe ich, mein lieber Fürſt, mit ganz beſonderer Werth¬
ſchätzung ſtets
Berg, den 27. Auguſt 1881.
Ihr
aufrichtiger Freund
Ludwig.
Mein lieber Fürſt!
Mit lebhafter Freude erfüllte mich der mir ſo theure Brief,
welchen Sie von Kiſſingen aus an mich zu richten die Aufmerk¬
ſamkeit hatten. Indem ich Ihnen, mein lieber Fürſt, für die darin
zu meinem Doppelfeſte ausgeſprochenen Glückwünſche meinen
wärmſten Dank zum Ausdruck bringe, will ich es nicht unterlaſſen,
Ihnen, mein lieber Fürſt, zu ſagen, mit welch großem Intereſſe
[375/0402]
Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.
ich die Ihrem Schreiben beigefügten Darlegungen über die politiſche
Lage verfolgt habe. — Zu meiner großen Genugthuung durfte
ich demſelben entnehmen, daß zur Zeit keine ernſten Anzeichen vor¬
handen ſind, welche eine nahe Gefahr für den europäiſchen Frieden
befürchten laſſen. Wenn gleichwohl die Zuſtände in Rußland und
die ungewöhnlichen Truppenaufſtellungen an der ruſſiſchen Weſt¬
gränze einige Beſorgniß zu erwecken geeignet ſind, ſo gebe ich mich
doch der Hoffnung hin, daß es dem ſo glücklichen Einverſtändniſſe
zwiſchen Deutſchland und Oeſterreich, das eine machtvolle Bürg¬
ſchaft des Friedens für den Welttheil bietet, und Ihrer weiſen und
vorausſchauenden Politik gelingen wird, einer kriegeriſchen Ver¬
wicklung vorzubeugen, und daß ſchließlich doch die erſt kürzlich bei
dem feierlichen Anlaſſe der Krönung zu Moskau laut und offen
verkündigten friedlichen Abſichten des Kaiſers von Rußland den
Sieg behaupten werden. — Empfangen Sie, mein lieber Fürſt,
mit meinem wärmſten Danke für Ihre ſtets ſo willkommenen Mit¬
theilungen den Ausdruck meiner wahren Freude darüber, daß Ihre,
wie ich tief bedauere, ſeit längerer Zeit angegriffene Geſundheit
unter den heilkräftigen Einwirkungen des Kiſſinger Curgebrauches
und Dank einer trefflichen ärztlichen Behandlung ſich zu beſſern
begonnen hat. Möge Ihnen, das iſt mein aufrichtigſter Wunſch,
recht bald die volle Kraft der Geſundheit wieder geſchenkt werden,
auf daß ſich Deutſchland noch recht lange des Gefühles der Sicher¬
heit erfreue, welches ihm das Vertrauen auf die Thatkraft und
die Umſicht ſeines großen Staatsmannes einflößt. Ferner er¬
neuere ich in dieſen Zeilen die Verſicherung wahrer Bewunderung
und unwandelbarer Zuneigung, von der ich ſtets für Sie, mein
lieber Fürſt, beſeelt bin! Ihnen meine herzlichſten Grüße ſendend,
bleibe ich immerdar
Schloß Berg, den 2. Sept. 1883.
Ihr
aufrichtiger Freund
Ludwig.
[376/0403]
Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.
Mein lieber Fürſt von Bismarck!
Ich habe Ihr Schreiben vom 19. dieſes Monats zu erhalten das
Vergnügen gehabt und ſpreche Ihnen, mein lieber Fürſt, für Ihre Mit¬
theilungen, ſowie für die damit verbundene Zuſendung des Akten¬
ſtückes aus St. Petersburg meinen wärmſten Dank aus. Von Beidem
habe ich mit jenem lebhaften Intereſſe Kenntniß genommen, welches
ich Allem, was mir von Ihnen zukommt, entgegenbringe. Das
Erfreulichſte aber, das mir Ihre Zeilen brachten, war mir die
Nachricht von dem Fortſchritte Ihrer Geneſung, welcher, wie ich
von Herzen wünſche, zur völligen Wiederherſtellung Ihrer Geſund¬
heit führen möge. Die begründete Hoffnung, daß Sie ſich neu
geſtärkt und erfriſcht auch ferner der hohen Aufgabe Ihres ſtaats¬
männiſchen Berufes vollauf werden widmen können, läßt mich der
weiteren Entwicklung der politiſchen Lage mit um ſo größerer Ruhe
entgegenſehen. Was insbeſondere das Verhältniß Deutſchlands zu
Rußland betrifft, ſo entnehme ich dem Berichte des Generals
von Schweinitz mit Genugthuung, daß wenigſtens an der auf¬
richtigen Friedensliebe des Kaiſers von Rußland und des dortigen
leitenden Miniſters nicht gezweifelt werden kann. Dieſe immerhin
beruhigende Thatſache im Vereine mit dem ſo glücklicher Weiſe
herrſchenden Einvernehmen zwiſchen Deutſchland und Oeſterreich,
welches mir durch Ihre Mittheilungen zu meiner Freude aufs
Neue als ein vollſtändig geſichertes beſtätigt wird, erſcheint wohl
geeignet, die Hoffnungen auf fernere Erhaltung des Friedens zu
ſtärken.
Empfangen Sie, mein lieber Fürſt, mit dem wiederholten
Ausdrucke meiner wärmſten Wünſche für Ihre volle Erkräftigung
die Verſicherung der beſonderen Werthſchätzung, mit welcher ich bin
Elmau, den 27. Sept. 1883.
Ihr
aufrichtiger Freund
Ludwig.
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